Читать книгу Paul und der Biss des Drachen - Jan Paul - Страница 3
Die Kiste
ОглавлениеÜber den Dächern einer kleinen Stadt, wo unsere Geschichte beginnt, erhob sich langsam die Sonne. Noch war alles still, nur von Weitem hörte man die Turmuhr schlagen. Ein Auto fuhr einsam die Viktoria-Straße hinunter, bog um die Ecke und verschwand. In den Vorgärten kündigte sich allmählich der Frühling an. Ein Zwitschern drang aufgeregt aus einem der Sträucher, und im nächsten Augenblick kam ein Schwalbenpärchen herausgeflogen. Mit emsigem Treiben flog es auf und ab, überquerte Hecken und Wiesen und steuerte zielstrebig auf eine Häuserreihe zu, die unweit vom Marktplatz entfernt lag. Es waren schöne Häuser mit gepflegten Gärten bis auf das letzte in der Reihe. Etwas abseits hob es sich von den anderen auffällig ab. Das Schwalbenpärchen schien ein reges Interesse an dem Haus zu haben und flog darauf zu. Doch nicht, weil es etwa das schönste und größte in der Straße war. Es sah im Gegenteil heruntergekommen und völlig verwahrlost aus. Von der Hauswand bröckelte der Putz, und der Vorgarten war von Unkraut übersät. Nein, das Schwalbenpärchen hatte unter dem Dach sein Nest gebaut. Jeden Morgen, fast um die gleiche Zeit, flog es an dem Fenster vom siebten Stock vorbei. Hin und wieder, warum auch immer, nahm es kurz Platz auf dem Fenstersims. Vielleicht beobachtete es auch nur den jungen Mann, der vor kurzem dort eingezogen war. Es sah, wie er hektisch in der Küche herumwirbelte, seinen Kaffee schlürfte, das Brot in sich hineinstopfte und sich irgendwie die Schuhe schnürte. Doch an diesem Morgen war es anders. Der junge Mann bewegte sich auffällig langsam zu seinem Küchentisch, setzte sich und frühstückte. Dem Schwalbenpärchen schien das ein Rätsel zu sein. Doch die Lösung war einfach: Es war Samstag. Aber davon wusste das Pärchen ja nichts. Der junge Mann schaute aus dem Fenster und nickte den Schwalben freundlich zu. Sein Name war Paul Meier. Er war dreiundzwanzig, hatte blaue Augen, blonde Haare und war 1,73 m groß. Er senkte wieder seinen Kopf und vertiefte sich in das Buch, das vor ihm lag. Es war eines seiner Studienbücher und handelte von Mumien und alten verlorenen Schätzen. Paul hatte seiner Heimatstadt den Rücken gekehrt, um die letzten zwei Jahre zu vergessen und um Archäologie zu studieren. Hier konnte er neu anfangen. Niemand, außer seinem besten und einzigen Freund, kannte ihn. Er fühlte sich wie ein Fremder, und es gefiel ihm. Er hob den Kopf und dachte an seine Freundin. Mitten in der Nacht hatte sein Handy geklingelt, und er hatte ihre SMS gelesen: "Tut mir leid, aber es ist aus, Sam". Sam war die Abkürzung für Samantha. Sein Blick wanderte wieder zum Fenster. Das Schwalbenpärchen saß immer noch da und beobachtete ihn. Er lächelte, setzte seine Brille zurecht und seufzte. Sam war seine große Liebe, und er war bis heute noch immer nicht darüber hinweg. Warum hatte sie nur Schluss gemacht? Wenn er wenigstens den Grund gekannt hätte. Gedankenverloren griff seine Hand wie zufällig nach seinem Salami-Käsebrot. Er öffnete den Mund und dachte dabei an die letzten Stunden mit ihr. "Klingeling", schrillte mit einem Mal das Telefon auf dem Flur, und Paul stieß einen schmerzhaften dumpfen Schrei aus. "Au - hm - verschammt!", fluchte er nuschelnd, denn er hatte sich vor Schreck auf die Zunge gebissen. Er schloss kurz die Augen und hielt sich den Mund, dann erhob er sich und eilte zum Telefon. Es war noch so ein altes mit Wählscheibe. Wütend riss er den Hörer von der Gabel. "Meier", fauchte er zähneknirschend in den Hörer.
"Hi Paul, hier ist Dein bester Freund. Wie geht’s Dir, Du Schlafmütze?" Sein Name war Tom, und er besaß die besondere Gabe, immer zu den unpassenden Zeiten anzurufen. Paul verdrehte die Augen, was er immer dann tat, wenn er genervt oder schlecht gelaunt war. "Hhm, schlescht." Er schluckte und schmeckte Blut.
"Was ist los?", fragte Tom, "Bist Du etwa krank?“ Paul holte tief Luft, bevor er antwortete: "Mmm – hasch – misch – scherade ..." "Was? Ich verstehe kein Wort", unterbrach ihn Tom. "Schunge gebischen", schnaufte Paul in den Hörer."Habe ich richtig verstanden? Du hast dir auf die Zunge gebissen? Wie ist das denn passiert?" "Dasch Telefon hasch geschlingelt." Kurze Stille am anderen Ende. "Echt? Weil ich Dich angerufen habe, hast Du Dir auf die Zunge gebissen?", flüsterte Tom fast mit schlechten Gewissen. Paul brummte und versuchte etwas deutlicher zu sprechen. "Schon gut. Wasch hascht Du aufm Herschen?" "Was ich auf dem Herschen – äh, Herzen habe?", wiederholte Tom. Paul brummte zu Bestätigung. "Kätzchen," hauchte er in den Hörer."Kätzchen?", klang Pauls Stimme mit einem Mal klar und deutlich, und seine Schmerzen schienen wie verflogen zu sein. "Ja, kleine …, süße …, knuddelige Kätzchen", alberte Tom am anderen Ende herum. "Wo?", fragte Paul mit überschäumender Neugier, und ein schallendes Lachen drang ihm entgegen. "Hey Alter, ich wusste doch, dass Dich das wieder in Laune bringt. Aber, sag mal", wurde er plötzlich ganz ernst, "sind denn Haustiere bei euch erlaubt?" "Nein, grunzte Paul, denn Tom wusste sehr wohl, dass bei ihm Haustiere verboten waren. "Aber", fuhr Paul wütend mit rebellischer Stimme fort, "es ist mir scheißegal. Ich will so ein kleines, süßes und knuddeliges Kätzchen haben, kapiert?" "Jau", stimmte ihm Tom vom anderen Ende zu, "was anderes habe ich auch nicht erwartet. Die Kätzchen befinden sich übrigens nur ein paar Häuserblocks von Dir entfernt." "Du meinst doch nicht etwa den Wochenmarkt gleich bei mir um die Ecke?" "Bingo, genau den, Alter. Frag mich jetzt aber bloß nicht, warum der Bauer sie ausgerechnet dort verkauft." Paul dachte nach. Wollte Tom ihm etwa einen Streich spielen? Zuzutrauen wäre es ihm, hatte er ihn doch in vergangener Zeit oft genug ... "Hey Alter, was ist? Oder glaubst Du, ich will Dich vera...?" "Nein", fiel Paul ihm ins Wort. "Also gut, ich werde gleich losziehen und mir die Kätzchen mal ansehen.""Na, dann solltest Du Dich aber wie verrückt beeilen, wenn Du noch eine abbekommen willst." "Ja, Du Nervensäge! Ich renne sofort los." "Und ich werde heute Abend auf einen Sprung vorbeikommen und mir das kleine Wollknäuel mal anschauen." "Ja, von mir aus." Paul legte auf, schnappte sich seinen Hausschlüssel und verließ die Wohnung. Doch hätte er geahnt, was ihn dort auf dem Markt erwarten würde, wäre er sicher zuhause geblieben. Der Markt war brechend voll, und so ließ er sich von einem Stand zum anderen treiben. Am Obst - und Gemüsestand vorbei und ... "Au!", stieß Paul plötzlich aus, denn jemand hatte ihm auf seinen Fuß getreten. Irgendeine Stimme brummte ein "tschuldigung." Doch Paul fühlte sich regelrecht unwohl in dem Meer von Menschen und bereute es schon, hier zu sein. Er trieb gerade am Blumenstand vorbei, als ihm plötzlich eine alte Frau gegenüberstand. Fast hätte er sie umgerannt, weil sie so klein war. "Entschuldigen Sie", sagte Paul, "aber können Sie mir vielleicht sagen, wo sich der Stand mit den Kätzchen befindet?" Doch die Alte, die merkwürdig aussah und unter ihrem weiten Umhang irgendetwas verbarg, blickte ihn nur verwirrt an. Dann, ohne ein Wort zu sagen, schüttelte sie den Kopf und war wieder in der Menge verschwunden. "Vielen Dank für gar nichts", brummte Paul, als ihm plötzlich jemand zurief: "SIE SUCHEN DIE KÄTZCHEN?“ "JA!", rief Paul zurück und drehte sich suchend um. Ein schlaksiger junger Mann trieb in der Menschenmenge an ihm vorbei. "DIE BEFINDEN SICH AM ANDEREN ENDE VOM MARKT!" "AN WELCHEM ENDE?", erkundigte er sich weiter, konnte aber die Antwort nicht mehr verstehen. Warum, dachte Paul, war das nur so verdammt voll heute? Blitzartig fiel es ihm wieder ein: Es war Samstag. "Au!", stöhnte Paul auf, denn jemand hatte ihm seinen Ellbogen in die Seite gerammt. "Hey", was soll das?" Doch er bekam keine Antwort. Stattdessen trat ihm erneut jemand auf den Fuß. "Au!" Pauls Gesicht verfinsterte sich, und so langsam bekam er große Lust zurückzutreten, egal auf wessen Fuß. Er versuchte, sich herumzudrehen und wurde prompt geschubst. "Verdammt nochmal", schnaubte er und packte jemanden am Arm, der vor ihm herlief. "Entschuldigen Sie, aber dürfte ich bitte mal vorbei?" Doch die Person reagierte überhaupt nicht. In Paul brodelte es. Er war wütend, schwitzte wie ein Tier, und seine Füße taten ihm weh. Wenn er jetzt nicht gleich an ihm vorbei kam, dann würde er ihn treten und zur Seite schubsen. Das heißt, wenn er nur nicht so feige gewesen wäre. Ja, Pauls große Schwäche waren seine Feigheit und sein mangelndes Durchsetzungsvermögen. Noch nie hatte er sich herumgeschlagen, weder in der Schule noch sonst wo. Innerlich war er stets bereit, doch fehlte es ihm an Mut, dieses auch in die Tat umzusetzten. Oft hatte er sich schon dafür gehasst. Plötzlich hörte er ein seltsames Stimmengewirr von irgendwoher und blickte sich um. Seine Augen weiteten sich vor Staunen. Da kam ein Mann, hoch und breit wie ein Kleiderschrank, der sich seinen Weg durch die Menge bahnte. Und dann steuerte der riesige Kerl direkt auf ihn zu. Paul schöpfte neue Hoffnung. Das war seine Chance. Er wartete bis er mit ihm auf gleicher Höhe war, und sprang in seinen Windschatten. Er hielt sich ganz dicht hinter ihm, bis sie fast das Ende des Marktes erreicht hatten. Paul schnaubte erleichtert, als er sich von dem großen Kerl gelöst und ins Freie geschoben hatte. Nie wieder würde er an einem Samstag auf den Markt gehen. Er schüttelte den Kopf. Nein, dachte er, auch nicht für so ein kleines, süßes, knuddelige ... Auf einmal drang etwas in seine Gedanken. Es klang wie ein leises Piepsen oder Miauen, was ihn aufhorchen ließ. Neugierig drehte er sich um. Nicht weit von ihm standen Kinder mit ihren Eltern und lachten und kicherten. "Oh, wie niedlich!", rief ein kleines Mädchen und sprang auf und ab. Zwei weitere Kinder zwängten sich zwischen den Erwachsenen hindurch, um auch etwas zu sehen. "Hey!", schrie ein kleiner Junge. "Ich will auch sehen!" Pauls Interesse war geweckt. Sollte es sich dort etwa um Kätzchen handeln? Was sonst, dachte er, konnte die Kinder in so helle Begeisterung bringen? Mit großen Schritten näherte er sich ihnen. Er war fast da, als ihm plötzlich – rumms – jemand vor die Füße lief. Beinahe wäre ihm die Brille von der Nase gefallen. Er schob sie wieder ordentlich ins Gesicht und starrte die Person an. "Sie!", sagte Paul verärgert. Es war die Alte von vorhin. Sie hatte eine Kiste nur knapp vor seinen Füßen fallengelassen. Also das trug sie unter ihrem Umhang. "tschuldigung – Entschuldigung", stammelte sie nervös und zog sich mit ihren schwarzen Fingernägeln an ihm hoch."Schon gut“, erwiderte Paul voller Ekel, riss sich von ihr los und eilte weiter zu den Kindern. Gerade sah er, wie der Bauer ein getigertes Kätzchen aus einem Kartoffelkorb nahm und es einem kleinen Mädchen reichte. Paul hatte es also doch noch geschafft. Voller Freude blickte er in den Korb und ... "Tut mir leid", hörte er die Stimme des Bauern, "nur eine Minute früher und Sie hätten ..." "Ja, ich weiß", unterbrach ihn Paul und hob seine Hand. Für einen Moment lang starrte er in den leeren Korb, dann schenkte er dem kleinen Mädchen seine Aufmerksamkeit. "Wie soll das Kätzchen denn heißen?" "Tiger nenn ich sie", sagte sie voller Stolz. "Hhm, ja, gefällt mir“, sagte Paul, "der passt zu ihr". Er versuchte, sich ein Lächeln abzuringen, als ihn plötzlich jemand unsanft an seinem Arm zog. Erschrocken wandte er sich um und starrte in das Gesicht der Alten mit der Kiste. "Schon wieder Sie?", zischte er wütend. Denn hätte sie ihn nicht umgerannt, dann … Er holte tief Luft. "Was wollen Sie denn noch von mir?" "Sie suchen doch ein Kätzchen, richtig?", grinste sie breit. Pauls Gesicht verzog sich vor Ekel, als er ihre Zähne sah. Alle, die noch übrig waren, waren abgebrochen und hatten eine gelbbraune Farbe. "Falsch", erwiderte Paul, und ihm wurde fast schlecht. "Ich suche einen Elefanten", brummte er missgelaunt. "Ach wirklich?" Die sabbernde Alte schüttelte den Kopf. Paul nickte und hielt sich die Hand vor den Mund. "Nun ja", fuhr die Alte fort, "einen Elefanten habe ich leider nicht in meiner Kiste." "Ach, was Sie nicht sagen", gab Paul gespielt überrascht zurück. Die Alte überhörte seine Bemerkung. "Aber womöglich befindet sich ein Kätzchen hier drin", sagte sie und deutete unnötigerweise auf die Kiste."Ein Kätzchen?", fragte Paul ungläubig, als er plötzlich eine junge Frau hörte, die unmittelbar hinter ihm zu dem Bauern sprach. "Tut mir leid", sagte sie, "aber leider können wir das Kätzchen nicht nehmen." Und auf die Frage hin, warum, erklärte sie, dass ihre Tochter eine Katzenallergie hätte. Sofort ließ Paul die Alte links liegen und blickte sich um. Erst jetzt fiel ihm die Frau auf, die er vorher nicht bemerkt hatte. Sprachlos sah er auf das kleine Mädchen, das ihm eben noch voller Stolz das Kätzchen gezeigt hatte. Nein, dachte er, so wollte er nicht an ein Kätzchen kommen. Schweren Herzens gab das Mädchen das Kätzchen an den Bauern zurück. Paul seufzte voller Mitleid. Der Bauer hielt das Kätzchen auf seinem Arm und nickte ihm auffordernd zu. Doch Paul beugte sich zu dem kleinen Mädchen hinunter. "Hör mal", sagte er zu ihr, "Dein Kätzchen wird es sicher gut haben." Aber er wusste, dass sie das auch nicht trösten würde. Das kleine Mädchen hob den Kopf und schniefte. "Da – dann nimmst Du es!", sagte sie, und es klang nicht nach einer Bitte. Paul zog zögernd die Augenbrauen hoch und sah zu ihrer Mutter, deren Blick, so schien es, genau dasselbe meinte. "Also gut", nickte er schließlich, "wenn Du es möchtest, dann nehme ich es für Dich." Doch leider sollte es ganz anders kommen. Der Bauer grinste. "Das nenn ich Glück, richtiges Schweineglück", sagte er, als das kleine Mädchen mit ihrer Mutter verschwunden war. "Schweineglück?", wiederholte Paul. Der Bauer nickte. "Aber nicht für die Kleine", seufzte Paul. "Ach was, die kleine Göre wird schon schnell einen Ersatz finden. Außerdem sollte sie viel lieber mit Puppen spielen." Paul hätte ihm gern etwas Passendes darauf erwidert, so wie zum Beispiel, er könnte ihn mal … Aber er verkniff es sich. "Na dann", sagte er und streckte seine Hände nach dem Kätzchen aus. "Macht 40 Mark", sagte der Bauer. Paul erschrak, hatte er etwa seine Gedanken gelesen? "Moment mal", protestierte er, "dort steht doch ganz deutlich 25 Mark." "Ja, schon, aber soeben ist durch Angebot und Nachfrage der Wert dieser kleinen Katze gestiegen." "Das ist doch ein Witz!“ Paul lachte auf. Doch sein Gegenüber blieb ernst, nahm das Schild, warf es beiseite und schrieb ein neues. "Das können Sie doch nicht einfach tun", brach es aus Paul heraus. Der Bauer starrte ihn mit eiskalter Miene an. "Sie sehen doch, das ich es kann, oder?" Paul spürte, wie sein Blutdruck stieg. Der Bauer war eindeutig zu weit gegangen. Das würde er sich nicht so einfach gefallen lassen. Aber was sollte er tun? Sich etwa mit ihm anlegen?"Zwanzig Mark", unterbrach eine Stimme seine Gedanken, und jemand zog ihn am Arm. "Hey!“, fuhr Paul erschrocken herum, "was soll ..." Doch mitten im Satz brach er ab und verdrehte angewidert die Augen. Es war wieder die Alte mit der Kiste. "Haben Sie ein Problem, oder was?", fauchte er."Zwanzig Mark", wiederholte die Alte unbeeindruckt."Ich will aber nicht, verstanden?", knurrte er gereizt. Allerdings klang es nicht sehr überzeugend. "Zwanzig Mark", ließ die Alte denn auch nicht locker. Paul schnaufte und beugte sich halb zu ihr hinunter. "Können Sie nicht oder wollen Sie mich nicht verstehen? Und lassen Sie ihr verdammtes Grinsen und Ihre Finger von meinem Ärmel!" Aber die Alte grinste noch breiter, während sie langsam seinen Ärmel wieder los ließ. Einen Moment lang starrten sie sich nur an, und Paul glaubte schon, sie würde endlich Ruhe geben als … "Zwanzig Mark", erneut über ihre sabbernden Lippen kam. Psychoterror, dachte Paul. Sie wollte ihn wirklich fertigmachen. Jetzt musste er unbedingt die Nerven behalten und stärkere Geschütze auffahren. "Entweder", sagte er, und Schweiß rann ihm die Stirn hinunter, "Sie lassen mich endlich in Ruhe oder Sie bekommen Ärger mit mir!" Paul sah sie so finster und böse an, wie er nur konnte. Schließlich nickte die Alte ihm zu und ließ ein tiefes Seufzen hören. Sie hatte also endlich aufgegeben, dachte Paul und wandte sich wieder dem Bauern zu. "Zwanzig Mark!“, drang es ihm plötzlich zum wiederholten mal schmerzhaft in die Ohren. Wutschnaubend wirbelte er herum. "Sie … Sie ...", zischte er, dann gab er auf. "Für was?", fragte er, denn er glaubte nicht an das Kätzchen in der Kiste. Das Grinsen der Alten wurde noch breiter, soweit das überhaupt noch möglich war. Paul musste sich zusammenreißen, um sie nicht zu packen. "Für das arme", begann sie, "verlassene Kätzchen, das sich möglicherweise immer noch hier drinnen befindet", sagte sie und trat mit ihrem ausgelatschten Schuh auf die Kiste."Unsinn", fauchte Paul genervt, "beweisen Sie es, denn ich kaufe nicht gerne die Katze im Sack … äh, Kiste", verbesserte er sich. Doch die Alte dachte überhaupt nicht daran, ihm irgendeinen Beweis zu liefern. "Na dann", grinste nun Paul übertrieben zurück, "hat sich die Sache für mich ja erledigt." "Das ist aber wirklich jammerschade", seufzte die Alte."Was ist jammerschade?", fragte Paul und verzog wütend sein Gesicht. Denn etwas Fieses und Gemeines lag in ihrer Stimme, das ihm ganz und gar nicht gefiel. Die Alte bückte sich und fuhr mit ihren spitzen, schwarzen Fingernägeln über die Kiste, so dass es ein widerlich kratzendes Geräusch gab. "Nun", setzte sie dramatisch an, "weil das arme Kätzchen … dann leider wohl sterben muss." Mit ausdruckslosem Gesicht blickte sie zu Paul hinauf."Warum?" Paul starrte sie entsetzt an. "Warum muss das Kätzchen dann sterben?" Die Alte sah voller falschen Mitleids auf die Kiste. Die Alte seufzte erneut. "Weil ich Katzen nun mal von ganzem Herzen hasse." Es traf Paul wie ein Schlag, und für den Moment war er völlig unfähig, irgendetwas darauf zu erwidern, was die Alte sofort ausnutzte. "Aber", sah sie ihn herausfordernd an, "so ein Tierfreund wie Sie würde das doch sicher niemals zulassen, oder?" "Nein, niemals", antwortete er wutentbrannt und konnte sich kaum noch zurückhalten, sie zu würgen. Anscheinend ahnte sie seine Absicht, denn sie trat einen Schritt von ihm zurück. Paul überlegte angestrengt, denn er hatte nun mal kein Geld für beide Katzen. "Was ist?", drängte ihn die Alte und warf verstohlene Blick nach allen Seiten. Doch Paul schien immer noch keine Idee zu haben. "Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit", wurde ihre Stimme plötzlich schärfer. Sie packte die Kiste und zog sie zu sich. "Wenn Sie nicht wollen, bitte." Sie machte eine kurze Pause. "Dann werfe ich die Kiste eben ungeöffnet in den nächsten Teich." Paul war geschockt von soviel Hass. Auf einmal hatte er einen Plan: Er würde ihr die Kiste einfach entreißen, und alles andere würde sich dann schon finden. Er wollte seine Idee gerade in die Tat umsetzen, als er den Bauern reden hörte. "Macht 40 Mark." "Einen Moment", sagte Paul und starrte die Alte vorwurfsvoll an. Dann wandte er sich zu dem Bauern. Dort stand ein Vater mit seiner kleinen Tochter, die schon das Kätzchen auf dem Arm hielt. Sprachlos beobachtete er, wie ihr Vater tatsächlich 40 Mark für das Kätzchen bezahlte. Sein Blick fiel hinunter zu dem strahlenden Mädchen. "Weißt Du was?“, sagte er. ,,Das Kätzchen hat schon einen Namen. Es heißt Tiger." Das Mädchen lächelte und nickte. Paul nickte zurück, und er wusste, das Kätzchen würde es sicher gut haben bei ihr. Ohne ein Wort zu verlieren griff er in seine Hosentasche und zog sein Portmonee heraus. "Zwanzig Mark, richtig?" Paul deutete auf die Kiste, als die Alte plötzlich zu fluchen begann: "Oh, nein verdammt", schüttelte sie den Kopf, und ihr Grinsen war im Nu einem entsetzten Blick gewichen."Wie viel dann?", fragte Paul verärgert. Doch zu seinem Erstaunen trat die Alte von der Kiste zurück. "Die Kiste gehört Ihnen, passen Sie, um Himmels willen, gut auf sie auf", flehte sie ihn an. "Ich verstehe nicht", sagte Paul und zuckte verwirrt mit den Schultern."Hör zu!" Die Alte trat nun ganz dicht an ihn heran und flüsterte: "Es liegt jetzt in Deiner Hand, was mit der Kiste geschieht." "Aber ...", setzte Paul an. Doch die Alte wirbelte herum und war im gleichen Moment in der Menge der Menschen verschwunden. Paul starrte ihr verdutzt nach. "Was ist denn mit der passiert?", murmelte er, als ihn plötzlich zwei ungehobelte Typen zur Seite stießen. "Hey, wohl verrückt geworden, wie?", schrie er den beiden wütend nach. Aber keiner von ihnen nahm auch nur Notiz von ihm. "Was für Vollidioten", brummte er schlecht gelaunt und bückte sich nach seiner Brille, die ihm bei dem Stoß heruntergefallen war. "Verrückte Alte", sagte der Bauer, "habe sie hier noch nie gesehen." Doch Paul schwieg, setzte sich die Brille wieder auf und hob die Kiste an. Er war erstaunt, denn sie war ungewöhnlich schwer. "Wer weiß", überlegte der Bauer laut zu Paul gewandt, "was für ein grässliches Tier dort in der Kiste steckt?" "Und trotzdem", sagte Paul scharf, "hat es ganz sicher nicht verdient, in den nächsten Teich geworfen zu werden, oder?" Der Bauer machte eine abfällige Geste und wollte etwas drauf erwidern. "Behalten sie es bloß für sich, verstanden?", kam ihm Paul zuvor und verzog sein Gesicht. Der Bauer räusperte sich und deutete neugierig auf die Kiste. "Oh, nein, kommt ja überhaupt nicht infrage." Paul verstand sofort, was er meinte. "Die Kiste werde ich hier ganz sicher nicht öffnen. Ach, übrigens", sagte er, bevor er sich umdrehte und nach Hause ging: "Sie stinken." Normalerweise brauchte Paul nur fünf Minuten bis nach Hause. Doch wegen der ungewöhnlichen Hitze und der schweren Kiste dauerte es heute mehr als fünfundzwanzig Minuten. Schon nach fünfzig Metern musste er eine Pause einlegen. Eine Bank, die zwischen zwei Bäumen stand, schien dafür bestens geeignet. Paul setzte sich und stellte die Kiste neben sich. Er dachte grübelnd über die Alte auf dem Markt nach. Was war bloß mit ihr los gewesen? Hatte sie etwa einen Geist gesehen, oder war sie nur vor irgendjemandem auf der Flucht? Paul lachte leise in sich hinein. Denn er glaubte schon lange nicht mehr an Geister oder verrückte Wesen. Plötzlich hob er die Augenbrauen. Die beiden Typen, schoss es ihm durch den Kopf. Gut möglich, dass sie hinter ihr her waren, eilig genug hatten sie es ja. Während sein Blick wieder auf die Kiste fiel, überlegte er, ob sich wirklich eine Katze darin befinden würde, oder vielleicht doch ein Tiger-oder Löwenbaby? Er schüttelte den Kopf. "Sicher nicht", murmelte er grinsend und lauschte in die Kiste. Sie war mit vielen schmalen Brettern ordentlich zusammengezimmert. Paul bemerkte ein daumengroßes Astloch und schaute vorsichtig ins Innere der Kiste, als ihn plötzlich etwas anstarrte. Paul wich entsetzt zurück und atmete tief durch. Er dachte an die Alte. Was hatte sie doch gleich zu ihm gesagt? "In meiner Kiste befindet sich ein Kätzchen." Nein, das hatte sie nicht gesagt. Sie hatte sich da irgendwie anders ausgedrückt. Er überlegte weiter, und auf einmal fiel es ihm wieder ein. Sie hatte gesagt, dass sich in der Kiste möglicherweise ein Kätzchen befinden würde. Paul nickte, genauso war es. Aber was meinte sie mit möglicherweise? Es gab einige Worte, die Paul hasste. Und eines davon war genau jenes. Doch die Alte hatte es nun mal gesagt, und Paul schlussfolgerte, dass sie selbst nicht wusste, was sie in ihrer Kiste hatte. Nachdenklich betrachtete er weiter die Kiste, als er mit einem Mal ein Schnaufen hörte. Paul schluckte. "Du bist keine Katze, richtig?, flüsterte er und sah dabei so gebannt auf das Astloch, dass er nicht die Gefahr bemerkte, die unaufhaltsam auf ihn zukam. Es geschah wie aus heiterem Himmel. "Wuff! Wuff!", brach es so plötzlich über ihn herein, dass er fast von der Bank gefallen wäre. Geschockt starrte er in das riesige, fleischige Gesicht einer Bulldogge, deren Zähne nur noch wenige Zentimeter von seinem Hosenbein entfernt waren. Kreidebleich und tonlos formten seine Lippen das Wort "Hilfe!" Doch das befürchtete Blutbad blieb aus, denn das Tier hing an der Leine seines Besitzers. Paul spürte eine endlose Erleichterung, die sich sofort in Wut und Zorn verwandelte. "Ne … nehmen Sie, verdammt nochmal, Ihren Hund weg!", schrie er gegen das laute Gebell an. "Nur keine Panik, mein Lieber", sagte der Hundebesitzer gelassen, der mit Bierbauch und Doppelkinn bald selbst wie eine Bulldogge aussah."Pa… Panik?", schrie Paul außer sich. "Ich habe keine Pa… Panik, ich habe nur Angst!" "Aber doch wohl nicht etwa vor meinem Brutus?", sagte er und zog seinen Hund zu sich. Paul starrte erst ihn und dann seinen Hund an. Die Bulldogge hatte zwar aufgehört zu kläffen, dafür knurrte sie nun und hatte Schaum vor dem Maul. "Brutus ist lammfromm", versicherte er Paul, "der tut keinem was." Dann warf er einen misstrauischen Blick auf die Kiste. "Im Gegenteil, er hat sicher nur Angst vor dem, was Sie dort drinnen haben", vermutete er. "Was?" Paul traute seinen Ohren kaum. "Ja, weiß der Geier, was Sie in Ihrer Kiste haben", brummte der Schwabbelbauch. "Ein Kätzchen", sagte Paul, auch wenn er selbst nicht so recht daran glaubte. Doch der Hundebesitzer schüttelte entschieden den Kopf. "Das ist völlig unmöglich." "Warum?“, fragte Paul überrascht."Weil mein Brutus mit Katzen aufgewachsen ist und bis heute noch nie eine angebellt hat." Paul schluckte. Natürlich hatte er höchstwahrscheinlich recht, aber das konnte und wollte er nicht zugeben. "Dann ist es heute eben das erste Mal." So, jetzt hatte er es ihm aber gegeben. Doch die Retourkutsche folgte prompt. "Wissen Sie, was ich glaube?", sagte der Schwabbelbauch. "Ich glaube, Sie wissen selbst nicht, was in Ihrer Kiste ist." Dann zog er an der Leine. "Komm, Brutus, lass uns nach Hause gehen!" Sprachlos sah Paul den beiden nach, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren. Seufzend überlegte er, was sich wohl in der Kiste verbergen könnte, stand auf und machte sich mit ihr langsam auf den Nachhauseweg. Zwanzig Minuten später stand er mit der Kiste völlig erschöpft vor seiner Haustür. "Hoffentlich", murmelte er, "schaffe ich es bis hinauf in den siebten Stock, ohne dass ich gesehen werde." Er konzentrierte sich auf jedes Geräusch, nachdem er leise wie ein Dieb die Haustür aufgeschlossen und den Flur betreten hatte. Zum Glück war niemand zu sehen oder zu hören. Ohne zu zögern schnappte er sich die Kiste, die kurz als Türstopper herhalten musste, und eilte zur Treppe. "Ja", seufzte er leise, "jetzt wäre ein Fahrstuhl wirklich mal hilfreich gewesen." Bis zum dritten Stock verlief alles bestens. Doch dann, wie konnte es auch anders sein, geschah etwas Unvorhergesehenes.Er stellte die Kiste auf einer der Stufen zum vierten Stock ab um zu verschnaufen. Es war nur ein kurzer Moment, um neue Kräfte zu sammeln. Schließlich bückte er sich wieder, als das Unheil geschah. Seine Hände hatten schon die Kiste ein Stück weit angehoben, als sie sich plötzlich zu schütteln begann. Paul verlor sofort den Halt und rutschte samt der Kiste zur Seite auf die Treppe. Fast wäre es ihm noch gelungen, sie festzuhalten, als sie ihm sozusagen aus den Händen sprang. Entsetzt starrte er ihr nach, wie sie mit lautem Krachen die Stufen herunterpolterte. Sie überschlug sich mehrmals, bis sie schließlich mit einem noch lauteren Knall unten im dritten Stock liegen blieb. Dann war es totenstill, und Paul wagte kaum zu atmen, geschweige denn sich zu bewegen. Er starrte hinunter auf die Kiste, die zu seinem Erstaunen völlig unbeschädigt war. Doch jetzt rechnete er mit dem Schlimmsten. Türen würden auffliegen und ein Gewirr von Stimmen das Treppenhaus erfüllen. Paul war sich sicher, dass er sich nun eine neue Wohnung suchen müsste. So stand er da und wartete auf das Unvermeidliche. Aber nichts geschah. "Lauf!", sagte plötzlich seine innere Stimme. "Lauf und hol Dir die Kiste!" Doch er zögerte. "Verdammt nochmal!", schrie sie jetzt in ihm. "Auf was wartest du noch?" Paul fasste sich ein Herz und rannte so leise er konnte die Treppe hinunter. Niemand riss eine Tür auf und stürzte sich auf ihn. Er schüttelte ungläubig den Kopf. "Das ist doch nicht normal", flüsterte er und blickte auf das Namensschild, vor dessen Tür die Kiste liegen geblieben war. Ein Schauer rann ihm über den Rücken, als er den Namen Krause las. Herr Krause war sein Vermieter und lebte alleine. Er hasste Kinder, Katzen, Hunde und ganz besonders Paul. Natürlich hatte er nichts dergleichen je in seiner Gegenwart erwähnt. Aber Paul spürte es, wann immer er ihm begegnete. Und außerdem lebten weder Kinder noch Katzen oder Hunde in dem Haus. Paul bückte sich mit einem ganz unwohlen Gefühl zu der Kiste, denn er hatte Angst, dass sie sich erneut schütteln könnte. Egal, er musste es wagen. Mutig hob er sie an und – es geschah nichts. Erleichtert ging er wieder die Treppe hinauf, als ihm plötzlich ein entsetzlicher Gedanke durch den Kopf schoss. Was, wenn dem Kätzchen etwas passiert war? Abrupt blieb er auf der Mitte der Treppe stehen. Er starrte auf die Kiste. Hätte das Tier nicht laut aufschreien müssen? War es etwa … Nein, diesen Gedanken wollte er nicht zu Ende denken und vertrieb ihn aus seinem Kopf. Sicher war es nur benommen oder bewusstlos. Und wenn nicht? Panik ergriff ihn, und er wollte schon die Treppe hinaufhetzen, als … "Knall!", hinter ihm eine Tür aufflog. Jeder halbwegs normale Mensch wäre jetzt erst recht weitergelaufen. Nur Paul tat es nicht. Mit Schrecken vernahm er die Stimme seines Vermieters. "Herr Meier, was war das hier eben für ein lauter Krach?" Paul seufzte. Jetzt wäre er gern noch mal so fett gewesen wie damals. Doch so konnte er leider nicht verhindern, dass sein Vermieter die Kiste bemerkte. "Und was haben Sie dort in Ihrer Kiste, Herr Meier? Doch nicht etwa ein Haustier, oder?" "Kein Haustier, Herr Krause." Paul drehte sich zu ihm um und sah ihn verwundert an. "Was ist? Haben Sie noch nie jemanden im Bademantel herumlaufen sehen?""Doch schon, es ist nur ...""Nur was?", fragte Herr Krause und fuhr sich dabei über sein mit Rasierschaum verschmiertes Gesicht. Paul hob die Augenbrauen und hätte am liebsten losgelacht, wenn die Kiste nur nicht so schwer gewesen wäre. In dem Moment ging unten die Haustür, und jemand kam die Treppe herauf. Herr Krause blickte eilig über das Geländer hinunter. Anscheinend gefiel es ihm gar nicht, wer da herauf kam. "Wir sprechen uns noch Herr Meier", brummte Herr Krause verärgert und verschwand in seiner Wohnung. Wer immer da herauf kam, Paul dankte ihm schon jetzt von ganzem Herzen. "Hallo, Herr Meier." Es war Frau Albrecht. Erst vor kurzem war sie in das Haus eingezogen. Sie war jung, blond und sah einfach umwerfend aus. "Hatten Sie etwa schon wieder Stress mit unserem Vermieter?", flüsterte sie."Ha … hallo, Frau Albrecht", grüßte Paul zurück. "Nein, ich hatte keinen Stress mit Herrn Krause." "Ist es etwa wegen Ihrer Kiste?", fragte sie neugierig. Frauen, schien Paul zu denken. "Wegen meiner Kiste?", wiederholte er völlig unschuldig. "Wie kommen Sie denn darauf?" "Ach, nur so", erwiderte sie und versuchte, an ihm vorbeizukommen."Oh, Entschuldigung, ich mach Ihnen sofort Platz." Paul drückte sich soweit es ging an die Wand. "Vielen Dank, Herr Meier", nickte sie ihm lächelnd zu und ging an ihm vorbei. Für ein kurzen Moment trafen sich ihre Blicke, und Pauls Knie wurden weich. Dann fing er sich wieder und folgte ihr. Doch schon im vierten Stock trennten sich ihre Wege. "Na, dann", sagte Paul, als er sah wie sie den Schlüssel ins Türschloss steckte, "man sieht sich." "Ach übrigens", meinte sie zu ihm, "ich feiere heute Abend eine kleine Einweihungsparty. Also, wenn Sie Zeit und Lust haben … so gegen 18Uhr?" "Klar habe ich Zeit und Lust sowieso – äh – ja, gerne." Er verzog peinlich sein Gesicht. Was redete er da nur für einen Schwachsinn, das musste an der Kiste liegen, die scheinbar immer schwerer wurde. "Na dann, bis heute Abend", lächelte sie ihm kopfschüttelnd zu. Paul nickte zurück und konnte sich ein Seufzen nicht verkneifen. "Die Kiste, sie ist verdammt schwer." "Aber ja, natürlich, kann ich Ihnen vielleicht helfen?" Oh, wie gern hätte er ja gesagt, doch er hatte Angst, dass sich die Kiste nochmal schütteln könnte. "Um Himmelswillen … äh, ich meine nein, danke. So schwer ist sie nun auch wieder nicht." Und ob sie schwer war! "Ganz sicher?", fragte Frau Albrecht und blickte auf die Kiste. "Ganz sicher", bestätigte Paul und zwang sich zu einem Grinsen. "Also dann", sagte Frau Albrecht und öffnete die Tür. "Ach, Herr Meier?", wandte sie sich noch einmal um. "Ja … bitte?" sagte Paul, und seine Arme brannten wie Feuer. "Vielleicht erzählen Sie mir heute Abend, was in Ihrer Kiste war?" "Klar … mach ich", erwiderte er und wünschte sich, das sie endlich in ihrer Wohnung verschwand. Sie nickte und er nickte zurück. Dann war sie endlich in ihrer Wohnung verschwunden. Paul atmete tief durch und überlegte, ob er die Kiste noch einmal kurz absetzen sollte. Überlegte es sich anders und trug sie, mit außergewöhnlicher Willenskraft und zusammengebissenen Zähnen, bis hinauf in den siebten Stock. "Du – bist", rang Paul fast atemlos nach Luft, als er sie schließlich auf seiner Türschwelle absetzte, "ein – Riesenbaby – von einem – Kätzchen." "Knall!" Paul sprang entsetzt zurück und starrte auf die Kiste. Sie war zu neuem Leben erwacht und mindestens fünf Zentimeter hochgesprungen. Schnell fingerte er seinen Hausschlüssel aus der Hosentasche und hoffte, dass niemand den Lärm gehört hatte. "Du lebst also noch", flüsterte Paul. ,,Knall!“ Wieder war die Kiste hoch gesprungen. Paul stellte den Fuß auf die Kiste. Hätte er es doch nur sofort getan, denn genau in dem Moment ging unten eine Tür, und jemand kam die Treppe hinaufgelaufen. Paul zitterte und ließ den Schlüssel fallen. Hastig hob er ihn wieder auf und versuchte es erneut. Die Schritte kamen immer näher. Endlich hatte er es geschafft und wollte die Kiste in die Wohnung schieben, als sie wie von selbst in die Wohnung sprang. Paul folgte ihr und schloss eilig die Tür hinter sich. Noch während er das tat, hörte er lautes Stöhnen und Fluchen im Treppenhaus. Dann war es mit einem Mal mucksmäuschen still, und Paul presste sein rechtes Ohr an die Tür um zu lauschen. "Bum! – Bum! – Bum!", hämmerte es im gleichen Moment gegen die Tür. Paul wich erschrocken zurück und stürzte über die Kiste. "ICH HABE SIE GEHÖRT, MACHEN SIE SOFORT AUF UND ERKLÄREN SIE DAS!", schallte die Stimme von Herrn Krause durch die Tür. Paul raffte sich wieder hoch und überlegte, was er jetzt tun sollte. Er beschloss, nichts zu tun und einfach abzuwarten. Denn irgendwann würde sein Vermieter schon aufgeben und wieder abhauen. Noch ein paar Mal hämmerte Herr Krause gegen die Tür. Dann stieß er eine Drohung aus: "Sie werden noch von mir hören!“, und verschwand. Erschöpft ließ sich Paul auf der Kiste nieder. "Ja", seufzte er leise, "ich habe Sie gehört." Das war`s also: Morgen, spätestens am Montag würde er sicher seine Kündigung haben. Er erhob sich wieder von der Kiste und sah sie kopfschüttelnd an. "Bist Du wirklich den ganzen Ärger wert?", flüsterte er und fuhr sich dabei durch die Haare. Doch die Kiste blieb stumm und rührte sich nicht. Schließlich bückte sich Paul und trug sie in die Stube, um sie dort so schnell wie möglich zu öffnen. Langsam setzte er sie auf den massiven Stubentisch und holte die Werkzeugkiste aus der Ecke. "So", sagte er und hielt Hammer und Brechstange in der Hand, "gleich bist Du frei." Dann setzte er die Brechstange an und schlug mit dem Hammer zu. Es knarrte, als er das erste Brett entfernte. "Nur keine Angst", sagte er, "ich werde sehr vorsichtig sein." Paul zitterte ein wenig, denn er wusste ja nicht, was für ein Tier ihn erwarten würde. Er dachte an den Mann mit der Bulldogge. Ob er wirklich recht hatte, dass keine Katze in der Kiste war? Er versuchte, nicht daran zu denken und hebelte das zweite Brett von der Kiste. Doch die Gedanken ließen ihn nicht los. Was, wenn es ein gefährliches Tier war? Vielleicht eine Schlange? Aber konnte eine Schlange mit einer Kiste hochspringen? Nein, das war völlig unmöglich, wie sollte sie das denn anstellen? Und das komische Geräusch, das es machte, kam sicher auch nicht von einer Schlange. Paul legte das Brett beiseite, trat einen Schritt zurück und betrachtete die etwa zehn Zentimeter große Öffnung. Doch nichts geschah. Dann beugte er sich langsam zu ihr hinunter um einen Blick hinein zu wagen. Nichts als rabenschwarze Dunkelheit drang ihm entgegen. Er lauschte, aber kein noch so leises Geräusch war zu hören. "Was nun?", überlegte er, und kam auf die Idee, eine Taschenlampe zu holen. Schnell lief er aus der Stube in sein Zimmer. Die Taschenlampe lag gleich auf seinem Schreibtisch. Paul ergriff sie, als ein lautes "Krach! Rumms! Splitter!" aus der Stube zuhören war. Entsetzt fuhr er zusammen und rannte zurück. Abrupt blieb er in der Tür stehen und ließ vor Schreck die Taschenlampe fallen. Sein Blick fiel auf den Boden, wo die Kiste völlig zerbrochen lag. "Du Idiot", beschimpfte er sich selbst, "Du hättest sie nicht allein lassen dürfen." Angst über fiel ihn, und er sah sich hektisch nach allen Seiten um. Langsam hob er die Taschenlampe wieder auf, um wenigstens eine kleine Waffe in der Hand zu haben. Vielleicht konnte er das Tier ja blenden, wenn es ihn anspringen wollte. Seine Hand hatte sie gerade berührt, als er ein leises Kratzen hörte, das aus irgendeiner Ecke der Stube kam. Sofort richtete er sich zitternd mit der Taschenlampe auf und betrat die Stube. Böse Vorahnungen gingen ihm durch den Kopf. Ob sich das Tier bei dem Sturz verletzt hatte und nun besonders gefährlich war? Er lauschte gebannt auf jedes Geräusch. "Knack!" Es kam aus der Ecke, wo sein Benjamini-Baum stand. Paul holte tief Luft und schlich auf die Ecke zu. Was auch immer auf ihn wartete, er würde sich zur Wehr setzten und zuschlagen, wenn es sein musste. Er hoffte es zumindest. Es raschelte, und Paul blieb wie versteinert stehen. Sekunden vergingen – dann hörte er hinter seinem Sofa ein Kratzen. Langsam wandte Paul seinen Kopf. "Also dort bist Du", flüsterte er und schlich mit zunehmender Angst hinüber zum Sofa. Aber vielleicht hatte das Tier ja auch Angst und saß nun völlig verstört dort hinter. "Hey, Du, hör mal!", fing er an, "Ich bin ganz friedlich, ich tue Dir nichts.“ Paul stand jetzt kurz vor dem Sofa. Noch ein Schritt, und er konnte sehen, was sich dahinter versteckt hielt. Er holte erneut tief Luft, zählte in Gedanken bis drei und blickte hinter das Sofa. Dort lag ein altes, dreckiges Taschentuch, aber es gab keine Spur von einem Tier. Verwundert hob Paul die Augenbrauen. Dann wurde er mutiger und bückte sich hinunter zum Sofa. Aber da war nichts weiter als Staub. So langsam wurde es ihm unheimlich. Er kroch unter den Tisch - ebenfalls nichts. Er blickte zum Benjamini-Baum, als das Telefon schrillte. Paul fuhr erschrocken hoch und knallte mit dem Kopf unter die Tischplatte. "Meier", brummte er schlechtgelaunt in den Hörer und rieb sich dabei den Kopf. "Hi, Alter, ich hoffe Du hast Dir nicht schon wieder auf die Zunge gebissen?", klang Toms Stimme vom anderen Ende der Leitung. Wollt nur mal hören, wie es Deinem neuen Mitbewohner geht." "Hi, Tom." Paul und verdrehte die Augen, als ihm wieder einfiel, dass er ja heute Abend vorbeikommen wollte. "Das Kätzchen hält Dich wohl ganz schön auf Trab, was?" "Hör mal, ich habe eben überhaupt keine Zeit, und wegen heute Abend ...""Geht mir genauso", unterbrach ihn Tom. "Ich wollte Dir eigentlich nur Bescheid geben, dass es heute Abend nicht klappt." "Du kommst also nicht?“, seufzte Paul fast erleichtert in den Hörer. "He, Alter, nimm`s locker, aber mir ist leider etwas dazwischen gekommen.""Und wie heißt sie diesmal, die Un..., äh, Glückliche?" "Sie ist die Traumfrau meines Lebens und ..." Paul pustete in den Hörer. "He, was war das denn für ein Rauschen? Ist Dein Telefon etwa nicht in Ordnung?", wollte Tom wissen. "Ja, leider", nahm Paul seine Idee sofort auf und pustete noch einmal in den Hörer. "Tut mir - Rausch, aber das kannst Du mir … ja später noch – Rausch - ... " Dann legte Paul einfach auf. Er hatte einfach genug von seinen Frauengeschichten. Immerhin hatte es ja auch etwas Gutes, Tom kam nicht auf einen Sprung vorbei. Plötzlich hörte Paul ein seltsames Geräusch und stürmte in die Stube. Es war ein Anblick des Grauens. Er traute kaum seinen Augen. Wie erstarrt sah er in die Ecke, wo sein Benjamini-Baum stand. Er war vollkommen zerpflückt und – hatte keine Blätter mehr. Paul blickte sich ungläubig um. Nicht ein einziges Blatt lag auf dem Boden. Kurz machte er sich Sorgen um das Tier, dann stieg Wut in ihm auf. "Du gemeines Biest!" rief er. "Ist das etwa der Dank dafür, dass ich Dich vor der Alten gerettet habe? Wer weiß, auf welchem Grund eines Sees Du jetzt liegen würdest?" Paul hielt kurz inne und ließ seine Blicke durch die Stube schweifen. "Komm und zeig Dich, wenn Du kein Feigling bist!" Doch weder ein Kätzchen noch irgendein anderes Tier zeigte sich. "Also gut, wenn Du Krieg willst." Paul wirbelte herum und fing an, die ganze Wohnung auf den Kopf zu stellen. "Ich erwisch Dich schon, Du verfressenes Monster!", rief er und kroch in alle Ecken seiner Wohnung. "Du kannst Dich ja nicht ewig verstecken!" Nach einer Stunde ließ er sich erschöpft in seinen Sessel sinken. Er hatte einfach alles durchsucht. Das einzige, was er nebenbei wieder fand, war seine alte Socke, die - warum auch immer - zwischen einem seiner Bücher im Regal steckte. Sein Gesicht war ausdruckslos und enttäuscht. Welches Tier konnte sich nur so meisterhaft in seiner kleinen Wohnung verstecken? "Vielleicht ein hüpfendes Chamäleon?", überlegte er murmelnd und betrachtete kritisch die Stube. Nach einer Weile erhob er sich wieder von seinem Sessel. Es half nichts, wenn er das Tier finden wollte, musste er wohl oder übel noch mal ran und alle Zimmer durchsuchen. Der Mond hatte die Sonne längst abgelöst, als er endlich die Suche erfolglos aufgab. Keinen noch so kleinen Winkel hatte er ausgelassen, selbst in seiner Waschmaschine und dem Herd sah er nach. So langsam fing er an, an seinem Verstand zu zweifeln. Traurig betrachtete er seinen völlig zerpfückten Benjamini-Baum. Irgend jemand musste ihn doch so zugerichtet haben. Plötzlich fiel ihm etwas ein, das überhaupt nichts mit dem Tier zu tun hatte. Frau Albrecht hatte ihn doch eingeladen. Wie konnte er das nur vergessen. Er starrte zur Uhr, es war gleich halb zehn. Paul stieß einen tiefen Seufzer aus. Das hatte sich also auch erledigt. Ohnehin konnte er nicht einfach die Wohnung verlassen, bevor er das Tier gefunden hatte. Nein, zuerst musste er Gewissheit darüber haben, was sich in der Kiste befand. Doch für heute hatte er genug Stress gehabt. Morgen würde er sicher wieder klarer denken können. "Mach von mir aus, was Du willst!", schallte seine Stimme durch die Wohnung, während er zu seinem Zimmer ging und die Tür öffnete. Paul gähnte, als er sich noch einmal umschaute. "Glaub mir, morgen finde ich Dich, und wenn ich die ganze Wohnung auseinandernehmen müsste." Er schüttelte den Kopf, denn er war sich ganz sicher, das er dass alles nur träumen würde.