Читать книгу Seewölfe - Piraten der Weltmeere 653 - Jan J. Moreno - Страница 6
1.
ОглавлениеAchtundzwanzig Kerben zierten an Steuerbord das Dollbord des Bootes. Jede von ihnen stand für einen Tag und eine Nacht auf See und erinnerte an Hoffnung und Verzweiflung, an Sturm, Gewitter und nächtlichen Platzregen, aber auch an Hunger, Durst und körperliches Siechtum.
Die sechs Kerben an Backbord waren noch nicht von Sonne und Salzwasser ausgelaugt. Sie wirkten frisch, als wären sie eben erst ins Holz geschnitzt worden. Jede dieser sechs Kerben bedeutete erfüllte Hoffnungen und neu geschenktes Leben auf einer Insel irgendwo in den Weiten des Ozeans.
Keiner der drei Schiffbrüchigen wußte, wohin Wind und Wellen ihr kleines Boot verschlagen hatten. Der Lauf der Gestirne wie auch die nach Süden fallenden Schatten verrieten lediglich, daß das Eiland aus Vulkangestein südlich des Äquators lag.
„Irgendwo zwischen der afrikanischen Küste und den Gestaden der Neuen Welt“, murmelte Hasard Killigrew junior gedankenverloren, während er mit den Fingern die soeben geschnitzte neue Kerbe auswischte.
Wie weit war das Festland entfernt? Tausend Seemeilen oder gar zweitausend?
Hasard stutzte, dann zählte er die Kerben nach, und ein Lächeln huschte über sein gegerbtes, von Entbehrungen gezeichnetes Gesicht.
„Heute ist Sonntag“, sagte er. „Den Tag des Herrn sollten wir gebührend feiern.“
Philip, sein Zwillingsbruder, bedachte ihn mit einem überraschten Blick.
„Fehlt bloß noch, daß du versuchst, einen Prediger aufzutreiben“, sagte er.
Hasard legte die Stirn in Falten.
„Die Idee ist gar nicht schlecht, Bruderherz“, erwiderte er grinsend. „Irgendwo müßten sogar noch ein paar Seiten aus der Bibel herumliegen.“
Er begann, unter den Ruderbänken zu kramen und förderte schließlich eine dünne Schwarte hervor, die lediglich aus den beiden Deckeln und noch rund hundert Blättern bestand. Die Bibel stammte aus einer Seekiste, die sie irgendwann aufgefischt hatten.
Die Blätter, die jetzt fehlten, hatten für ein kleines Feuerchen herhalten müssen. Leider war an Deck des vorbeiziehenden Schiffes niemand auf den Rauch aufmerksam geworden. Längst fragten sich die Zwillinge, ob sie womöglich einem Trugbild zum Opfer gefallen waren, einer Fata Morgana auf hoher See.
Wahllos begann Hasard, in der Bibel zu blättern.
Eine Weile sah Philip ihm schweigend zu, bevor er sagte: „Sieht so aus, als suchst du nach etwas Bestimmtem. Falls du Hilfe brauchst, frag Old Donegal, der kennt sich aus.“
„Quatsch.“ Hasard junior hob kaum den Blick, als er ungehalten die Erwiderung hervorstieß. „Granddad hat nicht mal alle die Seiten gelesen, die verbrannt sind.“
„Gib her!“ Philip griff einfach zu, nahm seinem Bruder die Bibel aus der Hand und schlug sie wahllos auf. Mit dem Finger deutete er auf eine Seite und begann zu lesen.
„Als nun Mose seine Hand über das Meer reckte, ließ es der Herr zurückweichen durch einen starken Ostwind die ganze Nacht und ließ das Meer trocken werden, und die Wasser teilten sich. Die Kinder Israels gingen mitten hinein ins Meer auf dem Trockenen, und das Wasser war ihnen eine Mauer zur Rechten und zur Linken …“
„Donnerwetter!“ entfuhr es Hasard. „Genau nach einer solchen Stelle habe ich gesucht. Noch lieber wäre mir allerdings ein Kapitel über eine Insel.“
„Da wirst du Pech haben, Junge. In der ganzen Bibel steht nichts über ein Eiland wie unseres, da gibt es höchstens mal einen mächtigen Wal und ’ne Menge Fischer. Und außerdem: Wenn jemand aus der Bibel liest, flucht man nicht gleichzeitig. Das gehört sich nicht, klar?“ Old Donegal Daniel O’Flynn stand offenbar schon lange genug zwischen Felsen und Gebüsch, so daß er die Unterhaltung der Zwillinge mitgehört hatte. Dabei hatten sie ihn noch unten am Strand vermutet, wo er sich waschen und nach Schildkröten Ausschau halten wollte. Er war eben trotz seines Holzbeins geschickt genug, sich lautlos anzuschleichen.
„Laß dich von mir nicht stören!“ fuhr er Philip an. „Na los, lies weiter!“
„Natürlich, Sir.“ Der junge Killigrew, Sohn des Seewolfs, nickte knapp. Danach fuhr er mit erhobener Stimme fort: „Und die Ägypter folgten und zogen ihnen nach, alle Rosse des Pharao, seine Wagen und Männer, mitten ins Meer …“
„Himmel, Arsch und …“ Old O’Flynn hatte das Pech, über einen Lavabrocken zu stolpern. Für die Dauer mehrerer Augenblicke ruhte die Last seines Körpers nur auf dem Holzbein, während er verzweifelt mit beiden Armen in der Luft ruderte und erbärmlich fluchte. Es sah beinahe so aus, als könne er das Gleichgewicht halten, aber letztlich landete er doch unsanft auf seinem Achtersteven.
„Scheiß Geröll!“
„Granddad!“ riefen Hasard und Philip wie aus einem Mund. „Man flucht nicht, während jemand aus der Bibel liest!“
„Spart euch eure Klugscheißereien!“ schnaubte Old Donegal. „In meinem Fall war das etwas anderes. Zwingende Notwendigkeit nämlich.“
„Hingefallen bist du trotzdem, Sir“, sagte Hasard.
„Trotz deiner Flüche“, ergänzte Philip.
„Als ich so ein junger Hüpfer war wie ihr, hätte ich mir eher die Zunge abgebissen, als mich über eine Respektsperson zu mokieren. Helft mir auf, oder ihr kriegt nichts von den Eiern ab, ihr Halunken.“
„Aye, Sir, natürlich.“
„Welche Eier, Sir?“
Unwirsch schlug der Alte Hasards helfend ausgestreckte Hand zur Seite. Er stemmte sich aus eigener Kraft hoch, griff, als er wieder sicheren Stand hatte, in seine Hosentasche und holte eine Handvoll kleiner, milchig schimmernder Gebilde heraus.
„Die Seeschildkröten haben Brutplätze auf der Insel. Ihr braucht nur die Augen offenzuhalten und ein wenig im Sand zu graben.“
„Ehrlich gesagt“, Philip rümpfte die Nase, „ausgewachsene Schildkröten wären mir lieber.“
„Du weißt eben nicht, was gut ist. Vorwärts, keine Müdigkeit vorschützen, kümmere dich um Zunder und trockenes Holz für ein Feuer. Zur Feier des Tages gibt es gebackene Schildkröteneier – ab sofort übrigens jeden Tag. Der Strand liegt voll davon.“
„Ich weiß nicht“, sagte Hasard. Er warf einen mißtrauischen Blick auf die runden Dinger.
„Verlaß dich nur auf mich“, beharrte Old Donegal. „In der Karibik sammeln die Indianer Eier in großen Mengen, weil sie aus den Dottern ein gutes Speiseöl zubereiten.“
Sobald sich Old Donegal etwas in den Kopf gesetzt hatte, führte er das auch aus. Und wenn er zum Frühstück Schildkröteneier wollte, duldete er keinen Widerspruch. Philip versuchte deshalb gar nicht erst, zu widersprechen. Er packte seinen Bruder am Arm und zog ihn mit sich.
Der Admiral folgte ihnen gemessenen Schrittes. Hin und wieder blieb er stehen und ließ seinen Blick über den Strand bis zur Kimm wandern. Der Tag versprach heiß zu werden. Nachdem sich der leichte Morgendunst verflüchtigt hatte, erstrahlte der Himmel in wolkenlosem Blau. Das Meer schimmerte in der Nähe der Insel türkis, erst zum Horizont hin war es dunkler gefärbt.
Bis zu ihrem luftigen Lager zwischen halbkreisförmig angeordneten Lavablöcken waren es nur wenige hundert Schritt. Nachdem sie entdeckt hatten, daß in der zuvor bewohnten Höhle vulkanische Gase aufstiegen, waren sie unter den freien Himmel umgezogen.
Die Zwillinge fanden in dem Bereich kaum mehr dürre Äste, aber genügend vertrocknete Farnwedel und braune Moose. Wo der Wind angreifen konnte, hatte er die dünne Erdschicht verweht. An solchen Stellen wirkten die Pflanzen, überwiegend Ginster und Farne, zerzaust und verkümmert.
„Er hält schon wieder Ausschau.“ Hasard deutete zu Old Donegal.
Der Alte stand wie zur Salzsäule erstarrt, die Augen mit der rechten Hand beschattet, und blickte starr übers Meer.
„Er wartet auf ein Schiff“, erwiderte Philip seufzend. „Mir wäre auch lieber, Segel an der Kimm zu sehen, aber offenbar befinden wir uns fernab aller Schiffahrtsrouten.“
„Unser Vater und die Arwenacks suchen nach uns“, sagte Hasard bestimmt. „Ein Seewolf gibt niemals auf.“
Nachdenklich schüttelte Philip den Kopf.
„Ich glaube nicht, daß die Schebecke eines Tages hier vor Anker geht. Wir wurden zu weit nach Süden abgetrieben. Dad sucht uns im Gebiet der Kapverden, darauf gehe ich jede Wette ein.“
„He, ihr beiden, was gibt es zu palavern?“ rief Old Donegal, ohne sich zu den Zwillingen umzuwenden.
„Granddad hat Ohren wie ein Luchs“, murmelte Philip. Diese Tatsache war um so erstaunlicher, da sie nicht nur leise gesprochen, sondern auch den Wind gegen sich hatten.
„Er hört eben immer alles, was ihn nichts angeht.“ Hasard grinste schräg und merklich gequält.
Old Donegal Daniel O’Flynn wandte sich jetzt um.
„Was ist?“ bellte er. „Steht nicht herum wie vom Donner gerührt. Heute ist Sonntag, und ich habe ein Recht auf ein gutes Feiertagsessen. Wenn ihr schon nichts zuwege bringt, muß ich die Sache selbst in die Hand nehmen. Also los, hopp-hopp, ihr habt noch junge Knochen …“
„Den Spruch kenne ich“, stöhnte Philip. „Das kriegen wir demnächst stündlich zu hören.“
Hasard schickte einen flehenden Augenaufschlag zum Himmel.
„Ein Königreich für ein Schiff“, murmelte er. „Unser Granddad wird mit jedem Tag unausstehlicher.“
„Das Inselleben behagt ihm nicht“, sagte Philip.
„Brennt das verdammte Feuer endlich?“ rief Old Donegal. „Ich habe Hunger auf Eier!“
„Was hältst du von einer Kokosnuß zwischendurch?“ entgegnete Philip. „Die sind größer.“
Was sein Großvater darauf erwiderte, war alles andere als druckreif.
Hasard grinste spöttisch. „Bruderherz, diesmal hast du dein Fett weg“, sagte er. „Warum reizt du den Admiral unnötig?“
Schweigend begann Philip Killigrew junior, Stahl und Feuerstein gegeneinander zu schlagen. Beides stammte aus der aufgefischten Seekiste. Funken fielen ins Moos, das Augenblicke später zu glimmen begann. Das erste zarte Flämmchen züngelte auf, von Philips Händen schützend geborgen.
Eigentlich sollte stets ein kleines Feuer brennen. Mehrere hundert Yards entfernt, auf einem höher gelegenen Plateau, hatten die Zwillinge auf Old Donegals Geheiß einen Haufen dürrer Äste aufgeschichtet. Sobald Segel an der Kimm auftauchten, sollten sie den Stoß in Brand setzen. Dabei ging es möglicherweise um Augenblicke, denn Schiffe hatten mitunter die Eigenart, sehr schnell wieder zu verschwinden. Die drei Arwenacks konnten es sich nicht erlauben, im Fall eines Falles erst mühsam Funken zu schlagen.
Deshalb hatte Old O’Flynn eine geharnischte Predigt vom Stapel gelassen, nachdem in den frühen Morgenstunden die bislang sorgsam gehegte Glut erloschen war.
„Jeder hat sein Schicksal selbst in der Hand“, hatte er erklärt. „Richtet euch danach, oder wir beschließen unser Leben auf dieser Insel.“
Als er jetzt zu den Zwillingen aufschloß, knisterte und prasselte das Feuer, daß es eine Pracht war. Er nickte zufrieden, murmelte etwas, das so ähnlich klang wie: „Na also, es geht doch, man muß eben nur den Willen dazu aufbringen“, und hielt Hasard die Schildkröteneier hin. „Drei für jeden. Nimm schon, Junge, du bist heute der Koch.“
Hasard schluckte eine heftige Erwiderung ungesagt hinunter. Statt dessen fragte er, wie lange die Schildkröteneier im Feuer liegen müßten.
„Nach spätestens einer halben Stunde sind sie weich“, sagte Philip spöttisch.
Hasard legte die Eier einzeln auf die Gabel eines kurzen Astes und schob sie nacheinander in die Glut. Nach einer Weile blickte er Old Donegal fragend an.
„Du bist der Koch“, sagte der Alte. „Tu, was du für richtig hältst.“ Offenbar wußte er selbst nicht, wie lange Schildkröteneier garen mußten.
„Wenn heute nicht Sonntag wäre …“, murmelte Hasard, mehr für sich selbst, als für die Gefährten bestimmt. Dennoch hakte Old Donegal sofort ein.
„Was wäre dann?“ fragte er.
„Dann würde ich die Eier ins Meer werfen“, sagte Hasard schroff. „Von mir aus fang Fische oder ausgewachsene Schildkröten oder nimm Vogelnester aus, aber laß diese mickrigen Eier, wo sie sind.“
„Auf See würdest du anders reden, Freundchen. Es gab eine Zeit, da hättest du dir alle zehn Finger nach einem solchen Genuß abgeleckt. Aber was sage ich! Die Jugend war schon immer viel zu sprunghaft in ihren Entschlüssen.“
Zögernd stocherte Hasard in der Glut. Eigentlich konnte er tun, was und wie er es wollte, sein Großvater würde mit Sicherheit einen Grund zum Meckern finden.
Eins der Eier kullerte ihm entgegen. Es wirkte abgekohlt und etwas verschrumpelt.
„Mann“, sagte Philip, „sieh zu, daß du alles herausholst.“
Ehe Hasard reagierte, schnappte sich Old Donegal das Ei. Es war heißer, als er erwartet hatte. Unwillig grunzend, ließ er es von einer Hand in die andere fallen.
„Zuviel Glut“, sagte er tadelnd. „Das kann nichts werden.“
Hasard schwieg. Erst recht, weil er Philips schadenfrohes Grinsen bemerkte. Und irgendwie bereitete ihm der Anblick der Schildkröteneier Magengrimmen.
Genußvoll begann Old Donegal, das Ei aufzubrechen. Es fiel ihm überraschend leicht. Dann schob er sich das mickrige Ding, das im Grunde nur eine karge Vorspeise war, in den Mund – und spie, nachdem er kräftig zugebissen hatte, in hohem Bogen aus.
„Pfui Teufel!“ rief er und spuckte, bis es ihm an Speichel mangelte. Selbst dann schüttelte er sich noch. „Kerl, was hast du nur angestellt? Wie kann man eine Delikatesse so zurichten?“
„Findest du nicht den rechten Geschmack, Granddad? Mag sein, daß die Eier angebrütet waren. Sie liegen wahrscheinlich schon seit Wochen im Sand.“
„Dann hättest du sie aufschlagen müssen.“
„Gern. Aber verrate mir, wo ich eine Pfanne finde.“
„Ein flacher Stein erfüllt den gleichen Zweck.“
Hasard schlug eins der Eier auf und roch daran. Es stank penetrant faulig. Auch die beiden nächsten bildeten keine Ausnahme.
„Ein guter Koch hätte das vorher gemerkt“, zeterte Old Donegal. „Nicht erst, wenn das Essen schon auf dem Tisch steht.“
„Pech gehabt“, sagte Hasard, hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. „In dem Fall war aber nicht der Koch schuld, sondern derjenige, der die Eier aufgesammelt hat.“
„Papperlapapp!“ Old Donegal Daniel O’Flynn vollführte eine herrische Handbewegung. „Das Küken will also wieder mal klüger sein als die Henne. Dann verrate mir gefälligst, was du uns zur Feier des Tages vorsetzen willst.“
„Wir haben nichts zu feiern, Sir.“
Old Donegal überhörte den Einwand geflissentlich. Erst legte er die Stirn in Falten, dann begann er, nachdenklich auf seiner Unterlippe zu kauen. Schließlich fuhr er mit beiden Händen durch sein weißes Haar, das während der vergangenen Wochen eine beachtliche Länge erreicht hatte. Wirr fielen die einzelnen Strähnen auseinander.
Auch die Bartstoppeln wucherten in der feuchten Schwüle üppiger als sonst. Jedenfalls hatte es den Anschein. Nur wirkte Old Donegals Manneszierde ganz und gar nicht imposant. Rund um das Kinn schienen Motten den Haarfilz angefressen zu haben. Aber das waren die Folgen eines mißglückten Versuchs, mit Messerschneide und Muschelschalen die Borsten abzuschaben.
Unvermittelt hellte sich das Gesicht des alten Zausels auf.
„Ich habe Appetit auf Käse“, verkündete er laut. „Und den werdet ihr mir besorgen.“
„Na klar“, sagte Philip gereizt, ohne zu begreifen, was der Alte wirklich meinte. „Wir schwimmen mal kurz rüber nach Afrika oder entern ein Handelsschiff, das zufällig vorbeisegelt. Darf’s vielleicht noch was anderes sein als Käse – ein kühles Bier oder Wein? Bitte sehr, Euer Gnaden, Ihr Wunsch ist uns Befehl.“
„Das hoffe ich“, sagte Old Donegal ernst und ohne eine Miene zu verziehen. „Ich habe es gar nicht anders erwartet. Also los, fangt endlich die Ziegen ein, die zwischen den Felsen leben!“