Читать книгу Medusa - Jan Müller-Wonnenberg - Страница 4

Einleitung

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Als ich von dieser unschönen Sache erfuhr und ich ab dem Zeitpunkt der Heimsuchung ein etwas Greifbares dachte, wie eine Person oder eine Figur, musste ich an die denken, die Schlangen als Haare hatte. Nichts erschien mir ekelhafter und widerlicher als diese Figur und darum passend für meine Heimsuchung. Jene Figur aus der griechischen Sagenwelt, die sogar ihren Weg nach Hollywood gefunden hat. Sie ist also, auch zu unserer Zeit keine Unbekannte, und eine unglaublich passende Sagenfigur die beabsichtigt oder unbeabsichtigt mehrere Eigenschaften meines ganz persönlichen Verderbnis in sich vereinte. Sie war so hässlich, dass die Menschen die sie erblicken mussten, zu Stein erstarrten, sie extrem widerlich und ekelhaft erscheint, man dieser Sache nur sehr schwer beikommen kann und sie eine Frau ist. Letzteres hören Feministinnen wahrscheinlich nicht gerne, aber es ist nicht wertend gemeint, sondern hat mit der Gruppe derer zu tun, die hauptsächlich ebenfalls daran leiden. Es ist auf eine merkwürdige Weise nämlich erleichternd, dass ich nicht der einzige bin der diese Heimsuchung erdulden muss. Spielen dieser Stelle auf den Anhang verweisen, indem ich die Geschichte aus dem Trojanischen Krieg wiedergegeben habe.

Die Medusa hat die besondere Eigenschaft die, die sie direkt ansehen zu Stein zu erstarren. Da ich nun im Nachhinein weiß, dass in meinem Fall genau dieses eintrat, die Erstarrung der Bewegungsfunktionen, finde ich noch heute die Figur der Medusa als Personifizierung meiner Erkrankung sehr passend. Auch ist das was mich betraf, meist Frauen zuteil. Somit passte eine weibliche Figur ebenfalls perfekt und sehr passend in meine Suche nach einer Figur. Ganz zu Beginn wollte ich es nicht wahrhaben und sah weg, und dies mag in Gegenwart der Medusa ein kluges Vorgehen sein, aber dieses Weggucken und nicht wahrhaben wollen wuchs sich über die Jahre zu einem schieben und ducken – die Psychologen sprechen hierbei von dysfunktionalen Bewältigungsstrategie – aus. Diese bewegt sich auf dem Niveau eines „ficht vor flicht“ und im Extremfall zu einem Erstarren aus psychischer Sicht. Im Grunde sind dies sehr primitive Muster der Antwort auf eine bedrohliche Situation. Bei mir führte dies – und ich hatte mich über dreizehn Jahre an diesen Zustand gewöhnt – zu oft merkwürdigen Verhaltensmustern, jedoch meist nicht in der Öffentlichkeit. Letztendlich jedoch ist dieser Zustand extrem energieaufwendig, denn meines stets darum bemüht sein Zustand zu verbergen, und zwang mich dazu verschwenderisch mit meinen Energien umgehen zu müssen. Ich war immer darum bemüht ein positives und gefälliges Bild nach außen hin zu präsentieren während mein Inneres nur eine Ruine war. Letzteres stimme immer schwerer und spätestens mit dem Zeitpunkt des wieder arbeiten gehen Wollens rächte sich. Denn ich hatte, wie das Sprichwort sagt, den Bogen weit überspannt.

Ich wollte es schlicht nicht wahrhaben und die ersten Jahre fuhr ich gut damit es zu ignorieren. Dann nahm die „Versteinerung“ konkrete Formen an. Versteinerung meint hier eine Unfähigkeit sich wie gewohnt zu bewegen, die immer mehr zunimmt und letztendlich – aus welchen Gründen auch immer, denn hier ist die Medizin zwar weit aber eben nicht am Ziel – beabsichtigt, eine Bewegung gänzlich unmöglich zu machen. Diese Versteinerung, und dies umfasst die zweite Ähnlichkeit, überträgt sich auch auf Freunde, Bekannte und Verwandte. Nicht alle sind davon betroffen, aber einige wenden sich ab und können mit diesem Zustand nicht umgehen. Und Sie möchten natürlich auch nicht „infiziert“ werden, wenngleich diese unschöne Sache nicht ansteckend ist. Es ist vielmehr die Scheu vor einer Konfrontation mit der Realität. Denn: es kann jeden treffen und daher will man sich diese Sache vom Hals halten. Man will sich also nicht damit auseinandersetzen. Oder aber man kann sich den Hilfebedarf vorstellen der für so eine Person aufgebracht werden und was der Betroffene leisten muss. Allerdings kann man dies nicht verallgemeinern. Und dies würde die dritte Ähnlichkeit umfassen, die mich davon überzeugte genanntes Bild aus der Antike zu übernehmen und diese hervorragend für mich passt: die so genannte Krankheit mit den 1000 Gesichtern. Spätestens jetzt wissen Sie worum es geht. Multiple Sklerose die ebenso wie das Haupt der Medusa 1000 Schlangen als Haare hat. Ebenso schrecklich und abstoßend. Und nicht greifbar. Sie verläuft also immer irgendwie anders und es ist zwar eine Ähnlichkeit festzustellen, aber nicht eine vollkommene Übereinstimmung. Es ist unmöglich zu wissen woran man ist und was kommen mag. Dies beeinflusst nicht nur das Denken, sondern auch das Leben an sich. Die reagiere ich auf Unwägbarkeiten, also Dinge die ich nicht vorhersehen kann und die so nebulös sind wie die Quantenmechanik. Will heißen: beobachtet man ein Problem oder eine Symptomatik, so kann sie sich anders zeigen als wenn man sie nicht beobachtet hätte. Dies macht die Sache so aufwendig und energieintensiv für Betroffene und Angehörige, damit umzugehen, das Unvorhergesehene zu erwarten, nicht zu übertreiben um sich nicht auch noch psychisch zum Krüppel zu schießen und Hilfe anzunehmen. Letzteres kann ein immenses Problem darstellen, da die betroffenen Menschen im Durchschnitt gerade in der Zeit ihrer höchsten Leistungsfähigkeit (20-40 Jahre) davon betroffen sind.

Bis ich letztendlich in der Lage war der Medusa den Kopf abzuschlagen – und sie ist der Sage nach sterblich –, vergingen einige Jahre. Sie waren geprägt von stetigem Abbau der Fähigkeiten und einer zunehmenden Versteinerung. Jedoch: ich konnte das Ruder in verschiedenen Bereichen herumwerfen, den Kurs selbst bestimmen und mein Heft nicht vollkommen aus der Hand geben. Dies war mit vielerlei Schwierigkeiten und Herausforderungen verbunden, die ich erzählen will. Letztendlich fühle ich mich einem Perseus bzw. Helden sehr ähnlich, da ich ohne Arroganz behaupten darf trotz aller Widrigkeiten mein Leben aktiv gestaltet zu haben. Ich will Ihnen aber versichern, dass sich in diesem Buch nicht dem Hochmut verfallen werde. So ein Buch würde ich auch nicht gerne lesen wollen. Es geht hauptsächlich, um meine Krankheitsgeschichte, mein Umgang damit und der Dinge die ich lernen konnte.

Dieses Buch also, will kein Ratgeber sein oder hat nicht den Anspruch allgemeingültig und unumstößlich daher zukommen, sondern es dient in erster Linie der Beschreibung meines Lebens und der Personen die darin vorkommen oder vorkamen. Vielleicht kann beim Lesen dieses Buches auch die ein oder andere Bewältigungsstrategie – ob jetzt positiv oder negativ – dargestellt werden und im besten Fall Anregungen geboten werden. Natürlich ist es immer negativ für einen selbst, wenn man Vergleiche zieht. Aber es ist beim Menschen oft zu beobachten. Es ist eine einfache Denkstruktur, doch eine Nachvollziehbare die unter Umständen sogar ganz natürlich ist. Dieses Werk ist also ein Angebot ein jeden lesenden Menschen der sich für Biografien begeistern kann. Sie will nicht, dass sie sich schlechter fühlen oder meinem Bericht übermäßig Bedeutung für sich selbst beimessen. Über das Thema muss mehr und ausführlicher geredet werden, was ich zurzeit etwas vermisse. In diesem Buch werden dreizehn Jahre meines Lebens dargestellt, wie sie wirklich passiert sind. Dies ist manchmal angenehm, erfreulich, lustig aber auch erschreckend, furchtbar, abstoßend. Aber es ist genauso passiert. Und das ist ein ganz wichtiger Punkt dieses Buches: Echtheit und bedingungslose Ehrlichkeit. Das mag radikal klingen und wirken, aber es ist das was mir geholfen hat. Die Wahrheit trifft, aber eine Lüge verschmerzt mehr. Darum will ich an dieser Stelle erst einmal einen kurzen Einblick in die Zeit vor der Erkrankung werfen, da sie den Kontrast zu Zeit danach erhöht. Somit wird deutlich – oder besonders deutlich – was verloren gegangen ist. Ein bisschen Wehmut möge mir der geneigte Leser nachsehen.

Ein besonderer Aspekt wird insbesondere auf meine Frau und meine Tochter gelegt, denn diese zwei Menschen verbringen – in Wohl und Weh – die meiste Zeit mit mir. Sie ertragen mich, sie helfen mir, ihre Gegenwart ist eine Bereicherung für mich und ich weiß, dass ich für sie eine enorme Bürde darstelle. Sie würden dies nie so sagen, aber ungeschönt ist es genauso. Meine Fähigkeiten nicht zu bewegen haben über die Zeit abgenommen und bedingen eine immense Erschwernis. Dennoch würde ich für Sie durch das Feuer gehen und eine Lanze brechen. Das tue ich freilich nicht nur, weil ich ein guter Mensch bin und ihnen etwas zurückgeben möchte, sondern weil ich ein streitbarer Mensch sein kann. Seit der Erkrankung hat dieser Umstand an besonderer Bedeutung gewonnen und ich möchte insbesondere darauf eingehen wie wichtig es sein kann sich nicht die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Dies schreibe ich, da es mir sehr wichtig ist seine Interessen als behinderter Mensch vehementer durchsetzen zu müssen. Dies alles wird stets getragen von den Gedanken der Selbstbestimmung. Und so ist für mich die Selbstbestimmung ein elementarer Bestandteil meiner selbst, denn Selbstbestimmung meint ja eigene Entscheidungen treffen zu können und zu wollen, auch wenn die Umgebung oder eine andere soziale Struktur Gegenteiliges von einem verlangt. Und so habe ich mir meine Behinderung und die Behinderung anderer Menschen auf die Fahne geschrieben. Denn wenn man – und ich komme im Lauf dieses Buches noch ganz genau darauf ein – im Rollstuhl sitzt sind manche Mitmenschen dazu verleitet Entscheidungen für denjenigen der nicht mehr laufen kann treffen zu müssen, ohne diesen zu fragen. Ganz besonders wird dies deutlich, wenn selbige Menschen über die Person im Rollstuhl in der dritten Person mit denen reden die noch laufen können. Hier sehe ich Aufklärungsbedarf. Ich möchte an dieser Stelle ein Zitat nennen, das mir sehr gefallen hat: „Derjenige, der noch laufen kann ist eindeutig in der besseren Position.“

Wenn Sie wissen was passiert ist, bzw. ich Ihnen erzählt habe – und dieser Zeitraum wird wie bereits angekündigt dreizehn Jahre dauern – werde ich Aussagen meiner Frau und meiner Tochter wiedergeben. Mir ist es extrem wichtig, da die Sicht von jenen Menschen die mit einem chronisch Kranken zusammenleben der genaueren Betrachtung bedarf. Oftmals schaut man nur auf denen chronisch kranken Menschen an sich, ohne jedoch auf das nächste soziale Umfeld zu achten. Ich betrachte dies als ausschlaggebend. Auch für dieser Abschnitt den Bericht bzw. der Erfahrungsbericht über dreizehn Jahre auflockern und hier eine Pause setzen. Denn ich möchte danach auf speziell wichtige Themen wie beispielsweise Suizidgedanken, finanzielle Schwierigkeiten und Lösungen – die nicht jedem sofort einfallen – eingehen. Dies zu erwähnen und darauf genauer einzugehen ist mir sowohl aus professioneller Sicht, als auch ganz persönlich ein Anliegen, denn ich meine dass der betroffene Leser, ein selbst erkrankter Mensch, davon profitieren kann. Das Credo meiner Frau und meiner selbst ist und war immer schon trotz aller Widrigkeiten nicht aufzugeben. Was einfach klingt ist jedoch nicht so einfach, aber ich bin überzeugt hier können positive Denkanstöße gesetzt werden. Dies als gelungene Inspiration weiterzugeben würde uns beide sehr freuen.

Wichtig erscheint mir, gerade an dieser Stelle, dass niemandem über den Mund gefahren wird. Denn Patentlösungen gibt es auch in diesem Bereich keine. Manche Menschen meinen, dass vor allem dem betroffenen Menschen einen Gefallen damit tun ihm oder ihr sagen zu müssen wie etwas zu funktionieren hat. Sei es im finanziellen Bereich, im Bereich der Weltanschauung, im Bereich der Krankheitsbewältigung bzw. Annahme oder in anderen sehr persönlichen Bereichen. Dies mag dem „Ratschlag gebenden“ ein gutes Gefühl vermitteln und er mag sich damit besser fühlen, da er etwas bewirkt zu haben scheint. Doch aus meiner ganz persönlichen Erfahrung ist das gar nichts. Mich hat es stets sehr wütend gemacht, da ich immer den Eindruck hatte, dass man nur sein Gewissen beruhigen wollte ohne mit wirklich sinnvollen Lösungen aufzuwarten. Ich fühlte mich stets schlechter, während das Gegenüber davon zu profitieren schien. Und ganz offen gesagt, fand und finde ich dies sehr niederträchtig. Zumindest aber nicht aufrichtig. Dies umfasst Aspekte wie die richtige Wohnung, Einbettung meiner Misere in ein marodes Glaubensgebäude und Verbesserungsvorschläge, beispielsweise mehr Sport machen, fester beten oder das Essverhalten radikal ändern. Jene Menschen sehen stets ihre eigene Lebenswelt und übertragen diese auf die eines Betroffenen. Und wenn ich daran denke, macht mich dies noch wütender. Wie gesagt: Patentlösungen und Rezepte werde ich in diesem Buch nicht anbringen. Es liegt in der Entscheidung eines jeden Menschen was er annimmt und woraus er Vorteile ziehen kann.

Zumal es bei dieser Erkrankung nach dem momentanen Stand der Erkenntnis keine Heilung gibt. Mit dieser Sache leben zu lernen, erscheint mir das wichtigere Ziel. Ändern kann man den Sachverhalt so oder so nicht und daher sollte sich ein jeder auf das konzentrieren was ihm selbst gut tut. Dies mag in der Tat für den ein oder anderen festeres Beten sein, eine radikale Umstellung der Ernährungsgewohnheiten bedingen oder aber die bedingungslose Erhöhung des eigenen Bewegungsbedarfes beinhalten. Die Entscheidung jedoch wann, wie oder was ich verändere, obliegt mir. Letzteres hat wenig mit der Erkrankung zu tun, sondern vielmehr mit meiner eigenen Einstellung zum Leben. Es ist faszinierend zu bemerken, dass ich der das Glück hatte in einer freiheitlichen Welt aufwachsen zu dürfen, auch dieser Freiheit leben will und daher sehr allergisch darauf reagiere wenn jemand diese beschränken möchte. Das ist freilich nicht besonders ungewöhnlich oder genial. Viele Menschen müssen diese bevormunden der Art auch erdulden, wenn sie nicht erkrankt sind – was auch immer – sondern lediglich ihr Leben leben. Von daher kann ich nur an all jene appellieren, die meinen zu wissen wie das Leben zu funktionieren hat, noch einmal nachzudenken bevor man spricht.


Medusa

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