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DER BRUCH

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DIE IM HERBSTWIND SCHWINGENDEN LAMPEN warfen ihren matten Schein auf die entblätterten Linden. Die gab es noch – oder wieder, sechseinhalb Jahre, nachdem ringsum alles in Schutt und Asche gelegen hatte. Wenig erinnerte an den Glanz der einst so prächtigen Allee. Zwischen der kahlen Fläche, auf der sich bis vor einem Jahr die Schlossruine erhoben hatte, und dem Brandenburger Tor, wo über den Quadriga-Resten schlaff ein rotes Fahnentuch wehte, war kein Gebäude vom Krieg verschont geblieben. Für die Weltfestspiele, vor drei Monaten mit großem Aufwand veranstaltet, hatte man die gröbsten Schäden beseitigt. Die Tristesse blieb.

Am Tage täuschten der spärliche Straßenverkehr, die Studenten der Universität, die Bauarbeiter am Zeughaus und die Mitarbeiter der Behörden, die sich in den notdürftig wiederhergestellten Bürohäusern breitmachten, Normalität vor. Jetzt, zur Geisterstunde, in einer feuchten Novembernacht des Jahres 1951, lag Preußens Prachtboulevard verlassen wie eine nutzlose Filmkulisse. Bald würde der letzte Bus der Linie 9 vorbeituckern und dann endgültig Ruhe einkehren.

Den drei Männern, die sich seit gut einer Stunde in der Ruine hinter dem Eckhaus an der Charlottenstraße aufhielten, konnte das nur recht sein. Sie hatten manche Nacht hier verbracht und kannten sich bestens aus. Selbst mit der Geschichte des Gebäudes, 85 Jahre zuvor als Grand Hotel de Rome errichtet und 1911 zu einem fünfgeschossigen Geschäftshaus umgebaut, waren sie vertraut. In den Vorkriegsjahren hatten hier Importgesellschaften, Anwälte und Reedereien residiert und Banken die Geschäftsräume im Erdgeschoss genutzt. Die Fassade Unter den Linden verriet wenig von den Bombenschäden an dem mächtigen Baukörper. Der Flügel hingegen, der sich in der Charlottenstraße bis zur Mittelstraße erstreckte, lag in Trümmern. Nur das provisorisch gesicherte Erdgeschoss verdeckte die Sicht auf die kahle Hofwand. Alle Fensteröffnungen zur Straße waren vergittert oder zugemauert, eine ausgediente Zimmertür versperrte den einzigen Zugang.

Durch diese Tür waren die Männer in den vergangenen Jahren immer wieder geschlüpft. Keineswegs unbemerkt, war doch einer von ihnen zeitweilig sogar Teilhaber jener Firma gewesen, die das mit Dachpappe gedeckte Parterre schon 1947 angemietet hatte. Zentral-Immobilien GmbH hieß das anscheinend nicht sonderlich florierende Unternehmen eines gewissen Herrn Müller. In der zerstörten Stadt wunderte sich kein Mensch darüber, dass ein Immobilienhändler sein Geschäftslokal in einer Ruine gegenüber der düster aufragenden Staatsbibliothek betrieb. Die nahen Linden waren noch immer eine gute Adresse und würden es wieder werden. Anwälte und Firmen unterhielten ihre Büros im Haus Unter den Linden 10. Im Erdgeschoss residierte die Verkehrskasse der Reichsbahndirektion Berlin. In der geschäftigen Umgebung fielen weder der Kaufmann Müller noch seine Kunden und Teilhaber auf.

Als das Schild der windigen Firma von einem auf den anderen Tag verschwand, bemerkte es kaum jemand. Die Miete wurde stets pünktlich bezahlt, und keiner kümmerte sich darum, was eine pleitegegangene Immobilienfirma in den Erdgeschossräumen lagerte.

Nebenan, direkt unter der Verkehrskasse, befand sich seit 1911 deren Tresorraum, geschützt von einem stahlbewehrten Betonmantel. Ein schmaler Gang, der keinen Platz für sperriges Werkzeug bot, umgab den festungsgleich gesicherten Raum. Spiegel in den Ecken boten dem stündlich kontrollierenden Wächter am einzigen Zugang einen Rundblick. Die Decke zu den darüberliegenden Bankräumen bestand aus meterdickem Stahlbeton.

Der Tresorraum galt als einbruchsicher. Niemand wusste das so gut wie die drei Männer, die seit einem Jahr Nacht für Nacht damit beschäftigt waren, sich bis dorthin vorzuarbeiten. Der ursprüngliche Plan, sich dem Tresor von unten zu nähern, war schon beim ersten Versuch gescheitert, denn der Grundwasserspiegel lag kaum einen Meter unter dem Kellerboden. Sie hatten sich also etwas anderes einfallen lassen müssen. «Dieser Schrank wird geknackt!», hatte Panitzke geschworen, der Entschlossenste von ihnen. Heute sollte der entscheidende Durchbruch gelingen.

Die Idee, ausgerechnet diesen Tresor zu knacken, war gleich nach dem Krieg entstanden. Damals hatten noch Reichsmark darin gelegen, deren Gültigkeit in naher Zukunft ablaufen würde. Vielleicht hatten die Beteiligten – und das waren ein paar mehr als die drei Nachtarbeiter in der Charlottenstraße – das aufwendige Unterfangen deshalb vor sich hergeschoben, ohne sich endgültig an die Arbeit zu machen.

Im Juni 1948 kam plötzlich, aber nicht unerwartet die Währungsreform. Innerhalb eines Tages galt in der westlichen Trizone nur noch die neue Deutsche Mark, von den Amerikanern ein Jahr zuvor gedruckt und unter höchster Geheimhaltung nach Deutschland eingeflogen. Die Russen standen da wie das Kind beim Dreck und mussten fürchten, in ihrer Zone mit wertlosem Altgeld überschwemmt zu werden. Als die westlichen Alliierten die D-Mark, mit einem runden B-Stempel versehen, auch in ihren Berliner Sektoren zur gültigen Währung erklärten, verhängten die Russen eine Blockade gegen West-Berlin. Im Osten beklebte man mangels neuer Scheine die alten mit eilig gedruckten Coupons, Tapetenmark genannt. Vier Wochen später lieferte Moskau seinem Besatzungsgebiet eine Deutsche Mark, deren Wert von Anfang an nur einen Bruchteil der westlichen ausmachte. Fortan galten zwei Währungen in der sich vollends spaltenden Stadt. Im Osten waren der Besitz von und der Umtausch in Westmark verboten.

Seither waren über drei Jahre vergangen. Die Berliner hatten sich an das Währungsgefälle wie an manch anderen Widersinn gewöhnt. Im Westen hielt jeder Händler die täglich aktualisierte Umtauschtabelle bereit, um die Ostkunden zu bedienen. Vollkommen ließ sich die östliche Abschottung gegen die Westmark nicht umsetzen, arbeiteten doch zahlreiche West-Berliner im Osten. Die beanspruchten einen Teil ihrer Bezüge in Westmark, um wenigstens Miete, Strom, Gas und Fahrgeld bezahlen zu können. Die Deutsche Reichsbahn samt Berliner S-Bahn befand sich in östlicher Hand, was das komplizierte Fahrscheinregime keineswegs einfacher machte. In West-Berlin mussten alle Fahrkarten in Westmark bezahlt werden. In Ost-Berlin gab es Rückfahrkarten in Ostmark. Von den Westgeldeinnahmen bezahlte die Reichsbahn ihre in West-Berlin wohnenden Angestellten.

Den drei Männern in der Immobilienfirma war der Umgang mit größeren Geldsummen – zumindest in der Theorie – vertraut. Sie setzten darauf, dass die Ost- wie die Westgeldeinnahmen für die Lohnzahlungen im Tresor der Eisenbahnverkehrskasse landeten. Oft genug hatten sie, verborgen hinter den verstaubten Fenstern der Firma Müller, die in den Hof fahrenden Geldtransporter beobachtet. Volkspolizei sicherte den Weg zum strengbewachten Tresorraum. Vierzehn Säcke hatte Erwin Panitzke am Nachmittag des 6. November gezählt. Das hatte den Ausschlag für den Nachteinsatz gegeben. Es war schon genug schiefgegangen.

Der 51-jährige Panitzke war ein drahtiger, agiler Mann von durchschnittlicher Größe. Seine eher mickrige Figur passte zu seinem Beruf – er hatte Schneider gelernt –, nur waren die Finger etwas zu dick und die Füße ein wenig zu groß geraten. Mit Nadel und Faden hatte Panitzke zuletzt im Zuchthaus hantiert, wo er dreizehn Jahre seines Lebens verbracht hatte. Heute sollte er wieder schneiden – mit dem in einer eiligen Aktion aufgetriebenen Schweißbrenner.

Sein Freund Willy Kremplin, drei Jahre älter und einen halben Kopf größer, bezeichnete sich selbst als Kaufmann und verfügte über nicht weniger Knasterfahrung als Panitzke. In einschlägigen Kreisen galt er genau wie seine beiden Kumpanen als professioneller Schränker von Format.

Der Dritte im Bunde hieß Werner Geißler, im Milieu als «Muhme» bekannt, seiner Brille wegen gelegentlich auch als «Doktor» tituliert. Er war es, der kurz vor eins unter der schützenden Steppdecke einen triumphierenden Schrei ausstieß: «Durch!»

Endlich! Der Steinbohrer hatte die letzten sechs Zentimeter Beton durchdrungen. Ihre Berechnungen stimmten. Der Rest schien nach der monatelangen Plackerei ein Kinderspiel. Sie waren ein paarmal drauf und dran gewesen, die Sache aufzugeben. Panitzke war es, der sich und die anderen immer wieder angetrieben hatte: «Am richtigen Tag sind in dem Tresor Millionen drin, versteht ihr? Nicht bloß ein Handgeld für jeden von uns!»

«Jeder von uns» – das waren längst mehr, als am Anfang geplant. Zwei davon saßen inzwischen in Moabit. Dass die ihr Maul hielten, galt als sicher. Erich Marggraf, ein Jahrzehnt lang in Berlin der «König der Schränker» und Chef der berüchtigten «West-Kolonne», einer Verbrecherbande, war nicht einmal von den Nationalsozialisten kleinzukriegen gewesen, obwohl die ihn als «gefährlichen Gewohnheitsverbrecher» zu Zuchthaus und Sicherungsverwahrung verurteilt hatten. Auf seinen Adlatus Addy Groß war ebenso Verlass. Außerdem brauchte der Geld, wenn er rauskam.

Schuld an der Verhaftung von Marggraf, dem eigentlichen Kopf des Unternehmens, war Panitzke – oder vielmehr dessen Umgang mit dem Brenner. Er sparte beim Sauerstoff, und die Flamme hinterließ eine Rußspur. Wenn man nicht aufpasste, geriet der Tresorinhalt in Gefahr. Genau das war beim letzten Bruch in der Wrangelstraße passiert, wo Panitzke einen Panzerschrank geöffnet hatte. Ein Teil der Beute – 22 000 West- und 26 000 Ostmark, die Wochenendeinnahmen eines geschäftstüchtigen Fleischermeisters – hatte Brandspuren davongetragen. Ausgerechnet der mit allen Wassern gewaschene Erich Marggraf war so unvorsichtig gewesen, gleich am Montagmorgen mit einem Bündel angesengter Scheine auf dem Postamt W 15 zu erscheinen. Die Bullen hatten erstaunlich schnell reagiert und ihn hoppgenommen. Ein herber Rückschlag für das große Unternehmen, zu dessen Finanzierung der Bruch in der Wrangelstraße hatte dienen sollen.

Unverständlicherweise war gleich danach Addy Groß verschüttgegangen und mit ihm das komplette Schneidgerät für die Charlottenstraße. Eigentlich ein Grund mehr, das ganze Vorhaben abzublasen. Hätten die übrigen Beteiligten gewusst, dass die Kripo bei Addy die Skizze des Tresorraums mit der Ansatzstelle für die Bohrung gefunden hatte, wäre es wahrscheinlich dazu gekommen. Doch das Geld lockte. Max Mikulla, Altmeister der internationalen Schränkergilde, riet zum Weitermachen. Für den Einsatz vor Ort war er zu alt, er half aber mit seinen Erfahrungen.

Woher die Skizze, genau genommen nur eine laienhafte Bleistiftzeichnung zweier Rechtecke, die sich an einer Ecke überlappten, stammte, wussten weder Panitzke noch der Doktor oder Kremplin. Dabei war das knittrige Papier der Schlüssel zum Erfolg. Durch die Bombe, die den Gebäudetrakt in der Charlottenstraße zerstört hatte, war auch die Wand zum Kassenraum im Erdgeschoss beschädigt worden. Bei der noch im Krieg erfolgten Instandsetzung hatte man sie um einen Meter in den Kassenraum hinein verschoben. Seitdem befand sich ein schmaler Streifen des Tresorraums unmittelbar unter dem Lagerraum der Immobilienfirma. Darauf beruhte der simple Plan. Zehn Monate hatten sie gebraucht, um ein Loch durch den Beton zu bohren. Jetzt war es so weit, die Früchte nächtlicher Schinderei zu ernten.

Dass Panitzke den Schrank aufschneiden würde, stand fest. Nur er war schlank genug, sich durch die schrundige Röhre im Boden zu winden. Er zog alle überflüssigen Kleidungsstücke aus und ließ sich an einem Feuerwehrschlauch hinab in die Dunkelheit. Es war eng, doch Panitzke schaffte es.

«Alles klar!», rief er nach kurzer Zeit. «Lasst das Zeug runter!»

Für die beiden oben Wartenden schien die Zeit stillzustehen. Voller Spannung horchten sie immer wieder in das Loch hinein, aus dem nur gedämpftes Werkzeuggeklirr und nach endlosen Minuten das Fauchen des Brenners drangen.

Eine weitere Ewigkeit verging. Kremplin standen trotz der Novemberkälte Schweißtropfen im Gesicht. Muhme blickte ihn abschätzig an. «Hast du Schiss?», erkundigte er sich spöttisch.

Unten knirschte Metall, etwas polterte zu Boden. Dann erklang endlich der Befehl: «Hochziehen!»

Der erste Sack schurrte nach oben. «Vorsichtig!», knurrte Muhme Geißler. «Das Loch hat scharfe Kanten!»

Das fehlte noch, dass jetzt ein Sack aufriss! Kremplin nahm den prall gefüllten Sack vom Haken und betastete ihn. «Ich kann es kaum glauben!», flüsterte er.

«Halt’s Maul und mach weiter!», sagte Geißler schroff.

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