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Kapitel 1

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Jessica schüttelte den Kopf. Hatte sie die Pläne nicht zurücklegen wollen? Ja, klar, und zwar möglichst schnell. Alexander konnte jeden Moment kommen, immerhin wartete sie seit fast zwei Stunden auf ihren Mann. In der Küche waren die Steaks und das Gemüse kalt geworden. Schließlich hatte Jessica angefangen, in der Wohnung herumzulaufen und vor dem Eichentisch im Wohnzimmer die Pläne gefunden.

Jetzt lehnte sie sich im Flur gegen eine Wand, und sofort kam es ihr vor, als griffen kalte Arme nach ihr. Im östlichen Teil der Wohnung fror sie, und es hatte nichts damit zu tun, dass Frauen immer frieren würden, wie Alexander behauptete. Es war nicht diese Art des Fröstelns, sondern eher ein durch und durch unbehagliches Gefühl, so als wolle ihr das Haus sagen: Du bist hier nicht willkommen. Das Haus, der große Kasten, sagte und dachte Jessica. Freunde und Bekannte sprachen meistens von der Scheffold-Villa.

Mit den Plänen allerdings hielt sie etwas in der Hand, das dieses unangenehme Gefühl überstrahlte. Sie schloss die Augen und versuchte, ruhig zu atmen. Erst nach einem Moment drückte sie sich von der Wand weg und begann, noch einmal zu lesen: Raumhöhe zwei Meter fünfzig, Rigipsdecken im Flur, Schlaf- und Wohnzimmer. Das bedeutete: Die Raumhöhe würde um achtzig Zentimeter gesenkt. Die Wärme stiege nicht mehr so weit nach oben.

Alexander hatte ihr von den Renovierungsplänen nichts erzählt. Was hatte das zu bedeuten? Ob er sie damit überraschen wollte? Jessica lächelte. Was für eine Geste. Sie atmete noch einmal tief und spürte ein sanftes Drücken hinter den Augen.

Seit fast einem Jahr stand etwas zwischen ihnen. Jessica nahm an, es lag an dem Gespräch mit ihrem Frauenarzt. Ihm war die sehr niedrige Konzentration des Beta-HCG-Hormons im Blutbild aufgefallen. Er hatte sie über die Lesebrille hinweg angesehen und nach einer starken Blutung gefragt. Bevor Jessica in Tränen ausgebrochen war, hatte sie es gerade noch geschafft zu nicken.

Kurz darauf Alexanders Vorwurf, sie arbeite zu viel und sei zu angespannt. Ihr nächtliches Zähneknirschen sei ein Indiz dafür, außerdem mache ihn dieses Geräusch wahnsinnig. Daraufhin war Jessica in das kleine Zimmer gezogen. Anfangs nur für ein paar Tage, doch mit der Zeit dehnten sich diese Phasen aus und jetzt war es schon normal, dass sie im kleinen Zimmer schlief, während Alexander im Schlafzimmer blieb.

Ja, und heute, zwei Tage vor der Talkshow mit von Ackern, wäre eine gute Gelegenheit gewesen, mit ihm noch einmal über die Beziehung zu reden oder es zumindest zu versuchen. Dass Jessica zur Talkshow eingeladen war, kam ihr sehr gelegen. Die Fernsehsendung würde ihr helfen, auf ihr zweites Buch aufmerksam zu machen. Das konnte nie schaden, zumal sie ihre Arbeit als Strafverteidigerin und damit ihre Präsenz in der Kanzlei zurückfahren wollte. Schreiben konnte sie von zu Hause aus. Aber vorher galt es noch, zwei bis drei schwierige Wochen durchzustehen, nicht nur die Talkshow, sondern auch den noch nicht ganz abgeschlossenen Prozess um den Exhibitionisten Jochen Heinrich. All das hätte sie Alexander gesagt, wäre er da gewesen. Es musste ihm etwas dazwischengekommen sein. Aber gut, er hätte wenigstens eine Nachricht schicken können.

Sie strich zärtlich mit der Hand über die Pläne, lief den Flur entlang und versuchte, die Wohnung mit versöhnlicheren Augen anzusehen, mehr Alexanders Sichtweise einzunehmen.

Mit der linken Hand drückte sie die Papiere jetzt an ihren Oberkörper, mit der rechten fuhr sie über die glatte, glänzende Oberfläche der Flügeltür zum Wohnzimmer. Jede Türseite hatte ein achteckiges Fenster. Jessica berührte mit dem Zeigefinger die Bleiverglasung. Alexander hatte die blauen und dunkelgrünen Glasscheiben in einem Karton auf dem Dachboden gefunden. Neben der Tür stand eine Kommode, deren aufwärtssteigende Holzmaserung einer Fontäne glich. Ein dunkler Streifen bildete das Zentrum, hellere Streifen gingen rechts und links davon ab. Dazu der feine gelbe Strich auf der Schublade. Jessica hatte geglaubt, er sei aufgemalt, bis Alex ihr erklärte, es handele sich dabei um eine Intarsie, eine Einlegearbeit. Die Familienfotos über der Kommode: Alexanders verstorbener Vater, die Mutter, die zwei Brüder mit insgesamt sechs Kindern. Noch einmal auf einem Bild die Brüder vor dem Verwaltungsgebäude der Firma Scheffold. Das Foto musste zu dem Zeitpunkt entstanden sein, als Alexander aus dem Familienunternehmen ausgestiegen war, um seine Unternehmensberatung aufzubauen.

Jedes der Bilder steckte in einem gedrechselten Holzrahmen. Jedes Detail der Wohnung hatte seine Wurzeln genauso wie Alexander selbst. Er stand oft so breitbeinig im Wohnzimmer wie Cristiano Ronaldo vor einem Elfmeter.

Jessica trat durch die Flügeltür, und vor ihr breitete sich das Wohnzimmer aus. Die großzügigen Fenster zeigten nach Süden und Osten, über die Südseite hatte man freien Blick auf das Albpanorama. Meistens war die Burg Hohenzollern gut zu erkennen.

Jessica ging weiter auf den Eichentisch zu und legte die Pläne zurück auf den Boden. Über etwas Bescheid zu wissen ist das eine, es sich anmerken zu lassen das andere.

Das war ihr Alex. Sie brauchte nur Geduld mit ihm, denn er löste die Dinge auf seine Art. Kam es darauf an, hatte er das Herz am richtigen Fleck. Streckte er nicht über die Pläne beide Hände nach ihr aus?

Ein letztes Mal schaute sie auf die Blätter, auf die geschwungene, harmonische Unterschrift des Architekten, dann drehte sie sich um und lief durch den Flur zum Arbeitszimmer. Ihr Oberkörper fühlte sich warm und weit an.

Jessicas Blick fiel zuerst auf den Schreibtisch. Die Akte von Jochen Heinrich lag dort, daneben stand Katys Bild. Sie nahm es in die Hände und verlor sich dabei in den braunen Augen ihrer Schwester. Katy lächelte unter einer gelb-, rot- und grau-gestreiften Strickmütze hervor, die wie ein umgedrehter Topf aussah.

Jessica spürte auch noch drei Jahre nach Katys Tod ihre Nähe, worüber sie sehr froh war.

Schwesterherz, was sagst du zu Alex und mir?, wandte sich Jessica in Gedanken an Katy. Wie wäre die Antwort ihrer diplomatischen Schwester? Wahrscheinlich würde Katy klar erkennen: Jessica war dabei, ihr bisheriges Leben auf den Kopf zu stellen. Der alte Schwurgerichtssaal am Amtsgericht war so etwas wie ihr zweites Wohnzimmer gewesen. Mit all den Erfolgen dort hatte sie es geschafft, eine Empfindung in Schach zu halten, die tief in ihrer Seele saß. Oft stieg ein Druck in ihr auf, legte sich unangenehm auf den Brustkorb, und das Herz begann zu hämmern, als wolle es aus der engen Brust entkommen. Gewöhnlich brachte das Herzrasen seine Begleiter mit, meistens hatte Jessica dabei einen hohen Felsvorsprung vor Augen, und ihr war, als drohte sie in die Tiefe zu fallen. Oft träumte sie davon, aber auch tagsüber war sie mittlerweile nicht mehr sicher. Wo würde das enden? Sie sah sich zitternd und nach Luft schnappend vor dem Gericht stehen, kaum noch fähig, ihren Mandanten zu verteidigen. Und dann?

Katy würde Jessica darauf aufmerksam machen, dass sie sich nicht dauerhaft mit Arbeit ablenken konnte, dass sie sich mit dem Schritt aus der Kanzlei, ein Stück weit auf Alex zu, richtig entschieden hatte.

Jessica würde sich natürlich ein bisschen wehren: Der Fall Heinrich sei keineswegs eine Flucht vor der Krise mit Alexander. Sie habe ihren Mandanten im Krankenhaus kennengelernt. Er war so übel zusammengeschlagen worden, dass die meisten Wunden genäht werden mussten. Seine Frau und die Töchter sahen sich mit Schikanen seitens der Bevölkerung und einer zweifelhaften Bürgerwehrgruppe konfrontiert. Insgesamt war die Familie in einer schlimmen Situation. War es also nicht ihre Pflicht gewesen, Heinrichs Verteidigung zu übernehmen?

Jessica lief mit Katys Bild in der Hand vor dem Schreibtisch auf und ab. Nur noch vierzehn Tage bis zum Plädoyer, dann war der Prozess abgeschlossen. Sie blieb vor dem Schreibtisch stehen. Ja, Katy würde zustimmen. Wenn Familie, dann jetzt.

Jessica nahm das Foto einen Moment lang dichter vor die Augen, dann stellte sie es behutsam auf seinen Platz zurück und seufzte. Katy war der Mensch gewesen, dem sie sich anvertrauen konnte, und die Schwester hatte immer die richtigen Worte gefunden.

Es gab nur einen Haken dabei: Bis jetzt hatte Jessica noch nicht mit ihrem Chef gesprochen. Richtig offen waren sie und Dr. Alfred Sebastian über die Kanzleinachfolge nie ins Gespräch gekommen. Unterschwellig hatte sie immer mal wieder durchblicken lassen, sie brauche mehr Zeit für ihre Beziehung. Dennoch bedeutete ein Nein gegenüber Sebastian, sein Lebenswerk auszuschlagen. Konnte sie das? Er war ihr Mentor gewesen, ohne ihn wäre sie nie so weit gekommen.

Die Fernsehsendung morgen könnte der Auftakt zu einem neuen Leben sein. Es musste doch gelingen, Familienplanung und Beruf unter einen Hut zu bringen, ohne dass sie ein schlechtes Gewissen bekam. Nach der Fernsehsendung würde sie den nächsten konsequenten Schritt gehen und Sebastian ihre Situation schildern. Ob ihr vielleicht dieses bevorstehende Gespräch so zu schaffen machte?

Energisch zog Jessica den Schreibtischstuhl zurück und setzte sich. Für die Fernsehsendung konnte sie nichts mehr vorbereiten, deshalb schlug sie Jochen Heinrichs Akte auf. Daneben legte sie ein Blatt Papier und griff nach einem Bleistift.

In regelmäßigen Abständen ließ sie den Stift über Daumen und Zeigefinger auf das Blatt Papier fallen. Ein helles, hölzernes Geräusch war zu hören, so als würde der Stift jeden Schritt ihrer Verteidigung abzählen. Letzten Herbst hatte sich Heinrich über einen Zeitraum von sechs Wochen gewöhnlich zwischen sieben und acht Uhr abends in den Stadtpark geschlichen. Im Herbstdunkel hielt er sich versteckt, trat plötzlich hervor und zeigte seinen Penis. Er erschreckte vier Frauen. Jugendliche stellten Heinrich am 11. Oktober und verbreiteten sein Foto und seinen Namen sofort im Internet. Unglücklich für Jessicas Mandanten, dass Christine Schanz am 24. September, also knapp drei Wochen zuvor, in der Nähe des Stadtparksees vergewaltigt worden war. Die Polizei hatte intensiv nach dem Täter gesucht, allerdings ohne Erfolg. Plötzlich war Heinrich in die Ermittlungen geraten, und als seine DNA am Körper der Frau gefunden wurde, verschlimmerte sich seine Lage. Trotzdem war Staatsanwalt Steven Jung Anfang März dieses Jahrs gezwungen gewesen, den Tatvorwurf der Vergewaltigung gegenüber Jochen Heinrich zurückzuziehen: Vier Wochen nach den Tests wurde bekannt gegeben, Heinrichs DNA vom Körper der Frau sei nicht identisch mit der Sperma-DNA des Vergewaltigers. Warum hatte es sich der sonst so gewissenhafte Jung so einfach gemacht? Von Anfang an hatte es zwei Spuren von Fremd-DNA gegeben. Es hätte Jung klar sein müssen, dass er es damit vor Gericht nicht einfach haben würde. Gut, wer wie Heinrich seinen Penis im Stadtpark zeigt, dem ist auch eine Vergewaltigung zuzutrauen – war das Jungs Gedanke gewesen? Zusätzlich baute Jung noch auf die Zeugenaussage einer jungen Frau. Zu diesem Zeitpunkt hatte er noch nicht wissen können, dass sich diese Aussage in Luft auflösen würde. Nach und nach war es Jessica gelungen, ihre Verteidigungsstrategie auszubauen. Von Beginn an hatte sie die Tatvorwürfe Vergewaltigung und Exhibitionismus voneinander getrennt. Übrig blieben Heinrichs exhibitionistische Handlungen, und hier würde der Freiheitsentzug zu einer Bewährungsstrafe ausgesetzt werden. Das lag aber nicht nur an Jessica, sondern vielmehr an Heinrich selbst.

Der Bleistift fiel auf das Blatt Papier. Klack, Klack. Das alles war gar nicht Jungs Art. Es sei denn, Jessica hätte etwas übersehen. War ihr etwa aufgrund der Krise mit Alexander etwas entgangen?

***

Als Alex die Tür öffnete und seinen Kopf ins Zimmer streckte, zuckte Jessica zusammen, so sehr hatte sie sich in Heinrichs Fall vertieft.

„Schatzi“, sagte Alexander und lächelte. „Ich esse nur einen Happs und gehe dann ins Bett. Ich bin total platt.“

Jessica nickte und schaute auf ihre Armbanduhr. Es war kurz nach elf. Sie stand auf und ging auf ihn zu. Alexander hatte über die Jahre nichts von seiner Strahlkraft verloren. Unter dem weißen Hemd zeichnete sich seine breite, feste Brust deutlich ab. Die graugrünen Augen leuchteten. Auf seinem Gesicht lag etwas Entspanntes. Er hatte noch nicht mal ein schlechtes Gewissen, musste also das Essen total vergessen haben. Ja, er wirkte wie nach einem Saunabesuch.

Dass sie die Rindersteaks in der Demeter-Metzgerei geholt hatte und dafür durch den halben Stadtpark gelaufen war: Es lag ihr auf der Zunge. Zum ersten Mal hatte sie versucht, die Steaks medium zu braten, und es war ihr gelungen. Jetzt störte sie sich auf einmal an dem tadellosen Äußeren ihres Mannes, sie störte sich sogar an seinem „Schatzi“. Früher hatte er einfach „Jess“ gesagt. Worte, sinnlos, dachte Jessica. Alles würde an seiner glatten Fassade abperlen. Sie hatte so viel auf dem Herzen und sagte jetzt nur: „In der Küche steht was.“

Alex nickte, schaute auf sein riesiges Smartphone. Wieder kein Erinnern oder Bedauern, gar nichts.

„Hast du was?“, fragte er.

„Nein, nichts.“

Er ließ das Handy in die Hose gleiten, nickte ihr kurz zu und ging. Jetzt drehte er sich noch einmal kurz um und hielt sich eine Hand an die Stirn.

„Ach, richtig! Die Von-Ackern-Show. Das ist doch morgen, oder?“

„Ja, morgen.“

„Du machst dir doch nicht etwa Sorgen deswegen? Nimmst du Toni nicht mit?“

Er meinte Antonia, Jessicas Assistentin.

„Nein, die kommt erst am Sonntag aus Thailand zurück.“

Michael, der externe Mitarbeiter der Kanzlei, würde Jessica begleiten, aber auch das behielt sie für sich.

„Egal“, rief Alexander überschwänglich, streckte Jessica beide Daumen entgegen und lief dabei gleichzeitig rückwärts. „Du machst das schon.“

Jessica nickte und fuhr sich mit beiden Händen über die Arme. Sie fühlte die kühlen Wände, dachte an das kaltgewordene Essen, und sie sah Alexander zu, wie er sich von ihr entfernte.

Dirndlgate

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