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Tante Emma

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Irgendwann fiel er in einen tiefen, unruhigen Schlaf und wälzte sich hin und her. Ihm war, als hörte er ein Geräusch, und es klang als käme es direkt aus der Küche. Vermutlich war das Biest jetzt dort. Er stand auf und verließ lautlos das Zimmer. An der Küchentür blieb er stehen und lauschte. Irgendetwas schleifte auf dem Fußboden entlang. Mit äußerster Vorsicht blickte er um die Ecke und erschrak. An seinem Herd stand eine von Würmern zerfressene alte Mumie und kochte eine Schlangensuppe. Fast zu Tode erschreckt stieß Paul einen Schrei aus und wachte auf."Es war nur ein dummer Albtraum, ein Albtraum", sagte er immer wieder und setzte sich schwer atmend in seinem Bett auf. Erleichtert wanderte sein Blick zum Fenster. Über den Dächern ging schon die Sonne auf. "RUMMS! SCHEPPER! KNALL!", drang es plötzlich durch die Wohnung, und dieses Mal war es kein Traum. "Verdammtes Biest", fuhr Paul entsetzt zusammen, "es verwüstet noch meine ganze Wohnung." Mit einem Satz war er aus dem Bett, schlüpfte in seine Hausschuhe, setzte sich die Brille auf und war schon fast an der Tür, als er den Baseballschläger sah. "Nur für den äußersten Notfall", murmelte er, schnappte ihn sich und verließ das Zimmer. Einen Moment lang war alles still. Dann drang ein unüberhörbares Schnalzen, Schmatzen und Kratzen aus der Küche. Paul schlich bis zur Küchentür, die er besser gestern geschlossen hätte. Er verharrte kurz, holte tief Luft und stellte sich entschlossen mit erhobenem Baseballschläger in die Tür. Eine Welle aus Wut, Hass und Zorn überkam ihn. Seine Küche war ein Ort der Verwüstung. Als hätte eine Bombe eingeschlagen. Tisch und Stühle waren umgekippt und bildeten eine Barriere vor ihm. Der Fußboden war von den Scherben seiner Lieblingstasse übersät. Seine Ex-Freundin Sam hatte sie ihm zum Geburtstag geschenkt. Ironischerweise war "Für immer Dein" auf ihr zu lesen gewesen. Paul schüttelte den Kopf, er hatte gestern vergessen, den Tisch abzuräumen. Mit einem Brummen ignorierte er die Sauerei auf dem Boden und setzte einen Fuß in die Küche. Es knirschte unter seinem Hausschuh, als er in eine Kaffeepfütze trat. Doch das störte ihn nicht, genauso wenig wie die Butter, die am Kühlschrank klebte. Paul ging langsam weiter auf den Tisch zu. Dann blieb er stehen, schob die beiden Stühle beiseite und sah hinter den Tisch. Was immer er geglaubt oder gehofft hatte, dort vorzufinden: Er wurde enttäuscht. Seine Augen starrten auf einen Haufen von Bananen-und Apfelschalen, zerquetschten Tomaten und Mohrrüben. Aber ein Tier befand sich dort nicht. Langsam ließ er den Baseballschläger sinken und sah auf die Scheibe Brot die er gestern nicht aufgegessen hatte. Sie lag ausgespuckt zwischen den Apfelschalen. Nur von der Salami und dem Käse fehlte jede Spur. Noch während er anfing, die Küche aufzuräumen, kam ihn eine Idee. Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, als er die letzten Scherben auffegte und daran dachte, was er vorhatte. Schließlich wandte er sich zum Kühlschrank und öffnete ihn. Seine Hand griff zu dem Käse und den letzten Scheiben Salami. Er wollte den Kühlschrank schon schließen, als er den extra-scharfen Löwensenf sah.Vielleicht konnte er dem Biest damit eine Falle stellen. Er schloss den Kühlschrank, schnitt die Wurst und den Käse in kleine Stücke und verteilte sie in der Wohnung. Die Köder für die Bestie waren also ausgelegt. Paul blickte noch einmal auf die Spur, die er vom Flur bis in die Stube gelegt hatte. Dann zog er sich in sein Zimmer zurück und versuchte, sich in seine Bücher zu vertiefen. Nach einer Weile hob er den Kopf und überlegte. Was wäre, wenn das Tier einen sehr empfindlichen Magen hätte? Energisch schüttelte er Kopf. Und wenn schon, schließlich hatte es ja auch seinen Benjamini-Baum halb aufgefressen. Er las weiter. "Nein", seufzte er, so ein gemeiner Kerl war er nicht. Er schlug das Buch zu. Das mit dem extra-scharfen Löwensenf ging eindeutig zu weit. Dabei hatte ihn Paul nur zufällig im Kühlschrank, weil er sich im Regal vergriffen hatte. Er stand gerade von seinem Stuhl auf, als er ein seltsames Geräusch auf dem Flur hörte. Eilig ging er zur Tür und riss sie auf. Hoffentlich war es noch nicht zu spät. Sein Blick fiel auf den Boden. Es war zu spät, der Köder auf dem Flur war bereits verschwunden und mit ihm der Senf. "Oh verdammt!", stieß er aus und rannte auf die Stube zu. "FLATSCH! RUMMS!" Kurz vor der Tür war Paul auf einem Stück Käse ausgerutscht, das er ausgelegt hatte. "AU!" Hastig wirbelte er mit Händen und Füßen herum, damit er schnell wieder auf die Beine kam. Er spürte etwas und packte blindlings zu. Doch da war nichts, was er festhielt. Er starrte auf seine Hände, als es plötzlich geschah: Wie aus dem Nichts tauchte auf einmal etwas Grünes, Langes zwischen seinen Fingern auf. Und es sah aus wie eine Schlange. Wenn er jetzt los ließ, würde sie ihn sicher beißen. In Todesangst schaffte er es endlich wieder auf die Beine zu kommen. Paul schüttelte den Kopf. Das konnte unmöglich eine Schlange sein. Er starrte auf das Ding, das an statt länger nun größer und breiter wurde. Es bekam kleine, dicke Pranken sowie kleine, grüne Höcker auf seinem Rücken. Paul traute seinen Augen kaum. Doch es bestand kein Zweifel, die Kreatur, die jetzt ihren Kopf zu ihm wandte und ihn anfauchte, war ein kleiner, grüner Drache. Sofort ließ Paul vor Schreck seinen Schwanz los. Die Augen des Drachen funkelten, und aus seinen Nüstern stiegen kleine Rauchwölkchen auf, als er zu Paul hinaufsah. Dann öffnete er sein Maul, und zu Pauls Überraschung fing er an zu sprechen: "Zieh mir ja nicht nochmal am Schwanz, verstanden?" Er schnaubte, drehte sich um und tappte den Flur entlang Richtung Küche. Einen Moment lang starrte ihm Paul nach, wie er in der Küche verschwand. Dann folgte er ihm. "Du willst mir also allen Ernstes einreden, dass Du ein sprechender Drache bist?", sagte er und stellte sich in die Küchentür. Der Drache, der gerade seinen Kopf im Abfalleimer stecken hatte und nach Essbarem schnüffelte, brummte irgendetwas Unverständliches, bevor er wieder zum Vorschein kam. "Ich", schmatzte er und kaute auf einer Apfelschale herum, "will Dir überhaupt nichts einreden." Er spuckte die Apfelschale im hohen Bogen gegen die Küchentür. "Aber ja, ich bin ein sprechender Drache, wenn Du das meinst?", sagte er und schnüffelte weiter durch die Küche, bis er schließlich vor Paul stehen blieb. "Also machen wir es kurz, ich habe Hunger."

"Dann solltest Du dahin gehen, wo Du etwas bekommst." Damit ließ er ihn stehen und ging in die Stube.

"He, so behandelt man aber keinen Gast!", rief er und trabte hinter ihm her.

"Ich habe mich wohl verhört", wirbelte Paul wütend herum, "Du bist kein Gast." Der Drache knurrte und stieß ihm eine schwarze Rauchwolke ins Gesicht. "Kein Gast, meinst Du?", fauchte er, während Paul husten musste. "Mal überlegen", schnaufte der Drache weiter: "Wer hat mich denn wohl in dieser engen Kiste hierher geschleppt?" Paul hustete immer noch und war dabei, das Fenster zu öffnen. "D... du, wa... warst, nie... niemals in dieser verdammten Kiste", prustete er und riss das Fenster auf. Der Drache sah auf die Überreste der Kiste, die immer noch in der Stube herumlagen. "Ich weiß nicht, wie Du hier herein gekommen bist", sagte Paul, der wieder zu Atem gekommen war. "Vielleicht bist Du ja einfach durch das Fenster hereingeflogen." In dem Moment stieß der Drache einen erbärmlichen Schrei aus, der Paul durch Mark und Bein fuhr. "Ich soll geflogen sein?", brüllte der Drache und seine Augen glühten vor Wut. "Nennst Du das etwa Flügel?", zischte er und breitete etwas auf seinem Rücken aus, das nur mit viel Fantasie an Flügel erinnerte.

"Nein", sagte Paul verlegen. "Das nenn ich ganz sicher nicht Flügel. Und trotzdem - in der Kiste kannst Du unmöglich gewesen sein."

"Heute würde ich nicht mehr hineinpassen", brummte der Drache leise, "aber gestern schon."

"Was? Soll das etwa heißen, Du bist nur an einem Tag fast einen halben Meter gewachsen?"

Paul erschrak selbst über seine Worte. "Das würde ja bedeuten, dass Du in einer Woche ..." Doch er sprach es nicht aus und starrte ihn entsetzt an. Der Drache pustete. "Jetzt reg Dich mal wieder ab. Ich werde nicht mehr wachsen, klar?" "Bist Du sicher?", fragte Paul sichtlich überrascht.

"Ganz sicher. Das heißt: Normalerweise würde ich schon wachsen, aber Dir das zu erklären ..." Er gähnte und sprang auf das Sofa, das gefährlich unter ihm ächzte und knarrte. "... ist wirklich eine sehr langatmige Geschichte."

"He, Du willst Dich doch wohl hier nicht breit machen, oder?" "Keine Beleidigung mehr, ja?"

"Ja – ich meine nein. Ich wollte damit nur sagen, dass Du hier nicht bleiben kannst."

"Keine Sorge, morgen Abend bist Du mich wieder los", sagte der Drache und schloss die Augen.

"Moment mal, Du kannst Dich nicht einfach auf mein Sofa legen und einschlafen." Doch der Drache antwortete nicht mehr. Paul schüttelte den Kopf. "Oh Mann, das glaubt mir doch kein Mensch", seufzte er und ließ sich in seinen Sessel fallen. Ein sprechender Drache, das konnte doch nur ein Traum sein, wenn auch ein ziemlich realer. Vielleicht sollte er seinem Vermieter den Drachen zeigen? Unsinn, denn wie erklärte er ihm dann, wie er überhaupt in seine Wohnung gekommen war? Ein Grummeln drang vom Sofa herüber, und der Drache öffnete seine Augen. "Ich kann einfach mit leerem Magen nicht einschlafen", brummelte er.

"Das tut mir aber leid", erwiderte Paul schlecht gelaunt. "Der Kühlschrank ist leer, und für alles andere hast Du ja gesorgt." Er deutete auf den Rest des Benjamini-Baums. Der Drachen rümpfte die Nase. "Diese Blätter waren wirklich nichts für meinen Geschmack. Sie waren ja noch schlimmer als verbrannte Grasnarben."

"Ach, und warum hast Du sie dann gefressen?" Paul kochte vor Wut. "Guck ihn Dir doch an, er ist völlig zerfetzt."

"In der Not frisst ein Drache auch schon mal Blätter, die er nicht mag." Paul sprang von seinem Sessel auf und wollte ihn anschreien, als es an der Tür klingelte. "Wer ist das?", erschrak der Drache und versteckte sich hinter dem Sofa. "Höchstwahrscheinlich mein Vermieter." Paul ging hinaus auf den Flur. Vorsichtig äugte er durch den Türspion und war überrascht. "Hallo Frau Albrecht", begrüßte er sie, nachdem er die Tür geöffnet hatte.

"Ich dachte, ich schau mal kurz bei Ihnen vorbei.", sagte sie, "weil Sie doch gestern ..."

"Oh ja, richtig, natürlich Ihre Einweihungsparty", unterbrach er sie. "Ich wäre wirklich gern gekommen, aber leider ist mir etwas dazwischen ..." Es rumpelte aus der Stube.

"Ach, Sie haben Besuch?", fragte Frau Albrecht und versuchte neugierig an ihm vorbei zusehen.

"Ja – ich meine, eigentlich nicht. Das heißt, irgendwie schon – aber nicht wirklich." Verärgert und nervös blickte er zur Stube.

"Sie scheinen mir ein bisschen gestresst zu sein. Entschuldigen Sie, wenn ich Sie bei irgendetwas gestört haben sollte."

"Aber nein", drehte er sich mit einem verkrampften Lachen wieder zu ihr. "Ich habe nur – einen alten Freund zu Besuch. Er stand plötzlich vor meiner Tür."

"Ein Überraschungsbesuch?" Sie sah ihn zweifelnd an.

"Oh ja", räusperte er sich, "und was das für eine Überraschung war. Sie glauben mir wohl nicht?"

"Herr Meier, warum sollte ich Ihnen denn nicht glauben?" "Keine Ahnung".

"Sicher stand er gerade vor Ihrer Tür, als Sie zu mir herunterkommen wollten", sagte sie und sah ihm dabei direkt in die Augen. Paul zögerte kurz. "Ja, … äh, genauso war`s", bestätigte er schließlich.

"Und Sie konnten ihn dann natürlich nicht einfach so wegschicken."

"Schön, dass Sie dafür Verständnis haben", sagte Paul. "Allerdings wäre es schön gewesen", fügte sie an, "wenn Sie mir kurz Bescheid gegeben hätten."

"Natürlich – Sie haben recht, tut mir leid", entgegnete er verlegen, und eine peinliche Stille trat ein, die von einem erneuten Geräusch unterbrochen wurde. "Ach ja", versuchte Paul so überzeugend wie möglich zu klingen, "mein … Freund ist gerade dabei, meinen alten Fernseher zu reparieren."

"Ihr alter Freund repariert also gerade Ihren alten Fernseher", wiederholte sie, und ein Anflug von einem Lächeln spielte um ihren Mund. Paul nickte. "Na, dann will ich nicht weiter stören", sagte sie und wollte sich schon verabschieden. "Oh, beinahe hätte ich es vergessen, "Herr Krause ist mir eben im Treppenhaus begegnet und hat mich gebeten, Ihnen diesen Brief zu geben." Schweigend nahm er ihn entgegen. "Ich hoffe", sagte Frau Albrecht, "Sie bekommen keine Unannehmlichkeiten."

"Ich fürchte doch", murmelte er und begab sich mit dem Blick auf den Brief zur Tür.

"Ist alles in Ordnung?"

"Wünsche Ihnen noch einen schönen Tag", erwiderte Paul halb abwesend und verschwand in seiner Wohnung. Er schloss die Tür und betrat die Stube, ohne den Drachen zu beachten. Dann, in Gedanken verloren, riss er den Brief auf. "Ach, wir sind alte Freunde? Das wusste ich ja gar nicht", sagte der Drache, als er mit Pauls kleinem Radio herumspielte. Doch Paul schwieg und las den Brief. Der Drache räusperte sich. "Das hat sich aber eben gar nicht nach Deinem Vermieter angehört."

"Leg es weg", befahl Paul mit versteinerter Miene und zerriss den Brief in kleine Stücke. Es war die Kündigung, wie er befürchtet hatte. "Ist das der Fernseher, den ich angeblich reparieren soll?", fragte der Drache und sah das Radio schief an.

"Verdammt noch mal!", fluchte Paul. "Leg es sofort dort hin, wo Du es hergenommen hast."

"Schon gut", sagte der Drache. "Ich weiß sowieso nicht, wie man das Ding repariert." Er betrachtete es noch einmal und stellte es dann zurück an seinen Platz. Paul kochte innerlich vor Wut und hätte ihn am liebsten angeschrien, aber aus irgendeinem Grund konnte er es nicht. Er drehte sich von ihm weg und ließ sich frustriert in seinen Sessel sinken. "He, was ist los mit Dir?", fragte der Drache. "Du siehst auf einmal so blass im Gesicht aus? Bist Du etwa krank?" Langsam ging er auf Paul zu. "Glaubst Du, es ist alles meine Schuld?" Doch nur ein müdes Seufzen drang ihm entgegen. Paul überlegte und blickte ihn an, wie er so vor ihm stand. "Nein, Du hast keine Schuld."

"Wer dann?"

"Na ja", sagte Paul, "im Zweifelsfall wohl ich." Er wusste, wenn er nicht auf den Markt gegangen wäre, dann …

"Rede keinen Unsinn", sagte der Drache und schüttelte entschieden den Kopf. "Weißt Du, wer an allem Schuld ist?" "Nein, wer?"

"Das kann ich Dir ganz genau sagen ..."

Doch in dem Moment rumorte es so heftig in seinem Magen, dass er laut aufstoßen musste. Eine Rauchwolke entwich ihm und ließ ein Brandfleck auf Pauls Sessellehne zurück. "Das war eindeutig meine Schuld", gestand der Drache sofort. Paul hob die Augenbrauen und nickte schweigend. "Aber", verteidigte er sich, "mein Magen ist fast leer und das verheißt nichts Gutes." Er fuhr sich über seinen Bauch.

"Nichts Gutes?", sagte Paul. Der Drache trat ein paar Schritte zurück. "Ich will Dich ja nicht unnötig beunruhigen ..."

"Aber was?", fragte Paul, um es abzukürzen.

"Ich spucke Feuer, wenn ich nicht bald was zu essen bekomme."

"WAS?", erschrak Paul. "Bedeutet das etwa, Du steckst dann die Wohnung und das ganze Haus in Brand?" "Höchstwahrscheinlich schon. Aber ich tue das nicht mit Absicht, denn wenn mein Magen leer ist, kommt es zu einem Überschuss von Magenfeuersäure, den ich dann nicht mehr kontrollieren kann."

"Magenfeuersäure?", wiederholte Paul. "Meinst Du etwa Sodbrennen?" Der Drache nickte. "Und wie viel Zeit bleibt uns noch, um das zu verhindern?"

"Ich schätze mal, bis die Sonne untergeht."

"Ganz ruhig", murmelte Paul vor sich hin, "jetzt nur keine Panik." Er erhob sich aus dem Sessel. "Heute ist Sonntag", murmelte er weiter. "Das bedeutet, dass alle Geschäfte zu sind! Verdammt nochmal!", fluchte er laut und raufte sich die Haare. "Denk nach, es muss doch irgendwo etwas Essbares geben." Paul wanderte in der Stube auf und ab.

"Ich habe schon überall nachgesehen", sagte der Drache, "aber leider gibt es hier nichts mehr zu holen." Paul blieb stehen und sah ihn vorwurfsvoll an. Denn er hatte nicht ihn, sondern sich selbst gemeint. Er warf einen Blick aus dem Fenster, noch war es hell draußen. "Ich glaube, ich weiß, wer uns vielleicht helfen könnte", sagte er.

"Du meinst die nette Frau von vorhin?"

"Nein, auf keinen Fall", schüttelte Paul den Kopf.

"Aber Du meinst doch wohl nicht etwa Deinen Vermieter, diesen Blödmann?"

"Machst Du Witze? Natürlich nicht. Hör zu, ich werde jetzt losrennen und uns etwas zu essen besorgen. Inzwischen wirst Du hier ganz ruhig sitzen bleiben und nichts anstellen, verstanden?"

"Und was ist, wenn ich wieder aufstoßen muss?", fragte der Drache seufzend. Paul überlegte kurz, dann hatte er eine Idee. "Komm mit, ich zeig Dir was." Der Drache folgte ihm zum Badezimmer. "Meinst Du, Du kannst da rein spucken?" Der Drache besah sich die Toilette. "Da rein, meinst Du?", der Drache verzog das Gesicht.

"Was ist, hast Du damit etwa ein Problem?"

"Nein, ich werde es versuchen."

"Nicht nur versuchen", sagte Paul und blickte ihn streng an. "Schon gut, ich werde es tun."

Keine Minute später hatte Paul die Wohnung verlassen. Seine größte Angst war, dass ihm sein Vermieter im Hausflur begegnen könnte. Doch er hatte Glück, er traf niemanden. Draußen lief er sofort die Viktoriastraße entlang, bog dann in eine kleine Seitengasse und rannte auf ein kleines, verwinkeltes Haus zu. Schon von weitem las er das Schild "Tante-Emma-Laden". Natürlich hatte er geschlossen. Paul blieb am Schaufenster stehen und presste seine Nase gegen die Scheibe. Es war dunkel und keiner war zu sehen. Nervös hob er die Faust und schlug vorsichtig gegen die Scheibe. Er hatte es vor einiger Zeit schon einmal getan, und es hatte ihm jemand geöffnet. Nur dieses Mal schien er kein Glück zu haben. "Vielleicht hört sie mich nicht", flüsterte er und sah sich unauffällig um. Die Gasse war leer. Paul wandte sich wieder der Scheibe zu, hob die Faust und holte aus.

"Halt!" rief plötzlich unmittelbar eine Stimme hinter ihm. Paul fuhr entsetzt herum. Vor ihm stand eine kleine alte Frau und schüttelte den Kopf. Sie trug ein zerschlissenes Kleid, dessen Farben kaum noch zu erkennen waren, und ihr schneeweißes Haar hatte sie zu einem Dutt zusammengesteckt. "Was hast Du vor, etwa meine Schaufensterscheibe ein zuschlagen?"

"Oh, Tante Emma, Du hast mich fast zu Tode erschreckt", keuchte Paul.

"War auch meine Absicht", sagte sie ernst. Doch dann lächelte sie. "Paul, mein Junge, was hast Du auf dem Herzen?" Er lächelte ebenfalls. Dann räusperte er sich. "Es tut mir leid, wenn ich störe, aber es ist ein Notfall."

"So, so, ein Notfall", murmelte sie und betrachtete ihn eine Weile, als wollte sie seine Gedanken lesen.

"Bitte!", flüsterte Paul und dachte dabei an den Drachen. "Was? - Aber ja, natürlich helfe ich Dir. Komm mit." Sie ging zur Ladentür und schloss sie auf. "Lass mich raten", sagte sie, als Paul ihr in den Laden folgte, "Du hast mal wieder nichts zu essen im Haus, richtig?"

"Schlimmer", sagte Paul. Die Alte nickte, und schloss eilig die Tür hinter ihm, als sie den Raben bemerkte der sich auf der anderen Straßenseite auf einem Zaun niedergelassen hatte. "Wenn Du nicht wärst dann", begann Paul.

"Oh, kein Grund für Schmeicheleien, mein Lieber. Du vergisst, dass Du einer meiner liebsten Stammkunden bist." Sie blickte heimlich aus dem Fenster und beobachtete den Raben, der immer noch auf dem Zaum saß. "Ich hoffe nur, Dir ist niemand gefolgt? Du weißt, wenn jemand herausfindet, dass ich an einem Sonntag etwas verkaufe – dann …"

"Keine Angst, mir ist niemand gefolgt", versicherte Paul. Die Alte nickte zufrieden. Jeder hier am Ort, der sie kannte, nannte sie nur liebevoll Tante Emma. Sie selbst wollte es so und war mit jedem per du. Als Paul sie einmal nach ihrem richtigen Namen fragte, lachte sie nur kurz auf und meinte: "Meinen Namen willst Du wissen? Was erhoffst Du Dir davon, mich dann etwa besser zu kennen?" Er sah sie erstaunt an und sie flüsterte: "Sag mir, macht es denn irgendeinen Unterschied, wenn beispielsweise ein böses Wesen, egal ob Mensch, Tier oder …", sie brach ab, räusperte sich und fuhr fort: "einen freundlichen, liebevollen Namen hätte?" Paul schüttelte etwas verwirrt den Kopf, mit so einer Antwort hatte er nicht gerechnet. Die Alte lächelte. "Und außerdem", fügte sie geheimnisvoll an, "habe ich ihn schon vor sehr langer Zeit vergessen." Damit war das Thema für sie erledigt, und Paul fragte nie wieder nach ihrem Namen. Es war schon sonderbar, jedesmal, wenn Paul ihren Laden betrat, hatte er das Gefühl, wie in eine andere Welt einzutauchen. Vielleicht lag es aber auch nur an den vielen Gerüchen von Kräutern, Gewürzen und altem Holz, die ihm in die Nase stiegen. Der Laden war alt wie seine Besitzerin und dennoch gemütlich und irgendwie vertraut. Er hatte keine Ahnung, warum er das so empfand. Sicher lag es auch daran, weil er das Alte so mochte. Paul hatte einfach einen Draht zu alten, geheimnisvollen Dingen. Der Laden bestand aus vielen kleinen Holzregalen, so dass auch Tante Emma, die recht klein geraten war, mühelos überall herankam. "Wo bist Du, Tante Emma?", rief Paul, weil er sie auf einmal nicht mehr sah.

"Direkt unter Deiner Nase."

"Oh, entschuldige !", lächelte er verlegen. "Ich habe ..." "Ach, Papa la pap ! Ich bin nun mal klein. War so, ist so und sollte wohl auch so sein." Sie wuselte vor ihm her und hinter die Ladentheke. "Ist alles in Ordnung, Tante Emma?", fragte Paul, weil sie ihm sehr nervös vorkam.

"Einiges ja und einiges nein, wie es eben so ist im Leben." Sie schüttelte den Kopf. "Aber das verstehst Du nicht und wirst es auch nie verstehen." Paul wunderte sich über ihr Verhalten, denn normalerweise konnte sie doch über alles mit ihm reden. Sie schien ernsthafte Probleme zu haben, wenn sie anfing, ihn wie einen dummen Schuljungen zu behandeln. "Warum werde ich es nie verstehen?", fragte er etwas beleidigt. Tante Emma winkte ihm zu, und er beugte sich über die Ladentheke. "Glaub mir, mein Junge", flüsterte sie, "es ist besser, Du weißt nichts von meinen Problemen."

"Ja gut – aber …," setzte er vorsichtig an. Doch sie hob sofort abwehrend ihre Hand, und er schwieg. "Bist ein guter Junge, aber Du würdest es nie verstehen," wiederholte sie seufzend.

"Tut mir leid, ich wollte nicht aufdringlich sein, aber wenn ich Dir irgendwie helfen kann ..."

,,Nein, Du bist nicht aufdringlich, und es ist nett von Dir dass Du mir helfen willst." Sie legte ihre Hand auf die seine und lächelte. "Mach Dir keine Sorgen um mich, ich komm schon klar", flüsterte sie. Paul nickte. "Also mein Junge, was darf`s denn sein?", fragte sie fröhlich und schien wie ausgewechselt. "Ich höre?"

"Zehn Kilo Fleisch", sagte er, ohne groß darüber nachzudenken.

"Was, zehn Kilo Fleisch?", wiederholte sie überrascht und alarmiert zugleich. Paul schüttelte verärgert über sich selbst den Kopf. "Ja, ich hab`s vergessen, Du verkaufst alles – außer Fleisch." Paul überlegte schnell, was er jetzt machen sollte und schaute zu den Regalen. "Dann hast Du bestimmt auch kein Hunde- oder Katzenfutter, stimmt's?"

"Ja, normalerweise verkaufe ich solche Dinge nicht."

"Wie meinst Du das?“, drehte er sich wieder zu ihr um. "Soll das etwa heißen, Du verkaufst doch Fleisch?"

"Nein, tue ich nicht", widersprach sie energisch und sah ihn neugierig an. "Sag mal, wofür brauchst Du zehn Kilo Fleisch, und Hunde- oder Katzenfutter?" Paul fuhr sich nervös durch die Haare. "Nein, ich brauche kein Tierfutter. Ich weiß selbst nicht, wie ich darauf gekommen bin. Aber ich muss unbedingt das Fleisch irgendwo herbekommen."

"Wie mir scheint, hast Du auch ein Problem", sagte sie. "Was willst Du eigentlich mit soviel Fleisch?" wiederholte sie ihre Frage.

"Bitte sei mir nicht böse", sagte Paul, "aber ich ..."

"Ach Du liebe Zeit, bin ich heute wieder neugierig“, unterbrach ihn Tante Emma. "Natürlich bin ich Dir nicht böse, denn es ist ganz alleine Deine Sache was Du mit dem Fleisch vor hast." Dann blickte sie sich um und verschwand hinter einem Vorhang. "Wo willst Du hin?", fragte Paul.

"Bin gleich zurück!", rief Tante Emma, und dann murmelte sie etwas, das Paul nicht verstand. Er sah auf den Vorhang und zuckte mit einem Mal zusammen. War das eben ein Blitz, den er gesehen hatte? "Tante Emma ..." ,"WUSCH!" Der Vorhang wehte zur Seite, und sie stand mit einem großen Paket vor ihm. "Es ... ist … direkt ein Wunder," ächzte sie, "dass ich so ein großes Stück Fleisch überhaupt bei mir habe." Sie wuchtete es auf die Ladentheke und schlug mit der flachen Hand drauf.

"Woher hast Du es denn?", fragte Paul überrascht und erleichtert zugleich.

"Na, na, wer wird denn gleich so neugierig sein?" Paul zog die Augenbrauen hoch, sagte aber kein Wort. "Es ist ganz frisch, habe es erst gestern am späten Nachmittag bekommen. Nur zerkleinern musst Du es selber."

"Kein Problem." Paul griff zu seinem Portmonee. "Was macht das?" Doch Tante Emma reagierte nicht und starrte an ihm vorbei zum Eingang. Unbewusst fiel sein Blick auf einen kleinen Spiegel, der hinter ihr hing und in dem er den Eingang sehen konnte. Eine dunkle Gestalt stand draußen auf der Straße, und Paul spürte, dass sie Ärger machen könnte. Unauffällig blickte er über seine Schulter zum Eingang, doch die Gestalt war plötzlich verschwunden. "Wer war das?“, fragte Paul.

"Du musst jetzt gehen", erwiderte Tante Emma, und ihre Stimme klang auf einmal seltsam fremd.

"Ist alles in Ordnung?"

"Nimm das Fleisch und geh!", wiederholte sie und starrte weiter unablässig auf die Ladentür. Paul schob sich langsam vor sie und versperrte ihr die Sicht. "Ich habe das Fleisch noch nicht bezahlt", sagte er. Tante Emma zuckte kurz, als habe sie eben mit offenen Augen geträumt. Dann zwinkerte sie und bemerkte das Portmonee in seiner Hand. "Ist schon gut, das regeln wir später."

"Und die Gestalt dort draußen?", versuchte er es noch einmal.

"Wer ...?" "Keine Fragen, hörst Du?", fiel sie ihm ins Wort. "Das geht nur mich etwas an." Sie kam hinter der Theke hervor. "Aber, Tante Emma, ich ..."

"Schluss jetzt!" Und ihre Stimme klang unmissverständlich. "Nimm endlich das Paket und geh!" Paul holte tief Luft und griff sich das Paket. Er schaute sie an und sah ein seltsames Funkeln in ihren Augen. "Komm hier entlang", sagte sie und führte ihn hinter die Theke zum Vorhang. "Es ist besser, Du verschwindest durch den Hintereingang." Sie deutete auf eine Tür. "Dort gelangst Du auf den Hinterhof."

"Bekommst Du jetzt etwa Ärger?", fragte Paul besorgt. "Nein, und jetzt lauf schon und blick nicht zurück!" Paul nickte, schulterte das Paket und rannte durch die Tür auf den Hinterhof und weiter auf die Straße. Kein Auto, keine Menschenseele war zu sehen. Nach hundert Metern blieb er stehen und verschnaufte. Er kam sich fast wie ein Dieb auf der Flucht vor. Das Fleischpaket hatte ihn ganz schön außer Atem gebracht. Er schulterte es sich noch einmal ordentlich und ging dann weiter die Straße hinunter. Ein älteres Ehepaar auf der anderen Straßenseite warf ihm einen Blick zu, und er beschleunigte seinen Gang. Jetzt musste er nur noch um die nächste Straßenecke, dann hatte er es geschafft. Mit einem Mal dachte er an den Drachen und rannte das letzte Stück. Hoffentlich kam er noch nicht zu spät. Er lief um die Ecke und starrte auf das Haus. Für einen Moment stockte ihm der Atem. War das etwa Feuer? Doch dann erkannte er, was es war. Das Licht der Sonne spiegelte sich in den Fenstern, und von Feuer und Rauch war nichts zu sehen. Erleichtert ging er auf die Haustür zu, betrat das Treppenhaus und machte sich an den Aufstieg. Seine schweren Schritte waren die einzigen Geräusche, die zu hören waren. Viele Stufen später hatte er sein Ziel erreicht. "Geschafft", stöhnte er leise, als plötzlich stimmen aus seiner Wohnung drangen. Kreidebleich starrte er auf die Tür. Hatte sein Vermieter etwa gewagt, seine Wohnung zu betreten? Zitternd zog er den Schlüssel aus seiner Hosentasche und schloss die Tür auf. Kaum hatte er die Wohnung betreten, waren auch die Stimmen verstummt. Paul schloss hinter sich die Tür und lauschte. Kein Geräusch war zu hören. Ganz vorsichtig nahm er das Paket von seiner Schulter herunter und wollte es auf den Boden setzten, als plötzlich die Stubentür aufgerissen wurde. "RUMMS!" Vor Schreck war ihm das Paket aus den Händen geglitten und auf den Boden geknallt. "Da bist Du ja endlich!", schallte ihm die Stimme des Drachen entgegen. Und noch bevor Paul sich von seinem Schreck erholen konnte, hatte sich der Drache schon auf das Fleisch gestürzt. "Was sind das für Stimmen gewesen?", fragte Paul und sah ihm dabei zu, wie er das Fleisch verschlang.

"Hhm, wasch für Schimmen?", nuschelte er schmatzend. "Die ich eben gehört hatte, als ich vor der Tür stand." Der Drache zerrte an dem Fleisch, riss ein Stück ab und schluckte es mit einem Biss hinunter. "Dasch … komische Ding...", würgte er hastig das nächste Stück hinunter, "dasch in der Schube scheht." Paul verstand kein Wort, er schüttelte verständnislos den Kopf und ging in die Stube. Es war der Fernseher, der ohne Ton eingeschaltet war. Das waren also die Stimmen gewesen. Er griff nach der Fernbedienung und schaltete ihn aus. "Und", rief Paul, "ist irgendetwas passiert, was ich wissen müsste?" Ein leises Tapsen kam vom Flur in die Stube. "Ich habe nichts in Brand gesetzt, wenn Du das meinst?"

"Und die schlechte Nachricht?", fragte Paul, weil es einfach zu schön klang, um wahr zu sein.

"Eine schlechte Nachricht?", überlegte der Drache sehr übertrieben.

"Na, los, spuck es schon aus!" Der Drache blickte ihn überrascht an. ,,Spucken? Warum soll ich spucken?"

"Ach, das ist doch nur so eine Redensart. Du sollst sagen, was passiert ist."

"Eigentlich nichts", sagte der Drache und schenkte ihm ein breites Grinsen. Doch Pauls Gesicht blieb ernst.

"Was heißt eigentlich nichts? Sag es und zwar sofort!", befahl er mit eisiger Miene. Der Drache schnaufte. "Bist Du denn nicht froh, dass ich kein Feuer gespuckt habe? Ich war nahe dran, aber ich habe durchgehalten. Und außerdem ..." Er brach ab, weil Paul keine Regung zeigte. "Also gut", sagte er und gab auf. "Dein Vermieter ist hoch gekommen und wollte unbedingt mit Dir sprechen. Zuerst hat er wie ein

Wahnsinniger geklingelt, dann wie ein Verrückter gegen die Tür gehämmert und schließlich wie ein Besessener ..."

"Schon gut", lenkte Paul ein und hob die Hand. "Aber warum hat er das getan?"

"Ich schätze mal, weil ich ihn nicht hereingelassen habe, was Du mir ja ausdrücklich verboten hattest." Paul wandte sich von ihm ab und schaute aus dem Fenster. Ein paar seltsam dunkle Wolken zogen über den tiefblauen Himmel. "Es gibt sicher gleich Regen", murmelte er. "Ist nur komisch, dass sie für das Wochenende nur Sonne vorausgesagt haben." Dann verzog sich sein Mund zu einem Grinsen, und schließlich musste er los lachen. Ihm war auf einmal alles egal. Er stellte sich vor, wie sein Vermieter oben an seiner Tür stand und mit den Fäusten gegen sie gehämmert hatte. Sicher war er wegen der Kündigung gekommen und hatte gedacht, dass er dagewesen war. Paul prustete vor Lachen und schlug sich dabei wie wild auf die Schenkel. Der Drache war verwirrt. Er wusste nicht, was er davon halten sollte und machte sich vorsichtshalber schnell unsichtbar. Nach einer Weile hatte sich Paul wieder unter Kontrolle und ließ sich erschöpft in seinen Sessel sinken. "Bist Du jetzt wieder normal?", fragte der Drache.

"Ja, ich bin wieder normal. Sag mal, wie heißt Du eigentlich?"

"Wie ich heiße?", wiederholte der Drache und wurde langsam sichtbar.

"Ja, Deinen Namen", sagte Paul. "Also, ich heiße Paul, und Du?"

"Ich habe keinen Namen", erwiderte der Drache. Paul warf ihm einen überraschten Blick zu. "Was hältst Du davon, wenn wir Dir einen suchen?"

"Suchen?", fragte der Drache überrascht und schnüffelte auf dem Boden herum.

"Was machst Du denn da?"

"Na, ich suche einen Namen." Paul lachte und erhob sich von seinem Sessel. "Nein, die liegen nicht auf der Erde herum." Der Drache hörte auf zu schnüffeln und hob den Kopf. "Namen", sagte Paul, "kann man weder riechen noch essen.“ "Denkst Du etwa, ich bin blöd?"

"Nein natürlich nicht“, sagte Paul, "ich meinte ja nur."

"Na dann ist´s ja gut", sagte er und sah ihn schief an. "Du meinst also, ich soll einen Namen bekommen?"

"Aber ja, warum denn nicht? Mal überlegen", sagte Paul. "Ich hab`s", rief der Drache, "wie wäre es denn mit Lassie oder Flipper?" Paul musste erneut lachen. "Das hast Du also gesehen, während ich fort war", lachte er. "Nein, so heißen vielleicht Hunde oder Fische, aber keine Drachen. Wie wäre es denn mit Dragon?"

"Dragon?" Der Drache wiegte seinen Kopf hin und her. "Hhm, gefällt mir irgendwie. "Drrr... Dragon", rollte er das "r“. "Hhm, ich glaube, er gefällt mir sogar sehr."

"Na prima", freute sich Paul. "Dann heißt Du von jetzt ab Dragon."

"Abgemacht", sagte der Drache und wedelte vor Freude mit seinem Schwanz. "Du, sag mal, was bedeutet der Name eigentlich?"

"Er bedeutet nichts anderes als Drache, nur in einer anderen Sprache", erklärte Paul und blickte zum Fenster. Der Himmel hatte sich nun fast ganz zugezogen. "Ein Unwetter mitten im Sommer?", sagte er überrascht.

"Nein", widersprach Dragon zitternd, "ein Unwetter ist das sicher nicht."

"Aber ja, was sollte es denn sonst sein?", sagte Paul und ging zum Lichtschalter. "Du brauchst keine Angst zu haben, das passiert hin und wieder mal. "He, wo bist Du?", sagte er, nachdem er das Licht wieder angeschaltet hatte.

"Immer noch da, nur unsichtbar", wimmerte er.

"Ich verstehe ja, dass Du Angst hast", deutete er zum Fenster, "aber ..." Er brach ab und starrte nach draußen. "Das ist ja unglaublich", flüsterte er. Wie eine Schwarze Wand, hatte sich das Dunkle auf die Scheibe gelegt. So etwas hatte Paul noch nie gesehen. Er zögerte kurz, dann beschloss er, das Fenster zu öffnen. Seine Hand hatte sich schon um den Griff gelegt, als er plötzlich zurückgerissen wurde. "Hey Dragon, was soll das?"

"Du darfst das Fenster auf gar keinen Fall öffnen, sonst kommen sie herein und töten uns."

"Du spinnst doch. Was für einen Horrorfilm hast Du Dir denn angesehen? Jetzt lass den Unsinn und mach Dich wieder sichtbar!" Das Licht flackerte, ging aus und sofort wieder an. "Na bitte", sagte Paul, "das ist echt typisch für Blitz und Donner. Als Kind hatte ich davor auch Angst."

"Nur, dass es diesmal keinen Blitz und Donner gab", bemerkte Dragon. Er hatte recht, es war weder das eine noch das andere zu hören. Dann prasselte es plötzlich auf das Dach und gegen die Scheibe. "Ha und was ist das?" rief Paul triumphierend. "Etwa böse Geister?" Doch er bekam keine Antwort. "Ich sage es Dir, es ist ein heftiger Regenschauer." Er hatte es noch nicht ganz ausgesprochen, als es schlagartig wieder aufhörte. "Das war aber echt kurz", wunderte sich Paul. "Gleich wirst Du sehen wie schnell es wieder hell da draußen wird."

"Das glaube ich nicht", sagte Dragon, und tatsächlich - die Dunkelheit wollte nicht weichen. So langsam bekam auch Paul ein mulmiges Gefühl. Doch das wollte er vor dem Drachen nicht zugeben. Die Stille wurde unerträglich. "KNALL!"

Irgendetwas war mit voller Wucht gegen die Scheibe geflogen. Reflexartig sprang Paul zurück und riss die Arme hoch, um sich vor herumfliegenden Glassplittern zu schützen. Aber es geschah nichts, die Scheibe blieb heil. Dann bebte plötzlich die Stube und er wurde zu Boden gerissen.

"Und was war das jetzt?", rief Dragon in wilder Panik und wurde sichtbar.

"Wie soll ich das denn wissen?"

"Aber ich", antwortete Dragon. In dem Moment kippte der Fernseher, dem Paul noch in letzter Sekunde ausweichen konnte, mit einem lautem Krach zu Boden. "Also gut", stöhnte Paul, "dann sag, was es war." Er kroch auf allen Vieren zu ihm und erschrak. Irgendetwas hatte den Drachen getroffen, der nun leblos vor dem Regal lag, das drohte auf ihn zu fallen. Ohne lange zu überlegen packte er ihn am Schwanz und zog ihn mit sich unter den Tisch. Gerade hatte er es geschafft, als die ganze Einrichtung über ihnen zusammenstürzte. Dann hörte das Beben auf. Es war einzig und allein der schwere Eichentisch, der ihnen das Leben gerettet hatte. Paul beugte sich über den Drachen, der immer noch regungslos da lag. "He Dragon, was ist los mit Dir?" Plötzlich klopfte es am Fenster. "Das ist sicher die Feuerwehr", sagte Paul mit tiefster Erleichterung. "Nein", sagte Dragon und schlug die Augen wieder auf, "das sind die verfluchten Schattenmonster." "Schattenmonster", fragte Paul und sah ihn ungläubig an. "Ja", versicherte Dragon und wunderte sich darüber, dass er unter dem Tisch lag. "Nur seltsam", sagte er, "dass sie noch nicht zu uns hereingekommen sind."

"Du hast recht", stimmte ihm Paul zu, "eigentlich hätte die Scheibe schon längst kaputt sein müssen." "KLIRR! SPLITTER!", drang es plötzlich aus der Küche. "Zu früh gefreut", flüsterte Dragon zähneklappernd. "Jetzt haben sie es doch geschafft."

"Vielleicht finden sie uns ja nicht", beruhigte ihn Paul, auch wenn er selbst nicht daran glaubte. Dann hielten sie den Atem an und lauschten. Schritte waren zu hören. Zuerst entfernten sie sich, dann kamen sie eilig zur Stube. Paul beugte sich ganz dicht zu Dragon hinunter und hauchte: "Versuche einfach, Feuer zu speien!"

"Geht leider nicht", hauchte er, so leise er konnte, zurück und deutete auf seinen Bauch."

"Scheiße", zischte Paul, deswegen hatte er ja schließlich das Fleisch besorgt. Die Schritte waren plötzlich verstummt, und für einen Moment war es totenstill. Selbst das Klopfen am Fenster hatte aufgehört. Und dann drang laut eine Stimme zu ihnen: "GLAUBT IHR ETWA IM ERNST, DASS IHR DORT SICHER SEID?" Paul traute kaum seinen Ohren, denn diese Stimme war unverkennbar. "Nein, natürlich nicht!", rief er, als sich mit einem lauten Rumpeln das Regal vom Tisch erhob und wie von Geisterhand zurück an seinen Platz schwebte. Erstaunt kroch er unter dem Tisch hervor und starrte auf die Person, die nun vor ihm stand. Es war Tante Emma. Nur trug sie jetzt statt ihres Kleides einen grauen Umhang und hatte in der einen Hand einen Stab und in der anderen einen Reisigbesen. "Tante Emma ..."

"Nicht jetzt", unterbrach sie ihn und dirigierte mit ihrem

Zauberstab alle Gegenstände wieder an ihren Platz. Bücher, Hefte und Bilder flogen flatternd um ihn und über ihm herum. "Pass auf!", rief sie ihm zu. Nur knapp entging Paul der Schere, die wütend auf ihn zuhielt und im Vorbeiflug ihm, schnipp-schnapp, eine Strähne abschnitt. "Hey, was soll ..." "Deckung!", rief Tante Emma erneut. Doch diesmal traf ihn seine Fernbedienung direkt am Kopf. "Au!", schrie Paul und warf sich auf den Boden, weil im gleichen Moment seine Vase auf ihn zugeflogen kam. "Unten bleiben!", riet ihm nun auch der Drache, der immer noch unter dem Tisch saß. Paul schlug schützend seine Arme über dem Kopf zusammen. "Was bist Du, Tante Emma, etwa eine Hexe?"

"Natürlich ist sie eine Hexe!", rief ihm Dragon wie selbstverständlich zu, da ihm Tante Emma nicht antwortete. "Rede keinen Unsinn! Es gibt keine Hexen."

"Ach nein? Dann gibt’s mich wohl auch nicht, wie?" Paul schnaubte und hob den Kopf. Die Luft schien rein zu sein, also richtete er sich langsam auf. Staunend schaute er sich um. Alles sah aus wie zuvor. Sein Fernseher, die Vase, alle Bücher, ja, sogar sein Benjamini-Baum befand sich mit all seinen Blättern unversehrt an seinem Platz. Dann blickte er zu Tante Emma, die am Fenster stand. Sie griff gerade in ihren Umhang, zog eine Handvoll Staub hervor und blies ihn gegen die Scheibe, die sich im Nu in eine Mauer verwandelte. "Diese Biester werden immer schlauer", murmelte sie und drehte sich zu Paul. "Ja, ich bin eine Hexe", gab sie ohne Umschweife zu. "Tut mir leid, dass wir Dich in so große Schwierigkeiten gebracht haben."

"Was heißt wir?", fragte er überrascht.

"Na ja, ich und ..." Sie deutete auf Dragon, der jetzt unter dem Tisch hervorkam und sich neben sie stellte.

"Ich sehe es zwar", sagte Paul, "aber ich glaube es nicht." Tante Emma und der Drache warfen sich Blicke zu. "Hör mal", sagte Dragon, "Du bist da in etwas hineingetreten ich meine geraten."

"Wo hineingeraten?", fragte er und sah abwechselnd von einem zum anderen.

"Es ist besser", sagte Tante Emma, "Du weißt nichts von alledem."

"Ich glaube, dafür ist es jetzt wohl ein bisschen zu spät", erwiderte er und verschränkte die Arme. "Es fing doch alles auf dem Markt an, richtig?", sagte Paul und fuhr fort, weil keiner von ihnen Antwortete. "Die Alte mit der Kiste, wo angeblich ein Kätzchen drin sein sollte." Er nickte Dragon zu. "Und dann all die merkwürdigen Leute, die hinter ihr her waren."

"Welche Leute?", horchte Tante Emma auf.

"Zuerst", erzählte Paul weiter, "war da so ein riesiger Kerl, der sich auf dem Markt den Weg freigebahnt hatte. Und dann die beiden Typen, die mich fast umgerissen hatten."

"Woher weißt Du, dass sie hinter ihr her waren?", fragte sie alarmierend.

"Anfangs nicht. Ich fand es sogar fast normal, weil es so voll auf dem Markt war. Doch dann, als die Alte anfing, mich anzuflehen, die Kiste auch ohne mein Geld zu nehmen und schließlich wie in Panik davonlief, wurde ich doch stutzig. Wer war sie überhaupt?"

"Darüber darf ich Dir leider nichts sagen", sagte Tante Emma.

"Schon klar, hätte mich auch gewundert", nickte Paul. "Und das vorhin in Deinem Laden, darüber darfst Du mir wohl auch nichts erzählen."

"Du weißt schon viel zu viel", entgegnete sie.

"Ach, verstehe", sagte Paul sichtlich verärgert, "ich bin da nur rein zufällig mit hineingeraten." Er hielt kurz inne. "Vielleicht handelt es sich ja dabei um eine Verschwörung?" Tante Emmas Augen funkelten kaum merklich. "Ich weiß Bescheid", hob Paul seine Stimme, "ihr seid in einer geheimen Mission unterwegs."

"Woher weißt Du das?", erschrak Tante Emma und warf dem Drachen einen vorwurfsvollen Blick zu.

"Was, ich?" Der Drache sah sie völlig unschuldig an. "Ich habe ihm nichts erzählt."

"Nein, hat er nicht", bestätigte Paul und hoffte nun auf weitere Erklärungen.

"Erwartest Du etwa", sagte Tante Emma, "dass ich Dir erzähle, um was es geht?"

"Ja sicher, das wäre ja wohl das Wenigste nach dem ganzen Ärger, den ich hatte, oder?" Tante Emma überlegte kurz. "Du hast recht," sagte sie schließlich, "wir sind in geheimer Mission unterwegs."

"Und?", hakte er sofort nach.

"Nichts und", blockte sie ab. "Denn wenn ich es Dir erzähle, ist es ja nicht mehr geheim, oder?" Paul hob die Augenbrauen und seufzte. "Also gut, Du hast gewonnen", sagte er und blickte zu dem zugemauerten Fenster.

"Keine Angst, die Mauer hält", sagte sie. "Und außerdem sind die Schattenmonster nur hinter uns beiden her. Für Dich und all die anderen hier im Haus besteht keine Gefahr."

"Bist Du sicher?"

"Ganz sicher", beruhigte sie ihn.

"Dann werden sie Euch jetzt also jagen und versuchen ..." "Nein", unterbrach sie ihn und deutete auf den Drachen. "Ihn müssen sie um jeden Preis lebendig fangen ..."

"Und Dich werden sie dann töten", sprach es Paul nun aus. "Dazu müssen sie uns erst einmal erwischen", sagte sie, hob den Besen und marschierte aus der Stube in die Küche. Paul und der Drache folgten ihr. "Bist Du etwa durch das Küchenfenster hereingeflogen?", fragte Paul

"Eine andere Möglichkeit gab es nicht", sagte sie.

"Dann sehen wir uns also nie wieder, stimmt´s?", sagte Paul zum Drachen gewandt. Dieser nickte traurig.

"Wir gehören nicht in eure Welt und Du nicht in unsere." "Genauso ist es", fügte Tante Emma hinzu.

"Schon klar", sagte Paul. "Aber was ist, wenn eure Mission misslingt?" Tante Emma starrte ihn an, als hätte er etwas Unverzeihliches gesagt. "Aber natürlich", schob er rasch nach, "werdet ihr Erfolg haben."

"Da kannst Du sicher sein", sagte sie, "denn andernfalls ..." Sie brach ab, raffte ihren Umhang und schwang sich auf den Besen. "Mach's gut Paul", sagte Dragon und bestieg ebenfalls den Besen.

"Du auch, Dragon", erwiderte Paul, "und lasst euch nicht erwischen." Tante Emma blickte sich überrascht um. "Warum hast Du ihm einen Namen gegeben?", fragte sie fast vorwurfsvoll.

"Warum sollte er denn keinen haben?"

"Also mir gefällt er", unterstützte ihn Dragon. Einen Moment lang sahen sich die drei nur schweigend an. "Ja, warum eigentlich nicht?", sagte Tante Emma und räusperte sich. "Halt Dich fest!", rief sie dem Drachen zu. "Es geht los!" Langsam schwebten sie zum Küchenfenster, als es geschah: Ein Schrei erfüllte das Treppenhaus und verstummte. "Was war das?", erschrak Paul und starrte entsetzt zur Flurtür.

Paul und der Biss des Drachen

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