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Nach der Diagnose

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Ein recht gewöhnlicher Werdegang, der sicher vielen Menschen genauso widerfahren sein könnte. Nichts daran scheint aufregend oder ungewöhnlich. Selbst die Ziele und Vorstellungen die ich zu jener Zeit hatte, sind nichts Außergewöhnliches gewesen. Es ging mir damals wie heute um die Schaffung und den Erhalt von Sicherheit. Dies scheint mir ein unspektakuläres Ansinnen. Doch war dies damals, und im Grunde ist es dies noch heute, ein sehr langweiliger Idealzustand. Vermutlich hätte es dieser Bahn folgend keine Weiterentwicklung gegeben. Weiterentwicklung ist ja an sich ein positiver Zustand, der ein gleich bleiben verhindert bzw. denn eine sich weiterentwickelnde Welt– in jedem Bereich – verlangt nun mal eine stetige Anpassung. Unter diesem Gedanken tröste ich mich manchmal, denn erstens kann ich den Zustand in dem ich jetzt bin nicht mehr ändern, sondern zweitens nur einen förderlichen Umgang mit selbst anstreben.

Bis zu diesem Zeitpunkt, befand ich mich auf einer recht stabilen Bahn im Leben. Mein Leben begann wie die Umlaufbahn eines Planeten, der um die Sonne kreist und durch einen großen Asteroiden getroffen wird, vollkommen chaotisch zu werden. Kleinere Einschläge steckte der Planeten leicht weg. Jedoch weit der Treffer durch diesen großen Asteroiden etwas ganz Verheerendes, denn veränderte der Einschlag die Balance total. Nicht nur geriet die Umlaufbahn ins Schlingern, sondern das komplette Klima kippte. Es wurde kalt und ungemütlich. Veränderung war also vorprogrammiert, was nicht unbedingt etwas Negatives sein muss, aber aus der damaligen Perspektive es definitiv war. Dieser Umstand es entbehrt nicht einer gewissen Absurdität, wenn man darauf zurückblickt. Und genau an dieser Stelle möchte ich ein Zitat von Albert Camus – auf das mich ein langjähriger Freund und Philosoph aufmerksam machte – anführen. Dieses Zitat hat mich oft davor bewahrt mir selbst Schlimmes anzutun und diesen beschleunigten Prozess des körperlichen Verfalls zu beenden:

Das Absurde ist das wesentliche Konzept und die erste Wahrheit.

Ich bilde mir zumindest ein, dass sich genau verstanden habe was Camus damit sagen wollte. Zumindest aus meiner Perspektive. Unsere Existenz, wie immer sie aussehen mag, folgt keinen Gesetzen und keiner Ordnung, sondern die Dinge die uns geschehen passieren zufällig. Sie sind also aus unserer Sicht absurd. Schöne Dinge die uns geschehen nennen wir Glück – Dinge die genau unseren Erwartungen entsprechen und uns in unser eigenes Konzept passen. Dinge die unseren Vorstellungen zuwiderlaufen – solche die Krankheit und weitere für uns subjektiv negative Ereignisse – nennen wir Pech.

Wir befinden uns also immer in einer Diskrepanz der situativen Bewertung von Dingen die uns geschehen. Über diesen Dingen zu stehen fällt mir auch sehr schwer, doch denke ich das viel gewonnen ist, wenn man sich dies bewusst macht. Es hat zumindest mir geholfen und kann mir vorstellen, dass es vielen anderen ebenso geht bzw. gehen kann. Und an dieser Stelle lache ich der Philosophie frech ins Gesicht, denn durch eigene Erfahrung (also echte Empirie) habe ich das Rätsel, besser gesagt den Satz von Camus, für mich gelöst. Und der hatte ja so was von Recht, denn das Leben an sich ist chaotisch und ist ob liegt uns – als einen jeden Menschen – für einen selbst richtige Bewertung zu suchen und im Idealfall zu finden. Das ist doch mal ein sehr positiver Aspekt, den diese Krankheit mit sich brachte: Erkenntnis. Dieses Zitat, das mir mein langjähriger Freund nannte, mit gab ist und war wertvoller für mich als jedes autogene Training, Antidepressivum oder jede Tasse Kaffee mit Zigarette. Es war vielleicht eine bewusste Handlung von ihm. Es bleibt zu erwähnen, dass er zu diesem Zeitpunkt wirklich Philosophie studierte. Jedenfalls brachte mir dies mehr als halbherzig rübergebrachte und vermeintlich anteilnehmende Bekundungen. Dazu gehören für mich kluge Sprüche und Ratschläge – die unreflektiert sind – und den Kern der Sache verfehlen. Dazu gehören einerseits Themenbereiche wie Finanzen und eben auch die Krankheit an sich. Dass ich und damit meine Familie, um es kurz zu erwähnen, in den genannten Bereichen nicht besonders gut aufgestellt sind, liegt auf der Hand. Ich möchte aber auf diesem Themenbereich speziell nach der Schilderung der dreizehn Jahre und der zusammengefassten und nach erzählten Interviews mit meiner Tochter und meiner Frau eingehen. Diese wertvollen Kommentare und Anregungen von Ihnen sind sicher aus verschiedenen Hinsichten motiviert. Ganz besonders abscheulich finde ich solche „Anteilnahmen und Mitleidsbekundungen“, die religiös motiviert sind.

Besonders zu erwähnen ist hier jegliche religiöse Glaubensrichtung und die jenseitige Einstellung die mit einer solchen das eigene Ableben nah einlegt – auf eine nicht sehr subtile Art. Sie vertröstet denjenigen, der betroffen ist, auf das Jenseits und das ist mir einfach nicht genug. Wie Sie sicherlich schon gemerkt haben, bin ich ein diesseitsorientierter Mensch, was heißen will dass ich meine Handlungen und Leiden – wie immer diese aussehen mögen – im hier und jetzt suche. Ich mache keine übernatürliche Macht dafür verantwortlich und sehe den Menschen nicht im Zentrum des Universums. Dies würde man als anthropozentrisch bezeichnen. Bei der schier unermesslichen Größe des Universums und der damit verbundenen „Nichtigkeit“ unseres Sonnensystems, scheint es mir nicht gegeben dass der Mensch eine besondere Stellung einnimmt. Dies hat natürlich damit zu tun, dass ich an keine über irdische Macht – im göttlichen Sinne – glauben kann. Beeindruckend ist für mich einzig und allein die Komplexität der Natur, des menschlichen Gehirns und des Universums an sich. Bevor ich jetzt allerdings schweife, und genau das habe ich bereits getan, will ich mich wieder dem eigentlichen Thema meiner inzwischen dreizehn Jahre dauernden Erkrankung widmen. Denn auch dieser Sachverhalt bietet genug Komplexität, und zwar einen nicht abnehmende sondern vielmehr stetig zunehmende, die mich in die Lage versetzt Ihnen darüber zu berichten. Dies wäre dann auch die Premiere Absicht dieses Schriftstücks: ein Mitteilendes

Es war für mich nach der Stellung der Diagnose sehr schwer sich vorzustellen, dass alles noch viel aufwendiger werden würde. Ich sage nicht zu viel oder Etwas Falsches, wenn ich sage dass meine jetzige Frau auch nicht davon ausgegangen ist das der Zustand der mich über die Jahre heimsuchen sollte immer schlimmer wurde. Vielleicht ist dies das Geheimnis der so genannten „Lebensfreude“ – wenn wir davon ausgegangen wären, dass es alles so schlimm werden würde wie es momentan ist dann hätten wir dieses Abenteuer nicht auf uns genommen. Aber glücklicherweise sind Menschen keine Propheten. Immer stellten wir uns den Gegebenheiten so wie sie sich uns darstellten und trauerten nur ein wenig um das was verloren war. Das ist eine unglaubliche Weisheit die uns dadurch zuteil wurde. Es hat auch im psychologischen Sinn keinen Nutzen, wenn man ständig an der Vergangenheit kleben bleibt. Es macht Weiterentwicklung nicht möglich. Schließlich haben sich in den verschiedensten Bereichen die Voraussetzungen beständig geändert, sei es nun das Klima, Gesellschaft, Erkenntnisse oder das Leben an sich. Ich hielt nach der besagten Diagnosestellung trotzdem an gewissen Dingen fest die ich für wichtig hielt und war nicht bereit dem Negativen gleich von Anfang an eine Bresche in den Wald zu schlagen. Ich ließ mich also – und meine Frau gehört ebenso zu dieser sozialen Entwicklung – treiben. Dieses sich treiben lassen hat an sich für mich eine sehr unbeteiligte Bedeutung und das mag ich nicht. Und es war genauso, denn zu gegebener Zeit hatte ich nicht die Kraft irgendeiner Entscheidung zu fällen oder ein Leben wieder in den Griff zu kriegen. Manch einer mag sagen, dass das sehr verständlich ist. Es war die Hölle auf Erden für mich. Ich fühlte mich unfähig mich zu bewegen, als hätte ich die Medusa in Person gesehen und sie direkt angeguckt. Im Grunde hatte ich das ja auch. Wie angedeutet, sollte dies jedoch nicht das Schlimmste sein, was mir widerfahren sollte. Und auch, wie ich es bereits zu verstehen gegeben habe, gingen ich in meiner Partnerin nicht vom so genannten worst case aus. Dieser Umstand versetzte uns in die hoffnungsvolle Position erstens wieder funktionieren zu können und zweitens Alternativen zu suchen. Alternativen im Bereich Familienplanung, Arbeiten, Wohnen und Teilhabe am sozialen Leben. Letzterer Begriff klingt allgemein und ist dem Sozialgesetzbuch IX entlehnt. Es wurde jedoch wirklich immer schwerer unsere Freunde zu besuchen geschweige denn etwas so Wichtiges wie kulturelle Ereignisse, es sei hier als Beispiel der Zirkus genannt, zu besuchen. Da ein Leben in den genannten Voraussetzungen am besten funktioniert – und das ist denke ich auch die Intention aller Behinderten-Schutzgesetze – was für mich von vorrangiger Wichtigkeit diese Voraussetzungen wieder auf einen guten Stand zu bringen. Denn, und ich appelliere hier wieder an diejenigen die behinderte Menschen diskreditieren wollen, mit einer Behinderung ist alles sehr viel schwerer. Manch einer mag nämlich in der Tat neidisch auf behindertengerechte Parkplätze sein. Aber um eine Berechtigung für so einen Parkplatz zu bekommen, muss man eben eine Behinderung vorweisen können. Da ich wirklich Menschen erlebt habe auf so einen Parkplatz neidisch sind, kann ich nur sagen dass jene Menschen ihre einstige Behinderung endlich ein Versorgungsamt geltend machen sollten. Nichts ist ungerechter, als wenn man Menschen in ihrem Leiden nicht ernst nimmt.


Medusa

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