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SIEBEN

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AUGUST PANKRATZ, 31 Jahre alt und seines Zeichens wohlsituierter Oberbuchhalter mit Prokura im Comptoir der Cohn & Friesackschen Handelsgesellschaft mbH in der Ritterstraße, feine Gläser, Porzellane, Steingut etc., nahm seine Abendmahlzeit täglich in der elterlichen Wohnung in der Britzer Straße ein. Nichts ging über Mutters Küche, oder besser: über die der Köchin Frieda, der August von Kindheit an einen ansehnlichen Schmerbauch verdankte. Auch deswegen tat ihm der feierabendliche Marsch von der Ritterstraße aus am Ufer entlang, quer über den Wassertorplatz unter der Hochbahn hindurch und links hinein in die Britzer, ebenso gut wie der anschließende Verdauungsspaziergang zurück zur Waldemarstraße, wo er ein möbliertes Zimmer bewohnte. Gewöhnlich kam er dort allerdings erst spät an; einladende Kneipen lagen am Wege, und auch sonst hielt ihn mitunter die eine oder andere Annehmlichkeit auf.

Es hatte lange gedauert, bei Vater und Mutter die eigene Bleibe durchzusetzen, doch nach Vaters Schlaganfall, der dem Alten die linke Körperhälfte auf Dauer lähmte, hatte es August nicht länger in der hochherrschaftlichen, nunmehr endgültig von der hysterischen Mutter beherrschten Wohnung gehalten. Dorthin mal ein Mädchen, ja eventuell sogar eine Dame mitzubringen, war gänzlich unmöglich, obwohl zu Mutters täglichen Klagen die besonders laute über die nicht vorhandenen Enkelkinder gehörte, die stets anhielt, bis Augusts warnender Blick sie traf. Für die Zeit des Abendessens hatte er sich ausdrücklich Ruhe für seine vom Büroalltag angegriffenen Nerven ausbedungen.

«Ich kann auch in einer Gastwirtschaft essen!», drohte er, obwohl er dafür viel zu sparsam war. Aber nachdem nun auch Gustav, sein jüngerer Bruder, sich endgültig mit ihr zerstritten hatte und ausgezogen war, fürchtete Mutter nichts mehr, als den Kontakt auch zu ihrem Kronsohn zu verlieren.

Nur einmal hatte sie es gewagt, in seiner Junggesellenbehausung in der Waldemarstraße aufzutauchen und festzustellen, dass seine Wirtin eine viel zu junge Person zweifelhafter Reputation war, aber die wohlproportionierte Frau Wanierke hatte sich zu wehren verstanden und natürlich nichts über eventuelle Besucherinnen verlauten lassen.

August war sparsam, wie seine Konten bei Sparkasse und Köpenicker Bank bewiesen, wusste aber sein Geld an der richtigen Stelle anzulegen. «Schweigen ist Silber», pflegte er zu sagen, wenn er seiner Schlummermutter, die seine pünktlichen Zahlungen schätzte und ihm inzwischen manche vertrauliche Geste nachsah, ein zusätzliches Geldstück überreichte, das ihren Gehör- und Gesichtssinn für eine gewisse Zeit benebelte. «Man war ja auch mal jung. ..», merkte sie dabei nicht ohne Koketterie an und erhielt dafür das prompte Kompliment, dass sie das doch wohl noch immer sei. Frau Warnieke war eine füllige Person von 35 Jahren, die sich ihrer Reize durchaus bewusst war. Eines Abends hatte sie ihn, mit einem seidenen Nachthemd nur leicht bekleidet, in seinem Zimmer heimgesucht, weil sie angeblich mit der Lampe nicht zurechtkam, und es war nicht bei der Lampenreparatur geblieben.

Am nächsten Morgen hatte er getan, als sei nichts Ungewöhnliches geschehen, und auch sie hatte mit keinem Wort auf die vergangene Nacht angespielt, deren Ereignisse sich allerdings in unregelmäßigen Abständen wiederholten. August Pankratz fand es an der Zeit, dass diese Art von Vertraulichkeit ein Ende fand. Es war nicht gut, wenn jemand so viel über ihn wusste. Mehrfach hatte er darüber nachgedacht, das Domizil zu wechseln, fühlte sich jedoch insgesamt bei der Wanierken recht wohl. Nun erforderten die Ereignisse auf dem Balkan mit großer Wahrscheinlichkeit sowieso eine grundlegende Änderung seiner Lebensumstände; da blieb die Kündigung des Zimmers noch das Geringste, was es zu bedenken galt.

August befand sich seit Tagen in einer geradezu euphorischen Stimmung, die ihn am Sonntag in die Innenstadt getrieben hatte, wo er auf Tausende Gleichgesinnte stieß und mit ihnen gemeinsam die Linden entlangparadierte. Auch heute Abend hatte er wieder vor, zur Friedrichstraße zu fahren und sich inmitten der patriotisch gestimmten Menge zu erbauen.

Seine Mutter indessen - als hätten sie keine eindeutige Vereinbarung über ihre Tischgespräche getroffen - schwätzte unaufhörlich daher, während er schweigsam den wohlgeratenen Sauerbraten samt Rotkohl und Klößen in nicht zu kleinen Happen in sich hineinschaufelte und es vermied, den Blick in Richtung Vater zu erheben, der sich mit seiner zitternden Rechten um ein Gleiches bemühte. Soße und Rotkohlsaft rannen ihm dabei aus dem links herabgezogenen Mundwinkel.

«Kannst du dir vorstellen, dass diese Person hier plötzlich mit einem Kind auf dem Arm erscheint?!», fragte die Mutter voller Empörung. «Angeblich das Balg einer nichtsnutzigen Nachbarin.»

August stieß nur einen brummenden Laut aus, der ebenso gut Zustimmung wie Ablehnung - und nur die war gemeint - bedeuten konnte.

«Weißt du, was ich glaube?», fuhr die Mutter ungerührt fort und sandte einen schnellen Blick herüber zu ihrem Ehemann, der hilflos mit der Gabel auf dem Teller herumfuhr. Sie senkte die Stimme, als sei der Vater nicht nur halb gelähmt, sondern auch schwerhörig. «Es ist der Bankert ihrer Tochter! Die bringt sie nämlich nie mehr mit. Angeblich hat sie eine Stellung angetreten. ..»

Verächtlich stieß sie die Luft aus.

August horchte auf. «Von wem redest du eigentlich?», erkundigte er sich unfreundlich.

«Na, von wem wohl? Von der Waschfrau, der Jungnickeln aus der Adalbertstraße!»

August hustete und hielt sich die Serviette vor den Mund.

«Ach, die. ..», sagte er langgezogen. «Kommt denn die immer noch ins Haus?»

«Ja, was glaubst du denn, wer deine Wäsche besorgen soll? Und seine. ..» Die abfällige Handbewegung zum Vater hin war deutlich genug. «Was der verbraucht, wird immer mehr.»

August verzichtete auf einen Kommentar. Mitunter tat ihm der Alte zwar leid, aber was der sich als Familienoberhaupt den Söhnen gegenüber an Drohworten und Tiraden, ja an Wutausbrüchen und niederträchtigen Strafen geleistet hatte, konnte und wollte er nicht vergessen. Unwillkürlich fuhr seine Zungenspitze zum oberen falschen Schneidezahn, den er einer solchen Attacke verdankte. Und Gustav war es noch schlimmer ergangen.

«Du erinnerst dich gewiss an das süße blonde Ding, das sie früher immer mitbrachte. Gustav hatte wohl ein Auge auf sie geworfen. .. Er hatte ja schon immer so einen gewissen Hang zum Ordinären. ..» Lauernd sah sie ihn an. «Weißt du etwas von Gustav? Lebt er etwa - mit irgendeiner Person zusammen. ..?

Der Vater stieß ein paar Laute aus, die wohl seine tiefe Abneigung gegen den Geschmack seines jüngeren Sohn ausdrücken sollten. Weder August noch die Mutter reagierten darauf. Resigniert verstummte der Alte und machte sich über das Kompott her.

Gewiss, August erinnerte sich an das dralle blonde Mädchen, verspürte aber nicht die geringste Lust, ausgerechnet mit seiner Mutter über diese Person oder über seinen Bruder Gustav zu sprechen.

Sie hingegen ließ sich nicht in ihrem Redefluss aufhalten.

«Die beiden Söhne von der Jungnickeln - das heißt, die sind von ihrem ersten Mann –, die sollen ja auch recht missraten sein, sagt man allgemein. Frau Professor Nothnagel. ..»

Unwillkürlich hob August den Kopf, was die Mutter als ein warnendes Zeichen auffasste, nicht auch noch Mechthild, die schon etwas altbackene Tochter der Familie Nothnagel zu erwähnen, von der sie lange Zeit gehofft hatte, sie einmal als Schwiegertochter in die Arme schließen zu dürfen.

Zu ihrer Überraschung jedoch fragte August mit einer Spur von echtem Interesse: «Sind denn die Nothnagels schon von der See zurück?»

«Heute Mittag eingetroffen. Die politische Lage, meint der Herr Professor. Die Frau Professor wäre mit Mechthild gerne noch geblieben.»

«Hmm. ..», machte August nur und zwirbelte selbstvergessen die linke Spitze seines martialischen Schnauzbarts.

Die Mutter, Augusts Empfindlichkeit bezüglich der Nothnagelschen Familie eingedenk, kehrte lieber zu ihrem ursprünglichen Thema zurück. «Frau Professor ist jedenfalls der Meinung, sie ließe eine solche Person wie die Jungnickeln sicherheitshalber gar nicht erst in ihre Wohnung, weil die vielleicht bloß alles. .. ausbaldowere, und die Herren Söhne dann später. ..»

August unterbrach sie. «Mach dir keine unnötigen Sorgen. Demnächst rücken die Kerle sowieso ins Feld, da vergehen ihnen die Flausen!»

«Es gibt Krieg, nicht wahr?»

«Selbstverständlich. Glaubst du, wir ließen unsere österreichischen Brüder im Stich?»

«Ja, ja. Aber was wird aus eurer Firma? Liefert ihr nicht viel nach Petersburg?»

«Darum muss sich der Cohn gefälligst selber kümmern», entgegnete August. «Dem geht jetzt schon der Hintern auf Grundeis, weil Porzellan und Krieg ihm nicht so recht zusammenpassen wollen. Dabei vergisst er, dass man das Zerschlagene hinterher wieder ersetzen muss. Das wird ein Bombengeschäft, vor allem in Frankreich und in den neuen Kolonien, die wir dann beherrschen werden.»

«Na, wenn du meinst. ..»

Endlich stand ihr Mundwerk mal ein Weilchen still, und er fand Zeit, ein wenig nachzudenken. Wie sich doch alles fügte! Nun war es endgültig an ihm, noch etwas Grundlegendes zu erledigen, das er nicht länger vor sich her schieben durfte. Ein deutscher Mann, der kurz davor stand, ruhmreich in den Krieg zu ziehen, hatte gefälligst auch seine häuslichen und familiären Verhältnisse in jeglicher Beziehung zu ordnen, und das gedachte er zu tun.

Als er sich erhob, fragte die Mutter beinahe zaghaft: «Wirst du denn auch in den Krieg ziehen?», und er antwortete markig: «Wie es die Pflicht jedes echten deutschen Mannes ist!»

«Und Gustav?»

August hob die Achseln. Der Bruder war schon immer ein bisschen schwach auf der Brust gewesen. «Mach dir um den keine Sorgen. In spätestens acht Wochen sind wir sowieso alle wieder aus Paris zurück!»

Er blickte ein letztes Mal zu seinem Vater. «Und dann trinken wir alle gemeinsam echten französischen Champagner!», rief er dem gestrengen Antialkoholiker zu.

Der Alte ließ nur ein unverständliches Gurgeln hören.

Der Ehrenmord

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