Читать книгу Am Tag, als Walter Ulbricht starb - Jan Eik, Horst Bosetzky, Uwe Schimunek - Страница 8

DREI
Juni 1972

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EIGENTLICH STIMMTE bei dem, was Erkenbrecher über Carola gesagt hatte, nur das Erste, und auch das nur aus Hartmut Battins Sicht. Mit einer wirklich Linientreuen hätte er niemals etwas angefangen. Nicht mal aus Spaß. Mit Carola aber meinte er es bei allem Spaß, den sie miteinander hatten, durchaus ernst, und es wäre ihm lieber gewesen, sie hätte das auch so gesehen.

«Das siehst du falsch!», war überhaupt so ein blöder Satz, der einem oft genug an den Kopf geschmettert wurde, wenn man eine andere Meinung hatte als die offizielle, und die hatte Hartmut Battin meistens. «Bis du etwa nicht für den Frieden?», klang dagegen schon halb satirisch, hatte aber häufig auch diesen drohenden Unterton, den Hartmut hasste. Schon in der Schule hatten sie ihn ausreichend mit solchen hohlen Sprüchen belöffelt. Jedenfalls einige von den Paukern, und natürlich immer die miesesten. Ein richtig intelligenter Hundertfünfzigprozentiger war ihm selten begegnet. In der Schule nicht, und im Beruf schon gar nicht. Er arbeitete bei der Post.

«Die Reichsbahn und die Post, die saufen, wo’s nischt kost!» Das war der erste Spruch, den er von den alten Kollegen gelernt hatte, die schon unter Adolf die Strippen gezogen hatten, über und unter der Erde, und Kupfer und Kabel waren schon damals knapp gewesen. «Der Ain hat den Kabel erschlagen», wie polnische Kollegen es ausdrückten.

Hartmut arbeitete beim Fernmeldeamt. «Aber zu melden ham wa nüscht!», war der nächste Spruch. In der Rangfolge der Bedeutsamkeit kam die Post ganz hinten und dann noch um zwei Ecken. Selbst der Minister war nur in der CDU, ein abgehalfterter Drogist, den sie Seifen-Schulze nannten. Hartmut hatte ihn einmal reden hören und wusste seitdem, dass es auch zweihundertfünfzigprozentige Unintelligenzler gab, die nicht mal in der SED waren.

Mit seinen Kollegen verstand sich Hartmut Battin glänzend. Nur die machten die Arbeit im Amt überhaupt erträglich, und eine Kollegin ganz besonders. Sie hieß Carola Weigang und war sieben Jahre jünger als er. Nicht dass er besonders auf ganz Junge abgefahren wäre – nein, sie war mit ihren 24 Jahren eine Frau, die wusste, was sie wollte, und damit wohl genau die Richtige für ihn. Obwohl sie neben all ihren – nicht allein körperlichen – Vorzügen mindestens zwei kleine Fehler besaß: Sie kam aus Sachsen, wo bekanntlich die schönen (und vollbusigen) Mädchen auf den Bäumen wuchsen, und ihre Eltern konnten nichts anderes als Bonzen sein. Das bestritt sie zwar vehement – aber wie waren die wohl sonst aus ihrer Wohnhöhle in einem Nest nahe dem umgetauften Chemnitz zu einer Drei-Zimmer-Komfortwohnung in der Rue de Blamage gekommen, jener auch Halb-und-Halb genannten Ex-Stalinallee, wo die Kacheln von den Hauswänden fielen? Den Namen Karl Marx sprach Hartmut selten aus. Kallmastergrad nannte er Carolas Geburtsstadt, und zu seinen Lieblingswitzen gehörten die vom Parteihochschüler, der annahm, Karl May hätte Das Kapitalgeschrieben, und sich nach hundert Seiten Lektüre wunderte, dass immer noch kein Indianer vorgekommen sei, und noch überraschter erfuhr, dass es sich bei Marx-Engels angeblich um zwei verschiedene Personen gehandelt habe.

Carola spendierte für solche billigen Späße nur ein müdes Lächeln, hatte aber mit den westdeutschen Urkommunisten auch nicht viel am Hut. Zu Hause und in der Schule war einfach zu viel von den beiden die Rede gewesen.

Hartmut begründete ihren Überdruss dialektisch mit dem Marx’schen Gesetz der Negation der Negation: Übergroße Quantität schlägt leicht um in eine neue Qualität.

«Und mangelnde Quantität?», fragte Carola. Ihr Sächsisch klang nur noch ganz leicht an, anheimelnd geradezu. Vielleicht hatte er sich auch nur daran gewöhnt.

Aber damit waren sie wieder bei der Arbeit angelangt, von der sie in der Freizeit eigentlich nicht reden wollten.

Sie war die Sekretärin des Mannes, der für die Vergabe der Fernsprechanschlüsse in der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik zuständig war, und wusste, wovon sie sprach. Telefonanschlüsse waren so knapp wie Räucheraal in den Fischläden. Dass es einen Fisch namens Lachs gab, war weitgehend unbekannt. In Carolas Heimatort Limbach-Oberfrohna gab es nicht mal Heringe. «Und dann kommt so ein Holzkopf wie mein Cousin aus dem Westen, schwärmt von Spanien und erzählt von Calamares und Thunfischsteak!», beklagte sie sich.

«Dein Cousin ging noch», wandte Hartmut ein. «Der andere Typ war noch ein paar Zähne schärfer!»

«Wenn sie den netten Alten nicht mitgebracht hätten, wär’s richtig furchtbar gewesen», gab Carola zu. «Am meisten hat mich geärgert, dass die Kerle mir nichts, dir nichts zur Olympiade nach München düsen können, während unsereins auf das Geschwätz von Herrn Oertel im Fernsehen angewiesen ist.»

Ermattet lagen sie auf der breiten Liege in Carolas Einzimmerwohnung, Hinterhaus, vierter Stock, Ofenheizung und die Toilette eine halbe Treppe tiefer, aber eben nicht mehr das fernbeheizte Zimmer mit mütterlicher Ordnung im wörtlichen wie im ideologischen Sinne, aus dem sie sich vor Jahren hierher, mitten in den Prenzlauer Berg, abgesetzt hatte. Demnächst sollte sie eine noch kleinere, wenn auch komfortablere Wohnung der Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft Deutsche Post beziehen.

«Wohnklo mit Kochnische», spottete Hartmut, freute sich aber doch ein bisschen darauf, nicht mehr die Kohlen vier Treppen raufschleppen zu müssen. Als Nicht-Berliner stand ihm gar kein hauptstädtisches Domizil zu. Polizeilich gemeldet war er am südlichen Stadtrand in einem allmählich verfallenden Eigenheim in Eichwalde, das seine Mutter von ihrem zweiten Ehemann geerbt hatte. Mit dessen Tochter aus erster Ehe befand sie sich seitdem im Kriegszustand. Es war wie mit dem gespaltenen Deutschland: An einen Friedensvertrag war nicht zu denken.

Hartmut bewohnte auch deshalb das große Zimmer und zwei Dachkammern mit schräger Decke in der oberen Etage, damit alle Versuche seiner ihm weitestgehend unbekannten ehemaligen Stiefschwester, die ihr angeblich zustehende Haushälfte zu beziehen, von vornherein zum Scheitern verurteilt blieben.

Im Laufe der Jahre war er mehrmals ausgezogen, hatte unter dem Protest seiner Mutter hier und da, kürzer oder länger mit Frauen in deren Behausungen zusammengelebt, war aber immer wieder reumütig heimgekehrt, froh darüber, sein Wohnrecht nie wirklich aufgegeben zu haben. An Mutters Marotten war er gewöhnt.

Auch in Carolas Vergangenheit gab es einen dunklen Punkt, was die Wohnung in der Winsstraße anging. Jedenfalls ließ sie nie wirklich durchblicken, wie sie zu dieser gekommen war.

Natürlich hätten sie heiraten können, und über kurz oder lang hätte ihnen ein Arbeiterschließfach zugestanden, aber so weit waren sie nicht miteinander. Er wollte seine Unabhängigkeit nicht ganz aufgeben, und sie hoffte immer noch, ihm vor einer eventuellen Ehe seine Machoallüren und ein paar andere störende Eigenschaften wenigstens zum Teil abzugewöhnen. Zu ihm und der Schwiegermutter in spe zu ziehen wäre Carola nie in den Sinn gekommen, selbst wenn sich deren Haus dreihundert Meter nördlich und damit in Berlin befunden hätte.

Mit dem Westbesuch hatte man sich in Schmöckwitz treffen müssen, zwischen Berlin und «der Zone», wie der Onkel sich auszudrücken beliebte, lag noch mal eine Grenze. Um die zu überschreiten, benötigte man den blauen DPA, den Deutschen Personalausweis, der seltsamerweise noch immer so hieß, obwohl die oberste Partei- und Staatsführung das Wort deutsch seit einiger Zeit sichtlich verabscheute. Dabei kamen Honecker und sein neuer Oberagitator selber aus dem Westen. Nicht mal der Verteidigungsminister war ein Sachse.

Im Schmöckwitzer Bootshaus direkt neben der «Pallanges Paddelboot namens Early Bird. Eine der kleinen Freiheiten im Sozialismus war, dass man sein Boot und seine Kinder nennen durfte, wie man wollte, jedenfalls beinahe. Der Stasi-Beauftragte im Amt hatte seinem Sohn den Namen Steve verliehen.

In der Woche blieb Hartmut häufig der Bequemlichkeit wegen – und weil er insgeheim fürchtete, ein anderer könne inzwischen seinen Platz einnehmen, aber das gab er nicht zu – über Nacht bei Carola. Der Weg zur Arbeit war nicht halb so lang. Nach den Anstrengungen der Nacht tat es ihm gut, ein Stündchen länger zu schlafen, auch wenn er die Morgendusche vermisste und sich nur schwer an die morgendliche Katzenwäsche gewöhnen konnte und daran, nachts in den Küchenausguss zu pinkeln. Außerdem bereitete es ihm Schwierigkeiten, in Carolas Küche seine lange Haarpracht zu waschen, auf die er so stolz war. Carola hingegen trug ihre blonden Borsten sehr kurz, was aber durchaus reizvoll aussah. Sie wäre auch mit Glatze noch hübsch gewesen.

Erst freitags und wenn das Wetter es zuließ, fuhren sie nach Dienstschluss raus nach Schmöckwitz, machten die Birdklar und bauten Hartmuts winziges Zelt in Rauchfangswerder, auf dem Seddinwall oder einfach gleich drüben an der Krampe auf und blieben dort bis zum Sonntagabend. Der Seddinwall war eine ehemals bewohnte Insel, die schon von weitem mit meterhohen weißen Buchstaben grüßte: Gott schütze uns vor Sturm und Wind und Menschen, die aus Sachsen sind!

Hartmut liebte das Wasser, mochte es noch so dreckig sein, während Carola – nicht etwa des Spruches wegen – ein eher ambivalentes Verhältnis zum feuchten Element besaß. Getrieben vom eigenen Ehrgeiz und dem Stolz ihrer patriotischen Eltern, hatte sie sich vom SC Dynamo in jüngsten Jahren zu einer Freistilschwimmerin ausbilden lassen, auf der große Hoffnungen ruhten. Da ruhten sie allerdings noch immer, denn trotz hilfreicher Pillen und gelegentlicher Auslandsreisen in sozialistische Bruderländer war die Heranwachsende allmählich und schließlich endgültig des ständigen Trainingsdrucks müde geworden und hatte ihre Laufbahn beendet, bevor sie in den Olympiakader aufrücken konnte. Zurückgeblieben waren eine leicht nach vorn gekrümmte Schulter und der Ratschlag des Arztes, es doch einmal mit Schwimmen zu versuchen. Mit Brustschwimmen allerdings und ohne Leistungsdruck. Papa und Mama hatten die Welt nicht mehr verstanden.

Jahre später verstanden sie noch weniger, was ihre Tochter an diesem windigen, gänzlich unehrgeizigen und langhaarigen Ingenieur Hartmut fand, der sich als ein überaus kritischer Bewohner des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden entpuppte und daraus auch kein Hehl machte. Dass so einer auf Kosten der Werktätigen hatte studieren dürfen und auch noch auf eine – wenn auch untere – Leitungsebene aufstieg, wollte nicht in ihre Köpfe. Stattdessen bedrängten sie Carola, endlich selber zu studieren oder wenigstens in die Partei einzutreten. Das verlangte nicht mal ihr Chef von ihr, obwohl es des dienstlichen Geheimnisschutzes wegen besser gewesen wäre. Er selbst war auch nur drin, weil sich das in seiner Position so gehörte. Und das große Geheimnis, dass es viel zu wenige Telefonanschlüsse gab und sich dieser Dauerzustand auch im nächsten Fünfjahrplanzeitraum nicht ändern würde, teilten die Sekretärin und Oberrat Mohnholz mit der Mehrheit der DDR-Bevölkerung.

Von Carolas Westbesuchern ahnten der Chef, vor allem aber ihre Eltern nichts; in deren Kaderakten kam der West-Berliner Familienzweig schon lange nicht mehr vor. Bis zu jenem unguten Augustsonntag 1961 war den Alten zwischen Arbeit, Parteilehrjahr, Versammlungen und Agitationseinsätzen glatt entgangen, dass die dreizehnjährige Tochter inzwischen dank Cousin Rainer die verbotene Stadthälfte samt allen Kinos und Kaufhäusern am Kudamm kannte und möglicherweise auch deshalb nicht mehr die rechte Freude am täglichen Training empfand.

Carola hatte ihren auch nach dem Mauerbau andauernden Kontakt zu den Erkenbrechers vorsichtshalber nicht angegeben. Rainer ließ sich selten genug im Osten sehen und ödete sie dann auch noch mit Fragen zu marxistischer Fachliteratur an, die sie ihm jedoch willig besorgte. Der Gegenwert an Mitbringseln entschädigte sie allemal für das blöde Gefühl, in einer Buchhandlung so etwas zu kaufen oder zu bestellen. Was sie gerne gelesen hätte, gab’s da sowieso nicht. Rainer hatte mal versucht, ihr einen Simmel mitzubringen. Den hatten sie ihm an der Grenze abgenommen.

«Wie gut kennst du deinen Cousin eigentlich?», erkundigte sich Hartmut. Irgendwie kamen sie nicht weg von diesen Besuchern. Dabei war Hartmut das Gefühl nicht losgeworden, von denen wie ein freilaufendes Zootier betrachtet zu werden.

Carola zuckte mit den nackten Schultern. «Als Teenager habe ich ein bisschen für ihn geschwärmt. Das war eine ganz andere Welt da drüben, und er kannte sich dort bestens aus.»

«War er damals auch schon einen Kopf kleiner als du?»

Carola feixte: «Ist er nicht niedlich?» Sie wusste, wie sie Hartmut ärgern konnte.

Aber der stieg nicht darauf ein. «Kann er das Maul halten?», wollte er wissen.

«Was willst du ihm denn für ein Geheimnis anvertrauen?»

Hartmut schnaufte ärgerlich und knetete dabei abwesend ihre linke Brust.

Sie schob seine Hand weg. «Du möchtest, dass er dir Platten besorgt, stimmt’s?»

Hartmut widersprach ihr: «Quatsch!»

Dabei wusste sie genau, wie scharf er auf Dixieland-Platten war, von denen manche klangen wie auf dem Trichtergrammophon abgespielt. Er geriet förmlich in Verzückung, wenn er das Gequäke hörte. Die Band, zu der er gehörte, klang etwas besser. Er spielte Bass, ein Instrument von beträchtlicher Größe, das gewöhnlich Carolas Korridor verbarrikadierte, weil die Proben und viele Auftritte sowieso in Berlin stattfanden. Es sah ein bisschen merkwürdig aus, wenn der großgewachsene Kerl mit flatternder Mähne und dem Riesending auf dem Buckel auf seinem Habicht fuhr. Nicht weniger merkwürdig, als wenn sie hinter ihm auf dem Moped klemmte. Rainer hatte angeboten, ihnen billig einen VW-Käfer zu besorgen. Leider war die private Einfuhr von Fahrzeugen verboten.

«Er könnte mal ’n Weg für mich erledigen», sagte Hartmut vage.

Sie wurde hellhörig. «Was hast du denn im Westen für Wege zu erledigen?»

Er zögerte lange. «Es ist wegen der Kühns … aus Miersdorf», sagte er schließlich. «Die kennst du doch auch.»

Carola erinnerte sich an das sympathische Ehepaar.

«Die immer mit dem Faltboot rumgurken? Die haben wir mindestens zwei, drei Wochenenden nicht gesehen.»

«Eben. Sie wollten sich gleich melden … wenn sie drüben gut angekommen sind.»

Unwillkürlich setzte sich Carola auf. «Die sind rüber?», fragte sie verblüfft. «Davon hast du mir überhaupt nichts erzählt!»

Hartmut küsste sanft ihre vorwitzige Brustwarze.

«Über so was spricht man ja auch nicht.»

«Was soll das heißen? Hast du kein Vertrauen zu mir?»

Er versuchte, sie zu beruhigen. «Zu dir allemal. Aber ein unbedachtes Wort …»

Sie entzog sich ihm und sagte empört: «Du hältst mich also für ein Quatschmaul!»

«Natürlich nicht! Aber warum sollte ich dich mit so etwas belasten?»

«Weil ich die Leute vielleicht gut leiden kann. Obwohl die mit ihrem Igelit-Boot immer so ein Höllentempo vorlegen.»

«Sie haben hart trainiert. Ist kein Spaß, über die Ostsee zu paddeln.»

Carola war geschockt. «Über die Ostsee? Bist du sicher? Man kann doch auch in Berlin über irgendeinen See oder Kanal paddeln.»

«Kann man nicht!» Hartmut wusste es genau. «Das habe ich mit Günther und Annegret oft genug durchgekaut. Der einzige Weg führt über die Ostsee.»

«Du wusstest es also die ganze Zeit?»

Er nickte. «Wenn es nötig ist, kann ich eben auch den Mund halten.»

Carola sah ihn aufmerksam an. «Hast du selber mal daran gedacht?», fragte sie verhalten.

«Über die Ostsee?»

«Ich meine … überhaupt …»

Er erwiderte ihren wachsamen Blick. «Im September 1961 war ich schon fast drüben. Aber …» Er schwieg. Er hatte nie erwähnt, dass es da ein Mädchen gegeben hatte, das mitwollte, und dann doch nicht, weil sie angeblich schwanger war, und zwar von ihm. Und am Ende war sie ein halbes Jahr später im Kofferraum einer Diplomatenlimousine getürmt, und er war noch immer hier. «Hat eben nicht geklappt. Dann haben sie mich zur Fahne geholt, und da ist mir endgültig die Lust auf solche Abenteuer vergangen. Die schießen an der Grenze nicht mit Platzpatronen!»

Sie drängte ihren warmen Körper an ihn. «Das weiß doch jeder. Aber manchmal denkt man trotzdem dran, stimmt’s?»

Sie ahnte nicht, wie oft er daran dachte. Und welche Rolle sie dabei spielte. Ohne dich wäre ich längst weg, hätte er sagen müssen. 1968, kurz vor dem bösen Ende in Prag, war er gerade so weit gewesen, sich samt seiner auf Mikrofilm kopierten Zeugnisse und Unterlagen über die Tschechoslowakei abzusetzen. Und ausgerechnet da hatte es zwischen ihm und der umschwärmten Chefsekretärin Carola gefunkt. Bei einem Geplänkel über Carolas Berufsbezeichnung.

«Sie sind doch seine unentbehrliche Sekretärin», hatte er ihr geschmeichelt. «Ohne Sie ist der Boss doch hilflos.»

«Ich bin die Hauptsachbearbeiterin.» So hieß sie nur, damit sie ein bisschen besser bezahlt werden konnte.

«Aha. Und wer ist für die Nebensachen zuständig?» So hatte es angefangen. Und jetzt lag er hier neben seiner Eroberung, auf die er immer noch stolz war, und sie fragte ihn, ob er rüber wollte. «Im Traum bin ich manchmal plötzlich drüben», sagte er.

«Komisch. Ist mir auch schon passiert.» Das hatte er nicht erwartet.

Der nächste Morgen begann mit einem Beinahe-Unfall in der Prenzlauer Allee, als Hartmut den schlingernden Habicht auf dem glitschigen Pflaster nur knapp zum Stehen brachte. Carola fuhr lieber mit der Bahn, besonders an so einem verregneten Tag, doch dafür war es zu spät gewesen. Sie hatten wenig geschlafen in dieser Nacht, und das trübe Wetter animierte nicht zum Aufstehen.

Im Büro fühlte sie sich unwohl in ihrer feuchten Kleidung. Außerdem standen Antworten auf Eingaben auf ihrem Vormittagsprogramm, also Ablehnungen und Ausreden an Leute ohne Telefon, die sich meistens zum x-ten Mal beschwert hatten. Immer der gleiche verlogene Text, den sie im Schlaf runterratterte, wenn niemand sie störte.

Ausgerechnet heute aber schob sich gegen halb elf eine dickliche Riesenfigur in ihr Zimmer, bekleidet mit einem spermafarbenen Anorak, wie Hartmut die Farbe nannte, und einer zu großen Brille mit violett schimmernden Gläsern auf dem geröteten Nasenzinken. «Ich bin der Norbert», hatte er sich ihr bei seinem ersten Besuch plump-vertraulich vorgestellt, und es hätte nicht des gezückten Klappausweises bedurft, um ihn als Vertreter «der Firma» zu identifizieren.

Mohnholz wandte jedes Mal die Augen gen Himmel, wenn sie den unwillkommenen Besucher meldete. Der feilschte meistens dreist um Extrawürste bei der Fernmeldeversorgung, die man ihm auch prompt briet – oder er wollte irgendwelche Auskünfte einholen, die man ihm ebenfalls nie verweigerte.

Hätte Carola geahnt, dass heute ihr eigener Name und der Hartmuts auf Norberts Wunschliste standen, hätte sie sich das gequälte Lächeln verkniffen, das sie bei seinem Eintritt aufgesetzt hatte. «Verärgern Sie den bloß nicht!», war sie oft genug von Mohnholz gemahnt worden, der sich so leicht vor niemandem fürchtete. «Und lassen Sie ihn immer gleich zu mir, sonst schnüffelt er nur in der Gegend rum!»

Zwischen Mohnholz und ihr herrschte ein ungezwungener Ton. Kaum war der tapsige Besucher diesmal wieder verschwunden, tauchte der Chef aus seinem Gehäuse auf und blickte Carola bedeutungsschwanger an.

«Ist was?», fragte sie.

«Das frage ich Sie.»

«Wieso? Ist der meinetwegen hier gewesen?» Das sollte leichthin klingen, aber es schwang ein unbehaglicher Unterton mit. Unwillkürlich fiel ihr das nächtliche Gespräch mit Hartmut ein.

«Haben Sie irgendwelche Westkontakte?», fragte Mohnholz mit gedämpfter Stimme.

Empört sah sie zu ihm auf. «Wer behauptet denn so was?»

Mohnholz hob begütigend die Hand. «Vergessen Sie’s. Er hat sich nur am Rande danach erkundigt. Wahrscheinlich wegen der VVS-Verpflichtung …»

Carola zog eine Grimasse. Die konnten ihr mit ihrer ganzen Geheimhaltung gestohlen bleiben, und das wusste Mohnholz. Er vertraute ihr und hatte sogar mal gucken lassen, dass seine eigene greise Mutter irgendwo im Westen lebte. Natürlich ohne offizielle Verbindung zu ihm. Sonst hätte er nicht länger auf seinem Posten gesessen.

«Wenn mal was sein sollte, sagen Sie’s mir rechtzeitig», murmelte er und fügte, schon in der Tür, noch hinzu: «Und erzählen Sie Hartmut lieber nichts davon.»

Mit dem war er, wie mit den meisten Ingenieuren und den paar Genossen im Amt sowieso, per du.

Für Carola waren die Schrecken dieses trüben Mittwochs damit keineswegs zu Ende. Am Abend stand die Feier zum 55. Geburtstag der Mutter an, ein Ereignis, vor dem ihr zu Recht graute, zumal Hartmut keine zehn Pferde in die Karl-Marx-Allee gebracht hätten. Außerdem probte mittwochs die Band.

«Du kommst alleine?», fragte die Mutter zwar scheinheilig, doch war ihr die Erleichterung über Hartmuts Ausbleiben deutlich anzumerken.

Der Vater hingegen musterte sie nur prüfend, wie es seine Art war, unterließ aber angesichts der anderen Gäste die übliche inquisitorische Befragung bezüglich ihrer beruflichen, gesellschaftlichen und höchst privaten Entwicklung, ja, er verkniff sich sogar die obligatorische Bemerkung über ihre unpassende Frisur. Dass sie nagelneue Jeans aus dem Westen trug, fiel ihm wahrscheinlich nicht auf.

Ausnahmsweise war Carola nicht die einzige anwesende Verwandte. Aus Mülsen St. Jacob war Vaters Schwester Ursula mit ihrem Mann Ottfried angereist, die zur Zeit in einem Kaff südlich von Berlin ihren Jahresurlaub verbrachten – um dort den ganzen Tag vor dem Fernseher zu verbringen, wie Carola vermutete. In ihrem vorerzgebirgischen Tal war der Westempfang ausgesprochen mies.

Im Gespräch war selbstverständlich nur vom Adlershofer Programm die Rede, wie es sich in Gegenwart eines Referenten der SED-Kreisleitung gehörte, der noch dazu ganz offensichtlich über einen gesamtwirtschaftlichen und globalpolitischen Überblick verfügte, um den ihn die restlichen Anwesenden nicht einmal zu beneiden schienen.

Onkel Ottfried beispielsweise hakte sich an den allzu optimistischen Prognosen des Hausherrn fest und registrierte erstaunt Carolas aufmunterndes Zunicken.

«Bei der Telefonversorgung sieht’s auch ausgesprochen beschissen aus», ergänzte sie Ottfrieds Einwände nüchtern. «Daran kann auch dein Honecker nichts ändern.»

«Ihr könnt immer nur kritisieren!», schnaubte der Vater. «Habt ihr mal überlegt, unter welchen Bedingungen wir anfangen mussten? Der Krieg …»

«… ist seit 27 Jahren zu Ende», unterbrach Carola den allzu vertrauten Sermon. «Irgendwann müssten doch mal normale Zeiten anbrechen.»

Dem Vater verschlug es offenbar die Sprache.

«Na, mit Honecker hat sich doch schon eine ganze Menge geändert», mischte sich Mutters Kollegin Hertha ein, ein Trumm von einem Weib, das der Bowle heftiger zusprach als alle anderen. «Nur der Krenz gefällt mir gar nicht. Aber Lamberz …» Sie verdrehte die Augen schwärmerisch. «Solche Leute hätte Ulbricht sich ranholen heute weiß.»

Natürlich wusste das jeder. Es auszusprechen galt dennoch als Sakrileg.

«Beim letzten Plenum hat Ulbricht ja auch viel gesprochen.» Carola kolportierte damit nur einen Witz, der im Amt umging.

Alle sahen sie ungläubig an. Jeder wusste, dass der entmachtete Erste Mann in keinem Plenum mehr sprechen würde.

«Doch, doch», beharrte Carola, «mit dem Pförtner. Er wollte unbedingt rein …»

In den Mienen der Zuhörer sah sie, dass manche lachen wollten, was der Genosse Vater zu verhindern wusste.

«Die Fehler des Genossen Ulbricht sind ein viel zu ernstes Thema, um darüber frivole Witze zu verbreiten!», wies er seine Tochter zurecht.

«Die meisten politischen Witze kommen aus dem ZK», konterte sie.

In diesem Stil ging es weiter. Das grünstichige Geflacker des neuangeschafften Farbfernsehers beeinflusste das Gespräch nur für kurze Zeit. Vergeblich versuchte der Hausherr, die Vorzüge des französischen Farbsystems gegenüber dem westdeutschen herauszuarbeiten.

«Das haben die Freunde für uns entschieden», stellte Hertha lautstark fest, und niemand widersprach. An einer Moskauer Entscheidung war nicht zu rütteln.

Während Carola ihrer Mutter bei der Vorbereitung des Abendessens half, betrat der Vater die Küche, was selten vorkam. «Was ist los mit dir, Mädel? Musst du denn immer provozieren?», fragte er.

«Provozieren nennst du das, wenn ich von den Mängeln eurer Planwirtschaft spreche? Du kannst gerne mal in unser Amt kommen und die Eingaben der Bürger lesen und wahrheitsgemäß beantworten!»

«Man kann in einer zentral gelenkten Volkswirtschaft nicht alle Zweige gleichzeitig und gleichermaßen entwickeln», dozierte der Alte.

«Ach! Und warum können die das im Westen?»

Seine Miene erstarrte. «So etwas möchte ich nicht von dir hören. Der Klassenfeind …»

«Moment mal!» Carola legte ihm die flache Hand gegen die Schulter. «Weil du gerade vom Klassenfeind sprichst: Ich soll euch beide herzlich grüßen!»

«Von wem?», kam die befremdete Frage zurück.

«Von Rainer. Ich habe ihn neulich in Schmöckwitz getroffen.»

Ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Gewohnheit versuchte der Vater, den Dummen zu spielen. «Was für ein Rainer?»

Das war selbst der Mutter zu viel. «Von Erkenbrechers?», fragte sie ungläubig. «Darf der denn so einfach nach Schmöckwitz?»

«Du hast doch gehört: Unter eurem Honecker hat sich eine ganze Menge geändert.»

Den Vater plagten sofort andere Sorgen. «Du hast ihm hoffentlich keine Adresse oder Telefonnummer gegeben!»

Carola blieb ihm die Antwort schuldig. «Er hatte einen alten jüdischen Onkel aus Amerika dabei. Bist du mit dem eigentlich auch verwandt?»

Der Genosse Weigang schluckte. «Für einen echten Kommunisten existieren keine Rassen-, sondern nur Klassenschranken!», erklärte er schließlich. Eine Antwort war das auch nicht.

«Und ich dachte immer, das Judentum wäre eine Religion», entgegnete Carola.

Am Tag, als Walter Ulbricht starb

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