Читать книгу Am Tag, als Walter Ulbricht starb - Jan Eik, Horst Bosetzky, Uwe Schimunek - Страница 7
ZWEI
Mai 1972
ОглавлениеRAINER ERKENBRECHER fand zu seiner großen Überraschung sofort einen freien Parkplatz im Innenraum des großen U, das die kolossalen Gebäude des Zentralflughafens Tempelhof bildeten, kam man vom Platz der Luftbrücke und wollte in die Abflughalle. Wie immer war er begeistert von diesem innerstädtischen Flughafen, und es erfüllte ihn mit leiser Wehmut, dass Tempelhof in zwei Jahren geschlossen und der gesamte Flugverkehr bis auf den der US Air Force über Tegel abgewickelt werden sollte, wo die Bauarbeiten kräftig vorangetrieben wurden.
Jedes Mal, wenn er die Abflughalle betrat, hörte er förmlich eine Schicksalsmelodie aufbranden: Hier empfängt Berlin die Großen der Welt, und von hier aus kannst du, frei wie ein Vogel, in alle Welt fliegen, wann immer du willst. Er hörte Ernst Reuter plädieren: Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt, und erkennt, dass ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und könnt! Er hörte John F. Kennedys berühmte Worte: Vor zweitausend Jahren war der stolzeste Satz, den ein Mensch sagen konnte, der: «Ich bin ein Bürger Roms!» Heute ist der stolzeste Satz, den jemand in der freien Welt sagen kann: «Ich bin ein Berliner!» Und er hatte auch genau im Kopf, was in Curt Riess’ Buch Berlin Berlin geschrieben stand: Wenn die Russen damals hätten marschieren wollen, hätte nichts sie daran hindern können, bis zum Kanal, zum Atlantischen Ozean oder auch zu den Pyrenäen vorzustoßen. Nichts – außer Berlin.
An diesem Gefühl von historischer Größe und Einmaligkeit konnte sich Erkenbrecher wie jeder West-Berliner immer wieder berauschen. Schön, man war eingemauert und abgeschnitten vom märkischen Umland, aber man gehörte zu den Helden der Weltgeschichte und lebte in der interessantesten Stadt der Welt, irgendwie auf einer Insel der Seligen, war das «Schaufenster der freien Welt», wurde reichlich alimentiert und konnte das alternative Leben zulassen, das sich im Schatten der Mauer zu entwickeln begann. West-Berlin war ebenso spießbürgerlich wie irre und surrealistisch, einmalig eben.
Rainer Erkenbrecher, am 20. Mai 1946 in Berlin zur Welt gekommen, war klein und drahtig, so ein Terrier wie Berti Vogts. Immer überdreht, wieselte er durch die Straßen und Flure. Zu übersehen war er schon, aber nicht zu überhören. Er redete andauernd, am liebsten über seine Heldentaten. Aus der Angst heraus, nicht wahrgenommen zu werden, hatte er ständig Dutzende von Projekten am Köcheln. Etwas anleiern nannte er das. Mal gründete er einen neuen Kinderladen, mal eine Stadtteilzeitung, mal einen Tennisverein, mal eine neue linke oder linksliberale Studentenvereinigung. Sein Verhalten war aber nicht nur mit seiner geringen Körpergröße zu erklären, sondern auch mit seinem verzweifelten Bemühen, aus dem Schatten seines übermächtigen Vaters und seiner Mutter zu treten.
Ernest Erkenbrecher war Professor an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste in der Hardenbergstraße und eine feste Größe im Kulturbetrieb. Es gab kein Kuratorium, in dem er nicht saß, und er war Duzfreund vieler Senatoren und erlesener Schöngeister. Zudem konnte er Essays verfassen wie kein Zweiter. Um gegen diesen Vater eine Chance zu haben, musste sich Rainer Erkenbrecher schon viel einfallen lassen.
Auch seine Mutter, Oberstudienrätin für Chemie und Mathematik an einem Steglitzer Gymnasium, setzte ihm mit ihrem Bildungsfimmel gehörig zu und hielt ihn schon deswegen für geistig zurückgeblieben, weil er nie recht begriffen hatte, wozu ein Algorithmus oder die Primzahlen gut sein sollten.
Das Abitur hatte Rainer Erkenbrecher nur mit Ach und Krach geschafft, dann in seinem Politologiestudium an der FU Berlin jedoch so viel geleistet, dass sie ihn nach dem Diplom zum Assistenten gemacht hatten. Nun war er zwar kein echter Linker, sondern fühlte sich eher als freischwebender Intellektueller mit einem Hang zum Liberalen, wenn nicht gar zum Konservativen, doch weil er mit einer solchen Geisteshaltung an der FU keine Chance gehabt hätte, spielte er Kommilitonen wie Professoren den gläubigen Marxisten vor.
Er war Assistent und saß an einer Dissertation zum Thema Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold im Kampf gegen Hakenkreuz und Sowjetstern. Außerdem schrieb er an einem Artikel über die Hintergründe und Folgen des Lichtenberger Butter-Krawalls. Darin ging es um die Revolte hungernder Berliner, die es am 16. Oktober 1915 auf dem Boxhagener Platz gegeben hatte. Der lag nun in Ost-Berlin, und vor Ort zu recherchieren war für einen West-Berliner faktisch unmöglich. Da sein Vater aber in der Nähe von Wunsiedel ein Wochenendhaus besaß, war es ihm gelungen, sich einen bundesrepublikanischen Reisepass zu verschaffen, so dass er jederzeit in die Hauptstadt der DDR einreisen konnte.
Was seine Freunde und seine Frauen betraf, so bevorzugte er jene Typen, über die sich seine Eltern am meisten aufregten.
Erkenbrecher sah die Maschine der Pan Am, in der sein Onkel sitzen musste, über Treptow und Neukölln einschweben, über die Hermannstraße und die Gräber des St.-Thomas-Friedhofes hinweg. Ihm war dabei immer ein wenig mulmig zumute, aber seit den Tagen der Blockade hatte es über dem Stadtgebiet keinen Flugzeugabsturz mehr gegeben.
Der Verwandte, den er abholen wollte, war ein Cousin seines Vaters. Dr. Julius Lilienblum, ein Jude, der 1933 als junger Arzt in die USA gegangen war. Sie hatten sich nicht öfter als dreimal in ihrem Leben gesehen, aber er mochte den Kauz aus Massachusetts. Er kam ihm vor wie ein Dinosaurier, wenn er aus der Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Machtergreifung der Nationalsozialisten erzählte.
Aus dem Lautsprecher kam die Ansage, dass die Maschine soeben gelandet sei, und Erkenbrecher stellte sich an das Tor, aus dem die Passagiere nach Pass- und Zollkontrolle kommen mussten. Wieder einmal ärgerte ihn die Tatsache, dass nur die Fluggesellschaften der Alliierten West-Berlin anfliegen durften, also die Pan Am, die BEA und die Air France, nicht aber die Lufthansa. Die drei Luftkorridore nach Berlin waren den Besatzungsmächten, offiziell Schutzmächte genannt, vorbehalten.
Erkenbrecher fragte sich, ob der Mann, der ihm nun entgegeneilte, wirklich sein Onkel war, doch als sich der untersetzte Herr mit der fliegenden Einsteinmähne aus er sich sicher, den Richtigen vor sich zu haben. Dennoch fragte er: «Herr Dr. Lilienblum?»
«Ja, mein Junge. Hallo! Du bist der Rainer Erkenbrecher?»
«Richtig erraten!»
Sie gaben sich die Hand.
«Du bist also das ganze Empfangskomitee?», fragte Lilienblum scheinbar ein wenig enttäuscht.
«Ja, dein Herr Vetter sitzt in einer Prüfungskommission und versucht, junge Menschen glücklich zu machen, und meine liebe Mutter ist zu sehr preußische Beamtin, als dass sie auch nur eine Sekunde daran denken würde, eine Unterrichtsstunde ausfallen zu lassen, um dich vom Flughafen abzuholen.»
«Aber du konntest kommen», stellte Lilienblum fest, während sie an das Förderband traten, um auf seinen Koffer zu warten. «Bist du arbeitslos?»
«Nein, ich habe eine Assistentenstelle am OSI.»
«Wo?» Lilienblum versuchte, das zu deuten. «Am Ordentlichen Sozialistischen Institut?»
«Am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität. Politologie und Politische Soziologie. Aber deine Interpretation bringt es besser auf den Punkt. Otto Suhr war Regierender Bürgermeister, daher die Otto-Suhr-Allee zwischen Ernst-Reuter-Platz und Charlottenburger Schloss.»
«Das kenn ich wohl, aber wo liegt der Ernst-Reuter-Platz?»
«Der hieß früher Knie.»
Lilienblum grinste. «Ah ja. Früher haben wir immer gesungen: ‹Was machst du mit dem Knie, lieber Hans, beim Tanz.› Am Knie – das war doch ein origineller Name.»
Band. Erkenbrecher packte ihn, schleppte ihn zum Wagen, einem Renault R4, und verstaute ihn.
«Was nun?», fragte Erkenbrecher. «Willst du dich ein wenig ausruhen, sollen wir gleich nach Lichterfelde fahren – oder hast du Lust auf eine kleine Stadtrundfahrt?»
Lilienblum musste einen Augenblick überlegen. «Bitte keine große Sightseeing-Tour, aber vielleicht machen wir einen kleinen Umweg über den Bayerischen Platz. Ich habe immerhin zehn Jahre in der Münchener Straße gewohnt.»
«Aye, aye, Sir, wird gemacht.» Erkenbrecher umrundete den Platz der Luftbrücke und erklärte dem Gast, dass die Berliner einen Hang dazu hatten, ihren Bauten witzige Namen zu geben. «Der Funkturm ist der Lange Lulatsch, die Kongresshalle die Schwangere Auster und das Luftbrückendenkmal zu unserer Linken die Hungerharke.» Damit überquerte er die Kreuzung Mehringdamm / Tempelhofer Damm und fuhr in die Dudenstraße.
Lilienblum schloss die Augen und versuchte, sich den Berliner Stadtplan ins Gedächtnis zu rufen. «Kolonnenstraße, rechts in die Potsdamer, dann an dem riesigen Gebäudekomplex vorbei, in dem die Bauleitung der Reichsautobahn sitzt, und links rein in die Grunewaldstraße.»
«Lilienblum, setzen, Eins bis Zwei!», rief Erkenbrecher im Tonfall seiner Mutter.
«Warum keine glatte Eins?»
«Weil es kein Reichsautobahnamt mehr gibt», erklärte ihm Erkenbrecher. «Da sitzt jetzt die Hauptverwaltung der BVG.»
«Wie soll ich das denn in meinem kleinen Nest in «Dafür eine halbe Note Abzug zu bekommen ist ungerecht. Mein Vater wird das seinem Rechtsanwalt übergeben.»
Als sie das Viertel um den Bayerischen Platz erreicht hatten, war jede Heiterkeit verflogen. Kamen sie an den Erinnerungstafeln vorbei, die vom Bezirksamt an Laternenpfählen angebracht worden waren, musste Erkenbrecher langsam fahren, damit sein Onkel sie lesen konnte.
1938: Jüdische Ärzte dürfen nicht mehr praktizieren.
1940: Brot und Lebensmittel dürfen Juden nur nachmittags von 4 bis 5 Uhr einkaufen.
Vor der Deportation 1941: Nun ist es so weit, morgen muss ich fort, das trifft mich natürlich. Ich werde schreiben.
Lilienblum schwieg.
Es mochte eine gute halbe Stunde vergangen sein, bis er wieder Worte fand. «Was wäre geschehen, wenn die Nationalsozialisten 1933 nicht an die Macht gekommen wären, was wäre aus mir geworden, welchen Menschen mit dem Namen Julius Lilienblum würdest du heute durch die Gegend fahren?» Er seufzte. «Wenn ich das Zeug dazu hätte, würde ich einen Roman darüber schreiben.»
«Vielleicht versuchst du’s mal», sagte Erkenbrecher.
«Ich gründe dann extra einen Verlag dafür. Wenn es dir recht ist, fahren wir jetzt nach Lichterfelde raus. Die Bundesallee runter und dann die Schloßstraße, Unter den Eichen, Drakestraße, Ringstraße …»
Lilienblum konnte ihm nicht ganz folgen. «Die Bundesallee?»
«Ja, früher Kaiserallee.»
«Wie in Erich Kästners Emil und die Detektive. Warum muss denn bei euch immer alles umbenannt werden?»
«Alles nicht, aber du weißt doch: Neue Namen, neues Glück.»
Munter plaudernd fuhren sie in den tiefen Berliner Südwesten, wo Ernest Erkenbrecher am Kadettenweg eine ansehnliche, wenn auch nicht pompöse Villa gekauft hatte. Dem Sohn war das Souterrain überlassen worden.
Als sie vor der Garageneinfahrt hielten, kam Georgia Erkenbrecher in wehenden indischen Gewändern die Treppe herunter, um den Gast aus den USA mit großer Geste zu begrüßen. «Willkommen, lieber Julius, in der alten Heimat!» Dann redete sie in bestem Englisch auf ihn ein.
Georgia Erkenbrecher war die Tochter eines sächsischen Schriftstellers, der ein paar Jahre in den USA, im Bundesstaat Georgia gelebt hatte, und einer deutschstämmigen Stenokontoristin. Kurz nach der Hochzeit war das junge Paar nach Berlin gezogen und hatte seine erste Tochter, die nach Ende des Ersten Weltkriegs auf die Welt gekommen war, Georgia genannt.
Im Zweiten Weltkrieg waren sie zweimal ausgebombt worden, hatten aber überlebt, und Georgia war eine der ersten Studentinnen gewesen, die sich an der wiedereröffneten Berliner Universität für Chemie und Mathematik eingeschrieben hatten. Nach der Teilung der Stadt war sie zur West-Berliner FU gewechselt und nach einigen Irrungen und Wirrungen im Schuldienst gelandet. Bei einer der legendären Faschingsfeiern der Hochschule für Bildende Künste war sie Ernest Erkenbrecher begegnet und hatte sofort gewusst, dass er der Mann fürs Leben war. Was sie zusammenschweißte, waren ebenso genetische Programlichen Bildung und zu allem Schöngeistigen.
Man führte Julius Lilienblum ins Gästezimmer und gab ihm Gelegenheit, sich zwei, drei Stunden lang auszuruhen. Dann wollte man weitersehen.
Auch Erkenbrecher warf sich auf die Couch. Ins Institut musste er nicht mehr, sein Professor hielt nichts von festen Arbeitszeiten, und eine Lehrveranstaltung lag heute auch nicht an. Er rief nur schnell seine Verlobte an, dann hielt er Siesta und wachte erst wieder auf, als er seinen Vater kommen hörte.
Ernest Erkenbrecher malte zwar, fotografierte kunstvoll, spielte Cello, komponierte Filmmelodien und unterrichtete im Fach Architektur, war aber in der Hauptsache Kulturmanager, warb Gelder ein und organisierte Festivals. Er kannte Hinz und Kunz und konnte auf Knopfdruck Erhabenes sagen, so dass er ständig Festvorträge halten musste und stets im Gespräch war, wenn in Berlin ein neuer Kultursenator gesucht wurde. Er war 1916 in Liegnitz geboren worden, aber seine Eltern waren nach dem Ersten Weltkrieg nach Berlin gegangen, wo sie in Schöneberg einen Lebensmittelladen eröffnet hatten. 1933 hatten sie Hakenkreuzfähnchen ins Schaufenster gestellt, was Ernest, ein Verehrer Max Liebermanns, gar nicht gut gefunden hatte. Nach dem Abitur hatte er Architektur studiert, war aber bald eingezogen worden. Die Eltern und eine Schwester waren ins Erzgebirge evakuiert worden und dort hängengeblieben. Ein paar Mal leicht verwundet, hatte Ernest an der Westfront überlebt und zwei bittere Jahre in französischer Kriegsgefangenschaft einigermaßen unversehrt überstanden. 1947 war er nach Berlin zurückgekehrt, hatte ein Leben als Bohemien begonnen und war mit Chuzpe und Können zu dem aufgestiegen, was er jetzt war: einer Größe im West-Berliner Kulturleben.
Den Cousin aus Massachusetts begrüßte er so theatralisch, als würden sie auf der Bühne des Schillertheaters stehen: «Willkommen, mein lieber Julius, willkommen in Berlin. Mensch, wie freu ick ma! Um es mit Max von Schenkendorf zu sagen: Muttersprache, Mutterlaut! / Wie so wonnesam, so traut! / Erstes Wort, das mir erschallet, / Süßes erstes Liebeswort. / Erster Ton, den ich gelallet, / Klingest ewig in mir fort. / Überall weht Gottes Hauch, / Heilig ist wohl mancher Brauch; / Aber soll ich beten, danken, / Geb ich meine Liebe kund, / Meine seligsten Gedanken, / Sprech ich wie der Mutter Mund.»
Lilienblum lachte. «Hör auf mit so viel Pathos, Ernest. Bei der Mutter Mund denke ich sofort an einen Muttermund, der sich nicht öffnet, und frage mich, was ich meiner Patientin spritzen soll, damit sie ihre Wehen besser ertragen kann.»
Die beiden lagen sich nun in den Armen, und Erkenbrecher bemerkte schmunzelnd, dass die ältere Nachbarin, die dem Schauspiel hinter ihrer Hecke atemlos folgte, schon Tränen in den Augen habe.
Man setzte sich auf die Terrasse, um Kaffee zu trinken, dann wurde beschlossen, in die Stadt zu fahren und dem Gast die Mauer zu zeigen. Das war ein Ritual, das dem West-Berliner als unverzichtbar galt. Die Mauer erhöhte ihn, denn keine andere Stadt im gesamten Kosmos hatte ein solches Bauwerk aufzuweisen, und sie sorgte für große Gefühle: Man konnte dem Gast das eigene Elend schildern, mehr aber noch aus tiefstem Herzen das Schicksal der Deutschen drüben beklagen, der Brüder und Schwestern, man konnte die kommunistischen Diktatoren in Moskau und ihre DDR-Vasallen verfluchen. Hinzu kam die große Wut auf die Nationalsozialisten, ohne deren Schandtaten der Potsdamer Platz turbulenter gewesen wäre als Times Square und Broadway zusammen und nicht eine jämmerliche Brache. Die Mauer wühlte jeden auf, der auf die Podeste kletterte, die man an prominenten Stellen errichtet hatte.
Auch Lilienblum war ergriffen, als sie am Potsdamer Platz angekommen waren. «Nichts als Leere, wo früher einmal … Da drüben hat das Haus Vaterland gestanden, in dem ich immer mit Claire gesessen habe in einem der vielen Säle … Grinzing, Löwenbräu, Wild-West-Bar, Csardas, Bodega, Rheinterrassen … Du brauchtest nicht extra zu verreisen, mitten in deiner Stadt warst du woanders.»
«Das würde heute nicht mehr funktionieren», sagte Ernest Erkenbrecher. «Man will reisen, reisen, reisen.»
«Und dass sie das nicht können, ist für die Leute drüben in der DDR ganz besonders schmerzlich», fügte Georgia Erkenbrecher hinzu. «Wenn ich da an Carola denke …»
Günther Zützer war vor zehn Jahren aus Bad Urach geflohen. Zum einen, um der Bundeswehr zu entgehen, denn als West-Berliner war man von der Wehrpflicht befreit, zum anderen, weil er fürchtete, in der Enge der Kleinstadt zu ersticken. Die schwäbische Gemütlichkeit war ihm ein Greuel geworden, und gern zitierte er Nietzsche: Gutmütig und tückisch – ein solches Nebeneinander, widersinnig in Bezug auf jedes andre Volk, rechtfertigt sich leider zu oft in Deutschland: Man lebe nur eine Zeitlang unter Schwaben!
Eine Weile hatte er in West-Berlin studiert, mal dieses, mal jenes, es dann aber zu seinem Beruf gemacht, an Demonstrationen teilzunehmen und leerstehende Häuser «instand zu besetzen». Schließlich hatte er sein Studium sausen lassen und verdiente nun sein Geld als Kleindarsteller sowie mit einer Kneipe in der Kreuzberger Oranienstraße. An deren Wänden standen Sprüche wie Lieber eine schmutzige Unterhose als eine saubere Uniform oder Lieber eine Schwester im Puff als einen Bruder beim Bund.
Wenn Zützer etwas hasste, dann war es das Establishment, und zu dem zählte er auch die Erkenbrecher-Sippe. Besonders verhasst war ihm Ernest Erkenbrecher. Nicht nur wegen seiner Villa in Lichterfelde – galt doch: «Frieden den Hütten, Krieg den Palästen!» –, sondern auch, weil er, Zützer, alles Schöngeistige und Parfümierte ebenso verabscheute wie alle Kulturfunktionäre. Ernest Erkenbrecher war für ihn der GröSchwäZ, der größte Schwätzer aller Zeiten, oder ersatzweise Old Sabberlippe.
Auch auf Georgia Erkenbrecher hatte er sich eingeschossen, denn die Lehrkräfte der West-Berliner und westdeutschen Gymnasien waren für ihn allesamt Büttel des Kapitalismus, von den Herrschenden engagiert, um die Arbeiterklasse und Kinder der kleinen Angestellten und Beamten – mochten sie auch noch so begabt sein – von den Universitäten und damit den Schalthebeln wie den Fleischtöpfen dieses Landes fernzuhalten.
Dass ausgerechnet Rainer Erkenbrecher sein bester Freund war, erschien Günther Zützer als Witz der Weltgeschichte. Aber so war es nun einmal. Die berühmte Chemie. «Wie bei Romeo und Julia», spottete er des Öfteren.
Kennengelernt hatten sie sich ganz unspektakulär bei einem Sit-in an der FU, und zwar im Gebäude der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät an der Garystraße. Als ein paar Professoren dumme Reden geführt hatten, waren zwei Kommilitonen neben ihm auf die Idee gekommen, einen Feuerwehrschlauch aus einem Kasten zu reißen, ihn an einen Hydranten anzuschließen und die Räume der Hardliner unter Wasser zu setzen. Ihm war es bei dieser Aktion zugefallen, eine Glastür zu zertrümmern, während Rainer Erkenbrecher versucht hatte, die gusseiserne Spritze durch die Öffnung zu schieben. Dabei hatte Erkenbrecher sich die Unterarme aufgerissen und so geblutet, dass sich Zützer sein Oberhemd vom Körper gerissen hatte, um ihn zu verbinden. Anschließend war er mit Erkenbrecher ins Krankenhaus gefahren, und sie waren sozusagen Blutsbrüder geworden. Unter Fotos aus dieser Zeit stand: Winnetou und Old Shatterhand an der FU.
So fand er es auch nicht verwunderlich, dass er von Rainer Erkenbrecher gebeten wurde, Yvonne von zu Hause abzuholen und mit nach Lichterfelde zu bringen. Yvonne wohnte in einer WG in der Pflügerstraße und war Schauspielerin. Sie gehörte zum Ensemble eines Off-Theaters, verdiente ihr Geld als Statistin beim Film, insbesondere als unterklassige Liebesdienerin, und träumte von einer großen Karriere an der Schaubühne. Zützer hatte mit ihr zwei- bis dreimal geschlafen und sie sofort ins Spiel gebracht, als Erkenbrecher davon gesprochen hatte, seine Eltern und seine Verlobte damit schocken zu wollen, dass er sich eine Nutte zum Geburtstag wünsche. Eine echte zu engagieren hatte er dann aber doch nicht gewagt. Zützer hatte kommentiert, Erkenbrecher habe die besten Anlagen, um einmal bei den Sozialdemokraten zu landen.
Als er Yvonne in der Pflügerstraße am Straßenrand stehen sah, stieß er die Tür auf der Beifahrerseite auf.
«Wie viel kostet es heute bei dir?»
«Fünfzig, aber mit Präser.»
«Gut, die zahl ich gerne.» Zützer zog den Zündschlüssel ab und schwang sich aus seinem Kleinwagen.
«Das ist Rainers Geburtstagsgeschenk und nicht deines!», rief Yvonne.
«Ja, symbolisch. Du denkst doch nicht etwa, dass Martina ihn einen Augenblick aus den Augen lässt und ihr beide wirklich …» Schon stand Zützer neben ihr. «Ich mein das ernst: Fünfzig Mark, und du spielst die Nutte.»
«Okay.» Yvonne liebte solche Szenen. «Her mit dem Geld, sonst läuft nüscht, mein Kleena.»
Zützer zog den Geldschein aus der Tasche, und Yvonne spielte daraufhin in der Wohnung ihre Rolle so echt, dass die Nachbarin gegen die Wand klopfte und sich über «det fürchterliche Jestöhne» beschwerte.
«Lassen sie dich mit deiner klapprigen Ente überhaupt nach Lichterfelde rein?», fragte Yvonne, als sie sich endlich auf den Weg machten.
Zützer zuckte mit den Schultern. «Kann schon sein, dass wir nicht ankommen, denn auf irgendeiner Fahndungsliste stehe ich bestimmt.»
Auf der Fahrt von Neukölln nach Lichterfelde unterhielten sie sich über das Attentat, das die Tupamaros in Montevideo begangen hatten, und über Heinz Rühmann, der anlässlich seines siebzigsten Geburtstages in der Filmbühne Wien am Kurfürstendamm die Ehrenmedaille der deutschen Filmwirtschaft erhalten hatte.
«Ein unvergleichlicher Schauspieler!», schwärmte Yvonne.
«Und dazu ein wunderbarer Propagandist der Nazis», sagte Zützer. «Von seiner jüdischen Frau ließ er sich sicherheitshalber scheiden.»
Yvonne staunte. «Ich denke, Die Feuerzangenbowle ist dein Lieblingsfilm?»
«Ja.» Zützer schlug mit der Faust auf die Hupe. «Es ist schon eine schöne Scheiße, Deutscher zu sein!»
«Ich kann es nicht fassen», sagte Yvonne, als sie die Villa am Kadettenweg erreicht hatten. «Du als Anarchist zu Gast bei den Erkenbrechers …»
Zützer lachte. «Lieber schizophren als ganz allein.» Rainer Erkenbrecher kam ihnen entgegen, und die beiden Freunde lagen sich in den Armen, während Zützer seine Glückwünsche an den Mann brachte. «Geschenkt bekommst du von mir zwei Nummern mit Yvonne. Stellung nach eigener Wahl. Ich würde a tergo empfehlen, aber reiten kann sie auch ganz gut.»
Martina, Erkenbrechers Verlobte, stand am Gartentor und verfolgte das Ganze mit finsterer Miene. Einerseits tat sie Zützer leid, andererseits aber hoffte er, dass es mit den beiden bald aus sein würde, denn sie war keine Frau für einen Rainer Erkenbrecher.
Martina Grabow war 1951 in Berlin-Pankow auf die Welt gekommen, also in Ost-Berlin, aber vor dem Mauerbau mit ihren Eltern nach West-Berlin gegangen, wo sie eine Stelle als Sachbearbeiterin bei der AOK bekommen hatte. Sie war hübsch, aber mehr als bieder, vom Temperament her eine echte Schlaftablette und dazu herzlich ungebildet. Unter den Künstlern und Intellektuellen, die in der Lichterfelder Villa der Erkenbrechers ein und aus gingen, wirkte sie wie ein Fremdkörper. Das scherte sie jedoch wenig, denn sie hielt die anderen Frauen allesamt für eingebildete Zicken, die möglichst schnell zum Psychiater gehen sollten.
Die Zeremonie nahm ihren Lauf, und bald hatten sich über fünfzig Gäste auf dem Rasen hinterm Haus versammelt. Um alle standesgemäß zu verköstigen, hatten die Erkenbrechers ein Team des KaDeWe bestellt, das hinter riesigen Tischen stand und den Leuten Erlesenes auf die Teller häufte. Auf einer kleinen Bühne spielte eine Combo, und Ernest Erkenbrecher kündigte in einer kleinen Rede von zwanzig Minuten für den späten Abend noch prominente Überraschungsgäste an.
«Na, was sagst du zu dieser Dekadenz?», wurde Zützer von Yvonne gefragt.
Er lachte. «Besser Dekadenz als Egon Krenz.» Den Vorsitzenden der Pionierorganisation Ernst Thälmann hielt er für einen ganz besonderen Simpel des DDR-Regimes, und oft fragte er sich, ob das andere Deutschland nicht viel größere Chancen gehabt hätte, als Sieger aus dem Kampf der Systeme hervorzugehen, wenn an seiner Spitze nicht solche Pappnasen wie Ulbricht und Honecker gestanden hätten, sondern Männer von Format.
Schnell begann Zützer sich zu langweilen. Nicht mal einen Flipper gab es hier, und Tischtennis spielen konnte er auch nicht, weil auf der Platte das Büfett aufgebaut war. Er suchte nach dem Onkel aus den USA. Mit dem konnte man wahrscheinlich ganz gut über die Folgen des Vietnamkrieges diskutieren.
Dr. Lilienblum liebte es, im Gerümpel zu stöbern, ob auf einem Speicher oder hinter der Garage und dem Gerätehäuschen seines Cousins. Plötzlich erblickte er ein vergammeltes Ruderblatt mit Pinne. Er riss es aus dem Gestrüpp und trug es wie eine Fahnenstange zum Grill.
«Bringst du uns was zum Verfeuern?», rief Ernest Erkenbrecher.
«Wo denkst du hin! Anbeten sollten wir es wie einen Totempfahl, denn es erinnert mich an meine Karriere im akademischen Ruderverein.» Und er berichtete mit feuchten Augen von seinem olympischen Traum. «Ich wollte unbedingt dabei sein, 1936 hier in Berlin, aber dann …»
«Haben Sie denn Lust, morgen mal nach Grünau rauszufahren?», fragte Zützer.
Lilienblum zögerte. «Lust schon, es fragt sich nur, ob ich den nötigen Mut dazu aufbringe.»
«Bring ihn mal auf», sagte Rainer Erkenbrecher. «Ich komme mit, und dann besuchen wir alle zusammen Carola.»
«Ich nicht!», rief Martina.
«Wer ist Carola?», fragte Dr. Lilienblum. «Ich kenne nur Rudolf Caracciola. Für mich der größte Rennfahrer aller Zeiten. Zuletzt habe ich ihn 1931 gesehen, als er den Großen Preis von Deutschland gewonnen hat.»
«Nicht Caracciola, sondern Carola», belehrte ihn Georgia Erkenbrecher.
«Ja, Carola Lamberti – eine vom Zirkus., fiel Zützer ein.
«Ein DEFA-Film von 1953, glaube ich. Mit Henny Porten in der Hauptrolle.»
Lilienblum guckte etwas irritiert. «Und was habt ihr mit dieser Carola Lamberti zu tun?»
«Nichts», erwiderte Rainer Erkenbrecher. «Außer, dass meine Cousine auch Carola heißt.»
Dr. Julius Lilienblum las, als sie auf der Fahrt nach Grünau waren, laut vor, was im Album des Cigaretten-Bilderdienstes Hamburg-Bahrenfeld über die Ruderwettbewerbe der Olympischen Spiele von 1936 geschrieben stand.
Er hatte die beiden Bände auf dem Trödelmarkt an der Straße des 17. Juni billig erstanden: « Rudern in Grünau. In den phantastischen Gemälden und Geschehen der Berliner olympischen Ereignisse war dem Rudersport ein besonderer Ehrenplatz beschieden. Die herrliche Fülle von Erfolgen des deutschen Sports hatte die Stimmung im Fortschreiten der Tage auf einen Höhepunkt getrieben, der unüberbietbar schien. Da entstand unter den Wolkenbrüchen des 14. August in Grünau ein Glanztag sportlicher Gipfelleistungen, der beispiellos in allem war und kaum in der Zukunft eine Wiederholung finden wird und kann. In 7 olympischen Wettkämpfen erstritten die deutschen Kämpfer 5 goldene, 1 silberne und 1 bronzene Medaille und stellten den deutschen Rudersport an die Spitze aller Nationen der Welt. Fast unfassbar war dieser überwältigende Erfolg, der in einzigartiger Weise die Krönung des 100-jährigen Bestehens des deutschen Rudersports bildete. In ihm kristallisierte sich Arbeit und Fleiß von Generationen. Der Fortschritt der Technik im Rudern und Bau der Boote. Der restlose Einsatz und unerschütterliche Kampfgeist der besten deutschen Jugend. Inmitten seines begeisterten Volkes ragte die Gestalt des Führers hervor, dessen starker Wille das deutsche Volk zu den größten Taten befähigt hatte und sicher gehörten die Stunden in Grünau zu den glücklichsten seines unvergleichlichen Lebens..
Hier brach Lilienblum ab, da ihn die Erinnerungen zu sehr aufwühlten.
«Schmeißen Sie den Scheiß ins nächstbeste Feuer!», rief Günther Zützer.
«Soll ich etwa das gleiche tun wie die?», fragte Lilienblum.
«Es ist ein Dokument deutscher Geschichte», gab Rainer Erkenbrecher zu bedenken, «und erklärt einiges.»
«Ja, das klammheimliche Deutschland, Deutschland über alles bei den nächsten Olympischen Spielen», sagte Zützer.
«Und die findet 1972 zum ersten Mal mit zwei deutschen Mannschaften statt», fügte Erkenbrecher hinzu.
«Das widerlegt deine These von der anhaltenden nationalen Hybris ein wenig.»
«Wehe uns Westdeutschen, wenn wir da weniger Medaillen gewinnen als die Ostdeutschen!», rief Zützer.
«Und was ist mit den Süd- und den Norddeutschen?», fragte Lilienblum.
«Für den West-Berliner sind alle Menschen aus der Bundesrepublik Westdeutsche, egal, ob sie aus Hamburg, Stuttgart oder München kommen», sagte Erkenbrecher.
«Das ist es, was Niklas Luhmann unter ‹Reduktion von Komplexität› versteht.»
Zützer, der auf der Rückbank saß, beugte sich vor zu Dr. Lilienblum. «Und Sie sagen nachher den ‹Organen› bitte nicht, dass Sie aus dem Osten kommen, wenn auch aus dem Osten der USA, sonst werden Sie für einen Republikflüchtling gehalten und sofort kassiert.»
Sie diskutierten dieses Thema noch, als sie den Checkpoint Charlie erreicht hatten, den Grenzübergang für Ausländer in der Friedrichstraße. Hier hatte Dr. Lilienblum als US-Bürger den Akt der Einreise in die DDR zu vollziehen, während Erkenbrecher und Zützer zum Moritzplatz fahren mussten, zum Übergang Heinrich-Heine-Straße.
«Wir sammeln dich dann auf der Ost-Berliner Seite wieder ein», sagte Erkenbrecher. «Aber das kann lange dauern.»
Vielleicht hätte es bis zum Abend gedauert, wenn ihm auf dem Weg zum Moritzplatz nicht noch eingefallen wäre, dass die Grenzer den Besitz der blauen Olympia-Alben vielleicht als Todsünde ansahen. Doch wohin damit?
Zützer wusste Rat. «Fahren wir schnell bei mir vorbei und lassen es in der Kneipe.»
So dauerte es fünf Minuten länger, bis sie sich am Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße in die Schlange der wartenden PKWs einreihen konnten.
«Diese scheiß Kontrollen!», schimpfte Zützer. «Man sollte diese uniformierten Schweine alle auf den Mond schießen!»
«Jetzt halten wir mal alle den Mund und machen uns ganz klein», sagte Erkenbrecher, der am Steuer saß. Die DDR-Grenzer zu reizen galt unter West-Berlinern als eine Art Selbstmordversuch. Ihr «Bitte fahren Sie mal rechts ran!» ließ sie so zusammenzucken, als hieße das schon fünf Jahre Bautzen.
Zützer lehnte sich zurück. «Mir tun sie schon nichts.» Er war überzeugt davon, dass die DDR die alternative Szene in West-Berlin als sehr nützlich erachtete, schwächte sie doch die Kampfkraft der Frontstadt ganz erheblich.
Da West-Berlinern das Betreten des Ostsektors und der DDR über lange Jahre hinweg verwehrt gewesen war, hatten sich Erkenbrecher und Zützer Bundespässe besorgt. Das war nicht ganz legal und auch nicht im Sinne der Westalliierten, doch Ernest Erkenbrechers Ferienwohnung in Wunsiedel und seine guten Beziehungen zum dortigen Ortsbürgermeister hatten es möglich gemacht.
Ost-Berlin erschien ihnen ungemein exotisch, und sie wollten sich nicht damit begnügen, ab und an mit Passierscheinen eingelassen zu werden. Mal eben ganz spontan in Ost-Berlin ins Theater oder Kabarett zu gehen hatte hohen Erlebniswert. Andererseits wussten sie genau, dass sie ärger bekommen konnten, wenn die DDR-Seite ihnen nachwies, dass sie West-Berliner waren.
Brav reichten sie den Grenzern die erforderlichen Papiere aus dem Wagenfenster. Erst erfolgte die Passkontrolle zum Einstempeln der Einreise, dann die Gepäckkontrolle. Erkenbrecher hatte alles, was für seine Cousine bestimmt war, fein säuberlich in der Zollerklärung eingetragen, doch ihm war entgangen, dass hinten im Fond ein Roman lag, den seine Mutter gestern vergessen haben musste: die Deutschstunde von Siegfried Lenz.
Der Blick des Grenzers war sorgsam geschult, und so hatte er das Buch sofort entdeckt. Den Text aus dem Merkblatt für Bürger nichtsozialistischer Staaten konnte er auswendig hersagen. Danach war die Einfuhr von Literatur und sonstigen Druckerzeugnissen, deren Inhalt gegen die Erhaltung des Friedens gerichtet ist oder deren Einfuhr in anderer Weise den Interessen des sozialistischen Staates und seiner Bürger widerspricht, nicht erlaubt. Sein Zeigefinger fuhr sofort in Richtung des westlichen Druckerzeugnisses. «Was ist denn das da?»
«Ein Stück griechischer Schafskäse – riecht man das nicht?», wollte Zützer zur Antwort geben.
Erkenbrecher wollte sagen: «Ein Buch – haben Sie so etwas in der DDR noch nie gesehen?»
Doch zum Glück konnten sich beide noch beherrschen, und eilfertig sprang Erkenbrecher aus dem Wagen, um dem Mann den Lenz’schen Roman in die Hand zu drücken.
Der nahm ihn mit so spitzen Fingern, als könne er sich allein durch die Berührung mit einem Gift des Klassenfeindes infizieren. «Ist das eine … eine Grammatik?»
«Nein», antwortete Erkenbrecher.
Nun konnte Zützer nicht mehr an sich halten und dozierte im Ton eines Nachrichtensprechers des DDRFernsehens: «Das ist der Roman eines fortschrittlichen westdeutschen Schriftstellers, es geht um die Verfolgung von Antifaschisten im Nationalsozialismus.»
Daraufhin verschwand der uniformierte Milchbart in einer Kontrollbaracke.
Erkenbrecher und Zützer hatten eine gefühlte Ewigkeit zu warten.
Nach einer Viertelstunde kam der Grenzwächter zurück mit der Information, dass er ihnen den Roman unter Vorbehalt mitgeben würde.
«Was heißt unter Vorbehalt?», fragte Erkenbrecher.
«Muss ich das Buch bei der Ausreise wieder mit ausführen?»
«Ja, und bei einer erneuten Einreise in die DDR lassen Sie es zu Hause.»
Endlich durften sie in den Ostteil der Stadt. Langsam rollten sie in Richtung Jannowitzbrücke. Sofort roch es ganz anders. Nach Hausbrand und nach den Auspuffgasen der Trabbis, nach Desinfektionsmittel und nach Plaste und Elaste aus Zschopau. Auch waren die Leute anders gekleidet, biederer und mit Jacken, Hosen und Blusen in merkwürdigen Pastelltönen.
Durch menschenleere Straßen, in denen es noch so aussah wie kurz nach 1945, kurvten sie zurück zur Friedrichstraße, konnten aber Dr. Lilienblum nicht finden.
«Haben sie ihn etwa für einen CIA-Agenten gehalten und hoppgenommen?», überlegte Erkenbrecher.
«Oder noch viel schlimmer: für einen Israeli und Mossad-Mann», fügte Zützer hinzu.
Doch sie fanden den Arzt schließlich auf Höhe Bahnhof Thälmannplatz gelaufen, um sich den Marmor anzusehen, von dem es hieß, er stamme aus der Reichskanzlei.
«Quatsch!», sagte Zützer. «Der kommt bestimmt ganz frisch aus’m Berg irgendwo in Thüringen.»
Sie wollten so schnell wie möglich die Radiale Ostbahnhof, Stralauer Allee, Köpenicker Landstraße, Adlergestell entlang – es war eine endlose Fahrerei. Zwar ging es hier betulicher zu als auf westlichen Straßen, aber die blauen Wölkchen, die aus den Auspuffrohren der Lastwagen und der Trabbis kamen, machten jeden Kilometer zur Qual. Außerdem hatte Erkenbrecher Angst, irgendeinen Fehler zu begehen und womöglich noch in eine Straßenbahn zu krachen. Die gab es in West-Berlin schon lange nicht mehr, und man hatte den Umgang mit den gelben Monstern völlig verlernt. Um sich die Zeit zu vertreiben, erzählten sie sich gegenseitig Ostwitze.
Erkenbrecher begann: «Ein Ehemann erwischt seine Frau mit einem anderen im Bett. Entsetzt ruft er: ‹Ihr Idioten! Im Konsum gibt’s Apfelsinen.›»
«Willy Stoph begrüßt auf dem Ost-Berliner Flughafen Schönefeld die erfolgreiche DDR-Olympiamannschaft. Er beginnt mit gehobener Stimme vom Protokoll abzulesen: ‹ O! O! O! O! O!. Der hinter ihm stehende Stasi-Offizier flüstert ihm aufgeregt ins Ohr: ‹Genosse Stoph, die Rede beginnt weiter unten! Was Sie gerade vorgelesen haben, waren die fünf olympischen Ringe.›»
«Steht ein Volkspolizist auf dem Alexanderplatz und onaniert. Kommt ein Vorgesetzter und fragt ihn, was das denn solle. – ‹Na, du hast doch gesagt: Sperr ma ab.›»
Sie nahmen Kurs auf Grünau und standen gegen fünfzehn Uhr auf Höhe des Sportdenkmals am Ufer der Dahme beziehungsweise des Langen Sees.
«Meine Müggelberge!», rief Lilienblum. «Ein Mittelgebirge en miniature, wie Fontane mal gesagt hat.» Er stutzte. «Nur der Turm sah früher anders aus …»
Zützer lachte. «Ein seltener Fall von Turmmutation: Von der chinesischen Pagode zum Betonklotz.»
Erkenbrecher konnte sich daran erinnern, dass der alte hölzerne Turm irgendwann abgebrannt und von den Ost-Berlinern nach langem Hin und Her durch einen neuen ersetzt worden war.
Vom Schmetterlingshorst her kam ihnen eine ganze Armada von Paddlern entgegen, angefeuert vom Übungsleiter eines volkseigenen Sportvereins, der in einem Motorboot nebenherfuhr und ihnen mit einem Megaphon zurief, was sie besser machen sollten.
Zützer grinste. «Die trainieren alle für ihre Flucht über die Ostsee.»
«Über so was spottet man nicht», sagte Erkenbrecher.
Dr. Lilienblum wandte sich nun dem Sportdenkmal zu. «Das besteht aus den Natursteinen, die mehr als dreihundert Vereine damals in ihren Heimatorten gesammelt und mit ihren Vereinsnamen versehen haben. WILHELM DEM GROSSEN – DER DEUTSCHE SPORT hat mal draufgestanden. Jetzt sieht es aber mehr nach Ruine aus …»
«Ja, und die DDR will es abreißen lassen», fügte Erkenbrecher hinzu. «Weil es an die deutsche Einheit erinnert und weil zu viele Städte aus den verlorenen Ostgebieten vertreten sind.» Er sah auf seine Uhr. «Kommt, wir müssen nach Schmöckwitz, Carola wartet auf uns.»
«Alles dreht sich um Carola», sagte Zützer. «Hab ich noch nie gesehen, die Dame, bin aber schon mächtig gespannt auf sie. Wäre sie was für mich?»
«Nein», erwiderte Erkenbrecher. «Erstens ist sie in festen Händen und zweitens linientreue Bürgerin der Deutschen Demokratischen Republik.»