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GROSSKAMPFTAG

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ES VERSPRACH ein schöner Tag zu werden. Kriminaloberkommissar Hermann Kappe hatte an diesem Sonntag, dem 11. Mai 1952, einen wohlverdienten freien Tag, und er gedachte, ihn zu genießen. Diesmal würde ausgerechnet sein jüngerer Sohn Karl-Heinz dazu beitragen. Der hatte ihm in den vergangenen Jahren nicht viel Freude bereitet. Dank seiner Beziehungen jedoch – und genau die bereiteten Kappe Sorgen – hatte der Junge Eintrittskarten für Berlins größtes Sportereignis an diesem Sonntag besorgen können: den Großkampftag der Berufsboxer in der Waldbühne. Das war schon was! Der Form halber hatte Karl-Heinz, hinter dem eine kurze und reichlich schmerzhafte Boxkarriere lag, sogar seinen älteren Bruder Hartmut eingeladen, doch der durfte als Volkspolizist, und noch dazu als Offizier, schon lange nicht mehr in den Westen. «Ich werde mir die Sandbahnmeisterschaften in Karlshorst angucken», ließ er durch seine Mutter ausrichten.

Sandbahnrennen für Motorräder auf einer staubigen Aschenpiste waren nichts im Vergleich zu den sieben angekündigten Kämpfen mit hochkarätigen Champions. Der lange Hein ten Hoff trat gegen Joschi Weidinger aus Wien an, und, ebenfalls im Schwergewicht, der vielversprechende Conny Rux gegen den starken Belgier Eugene Robert.

In seinen jungen Jahren hatte Kappe nicht besonders fürs Boxen geschwärmt, sich jedoch von der Schmeling-Euphorie in den Dreißigern anstecken lassen. Inzwischen guckte er sich gerne einen ordentlichen Kampf an, statt nur die Radio-Übertragung zu verfolgen. Obwohl dem Boxen, vor allem den Veranstaltern und einem Teil des Publikums, nach wie vor ein zweifelhafter Ruf anhaftete. Aber das fiel nicht in Kappes Ressort. Er gehörte seit über vierzig Jahren zur Mordkommission.

Seit das Berufsboxen in Berlin zugelassen war, erfreute sich der Sport, den Kappes Frau Klara als roh und gewalttätig ablehnte, zunehmender Beliebtheit. Bald sollten im notdürftig hergerichteten Sportpalast wieder Turniere stattfinden. Kappe fand die Waldbühne angenehmer, unter freiem Himmel fühlte er sich nicht so eingezwängt. Jetzt musste nur noch das Wetter halten. Feucht-milde Meeresluft lag über Berlin, die Vorhersage ließ nach einer kalten Nacht zeitweilige Aufheiterungen und örtliche Schauer oder Gewitter erwarten. In der ausgedienten Einkaufstasche, die Klara ihm aufgedrängt hatte, steckte neben dem perlmuttenen Opernglas, einer Thermosflasche mit Kaffee und dem Stullenpaket ein Regencape, das Kappe selbst im dringendsten Notfall nicht zu gebrauchen gedachte. Gegen mögliche Kälte half eher der Flachmann mit dem Hochprozentigen, den er heimlich in die Tasche geschmuggelt hatte. Dabei schwitzte er jetzt schon. Der Tag schien wärmer zu werden, als die Wetterfrösche vorausgesagt hatten.

Die Kämpfe begannen um 15 Uhr. Um gute Plätze für sie zu sichern, hatte Kappe sich frühzeitig mit Karl-Heinz am S-Bahnhof Pichelsberg verabredet. Natürlich traf der Herr Sohn mal wieder verspätet ein und eilte mit wehendem Trenchcoat die Treppe herauf. «Du hättest mir die Karte ja auch schicken können», empfing ihn Kappe bärbeißiger als beabsichtigt. Versöhnlicher fügte er deshalb hinzu: «Ich hätte dir ’n guten Platz freigehalten.»

Karl-Heinz, an kritische Bemerkungen seines Erzeugers gewöhnt, lachte. «Dafür sorgt meine Clique. Du wirst sehen, wir sitzen Ia!»

So war es tatsächlich. Als sie vom oberen Rang des Amphitheaters langsam nach unten drängten, winkte weit vorn eine grellgeschminkte junge Frau aus der Mitte einer lautstarken Meute und rief nach Karl-Heinz. Kappe brauchte keine zwei Sekunden, um zu erkennen, dass er in der Runde fehl am Platz sein würde. Unter diesen bunten Vögeln, die sich schon jetzt höchlichst amüsierten, musste ein Kriminalbeamter in seinen Jahren als Fremdkörper auffallen. Sollte eines von den Mädels in näherer Beziehung zu Karl-Heinz stehen, kam auf Klara eine herbe Enttäuschung zu. Vergeblich hoffte sie schon seit langem auf eine akzeptable Schwiegertochter.

«Ich bleibe lieber hier am Rand!», rief Kappe dem Sohn zu, der sich rücksichtslos durch die Reihen drängte.

Dem schien das recht. «Ich muss nachher noch mit dir sprechen!», rief er bloß zurück.

Auf Kappes Zureden rückten zwei betagtere Herren wohl oder übel etwas zusammen. Fürs Erste zufrieden, ließ Kappe sich in der engen Lücke nahe dem Aufgang nieder und sah sich erst einmal um.

Das weite Rund der Waldbühne, 1936 ursprünglich für die Nebenveranstaltungen der Olympiade am Hang der Murellenschlucht errichtet, füllte sich allmählich. Obwohl sich die Eintrittspreise hier nicht jeder leisten konnte, sahen sich 18 000 Besucher die Kämpfe an, wie Kappe am nächsten Tag aus der Zeitung erfahren würde.

Von dem Genuss, den er sich versprochen hatte, spürte Kappe vorerst wenig. Der Lärm tobte ohrenbetäubend, und die schmale Sitzfläche verriet schon jetzt ihre Härte. Das zusammengefaltete Regencape machte es kaum besser. Die beiden Alten neben ihm, die er bei näherer Betrachtung zu seinem stillen Schrecken als etwa gleich alt mit sich selbst einschätzte, räsonierten darüber, dass die Engländer das ans Stadion anschließende Maifeld und größere Areale des Olympiageländes als Standort für ihr Hauptquartier beanspruchten, während die Amis in Dahlem residierten, wo sowieso nur hohe Nazis gewohnt hätten. Ein paarmal wandten sie sich beifallheischend an Kappe, der es jedoch vorzog, nur Undeutliches zu murmeln. Er war froh, einigermaßen entfernt von Karl-Heinz und dessen Clique zu sitzen, die sich schon jetzt durch freche Zurufe und auffälliges Gehabe bemerkbar machte. Keiner von denen sah aus, als verdiene er sein Geld mit geregelter Arbeit. Ein paar dicke Schiebertypen taten so, als gehörten sie nicht direkt zu dem auffälligen Haufen, zogen aber wahrscheinlich die Strippen bei den dunklen Geschäften, an denen sich die Jüngeren die Finger verbrennen durften.

Endlich begannen mit lautstarkem Tamtam die Vorkämpfe. Der erste Schwergewichtskampf ging nur über vier Runden. Bobby Warmbrunn gewann nach Punkten gegen einen zwanzigjährigen Anfänger. Das war nicht das, worauf die Zuschauer warteten. Auch der Leichtgewichtskampf, der mit einem wackligen Unentschieden endete, erregte eher Missfallen. Die Stimmung besserte sich erst, als mit Gerhard Hecht ein Berliner im Ring stand, der die acht Runden als Punktsieger beendete.

Kappes Nachbarn sparten nicht mit fachmännischen Urteilen und schwelgten in Erinnerungen an die großen Kämpfe der zwanziger Jahre. Von Hans Breitensträter und Paul Samson-Körner war die Rede, ebenso von Sabri Mahir, dem «schrecklichen Türken», wie er auch genannt worden war. Wiederholt versuchten sie Kappe ins Gespräch zu ziehen, aber der konnte und wollte nicht mitreden. In den Zwanzigern hatte er sich eher für Fußball als für Boxen begeistert. Allenfalls war ihm der Name von Franz Diener geläufig, den die beiden zu ihrer Freude drei Reihen tiefer im Publikum entdeckten. Kappe wusste, dass der ehemalige Boxer in Charlottenburg ein gutgehendes Lokal betrieb, in dem Berlins selbsternannte Prominenz verkehrte. Mehr fiel ihm zu dem Mann nicht ein.

Noch weniger ahnte er, dass etliche Reihen hinter ihm zwei Männer saßen, deren Gesprächsinhalt ihn wesentlich mehr interessiert hätte als alle Box-Reminiszenzen. Dabei waren die beiden vom Geschehen im Ring durchaus gepackt, hatte der Ältere und Größere der beiden doch einige Jahre lang keine Gelegenheit gehabt, einem offiziellen Boxkampf beizuwohnen. Dass er selbst mal im Ring gestanden hatte, sah man seiner von einem zu weiten Anzug umschlotterten Figur nicht auf den ersten Blick an. Die ungesund fahle Färbung des ausgemergelten Gesichts deutete eher auf einen zu langen Aufenthalt in geschlossenen Räumen hin.

«Na, wat sachste?», erkundigte sich sein Begleiter, ein mausköpfiges Kerlchen mit flacher Stirn und störrischem Haar, dem auch das schmale Menjoubärtchen unter der angeknickten Nase nicht zum erwünschten Aussehen eines Charmeurs und Weltmannes verhalf. Wenn der jemals geboxt hatte, dann allerhöchstens im Fliegengewicht.

«Ich komme gar nicht über die Geschichte hinweg», antwortete der Bleiche erschüttert. «Wieso hast’n das nicht gleich gesagt?»

Dem Kleinen, der mit Knickerbockerhosen, grellkariertem Sakko und Schiebermütze in Fischgrätenmuster nicht übermäßig modisch gekleidet war, fiel nichts anderes ein als: «Mensch, du musst dich erst mal zurechtfinden, hier in der neuen Welt …» Insgeheim ärgerte er sich, den Mund nicht gehalten zu haben. Er kannte Arnfried Weisel. Versprach eine Sache nur ein Minimum an Erfolg, verbiss der sich darin wie ein Köter in einen saftigen Knochen.

«Ich hab mich immer und überall zurechtgefunden!», gab Arnie prompt zurück. «Nun lass mich mal’n bisschen was Genaueres wissen!»

«Ausgerechnet hier?» Rudi Fenske, der in seinen Kreisen als «Funze» verkehrte, blickte sich um. Kein Mensch nahm Notiz von ihnen, zumal im Ring der nächste Kampf angekündigt wurde. «Das hat Zeit bis heute Abend.» Er hätte sich in den Hintern beißen können! Die Angelegenheit mit Arnie war von vornherein verkorkst, und das ausschließlich durch seine eigene Schuld. Er war und blieb ein Unglücksrabe! Brachte er mit den Händen ausnahmsweise mal was zustande, riss er es mit dem Mundwerk allemal wieder ein. Arnie gegenüber einen geglückten Millionenraub zu erwähnen war eine Schnapsidee gewesen! Der dachte doch an nichts anderes als an Geld! Er selbst auch, zugegeben – aber nicht in diesen Dimensionen.

Kennengelernt hatten Arnie und er sich Ende ’48 in Luckau, einer unbedeutenden märkischen Stadt, deren Namen in gewissen Kreisen kein guter Klang anhaftete. Im alten Luckauer Knast hatte schon so mancher ein paar Jährchen abgebrummt. Funze hatte nur achtzehn Monate dort gesessen, und das allein durch einen unglücklichen Zufall. Er war im Berliner Wedding aufgewachsen und alles andere als ein Ganove von Format. Lieber angelte er die kleinen Fische, stand mal Schmiere, sammelte Informationen und gab sie an Interessierte weiter. Der dilettantische Bruch in einer Provinzsparkasse, zu dem Funze sich hatte überreden lassen und der ihm Luckau beschert hatte, war eine Nummer zu groß ausgefallen, wie er sich inzwischen insgeheim eingestand. Noch dazu hatten sie das Ding kurz vor der Währungsreform gedreht – aber wer hatte das damals ahnen können?

In der überfüllten Zelle, wo unverbesserliche Nationalsozialisten taten, als hätten sie um ein Haar den Krieg gewonnen, und ein paar Politische, die nicht mal wussten, weshalb sie inhaftiert waren, sich mausigmachten, versuchte er anfangs große Bögen zu spucken. Er renommierte mit seinen kriminellen Erfahrungen, bis Arnie, der dank seiner Körperkraft und Persönlichkeit tatsächlich den Ton angab, ihm einen schmerzhaften Rippenhieb verpasste und ihm kategorisch das Maul verbot.

Funze, sonst nicht der Klügste, begriff rasch, dass Arnie das Recht des Stärkeren auf seiner Seite hatte. Also schwieg er fortan und hielt sich wohl oder übel an Arnies Führerrolle. Der spielte in einer höheren Liga als er. Vier Jahre hatten sie dem übergeholfen, weil er irgendwo einen Tresor geknackt hatte. Mehr erfuhr Funze nicht. Das war auch besser so, denn die Bullen holten ihn manchmal, einfach so, um ihn auszuhorchen. Er war der Richtige dafür, ein Quatschmaul, das wusste jeder. Über Arnie zu reden, weigerte er sich jedoch standhaft.

Es dauerte lange, bis Arnie ihm das mit ein bisschen Vertrauen lohnte, und es kostete Rudi Fenske die Adresse der eigenen Mutter am Gesundbrunnen. «Über die erreichst du mich jederzeit», musste er Arnie eins ums andere Mal versichern, bis der ihm endlich glaubte. Das hatte er nun davon!

Nachdem Funze nach Berlin zurückgekehrt war, verschwand Arnie vorerst aus seinem Gedächtnis. Mit der neuen Währung und den gänzlich veränderten Verhältnissen zwischen Ost und West stürmte zu viel Neues auf ihn ein. Ein halbes Jahr Plötzensee verdrängte die Luckauer Erlebnisse endgültig.

Arnie jedoch hatte den Berliner Kumpel und dessen angeblich weitreichende Verbindungen in den einschlägigen Kreisen nicht vergessen. Der Osten war sowieso nichts für ihn: Hungerlöhne bei hohen Normen, Lebensmittelkarten, knappes Fressen und eine allgegenwärtige Polizei. Kaum aus Luckau entlassen, zog es Arnie nach West-Berlin – wohin sonst. Außerdem hatte er da noch eine dicke Rechnung offen, wie er Funze gegenüber andeutete. Um die zu begleichen, brauchte er ortsansässige Hilfe.

Als Erstes suchte er Funzes alte Mutter auf und bequatschte sie so lange, bis sie ihm haarklein den Weg zu der Laube in Mariendorf beschrieb, in der sich Funze nach dem letzten Reinfall verkrochen hatte. Seit über einer Woche hausten sie nun zu zweit in der Bretterbude, in der Arnie sofort das Kommando übernommen hatte. Er wollte nicht in irgendeinem Flüchtlingsnotquartier beklaut werden. Die Befragungen durch die drei Besatzungsmächte und etliche deutsche Stellen verlangten sowieso ein ungewohntes Maß an Zurückhaltung von ihm. Dabei standen seine Chancen, als politischer Flüchtling anerkannt zu werden, nicht einmal schlecht. Nur die Freiheitlichen Juristen ließen ihn abblitzen. Die kannten überraschenderweise sein Strafregister.

Arnie verstand es, das Maul zu halten, das wusste Funze. Ihn auszuhorchen, hatte er längst aufgegeben. Wenn es jedoch sein musste, konnte Arnie auch beredsam sein wie ein Missionar auf Seelenfang. Dem fühlte Funze sich in keiner Weise gewachsen. Bis in die tiefe Nacht erzählte Arnie von den Fachleuten, mit denen er zusammengesessen hatte, richtigen Schränkern der alten Schule, die von nichts anderem geredet hätten als vom großen Geld, das in festen, stählernen Behältnissen aufbewahrt werde. Die warteten nur darauf, von geschickten Händen geknackt zu werden. «Das ist künftig unser Feld!», schwärmte Arnie, der sich in der neuen Umgebung fühlte wie ein Golddigger am Klondike. «Es kann doch nicht so schwer sein, irgendwo in dieser Stadt einen gutgefüllten Tresor ausfindig zu machen und dazu ein, zwei Leute, die was auf dem Kasten haben. Ich denke, du kennst hier Gott und die Welt!»

Funze gab sich wenig optimistisch. Namen nannte er schon gar nicht. Doch an Arnie prallten alle Einwände ab. Immer wieder fing der davon an. Auch jetzt beobachtete er aufmerksam die Betuchten, die sich in der Nähe des Rings sammelten. «Irgendwo müssen die ihre Kohle bunkern!», stieß er zwischen den ungepflegten Zähnen hervor.

Um ihm wenigstens das Hirngespinst eines mühelosen Tresoreinbruchs auszutreiben, fiel Funze nichts Besseres ein, als ausgerechnet den Bruch in der Verkehrskasse als abschreckendes Beispiel aufzubauschen. «Du hast keine Ahnung, wie das hier zugeht! Die im Osten haben alle Beteiligten ganz schnell gegriffen. Dabei sind die Jungs echte Profis, das kannst du glauben!»

«Und das Geld?», fragte Arnie, der ihm mit leuchtenden Augen zuhörte. Bis Luckau war nur eine verschwommene Version von dem Raubzug gedrungen. Jetzt wollte er jede Einzelheit hören.

Funze hob die schmalen Schultern. «Danach fragt man besser keinen», meinte er. «Die Bullen haben es jedenfalls nicht gefunden.»

Arnie grinste breit. «Na siehste! Da ist noch alles drin! An so ein Ding muss man sich ranhängen, Mensch!»

Funze zuckte zusammen. «Das lass mal lieber sein! Die Jungs sind gut organisiert und sehr empfindlich. Gegen die hast du keine Chance!»

«Erzähl mal!», verlangte Arnie. «Und lass nichts aus!»

So erfuhr Arnie zwischen den Kämpfen in Bruchstücken die Geschichte vom Raub in der Verkehrskasse, wie Funze sie sich aus Zeitungsberichten und umlaufenden Legenden zusammenreimte. «Zwei werden immer noch gesucht», schloss er. «Ein gewisser Panitzke und Muhme Geißler. Den hab ich sogar danach noch …» Er verstummte, und das nicht nur, weil Arnie ihn heftig am Arm packte.

«Sag das noch mal!», verlangte er scharf. «Muhme Geißler? Ist das so ’n Spitznasiger, der sich gerne ‹Doktor› nennen lässt?»

Funze schwante nichts Gutes. «Kennste den etwa?», erkundigte er sich vorsichtig.

Und ob Arnie den kannte! «Wenn ich den erwische, mach ich ihn kalt!», sagte er so laut, dass Funze sich erschrocken umsah. Im Ring lief die letzte Runde im Mittelgewicht. Erbarmungslos wurde der Franzose, der sich nur mit Mühe bis in die sechste Runde gerettet hatte, von seinem deutschen Gegner zusammengeschlagen. Hilflos hing er in den Seilen und glotzte stieren Blicks auf den zählenden Schiedsrichter. Die Menge johlte. Aus der Ecke des Franzosen flog das rettende Handtuch als Zeichen der Aufgabe.

«Genau so verhackstücke ich deinen Muhme!», kommentierte Arnie das Geschehen im Ring.

Funze tat beleidigt. «Wieso denn mein Muhme?», fragte er. «Ich kenn den kaum.»

«Dafür kenne ich ihn umso besser», sagte Arnie grimmig. Er sah aus, als ginge er jeden Moment hoch wie eine Rakete. «Der ist mir einiges schuldig!»

Sorgenvoll lüftete Funze die Mütze und kraulte seine wirre Tolle. Sein loses Maul hatte ihn mal wieder tief in die Kacke geritten! Er war Geißler nach dem Bruch tatsächlich begegnet, rein zufällig, und er wusste auch noch, wo das gewesen war. Aber Arnie durfte das auf keinen Fall erfahren! Der kriegte es fertig und richtete sonst was an. Ein echter Provinzganove! Der kannte sich nicht aus in den Berliner Verhältnissen.

Aber er war schnell von Kapee, wie sich herausstellte. «Wann und wo hast du den zuletzt gesehen?», wollte er wissen.

«Nu mal langsam!», wich Funze aus, doch es half ihm nichts. Wie eine Schraubzwinge presste Arnies Riesenpfote seinen Arm. «Keine Fisimatenten, mein Junge! Ich will alles wissen. Alles! Ist das klar?»

«Ich weiß fast gar nichts …», ächzte Funze schwach. Am liebsten hätte er geheult ob seiner eigenen Dämlichkeit. Er wusste, dass er den Mund nicht halten würde.

Im Ring ging es inzwischen auf den Hauptkampf des Tages zu. Der 32-jährige Hein ten Hoff, seit fünf Jahren Deutscher Meister im Schwergewicht, musste den Wiener Joschi Weidinger besiegen, wollte er gegen den amtierenden Europameister Heinz Neuhaus antreten, der den Titel erst seit März trug. Nach seinem sensationellen Sieg gegen den Engländer Jack Gardener waren ten Hoff kaum fünf Monate als Europameister vergönnt gewesen. Es wurde Zeit, dass er den Titel zurückeroberte! Darin stimmte Kappe mit seinen beiden Sitznachbarn ausnahmsweise überein. Nachdem er Klaras Stullen vertilgt und sich mit Kaffee und ein paar Schlucken aus dem Flachmann gestärkt hatte, war er mit ihnen ins Gespräch gekommen. Während der eine ten Hoffs Laufbahn am Ende sah, setzten Kappe und sein direkter Nachbar ihre Hoffnungen auf den langen Hamburger, über dessen Größe man uneins blieb. Ob 1,91 Meter oder 1,96 Meter, war aber letztlich egal. Der Wiener, ebenfalls kurzzeitig Europameister, war jedenfalls ein ebenbürtiger Riese mit einer entsprechenden Reichweite. Hatte ten Hoff nicht sogar den gefürchteten Amerikaner Tiger Jones nach Punkten besiegt?

Ten Hoff ließ es in der ersten Runde ruhig angehen und tastete den Gegner ab, um ihn in der zweiten Runde in die Ecke zu drängen und einen wahren Hagel von Schlägen auf ihn niederprasseln zu lassen.

«Der macht nicht mehr lange», prophezeite Kappes Nachbar bedauernd. Immerhin war der Kampf auf zehn Runden angesetzt.

Sechzig Sekunden Pause reichten Weidinger nicht, um sich von dem Trommelfeuer zu erholen. Angeschlagen und noch immer etwas benommen ging er in die dritte Runde. Ten Hoff nutzte die Schwäche seines Gegners und setzte ihm blitzschnell seine harte Rechte direkt aufs Kinn. Weidinger stürzte wie ein gefällter Baum und wurde unter dem tosenden Jubel des Publikums ausgezählt.

Damit war der Tag eigentlich gelaufen, fand Kappe. Der Hintern schmerzte, und die Blase drückte. Es war also höchste Zeit, sich wenigstens die Beine zu vertreten. Gemeinsam mit dem Nachbarn, der wortreich zugab, ten Hoff unterschätzt zu haben, machte er sich an den Aufstieg. Klaras alte Einkaufstasche ließ er in der Obhut des anderen. Nur das Opernglas steckte er in die Jacketttasche.

Vor den Toiletten standen die Männer in langen Reihen. Der Lärm der Arena drang dumpf an- und abschwellend herauf, überlagert von verzerrten Lautsprecherdurchsagen. Kappe merkte, dass er Kopfschmerzen hatte und ihm das ganze Spektakel allmählich zu viel wurde. Während er noch brav in der Schlange wartete, sprach ihn plötzlich jemand an. «Guten Abend, Herr Kappe!»

Er brauchte einen Augenblick, um den Mann zu erkennen. «Holtefret!», sagte er erstaunt. Den hatte er hier am allerwenigsten erwartet. Ihr letztes Zusammentreffen lag mindestens vier Jahre zurück und ihr gemeinsames Abenteuer in der Wadzeckstraße am Alex fast sechs. Damals hatte der Kriminalassistent Eddie Holtefret ihm möglicherweise das Leben gerettet. Später hatten sie sich aus den Augen verloren. Eddie war nach der Spaltung bei der Volkspolizei im Osten geblieben. «Bist du nicht mehr bei der Konkurrenz?», fragte Kappe deshalb auch als Erstes.

Eddie schüttelte den Kopf. «Das ist endgültig vorbei», sagte er. Es klang nicht gerade erfreut.

Kappe musterte ihn etwas eingehender. Ein glücklicher Mensch sah anders aus. Eddie Holtefret war wohl ein Flüchtling. Spontan sagte Kappe: «Lass dich doch mal sehen! Wenn ich dir helfen kann …» Es war nur eine Phrase, wie er selbst wusste. Er mochte Eddie, aber ein ehemaliger Volkspolizist würde es nicht leicht haben.

Eddie lächelte gequält und winkte ihm zu. «Mal sehen», sagte er. «Da drüben wartet meine Verlobte.» Weg war er.

Vergebens hielt Kappe nach ihm und der Verlobten Ausschau. Dass es sich noch um die gleiche Braut wie vor sechs Jahren handelte, erschien ihm unwahrscheinlich.

Nachdem Kappe sich endlich erleichtert hatte, drängte ihn nichts, sich sofort wieder hinunter in den brodelnden Hexenkessel zu begeben. Den Nachbarn, der mit ihm zur Toilette gegangen war, hatte er aus den Augen verloren, an Karl-Heinz dachte er nur flüchtig. Durch das alte Opernglas hatte er von oben einen guten Blick auf den Ring.

Dort begann inzwischen der letzte Kampf über acht Runden: Conny Rux gegen den zwölf Jahre älteren Belgier Eugene Robert, der 23 Kilogramm mehr auf die Waage brachte, von seinen letzten fünf Kämpfen jedoch vier verloren hatte. Aber auch Rux war vor zwei Jahren hier in der Waldbühne von Tiger Jones in der fünften Runde k. o. geschlagen worden. Kappe erinnerte sich noch gut an seine Enttäuschung.

Es wurde ein harter Kampf. In der fünften Runde ging Rux nach einer vollen Rechten des Belgiers zu Boden. Verärgert wandte sich Kappe ab. Jetzt bedauerte er es, nach ten Hoffs Sieg nicht gleich gegangen zu sein. Jeden Augenblick konnten sich die Massen in Bewegung setzen, und dann würde es unmöglich, im Gegenstrom zu seinem Platz zurückzugelangen. Es war allemal gescheiter, sich unverzüglich auf den Weg zur S-Bahn zu machen, bevor der große Ansturm einsetzte.

Die Tasche fiel ihm ein. War die es wert, sich in ein hoffnungsloses Getümmel zu stürzen? Klara besaß mindestens drei davon. Das olle Ding stellte keinen echten Verlust dar, und auch die verbeulte Thermosflasche ließ sich leicht ersetzen. Die wirklich wichtigen Dinge wurden am Mann getragen. So war Kappe noch nie etwas gestohlen worden. Klara dagegen hatte man im Laufe der Jahre zweimal das Portemonnaie geklaut und einmal die Wohnungsschlüssel. Aus reiner Gewohnheit tastete Kappe nach Polizeimarke, Brieftasche und Schlüsselbund. Alles war an seinem Platz. Beruhigt setzte er seinen Weg fort. Die ersten eiligen Heimkehrer stürmten an ihm vorbei. Hundert Meter vor dem S-Bahnhof merkte er, dass es zu regnen begann. Das Regencape! Klara würde wegen der unförmigen Pelle einen Heidenspektakel veranstalten. Resigniert schlug Kappe den Jackettkragen hoch. An Karl-Heinz dachte er nicht mehr.

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