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Katharinas Weg nach Russland und ihre Großfürstinnenzeit
ОглавлениеSophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst-Dornburg wurde am 2. Mai 1729 im pommerschen Stettin geboren. Ihr Vater, Christian August, Fürst von Anhalt-Zerbst, gehörte zur regierenden Anhaltinischen Familie, die jedoch nicht in der Lage war, ihre männlichen und weiblichen Mitglieder standesgemäß zu ernähren. Damit stand Christian August, der immerhin aus dem traditionsreichen Geschlecht der Askanier stammte, keineswegs allein. Viele Mitglieder der Fürstenhäuser des Heiligen Römischen Reiches waren entweder, wenn männlich, auf den Dienst an bedeutenderen Höfen und Staaten oder, wenn weiblich, auf eine ökonomisch auskömmliche Heirat angewiesen. So ging es auch Christian August, der einen Generalsrang in preußischen Diensten bekleidete, zum Zeitpunkt der Geburt seiner Tochter jedoch als Gouverneur von Stettin amtierte. Stettin war am Ende des Großen Nordischen Krieges 1720 in preußischen Besitz gekommen. Die Preußen siedelten wichtige Verwaltungseinrichtungen an und bauten Stettin weiter zu einer Festungsstadt aus. Das Altpreußische Infanterieregiment Nr. 7 wurde nach Stettin verlegt, und Stettin wurde so zur preußischen Garnisonsstadt. Es war also kein höfisches Umfeld, in dem Sophie ihre ersten Jahre verbrachte.1 Christian August war, im Gegensatz wohl zu seiner Frau, ein tiefgläubiger Lutheraner.
Sophies Mutter, Johanna Elisabeth von Gottorf, entstammte einer Dynastie, die in der Politik der Mächte eine Rolle spielte. Peter der Große hatte eine seiner Töchter mit einem Gottorfer Herzog verheiratet. Wegen der Besetzung des Stammschlosses in Schleswig durch Dänemark hatte die Tochter in Kiel residiert und dort wurde Karl Peter Ulrich am 21. Februar 1728 geboren, ein Cousin zweiten Grades der jungen Sophie. Die Familie Johanna Elisabeths stand also in einem ganz anderen Maße im Fokus (nord)europäischer Politik als die Askanier, die im kleinen Zerbst regierten. Und Johanna Elisabeth hatte ganz offensichtlich ein hohes Bewusstsein ihrer eigenen Bedeutung und der ihrer Nachkommen.2 Für Sophie, Prinzessin und Tochter eines preußischen Generals, war eine gute Heirat eine echte Zukunftschance. Über die Kindheit der späteren Kaiserin Katharina ist nicht allzu viel bekannt, wobei ihre Bemerkung gegenüber ihrem Korrespondenten Baron Friedrich Melchior Grimm,3 sie habe nichts von Interesse aus ihrer Kindheit zu berichten, vor dem Hintergrund der Position, die sie nach der Thronbesteigung 1762 innehatte, sicher als Koketterie einzuordnen ist.
Wir besitzen über ihre Kindheit, Jugend und ihre Zeit als Großfürstin nach 1744 vor allem eine zentrale Quelle – die Memoiren, an denen sie schon als Großfürstin, aber auch als Kaiserin vor allem bis etwa 1772, danach nur sporadisch, arbeitete. Von den verschiedenen kurzen und langen Versionen sind fünf französische und zwei russische Textstücke bekannt, die erst 1859 erstmals und nur in Teilen erschienen, nach einer nicht ganz zuverlässigen Abschrift herausgegeben von Alexander Herzen in London. Die Memoiren haben Generationen von Historikerinnen und Historikern fasziniert, weil sie eine Sogkraft entwickeln, der man sich bis heute kaum entziehen kann.4 Insbesondere für die Kindheit sind sie zudem die einzig verwertbare Quelle. Blickt man auf die Stationen ihrer jungen Jahre – die Jahre in der Garnisonsstadt Stettin und in der den Zerbstern gehörenden Herrschaft Jever,5 die wiederholten Aufenthalte in Berlin und den kurzen Aufenthalt in Eutin 1739, wo sie ihren späteren Ehemann, Karl Peter Ulrich, kennenlernte –, so sind weder in der Erziehung her noch über die Nähe oder besser Distanz zu den Eltern außergewöhnliche Vorkommnisse festzuhalten. Dies wollte zumindest Katharina selbst später so gesehen wissen. Als ihr gelehrter Briefpartner, Baron Friedrich Melchior Grimm, 1776 den Wunsch äußerte, nach Stettin zu reisen, antwortete sie ironisch: »In all diesem sehe ich durchaus nichts interessantes, es sei denn, Sie glaubten, die Örtlichkeit sei von Bedeutung und habe Einfluss auf die Geburt passabler Kaiserinnen.«6 Ob und inwieweit die Frömmigkeit und das Pflichtbewusstsein des Vaters oder die Ambitionen der Mutter auf sie gewirkt haben, erfahren wir aus den Memoiren so, wie Katharina es überliefert wissen wollte. Bei Rückschlüssen, Orte, Menschen und Ereignisse hätten sie und ihr späteres Regierungshandeln in dieser oder jener Weise geprägt, ist schon aufgrund der relativen Quellenarmut Vorsicht geboten.7
Sophie wurde als erstes von fünf Kindern in der Stettiner Domstraße geboren, wo dem Festungskommandanten und Gouverneur ein Eckhaus zustand. In ihren Memoiren meinte Katharina später, ihre Mutter sei enttäuscht darüber gewesen, dass ihr erstes Kind ein Mädchen gewesen sei. Schon im Alter von zwei Jahren wurde Sophie von der Obhut der Amme in die Aufsicht einer Erzieherin, Madelaine Cardel, zwei Jahre später deren jüngeren Schwester Elisabeth Cardel übergeben. Beide entstammten einer ins Brandenburgische geflohenen calvinistischen Hugenottenfamilie. Katharina erinnerte sich an Elisabeth als »geduldig, sanft, heiter, gerecht, beständig«,8 während der wohl auf Wunsch des Vaters mit der Erziehung befasste pietistische Regimentsprediger und Pfarrer Christian Wagner für die fromme Erziehung sorgen sollte. Katharina erinnerte ihn als streng und langweilig. Viel mehr als die Fabeln La Fontaines durch Cardel und Luthers Tischreden durch Wagner wurden ihr, so die Memoiren, nicht zur intellektuellen Verkostung geboten. Sie langweilte sich.9 Das Interesse an Lektüre und Selbstbildung mochten ihre Erzieher in Stettin und dann in Zerbst aber in ihr angelegt haben.10
1742 verbesserte sich die Situation der Familie von Christian August, der gerade zum preußischen Feldmarschall befördert worden war: Gemeinsam mit seinem Bruder Johann Ludwig trat er die Nachfolge des anhaltinischen Fürsten Johann August an, dessen Linie mit seinem Tod ausstarb. Das Fürstentum war klein, verbesserte aber die materielle Grundlage der Familie. Die barocke Hofhaltung seines Vorgängers in Zerbst und die damit verbundenen Dienste sowie die Baumaßnahmen an Schlössern und anderen Gebäuden trugen wesentlich zum kontinuierlichen Aufschwung von Wirtschaft und Handel in Anhalt-Zerbst bei. Zerbst war im Rahmen der Möglichkeiten ein Hof der Musen. Dies galt nicht nur für das Zerbster Schloss, sondern auch für Schloss Dornburg an der Elbe, das insbesondere Johanna Elisabeth liebte und mit ihren Kindern gerne aufsuchte. Zahlreiche namhafte und bedeutende Künstler, Handwerker, Schauspieler und andere ließen sich über Jahrzehnte in Zerbst nieder. Schon seit 1722 wirke Johann Friedrich Fasch als Hofkapellmeister, der bis zu seinem Tode 1758 zahlreiche bedeutende Stücke komponierte und mit der Hofkapelle aufführte. Die Zerbster Residenz genoss Sophie (Fiegchen, so berichtet sie in ihren Memoiren, wurde sie genannt) jedoch nur kurze Zeit. Was sich ihr in Zerbst eher mitgeteilt haben mochte als in Stettin, Braunschweig oder Berlin, war die Anciennität des Geschlechts der Askanier, dem sie entstammte.11
Wie geriet eine Prinzessin, wie es sie im Alten Reich nicht wenige gab, in den Lichtstrahl der Politik? Schon bald nach ihrem Putsch ging die Kaiserin Elisabeth daran, ihre Nachfolge zu sichern und ließ ihren Neffen Karl Peter Ulrich nach Russland holen. Karl Peter Ulrich, der am Hofe seines Onkels Adolf Friedrich, des Fürstbischofs von Lübeck und Administrator des Herzogtums aufgewachsen war, wurde 1739, in jenem Jahr, in dem er der jungen Sophie begegnet war, Gottorfer Herzog.12 Adolf Friedrich lud seine Schwester Johanna Elisabeth und Sophie ein, um sein Mündel Karl Peter Ulrich zu präsentieren. In ihren Memoiren legt Katharina bereits mit der Schilderung dieser ersten Begegnung das Fundament für ein düsteres Bild ihres späteren Gatten, das sich mit jeder Version der Memoiren noch dunkler einfärbt. Ein Mensch mit Hang zum Alkohol und einer unangebracht kindlichen Neigung zu seinen Spielzeugsoldaten: Diesen Eindruck soll er bei ihr nach dem Eutiner Besuch hinterlassen haben.13 Er wurde schon vor der Palastrevolution seiner Tante als Kandidat für den russischen, vor allem aber auch für den schwedischen Thron diskutiert. Elisabeth ernannte ihn kurz nach ihrer Machtübernahme zum Thronfolger, war doch die Sicherung der Nachfolge für sie von vorrangiger Bedeutung. Als er nach Russland eingeladen wurde, war es wohl keine Alternative, dieses Angebot auszuschlagen und auf den schwedischen Thron, der ihm ebenfalls im November 1741 angeboten worden war, zu setzen. Nichts zeigt den Bedeutungsverlust Schwedens nach dem Großen Nordischen Krieg im Vergleich zu Russland deutlicher. Karl Peter Ulrich reiste 1742 mit einer kleinen holsteinisch-gottorfer Entourage nach St. Petersburg und musste – eine unbedingte Voraussetzung für den Thron – zur Orthodoxie konvertieren. Ob ihm dies schwerfiel, wissen wir aus zeitgenössischen Berichten nicht. Er blieb jedenfalls auch Herzog von Holstein-Gottorf und seinem Herzogtum immer stark verbunden.14
Für den Fortbestand der Dynastie in der Linie Peters des Großen war eine baldige Eheschließung sinnvoll. Und Elisabeth wählte die Braut für ihren Neffen nicht zufällig. 1727 war sie selbst mit dem Bruder von Johanna Elisabeth, mit dem in Russland in Diensten stehenden Gottorfer Herzog Karl August verlobt worden, der jedoch an Pocken verstarb. Offensichtlich war die Verlobung nicht nur arrangiert gewesen, sondern von Zuneigung getragen. Offiziell sollte Elisabeth nicht mehr heiraten. Schon unter Zeitgenossen wurde allerdings spekuliert, ob sie ihren langjährigen Favoriten Aleksej Razumovskij geheiratet hatte.15
Das Haus Gottorf war also in mehrfacher Hinsicht im Fokus. Die Idee, Sophie mit Karl Peter Ulrich zu verheiraten, wurde Elisabeth jedoch von Friedrich dem Großen nahegebracht, der sich dazu ihres einflussreichen Leibarztes Johann Hermann von L’Estocq als Mittelsmann bediente. Friedrich wollte eine Kandidatin, die dazu beitragen konnte, dass Elisabeth sich nicht an der Seite Österreichs gegen Preußen wende. Für eine solche österreichische Orientierung stand während des österreichischen Erbfolgekrieges und der darin eingewobenen Schlesischen Kriege Russlands Staatskanzler Aleksej Bestužev-Rjumin. Seine Vorschläge gingen etwa in Richtung einer sächsischen oder französischen Prinzessin für Karl Peter Ulrich.16 Friedrich steuerte gegen und wies nun direkt seinen Gesandten Heinrich Freiherr von Mardefeld an, er solle doch »eine Prinzessin aus irgendeinem alten herzoglichen Hause Deutschlands«17 vorschlagen, um das sächsische Heiratsprojekt zu torpedieren. Er war im Übrigen keinesfalls bereit, Elisabeth, auf die er herabsah, eine seiner Schwestern als Gattin für den russischen Thronfolger anzubieten.
Ob die Entscheidung für Sophie tatsächlich einem sentimentalen Affekt für das Haus Gottorf entsprang, muss dahingestellt bleiben. Jedenfalls folgte Elisabeth Friedrichs Vorschlag, weil er in ihre Dynastiepolitik passte,18 und wenn Friedrich gehofft hatte, mit Sophie in St. Petersburg eine Parteigängerin aufbauen zu können, musste er nicht erst mit ihrer Thronbesteigung lernen, dass Dankbarkeit für Katharina in der Realpolitik keine relevante Kategorie war.
Elisabeth lud Sophie im Dezember 1743 nach Russland ein, das Schreiben erreichte Zerbst am 1. Januar 1744. Eingeladen wurden sie und ihre Mutter, die adressiert wurde, nicht aber Friedrich August:
»Auf ausdrücklichen und besonderen Befehl Ihrer Kaiserlichen Majestät habe ich Ihnen mitzuteilen, dass die erhabene Kaiserin es wünscht, dass Eure Durchlaucht, begleitet von der Prinzessin, Dero ältesten Tochter, sich so bald wie möglich und ohne Zeitverlust in unser Land begibt, an den Ort, an dem der kaiserliche Hof sich dann befinden wird.«19
Es handelte sich eher um eine Einbestellung als um eine Einladung. Als Sophie nach der beschriebenen winterlichen Reise über das Baltikum und St. Peterburg in Moskau eintraf und der Kaiserin Elisabeth begegnete, war sie vom ersten Anblick derselben tief beindruckt. Sicher wird die Aura der Macht und die von den Zeitgenossen gerühmte Schönheit Elisabeths dazu beigetragen haben.20 Und Elisabeth zeigte sich ihr gewogen. Ihre ersten Begegnungen mit ihrem potenziellen Ehemann, Großfürst Peter, verliefen nicht unfreundlich und wohl keineswegs so negativ, wie sie es in den späteren Memoirenfassungen darstellte. Großfürst Peter, dies wurde sehr schnell deutlich, hatte den Wechsel aus dem holsteinischen Eutin nur unter Schwierigkeiten vollzogen. Er fremdelte merklich. Jakob von Stählin, sein Erzieher und zugleich hochrenommiertes Mitglied der Russländischen Akademie der Wissenschaften, schilderte ihn als unterschiedlich begabt.21 Während Peter sich für Mathematik, Fortifikation und alles Militärische lebhaft interessierte, trafen Sprache, Landeskunde und gegenwartsbezogene politische Fragen auf weniger Gegenliebe – soweit sie Russland betrafen. An seinem Herzogtum Holstein, das er ab 1745, dem Jahr seiner nominellen Volljährigkeit, von St. Petersburg aus regierte, zeigte er dagegen durchaus Interesse. Er entwickelte eine lebhafte Verehrung für Friedrich II. All dies wird man als wenig ungewöhnlich bezeichnen dürfen. Friedrich II. galt als der brillanteste Feldherr seiner Zeit und hatte manchen Bewunderer in den Spitzen der Armeen Europas. Die Freude am Militär und auch der spielerische Umgang mit Spielzeug- und echten Soldaten verweisen auf die Jugend seines Großvaters Peter I., der aus seinen Spielzeugregimentern veritable Eliteformationen geformt hatte.
Katharina erinnerte sich später an ihre erste Zeit am russischen Hof als eine schwere. Sie sei bald nach ihrer Ankunft an einer tuberkulösen Rippenfellentzündung erkrankt, die lebensgefährlich gewesen sein muss. Den Grund sah sie später darin, dass sie sich nachts barfuß erhoben hätte, um ihr Lernpensum zu schaffen.22 Katharina wollte, im Gegensatz zu ihrem späteren Mann, die Landessprache lernen und sich auch mit der Orthodoxie vertraut machen. Ihre Lehrer in russischer Sprache, Akademiemitglied Vasilij Adadurov und der Ukrainer Simeon Todorskij, waren ausgezeichnete Gelehrte und berühmt in ihrer Zeit, aber offensichtlich hatten die junge Großfürstin zunächst der Ortswechsel und dann das Lernpensum überfordert. Ihre Rippenfellentzündung wurde mit häufigem Aderlassen, bis zu viermal täglich, bekämpft. Das Aderlassen mochte dem Leben der jungen Großfürstin gefährlicher geworden sein als die Erkrankung an sich. Ihre Mutter, die gegen diese Behandlungsmethode war, geriet darüber in Konflikt mit der Kaiserin, die sich bei Krankheit selbst gerne zur Ader lassen ließ. Dass ihre Mutter die Konversion zur Orthodoxie eher funktional gesehen hatte, zeigt sich gerade in dieser Situation: Johanna Elisabeth wollte, dass Katharina eine letzte Beichte durch einen lutherischen Priester abgenommen werde. Folgt man ihren Erinnerungen, so soll sie jedoch nach ihrem orthodoxen Beichtvater verlangt haben. Dies sorgte für Wohlgefallen bei Elisabeth.
Nach ihrer Genesung nahm Sophie ihre Sprach- und Religionsstudien wieder auf und bereitete sich auf die Konversion vor. Fürst Christian August war als tiefgläubiger Lutheraner wenig begeistert von Sophies Konversion zur Orthodoxie und schärfte ihr in einem aus Zerbst gesandten ›Pro Memoria‹ die Grundsätze des Luthertums ein. Johanna Elisabeth betrachtete diesen Schritt wohl als unvermeidlich für den anstehenden Karrieresprung ihrer Tochter: Großfürstin des Russischen Reiches und Gattin des Thronfolgers. Und auch Sophie selbst wollte ausweislich ihrer Memoiren diesen Schritt gehen – sie nahm ihre Unterweisungen in Orthodoxie ernst. Ihr geistlicher Lehrer, Simeon Todorskij, der aufgrund seiner Kenntnisse des Protestantismus die Glaubensunterschiede klar zu erläutern vermochte – er hatte unter anderem in Halle studiert –, schien sie zu überzeugen:23 Sie bemühte sich brieflich, ihren Vater in Zerbst zu beruhigen. Am 28. Juni 1744 wurde Sophie in den Schoß der Orthodoxen Kirche aufgenommen. Damit war ein Namenswechsel verbunden, Sophie wurde Ekaterina Alekseevna – Katharina. Elisabeth hatte den Namen zu Ehren ihrer Mutter Katharina I. gewählt. Zugleich wurde Katharina zur Großfürstin erhoben.24
Am folgenden Tag fand die Verlobung der beiden Großfürsten statt. Sie hatten in der mehr als einjährigen Verlobungszeit bereits gemeinsam Termine wahrzunehmen und sich auf ihre Aufgabe als Thronfolgerpaar vorzubereiten, das immerhin mit einem kleinen Hof ausgestattet werden sollte. Sie bezogen eigene Appartements im Winterpalast. Zuvor hatten beide Elisabeth auf eine Reise nach Kiev begleitet, die eine aufwendig inszenierte Wallfahrt zum berühmten und für die Orthodoxie so bedeutenden Höhlenkloster unternahm. Die lange geplante, prachtvolle Hochzeit fand am 21. August 1745 statt, nachdem auch Katharina als volljährig galt.25
Kaiserin Elisabeth schenkte den beiden bald nach der Hochzeit auch einen eigenen räumlichen Ort für ihren Hof. Während sie in St. Petersburg in Appartements des Winterpalastes aus der Zeit Anna Ivanovnas wohnten, bekamen sie von der Kaiserin das Sommerpalais des Fürsten Menšikov, des Favoriten Peters I., in Oranienbaum geschenkt, etwa 40 Werst von St. Petersburg entfernt. Hier entstanden auf Wunsch Peters Festungsanlagen für seine holsteinischen Soldaten. In der Peterstadt exerzierte er, wie einst sein Großvater Peter I., mit seinen Spielregimentern.26 Katharina hingegen beschäftigte sich, auch als sie alleinige Kaiserin geworden war, in den folgenden Jahrzehnten neben den Palasterweiterungen und -veränderungen mit der Anlage spektakulärer Gartenanlagen und eines chinesischen Pavillons, Ensembles, die den anderen Residenzen der kaiserlichen Familie in nichts nachstanden.27
Christian August war nicht zur Trauung gereist, und auch Johanna Elisabeths Tage am Hofe waren gezählt.28 Schon bald nach der Trauung wurde ihr nahegelegt, Hof und Land zu verlassen. Sie hatte selbst begonnen, sich aktiv in Hofintrigen, in denen es ja immer auch um Innen- wie um Außenpolitik ging, einzumischen. Und schon ihre Korrespondenz mit Friedrich II. reichte aus, um sie verdächtig zu machen. Sie verließ Russland vier Wochen nach der Hochzeit, um nie mehr zurückzukehren.
Abb. 1: G. A. Kačalov, Feuerwerk aus Anlass der Hochzeit von Ekaterina Alekseevna und Petr Fedorovič (1745).
Auch wenn das Verhältnis Katharinas zu ihrer Mutter ausweislich ihrer Memoiren nicht sehr eng war, nun musste sie sich bei Hofe ohne Johanna Elisabeth behaupten. Dabei war es nicht ausgemacht, ob sie dies gemeinsam oder gegen ihren Gatten würde tun müssen. Die Ehen an den Höfen der Frühen Neuzeit waren Zweckgemeinschaften. Zuneigung und Liebe mochten vorhanden sein – die politische Aufgabe dominierte jedoch. Und diese Aufgabe erfüllten die Eheleute, die sich in den ersten Jahren offensichtlich noch akzeptierten, durchaus. Sie nahmen am Hofleben teil, waren auf ein Einvernehmen mit der Kaiserin Elisabeth bedacht und absolvierten die Termine, die der Jahreskalender vorgab. Aber schon bald begannen die beiden Eheleute sich auseinanderzuentwickeln, im Persönlichen, in ihren Interessen und auch in der Situierung innerhalb der Hofgesellschaft der Kaiserin. Ob es auch daran lag, dass sich Peter nach überstandener Masern- und Pockenerkrankung, die ihn entstellte, mehr und mehr zurückzog, muss dahin gestellt bleiben.29
Elisabeth und der Großkanzler Bestužev ließen Peter und Katharina kontrollieren, da beide aus Erfahrung wussten, dass die Eheleute zum einen zur Projektionsfläche für politische Parteiungen im russischen und europäischen Kontext gleichermaßen werden konnten, zum anderen aber sich Großfürst Peter als Carevič wie auch Großfürstin Katharina zu zunehmend eigenständigen Akteuren entwickeln konnten. Die für das großfürstliche Paar eingesetzten Hofmarschälle, das Ehepaar Čoglokov, hatten die beiden zu überwachen. Dabei wurde augenfällig, dass Peter, der seine Kieler Bibliothek von etwa tausend Bänden nach St. Petersburg bringen ließ und sich für alles Militärische, aber auch für Musik interessierte, und Katharina, die bald mit intensiver Selbstbildung durch Lektüre begann, unterschiedliche Wege gingen und dabei auch sicherlich unterschiedlich schnell erwachsen wurden. Katharina, die Peters Spiele mit Spielzeugsoldaten in ihren ersten Jahren noch ertragen hatte, war zunehmend abgestoßen, auch wenn das Bild, das sie in den verschiedenen Memoirenversionen immer düsterer malte, sicher maßlos überzeichnet ist. Beide vergnügten sich gern, beide teilten auch Interesse am anderen Geschlecht, nur eben nicht aneinander – und die Kaiserin Elisabeth wartete auf Nachwuchs aus dieser großfürstlichen Ehe, um den Bestand der Dynastie gesichert zu sehen.
1752 ließ sich Katharina auf ein Verhältnis mit dem 26-jährigen Kammerherrn Sergej Saltykov ein, von dem sie in ihren Memoiren sagt, er sei schön wie der Tag gewesen.30 Diese Affäre währte noch, als Katharina 1754 von einem Sohn entband, der auf den Namen Paul getauft wurde und den die Kaiserin in ihre Obhut nahm. Katharina sollte nie eine enge Bindung zu ihrem Sohn entwickeln.31
Über die Vaterschaft ist viel spekuliert worden. Großfürst Peter erkannte ihn jedenfalls an und sprach in Briefen von »seinem Sohn Paul«. Sergej Saltykov hingegen wurde faktisch vom Hof verbannt, als ihm aufgetragen wurde, Pauls Geburt am schwedischen Hof anzuzeigen. Peter hatte zu diesem Zeitpunkt bereits ebenfalls eine Mätresse, Elisaveta Romanovna Voroncova, mit deren jüngeren Schwester Ekaterina sich Katharina anfreundete.
Abb. 2: Anna Rosina Lisiewka, Das russische Thronfolgerpaar mit ihrem Sohn, Großfürst Paul (1756).
Katharina verbrachte die Zeit neben den Terminen des jungen und des großen Hofes vor allem mit Lektüre und ließ sich beraten, etwa 1755/1756 vom britischen Gesandten Sir Charles Hanbury Williams, der ihr Interesse an englischer Verfassung und Kultur förderte.32 Hatte sie schon in Deutschland wenn auch eher wahllos gelesen, suchte sie nun nach Lektüre, die sie auf ihre politische Aufgabe vorbereitete. Ihre Lehrer, alle Mitglieder der noch von Peter I. initiierten und 1725 gegründeten Russischen Akademie der Wissenschaften, machten ihr Vorschläge. So konnte sie in den langen Jahren ihrer Großfürstinnenzeit bis 1762 verschiedene Schichten von politisch relevanter Literatur zur Kenntnis nehmen. Dazu gehörte der gut eingeführte Bildungskanon antiker Literatur. Tacitus vor allem, so schrieb sie später, wäre eine Lektüre gewesen, die ihr den Weg öffnete für Werke, die sich mit dem Themenkreis Staat, Herrschaft und Individuum beschäftigten. Zu solchen gehörten auch Werke der älteren deutschen Staatsrechtslehre, etwa von Samuel Pufendorf, oder die Werke von dessen Zeitgenossen John Locke. Johann Heinrich Gottlob von Justis Staatswirtschaft oder systematische Abhandlung aller ökonomischen und Cameralwissenschaft, seit ihrem Erscheinen 1755 breit rezipiert, und andere seiner Werke, die in der ›guten Regierung‹ unterwiesen, standen auf ihrem Lektüreplan. Katharina wurde mit den ›Policeywissenschaften‹, wie sie in den Territorien des Heiligen Römischen Reiches und so auch in Zerbst in Herrschaft durch gute Ordnung übersetzt werden sollten, vertraut. Diese Grundlagen des Staatshandelns hatten schon Peter den Großen und seine Berater beeinflusst.33 Sie rezipierte aber auch das, was aus Frankreich kommend eine jüngere und vom konzeptuellen Zugriff her umfassendere Variante der Aufklärung darstellte, nämlich die Texte von Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu. Sein De l’esprit des lois (Vom Geist der Gesetze, Genf 1748) las sie nicht nur in ihrer Großfürstinnenzeit.34 Auch nach ihrem Herrschaftsantritt dachte sie anhand seiner auf John Locke basierenden Vorschläge zur Gewaltenteilung darüber nach, wie in Russland das institutionelle und praktische Verhältnis zwischen Gesetzgebung, Rechtsprechung und Regierungsgewalt war und sich entwickeln sollte. Und mit Blick auf das vielfältige Geflecht des kaiserlichen Hofes, der mit seinem gewaltigen Personalbestand, seinen Amtsträgern aus Verwaltung, Militär und Hofdienst auch unübersichtlich sein mochte, war doch überdeutlich, dass die Gewalten in der Kaiserin als autokratischer Herrscherin zusammenfielen. Elisabeth mochte Aufgaben delegieren und dies tat sie im Verlauf ihrer Herrschaft zunehmend, aber sie behielt alle Gewalten letztgültig in ihrer Hand. Das autokratische Bewusstsein blieb. Hier sollte sich Katharina von keiner ihrer Vorgängerinnen im 18. Jahrhundert unterscheiden.
Katharina wusste über ihre Lektüren, dass es auch alternative Modelle der Organisation von Staat und Staatsgewalt gab. Auch interessierte sie sich für die praktische Seite der Gesetzgebung. Für das Strafrecht sollte für sie – dies freilich schon als Kaiserin – Cesare Beccarias Dei delitti e delle pene (Von den Verbrechen und von den Strafen, 1764) ein Referenzwerk werden, das ihr später durch den Kommentar Voltaires (1766) vermittelt wurde. Voltaire wiederum war gleichsam Pflichtlektüre. Seine Werke und die anderer Autoren, die an der Enzyklopädie mitwirkten, standen auf ihrem Programm. Daneben studierte sie die Bände des Dictionnaire historique et critique (1694–1697) von Pierre Bayle und setzte sich intensiv mit den Werken Friedrichs II. auseinander, über den sie wohl Niccolò Machiavellis Fürsten kennenlernte.35
Sie selbst, aber auch Zeitgenossen berichteten von ihrem Lesefleiß – und sie begann zu schreiben. Auf Rat eines Bekannten noch aus Deutschland, des schwedischen Diplomaten Graf Gyllenborg, versuchte sie sich schon 1744 an einem Selbstporträt, das allerdings nicht überliefert ist. Sie begann Korrespondenzen zu führen, die nicht nur Alltägliches enthielten, sondern grundsätzliche Betrachtungen über Leben und Sein oder Staat und Gesellschaft. Vor allem Letzteres war nicht ohne Brisanz, denn sie war als Großfürstin eine politische Person und ihre Lektüre und ihr Agieren in der Lebenswelt des Hofes machten sie zu einer politischen Akteurin, die offensichtlich auf ihre Position bedacht war und bedacht sein musste.
Diese Lektüren kombinierte sie mit ganz praktischen politischen Erfahrungen. Immerhin war das Verhältnis zu ihrem Mann noch so gut, dass dieser sie 1755 bat, sich um die Angelegenheiten seines finanziell ruinierten Herzogtums Holstein zu kümmern, und sie widmete sich dieser Aufgabe gerne und intensiv.36 Regieren, dies war die Erkenntnis, die sie – im Gegensatz zu Peter – aus dieser Tätigkeit gewinnen konnte, bedeutete auch das intensive Studium von Papieren und Informationen, aufgrund derer Pläne gemacht und Entscheidungen getroffen werden konnten.
Daneben blieb Zeit für eine weitere Liebesaffäre: In der Entourage des englischen Gesandten befand sich der zwei Jahre jüngere polnische Magnatensohn Stanisław August Poniatowski, der sich in sie verliebte.37 Poniatowski, in der englischen Gesandtschaft nach St. Petersburg gekommen, war seinerseits hochgebildet und damit für Katharina ein Gesprächspartner, der ihr in mehrfacher Hinsicht all das bot, was ihr Mann ihr nicht bieten konnte und wollte. Der junge polnische Adlige war noch Jahre später fasziniert. Sie hatte eine Natur, so schrieb er in seinen Memoiren, die es ihr erlaubte, »von den allerunsinnigsten Späßen, den kindischsten Spielen in einem Moment zu arithmetischen Tafeln unerschrocken von der harten Arbeit oder den Texten«38 zu wechseln.
Im Dezember 1757 wurden Katharina und Poniatowski Eltern einer Tochter, Anna. Auch dieses Kind sollte Peter als das seine anerkennen, bevor es nach nur vier Monaten starb. Der Großfürst hielt es politisch für geboten, aus dem Verhältnis seiner Frau zu Poniatowski keinen Skandal zu machen, sorgte aber dafür, dass dieser den Hof verlassen musste. Ohnehin galt Poniatowski als Parteigänger der englischen Sache, da er im Gefolge des englischen Gesandten Charles Hanbury Williams nach St. Petersburg gekommen war, mit dem Katharina eifrig korrespondierte,39 während die Kaiserin Elisabeth ostentativ Distanz hielt. Williams’ Position wurde nach Ausbruch des Siebenjährigen Krieges nicht einfacher, und wie Poniatowski verließ er 1758 das Land. Poniatowski war über seine Verbannung vom Hofe zutiefst bestürzt und wollte, dass Katharina nun ihren Mann und Russland verließ und ihm auf seine Güter nach Polen folgte. Dies war aber offensichtlich keine Option für Katharina – sie hing an ihrer Position am Petersburger Hof und blieb. Poniatowski und Katharina blieben sich freilich auch in den kommenden Jahrzehnten verbunden.
Um diese Zeit entwickelte die Großfürstin auch ein gutes Verhältnis zum Kanzler des Russischen Reiches, Aleksej Bestužev-Rjumin, der sie offensichtlich darin ermutigte, eigene Machtoptionen auszuloten.40 Anders als ihr Mann erschien sie als eine politisch denkende und handelnde Person. Dies wurde umso interessanter, je kränker die Kaiserin Elisabeth wurde und je weniger sie in das alltägliche Regierungsgeschäft eingriff.
In den 1750er Jahren wurde die Familie der Šuvalovs bei Hofe immer einflussreicher. Um sie herum organisierte sich eine Hofpartei, die auch ein Interesse daran hatte, über die Aktivitäten des kleinen Hofes informiert zu sein. Es war ein strategischer Zug, dass Graf Andrej Šuvalov Kammerherr Katharinas wurde. Auf ihn gingen später erste europaweite Gerüchte über das zerrüttete Verhältnis des Großfürsten und der Großfürstin zurück. Šuvalov stand im Kontakt mit dem ebenso scharfzüngigen und sarkastischen James Boswell. Über diesen verbreiteten sich Gerüchte bis auf die britischen Inseln, dass Katharina Verhältnisse mit Sergej Saltykov und Poniatowski hatte und dass Peter Elisaveta Voroncova als Mätresse genommen habe.
Anders als Aleksej Razumovskij, der bei Hof populäre und innen- wie außenpolitisch neutrale langjährige Favorit Elisabeths, waren der Favorit der späten Jahre Ivan Šuvalov, vor allem aber sein Onkel Petr und der Vizekanzler Voroncov an politischer Macht ihrer eigenen Partei interessiert. Diese Gruppierung hatte ein Interesse daran, Bestužev zu stürzen, und den Anlass dafür bot der Siebenjährige Krieg. Der Großkanzler war einerseits habsburgisch orientiert, andererseits antifranzösisch eingestellt. Die französische Partei hingegen war in den ersten Jahren der Herrschaft Elisabeths stark gewesen, hatte sie doch den Staatstreich der Tochter Peters unterstützt. Ihr Leibarzt L’Estocq und der französische Gesandte, der Marquis de le Chetardie, standen für diese Hofpartei. Bestužev gelang es, diese Partei zu stürzen – le Chetardie musste das Land verlassen. Andererseits konnte er nicht verhindern, dass Russland im Renversement des Alliance 1756/57 der antipreußischen Allianz beitrat,41 zu verlockend erschien dem Petersburger Hof die Aussicht auf Gebietsgewinne im Westen im Falle eines Krieges gegen Preußen. Insbesondere hatte Elisabeth Semgallen und das Herzogtum Kurland in den Blick genommen, das bereits faktisch unter russischem Protektorat stand.
Bestužev war auf die antipreußische Linie eingeschwenkt, doch seine Gegner unterstellten ihm, einen Separatfrieden mit Preußen zu suchen, und sahen auch das Großfürstenpaar in seiner Gruppierung. Dafür sprachen Katharinas gute Beziehungen zum Großkanzler und die weithin bekannte Preußenliebe und Friedrich-Verehrung des Großfürsten Peter. Als nach der für Russland siegreichen Schlacht von Großjägersdorf in Ostpreußen der russische Kommandierende General Stepan Apraksin seinen Sieg nicht nutzte und statt die flüchtigen preußischen Truppen zu verfolgen, den Rückzug auf Tilsit antrat, wurden bei Hofe Gerüchte ausgestreut, er habe dies auf Geheiß des Großkanzlers und des Großfürstenpaares getan. Etwa gleichzeitig hatte die Kaiserin Elisabeth einen Schlaganfall erlitten, der die Fama nährte, Großfürst Peter oder gar seine Frau hätten die Absicht gehabt, nach dem Thron zu greifen.
Die genauen Hintergründe sind schwer zu eruieren. Bestužev jedenfalls stürzte und Michail Voroncov wurde neuer Kanzler. Katharina erschien ihre Situation so bedrohlich, dass sie zahlreiche Papiere verbrannte, von denen sie annahm, sie enthielten womöglich Kompromittierendes, weil sie politischen Inhalts waren. Dazu gehörte wohl auch ihr Selbstporträt, dass sie als Fünfzehnjährige geschrieben hatte.42
Ende des Jahres 1757 und in der ersten Jahreshälfte 1758 erwartete sie ihren Fall. Sie bat die Kaiserin vorsorglich um Verzeihung für alle Ungelegenheiten und bat darum, nach Zerbst geschickt zu werden. Folgt man ihren Memoiren, überzog Elisabeth Katharina in einer Audienz mit dem Vorwurf des Verrats. Großfürst Peter bat seine kranke Tante, in sein Herzogtum Holstein ausreisen zu dürfen. Doch nichts geschah. Elisabeth schloss ihren Neffen nicht von der Thronfolge aus, Katharina wurde allmählich wieder in Gnaden aufgenommen, nicht zuletzt wohl auch, um als ein Gegengewicht zu Peter fungieren zu können. Der General Stepan Apraksin starb noch 1757, bevor ihm der Prozess gemacht werden konnte, und die russischen Truppen agierten weiterhin erfolgreich in der antipreußischen Koalition, besetzten 1758–1763 Königsberg und 1760 sogar für drei Tage Berlin.43
Katharina verhielt sich nach dieser ihr bedrohlich erscheinenden Situation noch vorsichtiger als zuvor, um der nicht mehr vollkommen genesenden Elisabeth keinen Anlass zu geben, an ihrer Loyalität zu zweifeln. Ihr Mann Peter wurde über seine Mätresse durch den neuen Kanzler Voroncov gestützt; beide standen der einflussreichen Familie der Šuvalovs mit Distanz gegenüber, die bislang die innenpolitische Arena dominiert hatte. Petr Šuvalov war der erfolgreiche spiritus rector der Wirtschaftspolitik der Kaiserin Elisabeth, die in der Abschaffung der Binnenzölle kulminierte; Ivan Šuvalov war derjenige, der auf dem Feld von Kultur, Wissenschaft und Kunst der Herrschaft Elisabeths zu bleibendem Erfolg verhalf. Er kuratierte die 1755 gegründete Universität Moskau und stand Pate bei der Gründung der Akademie der Künste, die erfolgreich einheimischen Nachwuchs in bildenden Künsten und der Architektur hervorbringen sollte.44
Die dominante Position dieser Familie bezog sich aber auch zunehmend auf den Bereich der Außenpolitik. Dies führte zu Allianzen, in denen Katharina, soweit erkennbar, trotz ihrer Vorsicht eine viel stärkere Position einnahm als ihr Mann. Die Großfürstin erwies sich im Stillen als eine ausgezeichnete Netzwerkerin. Ihre Befolgung der Gebote der Orthodoxie sicherte ihr das Vertrauen der Kirchenhierarchen. Wie die Kaiserin Elisabeth in ihrer Großfürstinnenzeit, knüpfte sie beste Kontakte zu den Garderegimentern, jenen Einheiten, die gewissermaßen aus den Spielzeugtruppen Peters des Großen hervorgegangen waren und die nach seinem Tode bei Thronrevolten eine Schlüsselrolle gespielt hatten. Ende des Jahres 1761 lernte sie Grigorij Orlov kennen, einen Gardeoffizier aus bester Familie, der ihr neuer Favorit wurde und mit seinen Brüdern die Unterstützung der Garden organisierte.
So galt vor dem Hintergrund der schwindenden Kräfte Elisabeths Großfürstin Katharina als Alternative zu Peter. Zwar divergierten die Meinungen – manche wie der Erzieher des Großfürsten Paul, Nikita Panin,45 sahen Katharina in der Position einer Regentin für ihren Sohn, andere sahen Katharina in einer noch abgeschwächteren Position als Vorsitzende eines Regentschaftsrates. Eine solche Konstellation erinnerte an die politische Situation, in der sich Elisabeth seinerzeit an die Macht geputscht hatte. Dritte sahen sie aber auch als Herrscherin des Russischen Imperiums.
In jedem Fall hatte Katharina ihre 18-jährige Großfürstinnenzeit, die sie in der Rückschau als eine Zeit der Langeweile beschrieb, als eine lange Schule mit Höhen und Tiefen durchlebt – nicht nur im Verhältnis zu ihrem Mann und der Kaiserin. Sie hatte gelernt, nicht nur aus Büchern zu lernen, sondern auch, wie sie Menschen unterschiedlichen Ranges in ihr Netzwerk einbinden konnte. Und sie hatte ein politisches Sensorium ausgebildet, das sie Situationen einschätzen ließ.46 Dies unterschied sie von Großfürst Peter.