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DREI

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MARTHA JUNGNICKEL, geborene Zeppenfeld, verwitwete Unrauh, war nahe daran, die letzten Nerven zu verlieren. Nur mit einer leichten Kittelschürze bekleidet, fegte sie schwitzend durch Flur und Küche ihrer düsteren Hinterhofwohnung und wusste nicht, wo ihr der Kopf stand. Wie jeden Morgen hatte Otto das Haus am frühen Morgen auf der Suche nach Arbeit verlassen, und auf der Chaiselonge in der einzigen Stube schlief Max grunzend seinen Rausch aus. Jedenfalls vermutete sie das, denn er war erst gegen Morgen hier aufgetaucht.

Im Flur - eigentlich nur ein totes Stück Gang zwischen Küche und Stube - stand Hugo quäkend in seinem Bettverschlag. Sie wusste nicht, womit sie ihn füttern sollte. Das Küchenspind war leer bis auf einen Mehlrest. Da half es nichts, dass sie zum x-ten Mal Tiegel und Tüten beiseite räumte. Sie hatte selber Hunger.

Durch das weit geöffnete Küchenfenster drang aus dem engen Hof nur der faulige Geruch der Müllkästen herein. Kein Hauch bewegte den feuchten Dunst, den die brodelnde Wäsche im Zinkbottich auf der Kochmaschine verbreitete.

Verzweifelt sank Martha auf den Küchenschemel. Was sollte nur werden? Sie hatte der Pankratzen in der Britzer Straße für heute die kleine Wäsche versprochen, konnte dort aber unmöglich mit dem quäkenden Gör anrücken. Die ehrpusselige Pankratzen wusste nicht einmal, dass Lina ein Kind hatte.

Dabei brauchte sie das Geld von der knickrigen alten Kuh.

Wenigstens ein paar lumpige Groschen! Max darum anzugehen war hoffnungslos. Wenn der erst am frühen Morgen in die mütterliche Wohnung fand, dann war das ein Zeichen dafür, dass er abgebrannt war bis auf den letzten Pfennig. Sonst nächtigte er lieber bei seinen Weibern oder wer weiß wo.

Max, den sie mit knapp siebzehn geboren hatte, war immer ihr Sorgenkind gewesen und geblieben, und auch jetzt, wo sie ihn am dringendsten gebraucht hätte, war wenig von ihm zu erwarten. Bei der Hitze verkaufte der Heringsbändiger, bei dem er gelegentlich aushalf, bestimmt keine Fische. Außerdem hätte Max dann längst mit dem in der Markthalle sein müssen.

Als Hugos Blöken die Schmerzgrenze ihrer Ohren überschritt, fuhr sie auf und hastete in den Flur. Halt’s Maul, hätte sie ihn am liebsten angeschrien und derb durchgeschüttelt, aber als das greinende Kind die dünnen Arme nach ihr ausstreckte und ein klägliches «Mam - mam» hören ließ, nahm sie den Jungen wortlos, wenn auch nicht gerade zärtlich, auf den Arm und ließ ihn an ihrem Finger saugen.

«Ja, brüll nur Mam-mam!», sagte sie. «Die hat dich längst vergessen, deine Mam-mam. Die sehen wir vorläufig nicht wieder.»

Ganz wohl war ihr bei diesen Worten nicht. Immerhin hatte sie selber die Tochter dazu gebracht, im Zorn die Wohnung zu verlassen. Nicht zum ersten Mal. Aber zum ersten Mal war sie drei Nächte lang nicht nach Hause zurückgekehrt.

Mit Hugo auf dem Arm betrat sie das Berliner Zimmer, in dem trotz der Größe des Raums die stickige Luft stand wie eine Wand. Sie schlängelte sich zum einzigen Fenster und riss es auf. Kaum drei Meter entfernt kramte Rataizik herum. Lauernd sah er zu ihr auf und grüßte spöttisch: «Morjen, Frau Jungnickel. Wolln Se Ihren Nachwuchs belüften?»

Der unverschämte Kerl hatte ihr gerade noch gefehlt. Ewig lungerte er vor ihrem Fenster herum mit seinen Glubschaugen. Und Lina hatte er schon ein paar Mal angefasst, wenn sie die Treppe saubermachte.

Wortlos wandte Martha sich ab und trat an Max’ Schlafstelle.

«Wach uff, du verlotterter Kerl!», fuhr sie ihn an. «Du jehst jetzt los und suchst Linan, hörste?»

Max hörte nicht oder tat wenigstens so. Dafür erschien für einen Augenblick Rataiziks Rundschädel unterhalb des Fensterbretts. Martha legte Hugo auf dem Fußboden ab, hastete zum Fenster und beugte sich weit hinaus. «Kümmern Sie sich man um Ihren eigenen Dreck, Herr!», fuhr sie den Mann an, der gebückt zwischen den rostroten Müllkästen unter dem Fenster stand, als suche er etwas. «Sonst fällt mir am Ende noch versehentlich der Inhalt von mein’ Nachtjeschirr aus’t Fenster!»

Rataizik richtete sich auf und grinste ihr frech ins Gesicht.

«Denn passen Se mal uff, dass Ihn’ nich noch wat andret aus’m Fensta fällt, junge Frau!», antwortete er mit einem anzüglichen Blick auf den Ausschnitt ihrer Schürze. Unwillkürlich raffte Martha den dünnen Stoff über dem üppigen Busen zusammen und knallte mit der anderen Hand das Fenster zu. Sein scheinheiliges «Was is denn man mit Ihre Lina los?» hörte sie gar nicht mehr.

Das hatte man davon, wenn man Parterre wohnte. Hochparterre nannte sich das hier, weil im Hausflur vier Stufen nach oben führten und unter den Fenstern deswegen noch Platz für die Müllkästen blieb.

«Du stehst jetzt uff!», brüllte sie den Sohn an und versetzte ihm eine derbe Kopfnuss. «Ick hab et satt mit euch! Eena immer fauler als der andere, und sich bei Muttan durchfressen, det könnta! Aber wo unsereins det Brot hernimmt, intressiert die Herren nich!»

Das war zumindest Otto gegenüber ungerecht, wie sie wusste, und aus Wut darüber schlug sie noch einmal zu, wenn auch nur mit halber Kraft.

«Steh uff, und such Linan!»

Max wehrte ihre Hand ab wie eine lästige Fliege, bevor ihm zum Bewusstsein kam, dass die eigene Mutter seinen Schlaf störte. Er stieß mit derber Faust nach ihr und murrte: «Such doch deine dämliche Lina aleene! Wirst schon wissen, bei wem se sich verkrochen hat.»

«Weiß ich eben nicht!», entgegnete Martha Jungnickel ungewohnt kleinlaut und weinerlich. Sie zog einen wackligen Stuhl mit durchgesessenem Korbgeflecht heran und ließ sich darauf nieder. Hugo kroch zu ihr, zog sich am Schürzensaum hoch und stieß wieder sein jämmerliches «Mam - mam» hervor.

«Maxe! Es handelt sich schließlich um deine eijene Schwester. ..», beschwor Martha ihren Ältesten.

«Höchstens zur Hälfte», brummte der. «Lass mir bloß mit die in Ruhe!»

Das fehlte Martha gerade noch, an den längst dahingegangenen Richard Jungnickel erinnert zu werden, der ihr außer Lina nur einen Batzen Schulden hinterlassen hatte und die böse Erinnerung an all die Weibsbilder, mit denen er sich abgegeben hatte, bevor er eines kalten Herbstabends besoffen vom Kutschbock gefallen und von dem Fuhrwerk überrollt worden war, das ihm nicht einmal gehörte.

Sie schluckte, weil der Unfall sie an die verschwundene Tochter erinnerte, und sagte zu Max: «Als sie klein war, hast du sie jemocht. ..»

«Ja, und wenn se uff mir jehört hätte, jings ihr heute blendend, und du brauchtest dir nich mit det Jör abzuplaren. Aber dämlich wie ihr Weiber seid, hat se den ersten besten uff de Treppe rübersteigen lassen. ..»

Mit einem Schritt stand Martha am Kanapee, und ihre Hand fuhr ein weiteres Mal in Max’ Gesicht. «Versündje dir nich, du Lude!», keifte sie. «Du wolltest sie uffn Strich schicken, du Strolch!»

«Na und?» Max richtete sich auf. Tiefe Kratzspuren zierten seinen ausgemergelten Oberkörper. «Da hätte se wenigstens ’n paar Sechser vadient bei ihr Vergnüjen. Aber sie macht’s ja lieber umsonst, die feine Dame! Wer weeß, vielleicht hat se ja ’n reichen Kober mit orntlich Asche erjattert. War doch immer ihr Traum!»

«Und lässt mir hier mit det Jör alleene? Nee, mein Lieba! So eene is meine Lina nich! Ick sahre dir, et is wat passiert, und wir müssen ihr suchen!»

«Denn such ma scheen.» Max schloss die Augen und ließ sich auf seine Schlafstätte zurücksinken, als ginge ihn die ganze Angelegenheit nicht länger etwas an.

«Komm, mein Kleena.» Beinahe zärtlich hob Martha ihr greinendes Enkelkind auf und ging zur Tür. «Denn müssn wa uns ehm bei die Blauen nach deine Mutter erkundigen. Die wer’n schon wissen. ..»

«Biste meschugge?» Mit Schwung warf Max das Bettzeug von sich und stand auf. Nackt und bleich und drohend stand er da, die langen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Ängstlich klammerte sich Hugo an Marthas geschwollenes Bein und beguckte Maxens langgezogenes Glied.

«Bei die Blauen! Wat Bessret fällt dir wohl nich ein, wie? Willste, dass die hier komm’ und allet koppstellen, dein Spinde durchwühlen und inne Nachbarschaft rumhorchen?» Er äffte das Gerede nach: «Bei die Jungnickeln is nämlich de Tochter verschwunden! Wer weeß, wo die ihr hinjetan ham. .. Diese Leute is doch alles zuzetraun!»

«Na, wat soll ick denn machen? Du hilfst mir ja nich, det Mädel zu suchen.»

Max warf seine langen Locken nach hinten und strich sie mit beiden Händen glatt. «Mensch, wat gloobste denn, wat ick die janze Nacht jemacht habe? Überall bin ick rumjekrochen und habe rumjefraacht. ..»

«Nenn mir nich Mensch! Ick bin immer noch deine Mutta! Haste wenichstens wat rausjekricht?»

«Nich die Bohne. Keena will ihr jesehn ham.»

«Aber es war schon die dritte Nacht!», jammerte Martha. «So lange is se noch nie wechjebliem.»

«Eenmal is keenmal.» Ungeniert kratzte sich Max die Hoden.

«Noch sind ja die Nächte warm.»

«Und wer hat dir so zerschrammt in die warmen Nächte?» Anklagend wies die Mutter auf die Nagelspuren auf seiner Brust.

Max’ Miene verfinsterte sich. Doch dann überzog ein breites Grienen sein Gesicht. «Allet aus reine Liebe, nischt weiter», sagte er stolz. «Manchmal sind die Mädels wie doll und verrückt.»

Martha schüttelte den Kopf. «Doll und verrickt - det werd ick hier ooch noch mal.»

Der Ehrenmord

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