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Erste Reformen und außenpolitische Schritte

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Symbolische Kommunikation durch Reisen ging einher mit sofortigem, intensivem Regierungshandeln. Es scheint, als habe Katharina all das, was sie sich an theoretischen Grundlagen erarbeitet hatte, nun auch in Gesetzgebung umsetzen wollen. Sie war der Kaiserin Elisabeth, aber auch Maria Theresia in ihrer Belesenheit und ihrem Wissen um Recht, Ökonomie und gute Regierung um Längen voraus. Sie regierte nicht nur in den ersten Jahren mit einer eisernen Disziplin. Dies unterschied sie von ihren Vorgängerinnen, die mit fortschreitender Herrschaft Staatspapiere immer länger Staatspapiere sein ließen.

Sie wird zwar, sich selbst stilisierend, übertrieben haben, wenn sie die Einförmigkeit ihrer Tage in Arbeit für das Imperium beschrieb – auch dies geschickte symbolische Kommunikation. Aber sie liebte die Arbeit in ihrem Kabinett im Winterpalast, das Studieren von Papieren, in denen die Behörden ihr Bericht zu erstatten hatten, und die Lektüre neuerer Literatur, auch wenn sie manches für das Imperium für brandgefährlich hielt – für die Autokratie und das Russische Imperium. Jean Jacques Rousseaus »Émile« war ein solches Beispiel, dessen Verbreitung sie nach eigener Lektüre verbot.1 Herrscherliches Regieren, informiert zu sein über den Zustand des Reiches und aus diesen Informationen Anweisungen und Gesetze zur Besserung des Staates zu geben – dies sollte ihr als Usurpatorin auf dem Thron Legimitation durch Erfolg verleihen. Und mit dieser Strategie begann sie unmittelbar nach dem Sturz ihres Mannes.

Einen Tag nach dem Tod Peters III., am 7. Juli 1762, verkündete Katharina in einem Manifest, wie sie das Land zu regieren gedachte. Sie wolle

»auf gesetzlichem Wege solche staatlichen Institutionen schaffen, durch die die Regierung unseres lieben Vaterlandes ihren Lauf nehmen kann, auf dass auch in Zukunft jede Staatsbehörde ihre Grenzen und Gesetze zum Zwecke der Wahrung der guten Ordnung habe.«2

Um zum Beispiel den Erwartungen der Geistlichkeit entgegenzukommen, hob sie die von Peter III. verfügte Verstaatlichung der Kirchengüter wieder auf, obwohl diese Maßnahme ihre Sympathie gehabt hatte. Ein so bedeutender ökonomischer Komplex wie der kirchliche, vor allem der klösterliche Besitz mit seinen Millionen Kirchenbauern gehörte ihrer festen Überzeugung nach unter die Kontrolle des Staates, und so nahm sie schon im folgenden Jahr die Politik ihres Gatten in dieser Hinsicht wieder auf. Sie ließ den Kopf des Widerstandes innerhalb der Geistlichkeit 1763 des Amtes entheben: Bischof Arsenij von Rostov wurde seiner Funktion entbunden und bis zu seinem Tode 1772 in Reval inhaftiert. Ein Synodalgericht unter Leitung des Metropoliten von Novgorod hatte den Prozess geführt und zeigte den Riss, der durch die Kirche ging.3 Gegenüber Voltaire, einem erklärten Feind jeglicher Kirche, erklärte sie in einem Brief im August 1765:

»Die der Kirche untertänigen Bauern, die oft unter tyrannischer Bedrückung leiden, wozu der häufige Wechsel der Herrschaft noch beiträgt, erhoben sich am Ende der Regierung der Kaiserin Elisabeth, und auch bei meiner Thronbesteigung standen noch mehr als hunderttausend Mann unter Waffen. Das veranlasste mich […] die Verwaltung der Kirchengüter völlig neu zu ordnen.«4

Das las sich für die aufgeklärte Öffentlichkeit in Europa gut: Das Manifest vom 26. Februar 1764, mit dem die Kirchengüter erneut säkularisiert wurden, machte die Kirchenbauern zu Staatsbauern und linderte ihre Lasten, weil Frondienste entfielen und nur noch Zins zu zahlen war. Gleichzeitig sollte es den zahlreichen größeren und kleineren Bauernunruhen im Reich, nicht nur auf Kirchenland, die Spitze nehmen.5 Es schürte aber auch Erwartungen unter den Gutsbauern in Russland, dass Ähnliches auch für sie geplant sein könnte, und erregte entsprechenden Argwohn beim Adel.6

Dieser Argwohn bestand nicht zu Unrecht, denn die öffentliche Debatte war bereits eröffnet und fiel zusammen mit den Zentralisierungstendenzen katharinäischer Verwaltungspolitik: Die Regierung Katharinas II. zielte von Beginn an darauf, das wirtschaftliche Leben Russlands in Gang zu bringen und die Ausnutzung der wirtschaftlichen Reichtümer des Reiches möglichst rationell und wirksam zu organisieren. Gelehrte Vereinigungen wie die Freie Ökonomische Gesellschaft7 sollten die Debatte hierüber forcieren. Sie glaubte, hierin ganz in petrinischer Manier, dass dieses Ziel nur unter der aktiven Führung, Teilnahme und rationellen Lenkung des Staates erreicht werden könnte. Deshalb mussten alle Territorien den administrativen und sozialen Verhältnissen der zentralen Gouvernements angeglichen und alle lokalen Machtzentren St. Petersburg untergeordnet werden. Das hieß, dass man die partikularen und auf Eigenständigkeit gerichteten Tendenzen im sozialen und kulturellen Bereich bekämpfen und gegen die freie Entfaltung individueller und lokaler autonomer Kräfte angehen musste. Dies war ihre Ansage auf der Reise ins Baltikum und dies war auch ihre Politik in den Gebieten der südlichen Peripherie, in der Ukraine. Auch hier war das Ziel: Territorialisierung durch Vereinheitlichung.8

Teile der Ukraine, etwa die sogenannte Sloboda-Ukraine um die Stadt Char’kiv, waren schon seit längerer Zeit unter der Herrschaft des Russischen Reiches und in die zwar keineswegs reibungslos funktionierenden, aber doch sehr präsenten imperialen Verwaltungsinstitutionen integriert. Anders sah es in der linksufrigen Ukraine aus, die aus der Perspektive zunächst Moskaus und nun St. Petersburgs als Kleinrussland bezeichnet wurde. Kleinrussland war die Herzkammer der kosakischen Traditionen. Die Zaporoger Kosaken entlang des Dnjepr-Laufes waren im Vergleich zu anderen kosakischen Gemeinschaften etwa am Don oder am Jaik die zahlenmäßig stärkste – und unruhigste.

Auch als 1654, nach dem Aufstand ihres Hetmans Bohdan Chmiel’nickij im Akt von Perejaslav, die Anerkennung der Oberhoheit der Zaren erfolgt war – von den Kosaken als ein gegenseitiges Dienst- und Schutzverhältnis interpretiert, von den Zaren aber als eine hierarchische Unterstellung –, blieb Kleinrussland rechtlich und sozial separiert. Hier galt nicht das Gesetzbuch von 1649, sondern es galten das litauische Statut und lokale Rechtskreise. Die Kosaken in ihren Siedlungen waren nach dem Hundertschaftsprinzip organisiert und bestimmten sich abgestuft selbst. Die kosakische Oberschicht, die zunehmend über Grundbesitz verfügte und in seiner Lebensweise dem Adel immer ähnlicher wurde, hatte mit den agrarisch wirtschaftenden Unterschichten ein gemeinsames Eigenbewusstsein, das in mancherlei Hinsicht protonational genannt werden kann.9 Hetman Mazeppa, der sich im Großen Nordischen Krieg gegen Peter den Großen wandte und gemeinsam mit Karl XII. in Poltava 1709 verlor, galt für das Imperium als Verräter, in ›Kleinrussland‹ jedoch als Held. Je nach politischer Konjunktur und Gelegenheit wichen Kosaken in den Machtbereich des Osmanischen Reiches, zu den Krimtataren oder aber nach Polen-Litauen aus. Organisiert in Kosakenlinien übernahmen sie Grenzschutzfunktionen für das Imperium im Süden. Die Leibeigenschaft existierte in der Form von Bindung der Person durch Leib an den Gutsherren und dessen Boden nicht.10

Katharina waren die Eigenrechte des Hetmanats ein Dorn im Auge. So wie sie für das Baltikum bei aller Wertschätzung eine Uniformierung anstrebte, so wollte sie bei aller Wertschätzung der ukrainischen Kultur, die schon am Hofe Elisabeths populär war, eine rechtliche Angleichung. Dies war nicht einfach, denn sie war dem Hetman Kyrill Razumovskij, den sein älterer Bruder Aleksej, Favorit Elisabeths, installieren konnte, durch seine Unterstützung im Putsch verpflichtet. Kyrill war der französischen Hofkultur und den ukrainischen Traditionen gleichermaßen zugetan, inszenierte sich in seiner kleinrussischen Residenz Gluchov herrscherähnlich und spiegelte gleichsam den Petersburger Hof. Zugleich arbeitete er geschickt mit der Starščina, der Oberschicht der Kosaken, die sich wegen Katharinas Wunsch nach Zentralisierung in Gärung befand. Razumovskij und die Kosakenoberen formulierten in Gluchov im Oktober 1763 eine Petition, in der sie eine weitgehende Autonomie ›Kleinrusslands‹ und die Erblichkeit des Hetmanats für die Familie Razumovskij forderten.11 Katharina hätte sich mit einem energischen Vorgehen nicht so schwergetan, hätte nicht Kyrill Razumovskij zu ihren Freunden in der Großfürstinnenzeit und zu den Mitorganisatoren des Umsturzes gehört. Kyrill Razumovskij war, zum Ärger des eifersüchtigen Grigorij Orlov, Katharina sehr zugetan und sie schätzte ihn außerordentlich als Mann von Intellekt – ihr Favorit war er freilich nie.

Katharinas politische Haltung gegenüber ›Kleinrussland‹ war unzweifelhaft: Sie wollte die russische Provinzialadministration und das Sozialsystem übertragen. Dies bedeutete auch die Ausweitung der Gutswirtschaft und der Leibeigenschaft als Plan. Ihre Schriften in diesem Zusammenhang geben auch Auskunft über ihr fortgesetztes Nachdenken über die Leibeigenschaft, die sie in diesem Zusammenhang ganz aus der Perspektive des ökonomischen Nutzens für das Imperium betrachtete. ›Kleinrussland‹ trug wenig zum Steueraufkommen des Imperiums bei und dies, obwohl die Böden sich bestens für landwirtschaftliche Nutzung, vor allem Getreide eigneten. Die ukrainischen Bauern waren frei oder konnten zumindest ihren Dienstherren beliebig wechseln. Auch die landbesitzende adelsähnliche Kosakenoberschicht hatte ein Interesse daran, diese Mobilität zu unterbinden, um so für kontinuierliche Landbewirtschaftung zu sorgen. In ihren schriftlichen Ausführungen legte die Monarchin Wert auf den Umstand, dass in dem einzuführenden System nicht der Bauer dem Grundherrn gehöre, sondern lediglich an das Land gebunden sei, was sie nicht als leibeigen im engeren Sinne bezeichnet wissen wollte – Katharina wollte dem Vorwurf mancher Aufklärer entgehen, sie unterstütze die ›Sklaverei‹.12

Diese Haltung wurde etwa von ihrem Sekretär Grigorij Teplov unterstützt, der in einem Memorandum die Gründe für eine Aufhebung der Sonderrechte darlegte und das Ansinnen der Petition der kleinrussischen Eliten und ihres Hetmans zurückwies.13 Die linksufrige Ukraine sei nicht, wie insinuiert, lediglich durch die Person der Kaiserin mit Russland verbunden, sondern ein integraler Bestandteil Russlands von alters her. Verwaltung und Sozialverfassung seien daher anzugleichen.14

Kyrill Razumovskij befand sich in der Zwickmühle. Einerseits wollte er sich nicht offen der von ihm bewunderten Kaiserin widersetzen, und es gab auch Stimmen in den kleinrussischen Eliten, die sich von einer vollkommenen Integration Karrierevorteile und ökonomischen Gewinn versprachen; andererseits fürchteten viele das Ende der Freiheiten der Autonomie in der komplexen Form, wie sie die Kosaken entwickelt hatten. Der Druck des Petersburger Hofes wurde schließlich zu stark. 1764 stellte Razumovskij sein Amt als Hetman zur Verfügung und ging von 1765 bis 1767 auf eine Auslandsreise. Einen Bruch mit Katharina bedeutete dies nicht. Sie fand ihn mit weiteren Gütern in Kleinrussland ab, und als Präsident der von Peter dem Großen initiierten Akademie der Wissenschaften und in anderen Funktionen sollte er weiterhin eine bedeutende Rolle in Politik und Hofleben spielen.

Im November 1764 richtete sie das ›Kleinrussische Kollegium‹ ein, das von Petersburg aus die Integration der Ukraine vorantreiben sollte. Zu seinem Präsidenten ernannte sie General Petr Rumjancev, der ihr nach dem Sturz zunächst kritisch gegenübergestanden hatte, aber nun in ihr Netzwerk eingebunden werden sollte. Rumjancevs Wahl war auch ein Signal an die kleinrussischen Eliten, hatte er doch seine Jugend in der Ukraine verbracht.15 Das Hetmanat und die Autonomie der kleinrussischen Ukraine waren abgeschafft, und die verstärkte Expansion des leibeigenschaftlichen Systems in diese Gebiete begann zu dem Zeitpunkt, als es im Russischen Imperium verstärkt in die Diskussion geriet.

Die Zeitgenossen sahen diese Probleme durchaus: Nicht umsonst wurde es zur Aufgabe der 1765 gegründeten Freien Ökonomischen Gesellschaft, sich dieser Probleme anzunehmen und regionalspezifische Lösungsansätze zu erstellen. Die gelehrte Gesellschaft erfreute sich nicht nur des Wohlwollens Katharinas, sie ventilierte gleichsam die Möglichkeiten der Reformen im Russischen Imperium. Ihr Mitgliederkreis bestand aus aufgeklärten Bürokraten, großgrundbesitzenden Höflingen Katharinas, Akademiemitgliedern und korrespondierenden Mitgliedern im Ausland, in Deutschland, Dänemark, Schweden und England. Sie stellte, wenn man so will, einen brain trust der Aufklärung mit einem über ganz Europa reichenden Netzwerk dar. Diese Gesellschaft, die das Jahrhundert der Aufklärung in ihren Gründungsstatuten als das »ökonomische Jahrhundert« bezeichnete, verschrieb sich unter Hinweis auf ähnliche Anstrengungen in Dänemark und Schweden wesentlich der Förderung des Agrarsektors.16

Diese Gesellschaft schrieb nun 1766 mit Billigung der Kaiserin einen Wettbewerb unter der Frage aus, ob der Bauer produktiver arbeite, wenn er das Land, das er bearbeite, selbst besitze oder nicht. Die Preisfrage lautete:

»Ist es dem gemeinen Wesen vorteilhafter und nützlicher, daß der Bauer Land oder nur bewegliche Güter zum Eigentum besitze, und wie weit soll sich das Recht des Bauern über dieses Eigentum erstrecken, damit es dem gemeinen Wesen am nützlichsten sei?«17

Der Hintergrund war eine von der Zarin gewünschte Diskussion über die Aufhebung der Leibeigenschaft, die rund um die Ostsee, in Dänemark, Schleswig-Holstein, der noch existierenden Adelsrepublik Polen sowie in Livland, Estland und Kurland intensiv geführt wurde. Katharina wollte die Diskussion von der Hauptstadt aus gezielt vorantreiben und steuern und auch die Russen über den aufgeklärten Diskurs dazu bewegen, gleichsam von selbst Schritte zur Aufhebung der Leibeigenschaft vorzuschlagen.

Die Kaiserin sah die menschenverachtenden Auswüchse der Leibeigenschaft sehr wohl: 1762, im Jahr der Machtübernahme, fiel Katharina eine Bittschrift in die Hände, in der die Quälerei von Hausleibeigenen beklagt wurde. Die Gutsherrin Darja Saltykova sollte, so die Bittschrift, ihre Hausleibeigenen derart misshandelt haben, dass sie an den Folgen gestorben seien. Die Kaiserin ging dem Fall nach; es zeigte sich, dass diese Bittschrift bereits die 21. aus dem Gut der Saltykova gewesen war. Die Kaiserin ließ ein Exempel statuieren und einen Prozess anstrengen, der mit der Verbannung der Adligen nach Sibirien und der Einziehung des Gutes endete. Der Fall erregte Aufsehen; er sollte aber kein Einzelfall bleiben. Die Kaiserin sollte in ihrer Herrschaft in 20 Fällen die Einziehung von Gütern wegen Vergehen gegen die Leibeigenen billigen.18

Umso gespannter wartete sie auf die Ergebnisse des Wettbewerbs der Freien Ökonomischen Gesellschaft: Aus der Perspektive Katharinas war das Resultat ernüchternd. Zwar gingen 164 Einsendungen ein, doch nur eine verschwindend geringe Zahl stammte aus der Feder von Russen.19 Mehrere Beiträge kamen aus den baltischen Provinzen, unter anderem von Johann Georg Eisen und Timotheus von Klingstedt. Es zeigte sich, dass kaum ein russischer Beitrag ein Eigentum der Bauern oder gar die persönliche Freiheit der Leibeigenen befürwortete, wie dies in einigen ausländischen Einsendungen gefordert wurde. Bemerkenswert für die kulturell-akademische Ausstrahlung St. Petersburgs und der neuen Gesellschaft ist jedoch das Maß an Vernetzung, das zwischen den beteiligten Akademien in Kopenhagen und St. Petersburg oder den ökonomischen und gelehrten Gesellschaften in Riga und Glücksburg bestand. Die Transferwege von den Zentren der französischen, britischen und deutschen Aufklärung nach Kopenhagen, Stockholm, Warschau, Riga, St. Petersburg oder Moskau funktionierten und konsolidierten sich auch über diesen Wettbewerb.20 Dass Katharina II. die baltische Variante der Aufklärung rezipierte, wiewohl sie über ausgezeichnete Verbindungen direkt nach Paris, Göttingen und Halle verfügte, erstaunt weniger als die Tatsache, dass gerade über die Agrarfrage ein Austausch zwischen Kopenhagen und St. Petersburg stattfand, dass Preisschriften an den dänischen König geschickt wurden und dass der in dänischen Diensten stehende Georg Christian Oeder nicht nur einen Wettbewerbsbeitrag, sondern auch gesammelte dänische Publizistik zur Agrarfrage nach Russland sandte. Johann Georg Eisen etwa verwies in seinen Traktaten immer wieder auf schwedische und dänische Beispiele zur Agrarverfassung.21 Die Beteiligten schöpften aus dem gleichen Fundus an aufgeklärter Literatur, seien es Quesnay, Justi oder Kant, tauschten sodann jedoch ihre jeweils landesspezifischen Adaptionen aus. »Die Leibeigenschaft contrastirt zu sehr mit dem Geist des Zeitalters«,22 um es in einer Stimme der Aufklärung zusammenzufassen, und auf diese Lesart konnte man sich unter gebildeten Aufklärern rund um die Ostsee einigen. Das Auseinanderklaffen von Projekt und Realität war diesem Diskurs jedoch ebenso immanent wie die Auffassung, mit rational-wissenschaftlichen Auseinandersetzungen positiv verändernd wirken zu können.

Eines machte der Wettbewerb Katharina jedoch deutlich: Aus den Einsendungen ging hervor, dass das Rütteln an der Leibeigenschaft die Sozialverfassung des Reiches insbesondere in seinem russischen Kernland zu erschüttern vermochte. Dies konnte und wollte sie sich, gerade an die Macht gekommen, kaum leisten. Manche Maßnahmen Katharinas im Jahr 1766 zeigten dies deutlich. So bestätigte sie im Januar des Jahres das Recht der adligen Grundbesitzer, aufsässige Bauern nach Sibirien zu verbannen; in ihrer Vermessungsinstruktion vom 25. Mai hob Katharina das Eigentumsrecht der nordrussischen Staatsbauern an Grund und Boden auf und erklärte das Land zu Staatseigentum: Rechtliche Angleichung diente als Argument, aus Sicht dieser bäuerlichen Gruppe bedeutete dies jedoch eine Schlechterstellung. Auf der anderen Seite untersagte Katharina im gleichen Jahr den Kauf von Bauern, die dann von ihren neuen adligen Herren gleich als Rekruten in die Armee geschickt wurden, um die eigenen, leistungsfähigeren Bauern zu schonen.23 Katharina behielt das Problem des bäuerlichen Grundbesitzes und der Leibeigenschaft auf der Agenda, die sie auch der Gesetzbuchkommission mit auf den Weg geben sollte.

Andere wirtschaftspolitische Maßnahmen waren viel eher umzusetzen. Wohlstand, florierende Agrarproduktion, ein sich dynamisch entwickelndes Manufakturwesen sowie eine wachsende Bevölkerung sollten zur Entwicklung des Imperiums und zu dessen Ruhm beitragen. Peter I., Katharinas Bezugsgröße unter Russlands Herrschern, hatte seine wirtschaftspolitischen Reformen ganz utilitaristisch gesehen und immer nach dem Nutzen für seine Kriege, insbesondere den Großen Nordischen Krieg gefragt. Katharina und ihre Berater dachten diesen Zusammenhang nicht so eng, aber ein prosperierendes Imperium setzte auch die internationale Handlungsfähigkeit voraus – im Krieg und im Frieden.

Die Einladung von Ausländern war Teil eines bevölkerungspolitischen Gesamtkonzepts.24 Die Zarin, ihre Ratgeber und Beamten beriefen sich – ganz auf der Höhe ökonomischen Wissens – auf europäische, besonders deutsche Peuplierungsideen, die von Bevölkerungsreichtum und Ansiedlung als Quelle ökonomischen Wohlstands ausgingen, und orientierten sich an der Praxis Preußens, Österreichs oder Dänemarks. In der Kameralwissenschaft der Zeit, die Katharina kannte und sich zu eigen machte, ging es um die Frage, wie das Vermögen des Staates erhalten und vermehrt werden könne.25 Den ersten der drei Hauptwege zur Vergrößerung des Reichtums sah Johann Heinrich Gottlob von Justi 1755 in der Vermehrung der Einwohner des Landes, besonders »durch fremde bemittelte Personen«, denn diese »zieht nicht nur Vermögen mit ihnen ins Land, sondern befördert auch den Umtrieb des Geldes, als worauf es in dem wahren Reichtum des Staates hauptsächlich ankömmt«.26 Fremde kämen und Einheimische blieben in einem Staat, der gut und mild regiert werde, persönliche Freiheit garantiere, Gewerbe und Manufakturen fördere. Die Ausländer sollten befristet von Abgaben befreit und mit Baumaterialien, Geräten und Krediten unterstützt werden. Katharina II. stellte die Ansiedlung von Ausländern auf eine neue, gesetzliche Grundlage. In ihrem ersten Manifest vom 4. Dezember 1762 versprach sie allen Ausländern, ausgenommen Juden, die sich in Russland niederzulassen wünschten, Schutz und Wohlwollen, und allen russischen Flüchtlingen, die in die Heimat zurückkehrten, Vergebung.27 Mit diesen allgemeinen Wendungen konnten ihre diplomatischen Vertreter im Ausland wenig anfangen und drängten deshalb zu einer schnellen Entscheidung darüber, welche konkreten Zusagen sie den Interessenten machen wollte und wohin die Siedler geschickt werden sollten. Die Kaiserin reagierte prompt mit einem weiteren Manifest vom 22. Juli 1763.28 Es sollte viel größere Bedeutung für ihre Regierung erlangen und legte in der Präambel noch einmal die Grundzüge der bevölkerungspolitischen Werbemaßnahmen dar:

»Das Uns der weite Umfang der Länder Unseres Reiches zur Genüge bekannt, so nahmen Wir unter anderem wahr, daß keine geringe Zahl solcher Gegenden noch unbebaut liege, die mit vorteilhafter Bequemlichkeit zur Bevölkerung und Bewohnung des menschlichen Geschlechtes nutzbarlichst könnte angewendet werden, von welchen die meisten Ländereyen in ihrem Schoose einen unerschöpflichen Reichtum an allerley kostbaren Erzen und Metallen verborgen halten; und weil selbiger mit Holzungen, Flüssen, Seen und zur Handlung gelegenen Meerung genugsam versehen, so sind sie auch ungemein bequem zur Beförderung und Vermehrung vielerley Manufacturen, Fabriken und zu verschiedenen Anlagen.

Dieses gab Uns Anlaß zur Erteilung des Manifestes, so zum Nutzen aller Unserer getreuen Unterthanen den 4. December des abgewichenen 1762 Jahres publiciert wurde. Jedoch, da wir in selbigen Ausländern, die Verlangen tragen würden, sich in Unserem Reich häuslich niederzulassen, Unser Belieben nur summarisch angekündiget; so befehlen Wir zur besseren Erörterung desselben folgende Verordnung […].«29

Die Leere des Landes als Argument: Hier hatte Katharina vor allem den Süden ihres Reiches im Blick, also jene Gebiete, die, wie das Hetmanat, weniger fest im Reichsverband integriert und in der die Schicht sesshafter Bauern geringer war. Ansiedlungen sah sie zudem als Mittel gegen nomadisierende Bevölkerungsgruppen an den Peripherien des Reiches. Aber auch in anderen Regionen und Städten waren Ausländer willkommen. Keineswegs dachte sie nur an Migranten aus dem deutschsprachigen Raum: Das Manifest wurde immerhin in mehreren europäischen Sprachen veröffentlicht. Und Serben, Griechen und andere Flüchtlinge aus dem Herrschaftsbereich des Osmanischen Reiches waren bereits unter den Kaiserinnen Anna und Elisabeth im Grenzsaum des Russischen Reiches angesiedelt worden. Im Zuge der Südexpansion des Russischen Reiches sollte ihnen auch weiterhin Aufmerksamkeit geschenkt werden.30 Katharina galten jedoch auch die deutschen Territorien wie schon das Baltikum als »Reservoir tüchtiger Menschen«.31 Hier wusste sie um gut ausgebildete Spezialisten, die bereits Peter I. interessiert hatten und die hier wie in Europa angeworben worden waren. Katharina ging es aber darüber hinaus auch um Siedlerfamilien für die Landwirtschaft. Ganz in Sinne der physiokratischen Gedankenwelten des Jahrhunderts sah sie die Landwirtschaft als Grundlage für Manufakturwesen, Gewerbe und Handel.

Um nun neben Fachleuten auch Bauern zur Migration zu bewegen, machte sie konkrete Zusagen: Alle Ausländer – diesmal wurden die Juden nicht mehr ausgeschlossen – könnten sich entweder direkt bei der »Vormundschaftskanzlei für Ausländer« (Kancelarija opekunstva inostrannych) und den Grenzbehörden melden oder sich wegen der Reisekosten zunächst an die russischen Auslandsvertreter wenden. Wenn sie sich als Kaufleute oder Handwerker in einer Stadt niederließen, würden sie für zehn, in den beiden Haupt- und den baltischen Städten für fünf Jahre von allen Abgaben, Diensten und der Einquartierung befreit. Der Fiskus werde bei der Gründung von Fabriken und Werkstätten, vor allem solcher, die es in Russland noch nicht gebe, mit Krediten helfen. Neue Produkte dürften zehn Jahre lang ohne jeglichen inneren oder Hafen- und Grenzzoll verkauft und ausgeführt werden. Wer als Fabrikant ohne staatliche Kredite auskomme, solle die erforderlichen Leibeigenen und Bauern kaufen dürfen. Wer sich auf bisher unbebautem Land in neuen Kolonien ansiedeln wolle, solle Land und Vorschüsse zum Bau von Häusern und Kauf von Vieh und Geräten erhalten, von Diensten und Abgaben zunächst zehn Jahre befreit sein und den Wohnort frei wählen können, wobei Gebiete zur Ansiedlung um die Stadt Saratov an der Wolga angeboten wurden. Sie wurden vom Militärdienst befreit und erhielten das Recht der freien Religionsausübung und Gemeindegründung, wobei keine Klöster gegründet werden durften. Hier hallte die Säkularisierung des Kirchenlandes mit dem vielen Klosterbesitz nach.

Ähnlich wie in Preußen sollte sich eine Sonderbehörde um die Ansiedlung und Belange der Kolonisten kümmern. An die Spitze dieser bereits erwähnten, im Juli 1763 errichteten ›Vormundschaftskanzlei für Ausländer‹ stellte Katharina ihren damaligen Vertrauten Graf Grigorij Orlov. Die Verwaltung der Wolgakolonien wurde 1766 einer Unterbehörde, dem ›Vormundschaftskontor‹ (Opekunstvennaja Kontora) in Saratov übertragen. 1782 sollte diese Behörde im Zuge der Gouvernementsreform aufgelöst werden.32 Zu diesem Zeitpunkt existierten jedoch bereits trotz mancher nicht eingehaltener Zusage und Startschwierigkeiten – etwa Verwüstungen während des Pugačev-Aufstandes – bereits florierende Kolonien und damit Siedlungen, die die Deutschen in Moskau, St. Petersburg und andernorts ergänzten.33

Freilich, die Kolonisten kamen nicht in ein leeres Land, wie auch in anderen frontier-Kontexten immer wieder behauptet wurde. Das Zusammenleben zwischen den verschiedenen Untertanengruppen erwies sich als ›imperiale Situation‹, die einerseits die Vielfalt des Reiches ausmachte, andererseits bei Katharina aber immer wieder den Wunsch nach Regulierung und guter Ordnung nährte.

Die Maßnahmen zeitigten nur langsam Erfolge. Um die erforderlichen Einwandererzahlen zu erreichen, beauftragte die russische Seite daher ab 1764 verstärkt private Agenten, Anwerber, die auf eigenes Risiko operierten und für jeden angeworbenen Kolonisten einen Festbetrag erhielten. Diese erhielten das Recht, mit potenziellen Interessenten individuelle Verträge zu schließen. Alles in allem warben sie fast die Hälfte aller bis 1774 nach Russland eingewanderten Personen an. Es zeigte sich, dass das Angebot der russischen Kaiserin vor allem in den deutschen Fürstentümern und freien Reichsstädten auf fruchtbaren Boden fiel: Nicht zuletzt die staatliche Zersplitterung und die schwache Zentralmacht verhinderten eine wirksame Unterbindung der Werbeaktivitäten.34

Bis 1774, dem Jahr des Anwerbestopps, folgten 30.623 Ausländer den Versprechungen der russischen Herrscherin. Die meisten Auswanderer stammten aus Westfalen, Hessen, Preußen und Norddeutschland, Sachsen, Baden und anderen deutschen Ländern. Es waren vor allem Protestanten. Kleinere Gruppen kamen aus der Schweiz, Holland, Schweden und Dänemark. Von Anfang an unterliefen die zuständigen russischen Behörden die im Einladungsmanifest versprochene freie Ortswahl, insbesondere wurde eine Niederlassung in Städten verhindert, wo es allerdings bereits größere deutsche Gemeinschaften gab. Man lenkte die Einwanderer größtenteils in die Gegend um Saratov; dort entstanden auf beiden Seiten der Wolga 66 evangelische und 38 katholische Mutterkolonien. Unter den 1769 hier registrierten 23.109 Siedlern waren 12.145 Männer und 10.964 Frauen bei einer durchschnittlichen Familiengröße von etwa 3,6 Personen. Erst nach 1775 verzeichnete man einen Bevölkerungszuwachs, und 1788 betrug die Gesamtzahl der Wolgakolonisten schon 30.962 Personen (15.607 Männer und 15.355 Frauen, Familiengröße etwa 6,5 Personen).35

War Katharinas Anwerbungsaktion ein Erfolg? Eher nicht, wenn man die pure Zahl in Vergleich zu anderen Immigrantengruppen setzt, oder zur Zahl der deutschen Handwerker und Experten im Gesundheitswesen, der Verwaltung, der Wissenschaft und im Militär, die auch ohne Anwerbung ihr Glück im Zarenreich gesucht und oft auch gefunden hatten.36 Aber sie sicherte Katharinas Reformabsichten in dieser Phase die nötige Aufmerksamkeit in der europäischen Öffentlichkeit und legte den Grundstein für weitere Anwerbungs- und Immigrationswellen in der Zeit Alexanders I. nach Südrussland und ans Schwarze Meer: Russland, so das Ergebnis, war ein attraktiver Ort, der Freiheiten, vor allem religiöse Freiheiten garantierte und damit das Bild autokratischer Herrschaft zumindest in einem Segment aufzuweichen vermochte. Und schließlich waren Katharinas Anwerbungen nur ein Baustein ihrer Peuplierungspolitik in einer frühen Regierungsphase, dem weitere folgen sollten.

In der Außenpolitik verließ sich Katharina auf den Rat Nikita Panins, der in den ersten Jahrzehnten ihrer Regierung starken Einfluss hatte und ein Gegengewicht zu der Fraktion um Grigorij Orlov und dessen Bruder darstellte. Panin war zwar ein Unterstützer Peters III. gewesen und hatte eine Regentschaft Katharinas für ihren Sohn Paul favorisiert. Dies hinderte ihn jedoch nicht, sich loyal ganz in ihren Dienst zu stellen.37 Katharina belohnte ihn mit der Leitung des Kollegiums für Auswärtige Angelegenheiten.

Mit Nikita Panin war sich die Kaiserin darüber einig, dass rund um die Ostsee ein System von Bindungen entstehen sollte, das das dominum maris baltici Russland bringen und zugleich ein Gegengewicht gegen das Haus Habsburg und Frankreich darstellen sollte. Dieses ›Nordische System‹, zeitgenössisch auch »Nordischer Akkord« oder »Ruhe des Nordens« genannt, sah vor, mit Dänemark, Preußen und England Bündnisse einzugehen und Polen und Schweden in politischer Instabilität zu halten.38 Ein solcher Frieden der Ostseeanrainer konnte freie Hand im Süden des Reiches bringen. Diese Sicherheitsarchitektur sollte jedoch nur zum Teil funktionieren. Immerhin gelang es im schwedischen Reichstag, der seit den 1740er Jahren eine sehr starke Position gegenüber dem König in Stockholm hatte, die Fraktionen der Hüte und der Mützen gegeneinander auszuspielen und dadurch Schweden auf mehr als ein Jahrzehnt zu neutralisieren.39 Auch konnte im Frühjahr 1765 eine Defensivallianz mit Dänemark geschlossen werden, und die Regierung in Kopenhagen war froh, einen Krieg gegen Russland um Holstein vermieden zu haben;40 die russischen Truppen, die Peter III. unter dem Kommando des Grafen Rumjancev im Herzogtum Mecklenburg hatte formieren lassen, erhielten von Katharina am 20. Juli 1762 den Befehl zum Rückzug.41 Mehr noch, es gelang ein Ausgleich mit Kopenhagen mit weitreichenden Folgen.

Während der sogenannten Großfürstlichen Zeit Peters und Katharinas war Holstein-Gottorf von Russland aus regiert worden und Katharina hatte hierbei teilweise den Part übernommen, sich von St. Petersburg aus um die innenpolitischen Belange des kleinen und zersplitterten Herzogtums zu kümmern. Peter war allein an der Rückgewinnung der verlorenen Territorien interessiert. Als Zar ernannte Peter III. Caspar von Saldern zum Bevollmächtigten, um mit Johann Hartwig Ernst von Bernstorff, dem dänischen Minister für Schleswig-Holstein, über die Rückgewinnung der herzoglichen Anteile in Schleswig zu verhandeln. Katharina II. hatte nach dem Ausgleich mit Dänemark auch nach einer Lösung der Gottorf’schen Frage gesucht. Für das Herzogtum Gottorf galt die männliche Sukzession. Herzog war also formal der minderjährige Thronfolger Paul. Wie funktional sie ihren Sohn und dessen Rechte sah, sollte sich wenige Jahre nach dem Ausgleich mit Dänemark zeigen.

Die führende Figur in diesem mehrere Jahre andauernden diplomatischen Spiel war der 1761 aus Holstein nach St. Petersburg gekommene Caspar von Saldern.42 Er avancierte zum Vertrauten Nikita Panins, des Erziehers Pauls, und zum Verantwortlichen für die russische Außenpolitik. Von Saldern hatte zwar ein aufbrausendes Wesen – ein französischer Diplomat bescheinigte ihm, die Grobheit eines holsteinischen Bauern mit der Pedanterie eines deutschen Professors verbinden zu können –,43 doch als Diplomat in Russland war er sehr erfolgreich. In Absprache mit Großfürstin Katharina hatte er bereits geschickt die holsteinischen Staatsfinanzen geordnet. 1762 ernannte ihn Zar Peter III. zum kaiserlich russischen Konferenzrat und bevollmächtigten Minister des von Friedrich dem Großen einberufenen Friedenskongresses in Berlin, wo Saldern mit dem dänischen Außenminister Johann Hartwig Ernst von Bernstorff verhandelte. Auch nach dem Sturz Peters III. blieb Saldern in den inneren Zirkeln der Macht. Ende 1762 ernannte ihn Katharina zum Wirklichen Geheimrat und Staatsminister im großfürstlichen Geheimen Rat. Eines von Salderns Hauptanliegen blieb, dass seine holsteinische Heimat nicht mehr Zankapfel der nordischen Großmächte sein sollte. Er setzte sich für eine Verständigung mit England, Preußen und Dänemark ein, ganz im Sinne der Ziele seines Förderers Graf Panin. Im Juli 1768 erreichte Saldern mit dem Gottorfer Vertrag die Einigung zwischen Dänemark und Hamburg über die Reichsunmittelbarkeit der Hansestadt und ihre Unabhängigkeit vom dänisch regierten Herzogtum Holstein. Hierdurch sollte eine Annäherung an England erreicht werden.

Saldern hatte schon 1767 in Katharinas Namen einen provisorischen Vertrag mit dem von König Christian VII. von Dänemark bestimmten Verhandlungsführer Andreas Peter von Bernstorff ausgehandelt. Mit diesem Vertrag verzichtete der russische Thronfolger für das Haus Romanov-Holstein-Gottorf auf seine Gebietsansprüche als Herzog von Schleswig-Holstein-Gottorf, trat den großfürstlichen Anteil am Herzogtum Holstein an Dänemark ab und erhielt dafür die Grafschaften Oldenburg und Delmenhorst. Dabei konnte er an die Verhandlungen anknüpfen, die Rochus Friedrich zu Lynar 1749–1751 im Namen des damaligen dänischen Königs Friedrich V. mit dem späteren Zaren Peter III. begonnen hatte.

Rechtskräftig sollte dieses internationale Tauschgeschäft freilich erst am 27. August 1773 im Vertrag von Carskoe Selo werden, als Großfürst Paul mündig wurde. Ob Paul wollte oder nicht – seine Mutter zwang ihn, dem von Caspar von Saldern ausgehandelten Tausch zuzustimmen. Die Herzogtümer Schleswig und Holstein unterstanden nun nur noch einem einzigen Landesherrn, dem dänischen König – der dänische Gesamtstaat entstand.

Vier Tage nach Abschluss des Vertrages übertrug Großfürst Paul I. auf Drängen seiner Mutter seinem Großonkel Friedrich August aus der jüngeren Linie des Hauses Holstein-Gottorf, dem Fürstbischof von Lübeck, auch die zum Heiligen Römischen Reich gehörenden Grafschaften Oldenburg und Delmenhorst, die von Kaiser Joseph II. zum Herzogtum Oldenburg erhoben wurden. Das Haus Oldenburg sollte auch im 19. Jahrhundert unter besonderer Protektion des Zarenhauses stehen.44 Caspar von Saldern fiel noch im Jahr 1773 in Ungnade, als er versuchte, Großfürst Paul davon zu überzeugen, aus Anlass seiner Volljährigkeit den Anspruch durchzusetzen, gemeinsam mit seiner Mutter über Russland zu herrschen. Katharina war außer sich. Caspar von Saldern verließ Russland unverzüglich und kehrte nie zurück.

Eines der außenpolitischen Ziele, auch mit dem Wunsch, sich langsam aus dem Fahrwasser Preußens zu lösen und den »Nordischen Akkord« zur vervollständigen, gelang nicht. Ein militärisches Bündnis mit England, das durch seine Flotte in der Ostsee wie im Mittelmeer gleichermaßen präsent sein konnte, konnten Katharina und Panin nicht verhandeln. Immerhin kam am 20. Juni (1. Juli) 1766 ein Handelsvertrag mit 20-jähriger Laufzeit zustande, der es in einer längeren Perspektive ermöglichen sollte, eine russische Handelsflotte aufzubauen und die Dominanz des britischen Handels in der Ostsee wenn auch nicht zu brechen, so doch einzudämmen.45

Katharina II. mochte über die Preußenbegeisterung ihres Mannes gespottet haben, die außenpolitische Orientierung auf Preußen blieb. Nach dem abrupten Bündniswechsel durch Peter III. und dem Ausstieg aus dem Siebenjährigen Krieg folgte 1764 ein Allianzvertrag zwischen Russland und Preußen, dessen gemeinsame Stoßrichtung in der vielbeschriebenen »negativen Polenpolitik« lag.46 Katharina hatte zuvor freie Hand bekommen, jenen Kandidaten als Wahlkönig in Polen durchzusetzen, der ihr vorschwebte. Sie setzte hierfür militärischen Druck ebenso ein wie Bestechung. Ihr Kandidat nach dem Tode des Wettiners August II. war Stanisław August Poniatowski, der ihr ein Garant dafür zu sein schien, dass sie die Adelsrepublik wie schon Peter I. von außen würde steuern können.47 Poniatowski wurde ohne jeden Gegenkandidaten gewählt – ein Novum bei Königswahlen in Polen. Die russischen Truppen des Gesandten Nikolaj N. Repnin und Geld sorgten für das gewünschte Ergebnis. Katharina setzte nicht auf Poniatowski, weil er ein ehemaliger Favorit und ihr nach wie vor persönlich verbunden war, sondern, wie sie ein Vierteljahrhundert nach der Wahl bemerkte, »weil er von allen Bewerbern die wenigsten Rechte hatte und sich folglich Russland mehr verpflichtet fühlen musste als jeder andere«.48

Um Katharina über die Königswahl hinaus gewogen zu halten, erinnerte Friedrich II. die Herrscherin nicht etwa daran, dass er ihr an entscheidenden biografischen Stationen den Weg zum Thron geebnet hatte, sondern er verlegte sich in Anbetracht der Mächtekonstellation auf Schmeichelei, die Katharina durchaus erwiderte. Friedrich schickte ihr 1763 den Schwarzen Adler-Orden, den die Kaiserin mit Wohlgefallen annahm. Für die Unterstützung Poniatowskis bei seiner Kandidatur für den polnischen Thron bedankte sich Katharina unter anderem mit einer Sendung von Wassermelonen. Friedrich reagierte überschwänglich, auch wenn man hier eine gewisse Ironie zu spüren vermeint:

»Wassermelonen und ein polnischer Reichstag sind sehr weit voneinander entfernt, aber Sie verstehen es, so verschiedenartige Dinge in ihrer Wirksamkeit zu vereinen: dieselbe Hand die nach der einen Seite hin Melonen verteilt, nach der anderen Königskronen spendet, sorgt für die Aufrechterhaltung des Friedens in Europa.«49

Dabei folgte Katharina in Bezug auf die Adelsrepublik Polen-Litauen ganz jener Politik, die Peter der Große geübt hatte. »Ich frage, ob Russland einen despotischen Nachbarn besser brauchen kann, als jene glückliche Anarchie, in der sich Polen befindet, die uns in die Lage versetzt, nach Belieben zu verfahren.«50 Poniatowski sollte der Garant dieser Anarchie und der russischen Dominanz sein. Bei aller Gewogenheit des neuen polnischen Königs – hierin sollte sich Katharina täuschen. König Stanisław August sollte schon bald nach Möglichkeiten suchen, sich aus der Umklammerung der drei ›Schwarzen Adler‹ – Österreich, Preußen, Russland – und der Dominanz des russischen Nachbarn zu befreien.


Karte 1: Polen-Litauen zur Zeit der Königswahl 1764.

Katharina die Große

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