Читать книгу Dirndlgate - Jan Schreiber - Страница 3
Kapitel 2
Оглавление„Keine Sorge, Frau Dr. Scheffold“, sagte die junge Michelle und fuhr Jessica mit einem Wattepad über die Wangen. „Das ist der übliche Wahnsinn. Ich habe nur wenige Sendungen erlebt, zu denen alle Gäste pünktlich da waren.“
„Und ich bin extra früh los, um ganz sicher zu gehen.“
„Vielleicht ist das der Fehler gewesen. Aber kein Problem, ich bin gleich fertig, und dann gehe ich bis zur Studiotür mit. Sie können Ihren Platz gar nicht verfehlen.“
„So?“
„Ja, die anderen Gäste sitzen bereits. Es ist nur noch Ihr Stuhl frei.“
„Oje“, antwortete Jessica. „So was habe ich gar nicht gern.“
„Wieso nicht? Die wichtigsten Gäste zum Schluss. Passt doch alles.“
Michelle legte eine Hand auf Jessicas Schulter. Zusammen schauten sie jetzt in den Spiegel.
„Perfekt.“ Michelle nickte zufrieden. Das stimmte. Sie hatte Jessicas Wangenpartie leicht betont, die Augenbrauen nachgezogen, die Lippen geschminkt und zuletzt das Gesicht gepudert. Jessica sah aus, als hätte es die Vollsperrung kurz vor der Aichtalbrücke und die damit verbundene Aufregung gar nicht gegeben. Die Tür zur Maske flog auf.
„Beeilung!“, rief der Mann, der Jessica vor ein paar Minuten das Mikrofon angesteckt hatte.
„Wir kommen“, antwortete Michelle.
Jessica spürte Schweiß am Rücken und in den Achselhöhlen. Hoffentlich hält das Make-up. Schweiß auf der Stirn bedeutete, dass Schminke in die Augen gelangen konnte, was sie überhaupt nicht vertrug. Die Augen tränten sofort, und das machte die Sache dann nur noch schlimmer. Deshalb verzichtete sie meistens auf Eyeliner.
Michelle deutete mit einer Hand den Gang entlang.
„Da vorne ist die Studiotür. Wir sind gleich da. Lassen Sie sich von den Männern nicht den Wind aus den Segeln nehmen. Viele Frauen schauen auf Sie, Frau Scheffold. Ich lese auch alles von Ihnen.“
Jessica nickte: „Ich gebe mein Bestes.“
Michelle sagte das wahrscheinlich nicht ohne Grund. Unglücklicherweise hatte die Gerichtsreporterin Franka Friedrich für heute abgesagt, und an ihrer Stelle kam nun ausgerechnet Dr. Jürgen Heck, Sebastians größter Rivale. Heck würde heute alles unternehmen, um Jessicas Position zu schwächen, so viel stand fest. Aber nicht nur das! Mit Frau Friedrich wäre das Kräfteverhältnis ausgeglichen gewesen. Jetzt saß Jessica einmal mehr inmitten einer Männerrunde. Michelle griff nach der Studiotür und lächelte noch einmal kurz, bevor sie die Tür öffnete. Sofort war ein noch recht junger Mann mit langen Haaren bei Jessica. Wahrscheinlich ein Assistent der Aufnahmeleitung. Sie spürte einen sanften, aber bestimmten Zug an ihrem Arm.
„Kommen Sie. Schnell.“
Sie liefen auf das Podium zu.
„Tut mir leid, wir haben die Bühne schon hochgefahren. Frau Scheffold, Sie sind doch sportlich? Darf ich Sie um einen großen Schritt bitten?“
„Ja, klar, da komme ich hoch.“
Jessica musste ihr Bein ein gutes Stück hochziehen, um auf das Podest zu kommen. Wenn jetzt die Hosennaht platzt, das wäre der Super-GAU. Der Mann stützte sie am rechten Unterarm. Um zu ihrem Platz zu gelangen, musste sie sehr dicht an Jürgen Heck vorbei.
„Das ist ja typisch“, zischte er ihr zu, „Hauptsache Aufmerksamkeit.“
Heck klemmte in seinem Stuhl wie ein Kronkorken in einer Flasche. Sein kleiner, dicker Körper füllte den Stuhl nahezu aus, irgendwie fehlte diesem Mann der Hals. Wie immer, sobald Jessica auf Heck traf, fragte sie sich: Worum geht es ihm eigentlich? Klar, Sebastian und Heck waren Kommilitonen gewesen. Sebastian, ein mittelloser Alt-Achtundsechziger, und Heck, ein Konservativer mit viel Geld im Rücken. Letztlich hatte sich Sebastian mit seinem Talent durchgesetzt, das fiel besonders deshalb auf, weil Hecks Büro nicht mal einen Kilometer von Sebastians Kanzlei entfernt lag.
Jessica setzte sich, und sofort schaute Heck sie angriffslustig an. Das kann ja heiter werden.
Der Assistent überprüfte den Sitz des Mikrofons. Er nickte Jessica zu, drehte sich weg und hob einen Daumen in Richtung Kamera. Harald von Ackern saß ebenfalls in seinem Stuhl und sortierte in aller Ruhe seine Moderationskarten. Von Ackern trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd, aber keine Krawatte. Wie viele Männer um die vierzig hatte er sich, wahrscheinlich wegen Problemen mit Haarausfall, eine Glatze rasieren lassen. Das verlieh ihm zusammen mit dem runden Gesicht ein gemütliches Aussehen. Und genau darin lag die Gefahr. Jessica durfte sich von seinem kumpelhaften Plauderton nicht einlullen lassen. Der CDU-Politiker Wolfgang Börner hatte nicht umsonst die letzte Sendung einfach verlassen.
Jessica atmete tief, und ihr Blick fiel dabei auf den einzigen noch leeren Platz in der ersten Zuschauerreihe. Ein großer Mann mit Baseballcap steuerte im Moment darauf zu. Michael. Obwohl ihn Jessica seit Ewigkeiten kannte, konnte er Toni nicht ersetzen. Trotzdem tat es ihr gut, jemand Bekanntes in der Nähe zu wissen.
Gleich muss es losgehen. Jessica schloss die Augen. Ihr bislang größter Erfolg. Sie brauchte einen guten Auftritt, Heck hin oder her. Die Talkrunde so kurz vor der Veröffentlichung des Buches kam genau richtig, hing doch ihr neuer Lebensplan ein Stück weit davon ab. Sie wollte Alexander deutlich zeigen, wie viel er ihr bedeutete.
Sie öffnete die Augen und sah in dem Moment, wie von Ackern Heck freundlich zulächelte. Kennen die sich etwa? Vielleicht war es kein Zufall, dass er heute hier saß und nicht Frau Friedrich. Vielleicht wusste der Sender von der Rivalität beider Kanzleien, außerdem hatte Heck viel mit Staatsanwalt Jung zu tun. Die plötzliche Ruhe um den Heinrich-Prozess. Konnte Heck sie mit etwas konfrontieren, worauf sie nicht vorbereitet war?
Das Podest fuhr in diesem Moment noch ein Stück nach oben. Die Scheinwerfer über den Zuschauerreihen verdunkelten sich, vier andere Scheinwerfer richteten sich auf die Bühne aus.
Sie saß wie auf einem Präsentierteller und konnte genauso wenig weg wie aus einem Fahrstuhl. Und da war es wieder! Als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Etwas sehr Mächtiges rauschte durch Jessicas Körper. Ihr Herz schlug heftig. Sie krallte die Hände in die weichen Lederlehnen des Sessels.
Eine Stimme zählte: acht, sieben, sechs …
Dann von Ackerns Stimme: „Liebe Gäste hier im Studio, liebe Zuschauer zu Hause, ein herzliches Willkommen zur Von-Ackern-Show. Wir wollen darüber reden, ob das Internet, ob soziale Plattformen wie Facebook und Twitter dazu beitragen, bestehende Missstände in der Gesellschaft schneller ans Licht zu bringen als in der Zeit vor dem Internet. Wie wichtig ist dabei die digitale Präsenz des Einzelnen?
Begrüßen Sie mit mir meine Gäste: die Staranwältin Frau Dr. Jessica Scheffold, den Medienwissenschaftler Henning Trové, den Rechtsanwalt Dr. Jürgen Heck und den Start-up-Gründer Steffen Arnold.
Dr. Heck sagt: ‚Drei Viertel des Internets sind überflüssige Schaumschlägerei. Unausgegorene Informationen gelangen zu schnell an die Öffentlichkeit und beschwören unnötige Debatten herauf.‘ Die Kanzlei Heck ist im Bereich Wirtschaftsrecht eine Größe und beweist damit, dass Erfolg auch mit einer kleinen Homepage möglich ist.
Dem widerspricht Frau Dr. Scheffold, sie sagt: ‚In Zeiten des digitalen Wandels sollte man die neuen Medien sinnvoll nutzen, anstatt sie zu verteufeln.‘ Frau Scheffold schreibt online für tausende Follower und schafft es, dass auch Normalbürger schwierige juristische Zusammenhänge verstehen können.“
Jessica versuchte, in die Kamera zu lächeln. Die Medien warfen ihr immer vor, nach außen kalt und unnahbar zu wirken. Ein Eindruck, den sie heute entkräften wollte. Wie sollte das gelingen? Sie spürte eine enorme Anspannung.
„‚Ich würde lieber die Hosen zu Hause vergessen als das Smartphone – ohne Internet geht gar nichts.‘ Dieser Satz stammt von Steffen Arnold. Mit Blick auf sein Leben trifft das auch zu: Begonnen hat er mit einem kleinen Start-up, jetzt betreibt er den größten deutschen Onlinemarktplatz für Bioprodukte, außerdem ist er Mitbegründer der ersten Onlinegewerkschaft. Diese Gewerkschaft vertritt die Interessen aller Menschen, die über das Internet ihr Geld verdienen.
Der Medienexperte Herr Trové hat das Buch Die digitale Evolution geschrieben. Er hilft uns heute, alle Argumente zu verstehen, und er wird uns – sollte die Zeit dafür reichen – auch aufzeigen, wohin die Entwicklung in Bezug auf das Internet gehen wird. Noch einmal ein ganz herzliches Willkommen an meine Gesprächspartner und Zuhörer.“
Der Applaus, der während der Anmoderation zu hören gewesen war, klang ab. Von Ackern wandte sich an Trové.
„In Ihrem Buch beschreiben Sie unter anderem solche Phänomene wie Fake News und Hasskommentare. Und wenn ich jetzt sage, …“, der Moderator schaute ins Publikum, „… dass es kaum einen Tag gibt, an dem nicht ein Shitstorm durch das Netz geistert, werden die meisten hier im Studio zustimmen.“
„Ja“, antwortete Trové. „Wir erleben gerade eine gewaltige Verschmutzung der öffentlichen Außenwelt. Medienmacht ist aber etwas anderes als Medienmündigkeit. Wir brauchen einen reiferen Umgang mit dem Medium, eine Art neues Bewusstsein. Genauso wie auch das Umwelt…“
„Augenblick“, unterbrach der Moderator Trové nach diesen wenigen Sätzen. „Wie kommen wir denn zu einem reiferen Umgang mit dem Medium? Das ist doch die Frage. Ich habe Ihr Buch sehr aufmerksam gelesen. Andere Wissenschaftler fordern mehr digitale Bildung an die Schulen zu bringen, sodass die Schüler Fake News und Bildfälschungen erkennen können. Ihr Ansatz, Herr Trové, ist aber noch breiter und auch für den einen oder anderen eher schwer zu verstehen. Können Sie uns das mit einfachen Worten erklären, so als säßen wir in einer Eckkneipe?“
„Bestimmt.“
„Trinken Sie Weizen oder lieber Pils?“
„Weizen“, lachte Trové.
Jessica schmunzelte. Mit einem Blick auf den Medienwissenschaftler fiel es ihr nicht schwer, an einen Wikinger zu denken. Sein breites Gesicht, der rotblonde Vollbart und dazu die Bassstimme. Er saß ruhig in seinem Sessel und ließ keine Unsicherheit erkennen.
„Ein Weizen bitte“, von Ackern hob die Hand, schaute in das Publikum, als wolle er tatsächlich eine Bestellung aufgeben. Jetzt neigte er sich Trové zu. Er baut Nähe auf, stellte Jessica für sich fest.
„Ich stimme meinen Kollegen zu, was die digitale Bildung betrifft. Um aber zu verstehen, was gerade passiert, sind mir ein paar andere Aspekte auch noch wichtig. Beim Internet haben wir es mit Technik zu tun. Ein Mann beispielsweise, der jahrelang mit einem Schmiedehammer gearbeitet hat, hat andere Hände als ein Kunstmaler.“
„Technik beeinflusst uns also?“
„O ja, sehr“, Trové nickte. „Und zwar nicht nur die Körperteile, sondern vor allem unser Gehirn, die Art und Weise, wie wir denken und wahrnehmen.“
„Der Mensch auf der einen Seite, die Technik auf der anderen. Warum soll das ein Konflikt sein? Keiner will auf das moderne Leben verzichten.“
Der Moderator lehnte sich wieder zurück und schuf damit zwischen sich und Trové Abstand. Das Aufbauen und der plötzliche Entzug von Nähe dienten oft dazu, den Gesprächspartner zu verunsichern. Jessica kannte diesen Trick. Trové allerdings lächelte und lehnte sich ebenfalls zurück. Ja, klar, es ist nicht seine erste Talkshow.
„Verständlich“, antwortete er ruhig. „Wir müssen aber wissen, die fünf Sinne des Menschen beeinflussen sich gegenseitig in einem offenen wechselseitigen System, während technische Systeme geschlossen sind. Waren wir in Urzeiten in freier Natur unterwegs, und es kam ein Reiz von außen, haben wir sofort reagiert und das Gehirn hat sehr schnell in einen Zustand der Harmonie zurückgefunden.“
„Jetzt dagegen …?“
„Jetzt dagegen bleibt der Erregungszustand lange und fortwährend erhalten, ohne dass es wieder zu einer harmonischen Balance kommt. Die Fachleute sagen ‚Closure‘ dazu.“
„Denken wir mal an bestimmte Ernährungsempfehlungen wie zum Beispiel Paleo. Es heißt doch immer, wir Menschen hätten uns seit tausenden von Jahren kaum verändert.“
„Jein, antwortete Trové. „Der alte Stammesmensch, ich habe es schon grob angesprochen, lebte vor allem in einer Welt des gesprochenen Wortes und des Schalls.“
„Gut, wir leben heute nicht mehr im Wald, das ist richtig.“
„Heute leben wir vor allem in einer visuellen Welt. Die gesamte Wahrnehmung hat sich sehr auf das kühle, distanzierte Auge verlagert. Mich und meinen Gesprächspartner trennt oft etwas: das Handy, der Videobeweis oder ganz häufig der Computerbildschirm. Deshalb hat sich auch die Kommunikation so abgekühlt. Mit dem Siegeszug des Computers erlebt die visuelle Welt ebenfalls einen Triumphzug. Aber: Wird ein Sinnesorgan ständig überreizt, geraten die anderen in eine Art Lähmung, einen Zustand, den wir etwa von der Hypnose her kennen.“
„Das bedeutet doch nichts anderes, als dass ich mich, nun ja, als dass ich mich …“ Der Moderator ruderte ein wenig unbeholfen mit den Armen.
„Sie sollten sich möglichst um eine breite Wahrnehmung kümmern. Verstehen Sie? Ich bin kein Gegner der Technik. Aber wir sollten verstehen, wie sie auf uns wirkt, damit wir die schwachen Stellen ausgleichen können. Denken wir an das Beispiel mit dem Hammermann. Auch er wird sich überlegen, was er machen kann, um gesund zu bleiben. Diese Überlegungen führen dann ganz automatisch zu einem reiferen Umgang mit Smartphone und Internet. Wir brauchen Rückzugsorte, Rückverbindung, Ruhephasen. Je schneller die Technik wird, desto wichtiger scheint es, darauf zu achten.“
„Sie zeigen in Ihrem Buch eine Verbindung, die zurückgeht bis zum Alphabet und vor allem dem Buchdruck. Gibt es noch mehr Verbindungen zwischen Buch und Internet?“
„Ja, für Buch und Internet gilt: Ich muss das Gelernte ins Leben überführen. Es nutzt nichts, hundertzwanzig Tindermatches in der Liste zu haben. Ich muss ein Date ausmachen und die Frau schlussendlich treffen. Mit den Lippen mache ich dabei hoffentlich die Erfahrung eines sinnlichen Kusses, dabei kann ich sogar die Augen schließen – oder manchmal ist es sogar besser, die Augen zu schließen.“
Im Publikum kam Gelächter auf. „Wer Lust hat“, rief Trové auf einmal laut ins Studio, „der kann ja mal versuchen, seine Ohren zuzuklappen, ohne dabei die Hände zu benutzen.“
Jessica schmunzelte. Sie sah, wie manche Gäste doch nach ihren Ohren griffen oder es bei ihrem Nachbarn versuchten.
„Wir stellen fest“, sagte Trové, „es geht nicht. Ein Indiz dafür, wie wichtig die Ohren sind.“
„Sie schreiben: ‚Mit Alphabet und Buchdruck entsteht der typografische Mensch, das schnelle, distanzierte Erfassen von Mustern über das Auge. Die Mönche im sechsten, siebten Jahrhundert haben anders gelesen als wir.‘“ Von Ackern schaute einen Augenblick von seiner Karte auf.
Trové nickte. „Die Mönche haben beim Lesen vor sich hingemurmelt. Man kann daran zeigen, wie sich das Leseverhalten geändert hat und immer noch ändert.“
„Ja“, von Ackern nickte. „Wer will, kann das alles in Ihrem Buch nachlesen. Und Sie schreiben außerdem noch vom Homo Digitalis. Ist das eigentlich Ihr Ernst?“
„Ja, natürlich.“
Jessica schaute in die Runde. Während Trové nach wie vor eine unglaubliche Ruhe ausstrahlte, zappelte Steffen Arnold, ein schlaksiger Brillenträger Mitte zwanzig, auf seinem Stuhl umher. Er rieb Daumen und Zeigefinger unablässig aneinander und konzentrierte sich wahrscheinlich darauf, aus dem Reiben kein Schnippen entstehen zu lassen. Jessica atmete zwei-, dreimal tief durch. Sie hatte in den letzten Jahren außerhalb des Fernsehens an vielen Podiumsdiskussionen teilgenommen und war von den Moderatoren immer gleich angesprochen worden. Hier hatte sie auf einmal Gelegenheit zuzuhören. Warum?
„Konkret“, hakte der Moderator nach, „welche Eigenschaften hat der Homo Digitalis?“
„Ich zähle mal ein paar auf, die wir am ehesten als negativ bezeichnen würden: verändertes Leseverhalten, mehr an der Oberfläche als in der Tiefe; infolge erleben wir eine drastische Fragmentierung von Inhalten; Schwierigkeiten damit, Entscheidungen zu treffen und dazu zu stehen. Zu viele Onlinestunden können den Lebensrhythmus durcheinanderbringen. Die Folgen wären Schlafstörungen, hohe Nervosität, Konzentrationsschwäche – und wieder die Folge davon, abnehmende Leistungsbereitschaft.“
Von Ackern nickte Trové noch einmal zu, wechselte die Moderationskarte und wandte sich jetzt an Steffen Arnold. Irgendwie bekam es der junge Online-Händler hin, seine Hände kurz ruhig zu halten.
„Herr Arnold, wie viel von dem, was Herr Trové benannt hat, ist neu für Sie?“
„Ganz ehrlich? Alles.“
Das nahm ihm Jessica sofort ab. Entsprach der junge Arnold nicht genau dem Typ, den Trové gerade beschrieben hatte? Arnold legte jetzt endlich die Hände auf den Knien ab und spreizte die langen Finger weit auseinander. Seine unbeholfene Gestik erinnerte Jessica ein bisschen an Bastian Pastewka.
„Sie sind Mitbegründer der ersten Netzgewerkschaft“, wiederholte der Moderator. „Die Redaktion und ich fanden das sehr interessant, und wir freuen uns, dass Sie heute hier sind.“
Ja, so konnte man es auch ausdrücken. Steffen Arnold musste aufpassen, sich von dem Moderator nicht vorführen zu lassen. Den Boden dafür hatte Trové im Grunde gelegt, indem er versuchte, den Homo Digitalis zu beschreiben. Blieb nur zu hoffen, dass der Medienwissenschaftler auch die Vorteile des Internets in seinem Buch benannte. Ansonsten wäre es doch eine sehr einseitige Betrachtung. Während Trové nach wie vor offen und freundlich in die Runde schaute, hielt Heck seinen Blick meistens gesenkt. Sobald er mal aufblickte, schaute er sofort in Jessicas Richtung, als wartete er nur darauf, ihr endlich etwas an den Kopf werfen zu können. Die Gelegenheit würde er bestimmt bekommen.
Plötzlich begriff Jessica: Hier war nichts dem Zufall überlassen worden. Nicht nur, dass mit Arnold und Trové ganz unterschiedliche Generationen aufeinandertrafen. Vor allem hatte der Moderator zuerst die beiden in das Gespräch eingeführt. Er hob sich also Jessica und Jürgen Heck für den Höhepunkt der Sendung auf. Es gab keine Von-Ackern-Show ohne Zuspitzung und Angriff. Deshalb war es von Beginn an nicht nur eine Chance gewesen, an der Talkrunde teilzunehmen, sondern auch ein Risiko. Nur ruhig, ermahnte sich Jessica. Nicht provozieren lassen, weder vom Moderator noch von Heck. Auf das Buch aufmerksam machen und immer mal wieder in die Kamera lächeln. Trotzdem stellte sie fest, wie sehr sie dieser ewige Kampf anstrengte, egal ob nun hier im Studio oder vor Gericht.
Der Moderator richtete sich in seinem Sessel auf und wandte sich abwechselnd an Trové und Arnold. Sie kamen auf globale Märkte zu sprechen, auf politische Ereignisse wie den Arabischen Frühling, der maßgeblich von Facebook beeinflusst worden war, und sie benannten die wunderbaren Möglichkeiten der weltweiten Kommunikation. Unterschwellig klang dabei durch, Trové sei für die neue Technik zu alt und zu langsam. Wie würde er mit diesem Vorwurf umgehen? Jessica versuchte, in Trovés Gesicht etwas zu erkennen. Der Wissenschaftler schmunzelte, blieb locker in seinem Sessel sitzen und fuhr sich mit einer Hand über den Bart.
„Ja, natürlich. All das bestreite ich nicht. Mir geht es darum, dass wir auch die schwachen Seiten des Mediums kennen, erst dann können wir ausgleichen und Balance herstellen.“
„Cooler Ansatz“, sagte Steffen Arnold. Von Ackern versuchte, weiter zu provozieren, was nicht richtig gelang. Trové benannte ein Problem, und sofort zog Steffen Arnold dafür eine technische Lösung aus dem Ärmel. Die beiden Männer ergänzten sich perfekt. Jessica hatte den jungen Arnold unterschätzt. Er brachte ein gewaltiges technisches Wissen mit. Sie begriff außerdem, wie leicht es wäre, die Medienlandschaft anders aussehen zu lassen. Die Entwickler müssten sich nur von der Design-Idee der Ablenkung verabschieden. Immer mal wieder hörte Jessica den einen oder anderen Zuschauer klatschen.
Der Moderator ordnete seine Karten und schaute Heck an. Wie auf ein Zeichen hob dieser auf einmal seinen Kopf. Weiß der etwa, dass er gleich seinen Auftritt bekommt? Jessica umfasste die Lehnen des Sessels fest.
„Wir haben jetzt ein Stück weit beleuchtet, wie sich die Gesellschaft zum Medium verhält und umgekehrt“, sagte von Ackern. „Was aber ist mit der digitalen Präsenz des Einzelnen, und welche Rolle spielt dabei das Bild beziehungsweise die Inszenierung von Bildern?“
Von Ackern deutete auf den großen Studiomonitor. Jessica sah das Foto von ihr und dem Bundesverfassungsrichter.
Ausgerechnet dieses Bild! Sofort drängte es sie, zu erklären, wie es zu dem Foto gekommen war und was es damit auf sich hatte. Heck lächelte. Jessica drückte den Rücken durch. Gleich würde sich der Moderator ihr zuwenden. Aber von Ackern nickte nur kurz in ihre Richtung und sagte:
„Frau Dr. Scheffold, Sie bekommen sofort die Gelegenheit, sich zu dem Foto zu äußern, einen kleinen Moment. Herr Trové, wir sehen dieses Foto auf dem Monitor. Viele unserer Zuschauer kennen es sicher, es symbolisiert nicht unbedingt den Beginn von Frau Scheffolds Karriere, wohl aber den Beginn einer gewaltigen digitalen Präsenz. Ich beziehe mich dabei auf Frau Scheffolds Facebook-Profil. Herr Trové, steht dieses Bild für eine beispielslose Inszenierung? Hat es Frau Dr. Scheffold von Beginn an verstanden, das Internet für sich arbeiten zu lassen?“
Trové rollte die Augen.
„Ich denke, Frau Dr. Scheffold kann gut für sich selbst antworten.“
Von Ackern hob die Hände: „Da bin ich mir sicher. Aber haben wir die Situation nicht so oft in der Realität? Fotos sind da. Was es damit auf sich hat, erfahren wir erst später.“ Der Moderator drehte sich ein winziges Stück von Jessica weg, was sie sofort registrierte.
Trové hatte es ebenfalls bemerkt. „Sie wollen doch nicht etwa jeden Zuschauer fragen, was von dem Bild zu halten ist?“, hakte er ungehalten nach.
„Nein“, von Ackern hob noch einmal die Hände.
Er weiß ganz klar, was er tut. Wie von Ackern hier vorging, war schlichtweg unhöflich. Eine warme Welle erfasste Jessicas Körper. Sie spürte ihr Herz. Heck grinste und schaute auf den Boden.
„Falls Sie es nicht wissen sollten“, sagte von Ackern, „der arme eingeschüchterte Mann in dem Stuhl, dem Frau Scheffolds erhobener Zeigefinder gilt, ist Hans Dieter Falkenberg, seines Zeichens Bundesverfassungsrichter. Das Foto war lange in den Medien, und es markiert für viele Menschen im Land die entscheidende Wende in der Nein-heißt-Nein-Debatte. Andererseits könnten wir auch fragen, ob Frau Scheffold aufgrund dieses Bildes so viel Aufmerksamkeit bekommen hat. Also doch eine perfekte Inszenierung?“
Von Ackern schaute Jessica nicht an und in diesem Moment wusste sie ganz klar: Sie saß bereits inmitten einer Provokation. Typisch von Ackern. Jetzt, dachte sie.
„In ihrer Kneipe würde ich jetzt auf den Tisch hauen …“
„Frau Dr. Scheffold, lassen Sie mich zunächst noch …“
„Nein, ich lasse eben nicht. Wenn Sie schon das immer gleiche Foto bemühen müssen, nutze ich genau jetzt die Möglichkeit, um etwas dazu zu sagen.“
Der Moderator machte eine ausladende Handbewegung und lehnte sich zurück. Punkt für sie.
„Herr Wowereit und der rote Schuh“, fuhr Jessica ohne Zeit zu verlieren fort, „Emma Watson und Harry Potter, Michael Jackson und der Moonwalk – ich möchte mich gar nicht auf eine Stufe mit Schauspielern oder anderen berühmten Menschen stellen, sondern nenne die Beispiele nur, um zu zeigen, wie schnell man in eine Schublade gesteckt wird. Irgendwie werde ich das Foto nicht los. Das Bild war ein Schnappschuss, weniger als ein Augenblick, und die Geste galt meiner Assistentin.“
Von Ackern fuhr sich kurz mit einer Hand über die Glatze: „Aber es ist doch vor dem Bundesverfassungsgericht entstanden?“
„Ja, aber nicht während der Verhandlung. Es wurde im Anschluss aufgenommen, und es hat überhaupt nichts damit zu tun, dass ich Herrn Falkenberg etwa die Leviten gelesen hätte, wie Sie es so verzerrt dargestellt haben.“
Von Ackern räusperte sich kurz und fuhr sich erneut mit der Hand über die Glatze.
„Mit dem Bild ist die Anzahl Ihrer Follower explodiert. Wir sprechen von immerhin achtzehntausend Menschen, ich habe extra noch einmal nachgeschlagen.“
„Wenn Sie das sagen.“
Kurz streifte Jessicas Blick Jürgen Heck. Er öffnete den Mund und presste wieder die Lippen aufeinander.
„Herr Heck“, bremste ihn der Moderator, „einen Moment bitte. In der Tat ist es so, dass die Kanzlei Heck fast ohne digitale Präsenz auskommt. Sie, Frau Dr. Scheffold, gehen einen anderen Weg.“
„Das hat sich im Prinzip so entwickelt. Ich hatte eine Mandantin, die in der Wohnung eines Mannes vergewaltigt worden war. Das Landesgericht hatte ihr Schadensersatz zugesprochen, das Oberlandesgericht hatte diesen wieder zusammengestrichen, mit der Begründung: Die Frau habe sich aus freien Stücken in eine nicht eindeutige Lage gebracht. Die juristische Auseinandersetzung hat uns schließlich den Weg bis zur letzten Instanz gehen lassen. Auf Facebook war so viel Schlimmes und Falsches geschrieben worden, und ich hielt es für klug, genau auf dem Medium zu antworten. Verstehen Sie?“
„Es gab die Meldung, die Frau sei aus dem Rotlichtmilieu gewesen“, ergänzte von Ackern.
„Und vieles andere mehr ist geschrieben worden“, antwortete Jessica. „Ich will hier nicht noch mal alles aufzählen. Ich habe aber dann doch erkannt, dass mir mein Facebook-Profil Möglichkeiten an die Hand gibt. Wir wissen ja alle: Staatsanwaltschaft und Polizei äußern sich sogar zu laufenden Prozessen. Wieso also soll die Verteidigung zum Schweigen verdonnert sein? Dass ich dabei nicht vor der neuen Technologie zurückschrecke, entspricht ja wohl eher dem Zeitgeist als Präsentationswut.“
Der Moderator nickte und wandte sich Heck zu.
„Handelt es sich bei dem Foto um eine geschickte Inszenierung? Das ist unsere Ausgangsfrage gewesen.
Ich stelle sie deshalb noch einmal, weil jeder meiner Studiogäste eine andere digitale Präsenz mitbringt. Steffen Arnold ist gefühlt dauerpräsent im Internet. Von der Kanzlei Heck finden wir im Internet lediglich eine Landingpage und sonst nichts. Herr Heck, warum keine digitale Präsenz?“
„Nein, wir halten nichts davon. Vielleicht sind unsere Brötchen etwas kleiner, aber abgesehen davon müssen wir uns nicht, wie das Frau Dr. Scheffold so gerne tut, im Internet präsentieren wie eine polierte Weihnachtsbaumkugel. Überhaupt handelt es sich ja um komplexe juristische Zusammenhänge, und um diese darzustellen, ist Twitter nicht der geeignete Ort.“
Heck drehte seinen Kopf ruckartig Jessica zu. Das Foto war immer noch auf dem Studiobildschirm zu sehen, was Jessica störte. Bloß nicht provozieren lassen.
„Ich bin nicht auf Twitter“, antwortete sie bestimmt, aber ruhig.
„Das ist doch alles das Gleiche.“
Jessicas Blick schweifte kurz in die Zuschauerreihe. Michael hatte seinen Kopf runtergenommen und sah auf seine Beine.
„Nein“, antwortete Trové. „Die Plattformen unterscheiden sich deutlich. Außerdem ist es auch ein Unterschied, ob man sein Privatleben im Internet ausbreitet oder ob man über sein Fachgebiet schreibt.“
„Okay, ich habe verstanden“, sagte Steffen Arnold.
„Herr Arnold“, nahm von Ackern Trovés Hinweis auf.
„Digitale Präsenz – für Sie unerlässlich?“
„Ja, unbedingt. Wir müssen mit unserem Shop immer am Ball bleiben, sonst fahren wir Verluste ein. Allerdings kann man unser Business auch nicht unbedingt mit dem von Frau Dr. Scheffold vergleichen. Bio-Produkte online zu verkaufen ist ja ein ganz anderes Ding. Gleich ist vielleicht die mega Begeisterung und der Wille, etwas erreichen zu wollen. Ich schlafe nur am Monatsende.“
Von Ackern rang sich ein Lächeln ab und sagte: „Okay. Aber was halten Sie von Frau Scheffolds digitaler Präsenz?“
„Was Frau Dr. Scheffold da macht, ist eine starke Leistung. achtzehntausend Follower sind eine ordentliche Hausnummer. Ich habe auch mal Jura angefangen zu studieren, allerdings nach drei Semestern abgebrochen. Aber was Frau Scheffold schreibt, kann ich verstehen, und ich würde sogar ihr Buch kaufen.“
„Das Buch“, nahm von Ackern den Ball auf, „heißt Das Recht in der digitalen Welt und erscheint … wann, Frau Scheffold?“
„Hoffentlich noch in diesem Jahr.“
„Genau“, antwortete Heck barsch. „Darauf habe ich gewartet. Selbstdarstellung und Werbung.“
Er schaute demonstrativ weg. Kurz drauf starrte er Jessica wieder an. Sein Gesicht hatte rote Flecken bekommen.
„Reine Präsentationswut. Wie ein Model, das jeden Tag Spinat fotografiert, um der Welt zu zeigen, wie gesund sie sich ernährt. Handfeste Fakten sind doch viel wichtiger, als so einem Trend hinterherzurennen.“
Jetzt in keinen offenen Schlagaustausch mit Heck geraten! Von Ackern mochte solche Situationen. Jessica wusste das. Allerdings hatte sie auch keine Lust, sich von Heck den Einstieg in ihr neues Leben vermasseln zu lassen.
Noch bevor von Ackern etwas sagen konnte, antwortete sie:
„Ich weiß nicht genau, was Sie meinen – falls Sie sich auf mein Profil beziehen: Frei weg von der Leber kann ich sowieso nicht schreiben, schon gar nicht über aktuelle Fälle, weil ich ja als Anwältin an die Schweigepflicht gebunden bin. Entweder die Mandanten haben mich davon befreit, sind gestorben, oder die Fälle liegen lange genug zurück. Auch wenn ich auf dem Profil nur anonyme Fallbeispiele nennen kann, wird doch der Sachverhalt ziemlich genau deutlich. Und den größten Vorteil sehe ich tatsächlich darin, einen gewissen Gegenpol zur Staatsanwaltschaft schaffen zu können. Was soll schlecht daran sein?“
„Es ist überflüssig“, bellte Heck. „In diesem Zusammenhang, sage ich es gerne noch einmal: Auch die von Ihnen angestoßene Nein-heißt-Nein-Debatte und die damit verbundene Änderung des Paragrafen 177 – völlig überflüssig. Sie müssen doch endlich mal einsehen, dass sich die Rolle der Frau von den Fünfzigern bis heute ganz entschieden gewandelt hat.“
Einige Zuschauer applaudierten lautstark. Was war nur mit diesem Land los? Angesichts des schnellen Internets gab es offenbar viele Menschen, die sich nach bewährten Strukturen sehnten, und genau dafür stand Heck. Jessica sah mit einem Blick zur Studiouhr: Sie hatte nicht mehr ewig Zeit. Das Kräfteverhältnis zwischen ihr und Heck schien eher ausgeglichen. Sie konnte versuchen, seine Argumente für sich arbeiten zu lassen. Jessica richtete sich auf. Der Moderator wollte etwas sagen.
„Stopp, Herr von Ackern! Es stört mich schon, dass ich immer wieder auf das gleiche Thema reduziert werde.“ Jessica deutete kurz auf den Studiobildschirm. „Es hätte eine Reihe anderer Bilder gegeben als das mit Richter Falkenberg.“
Hecks Hand sauste wieder durch die Luft. Jessicas Gedanken rasten.
„Herr Heck“, sagte sie schnell. „Vielleicht meinen wir sogar das Gleiche? Als Juristin geht es mir natürlich um handfeste Fakten. Auf der anderen Seite sehen wir uns immer öfter mit den Phänomenen Vorverurteilung und Hasskommentare konfrontiert.“
„Nein“, schoss Heck sofort zurück. „Wir meinen gar nicht das Gleiche. Nur, weil jemand etwas tut, muss ich nicht auf gleicher Ebene zurückschlagen und ebenfalls ein Facebook-Profil aufmachen.“
Von Ackern wiegte den Kopf und schaute abwechselnd Jessica und Heck an. Wem spielt er jetzt den Ball zu? Jessica umfasste die Sessellehnen fest.
„Jedenfalls ist die Debatte ins Rollen gekommen“, sagte von Ackern. „Sehr wahrscheinlich schon ein Zeichen dafür, dass sie notwendig war beziehungsweise immer noch notwendig ist.“ Er schaute Jessica interessiert und offen an.
Heck sah wieder weg. Gut so! Punkt!
„Natürlich ist die Debatte notwendig gewesen, das steht ja hoffentlich außer Frage. Zum Glück haben wir die Gesetzesänderung jetzt im November. Außerdem wäre es zu früh, das Engagement hier einzustellen. Ungleichheiten zwischen Mann und Frau gibt es immer noch.“
„Ich frage mich bloß, wo“, ereiferte sich Heck sofort. „Wir müssen doch als Männer jetzt schon aufpassen, nicht ins gesellschaftliche Abseits zu geraten, was durch Scheidung und Unterhaltszahlungen schnell passieren kann.“
Wieder hörte Jessica einige Zuschauer klatschen, kurz schweifte ihr Blick zu Michael. Er schaute immer noch auf seine Knie.
Ihr fehlte der entscheidende Satz. Eine der Kameras kam wie ein großes Auge auf sie zu. Plötzlich hatte sie eine Idee, allerdings käme sie damit dem laufenden Heinrich-Prozess sehr nahe. Sie musste es wagen.
„Es bringt uns doch nichts, Facebook und Co zu verteufeln. Wir müssen uns eher fragen, warum die Gefahr öffentlicher Vorverurteilungen so gestiegen ist. Hetze, Hass und haltlose Debatten beruhen auf gewissen Wertevorstellungen. Vor dem Gesetz sind alle gleich. Ein Satz, den wir nicht aus den Augen verlieren dürfen.“
Heck hob beschwörend die Hände. „Lassen Sie mich raten: Sie sind jetzt wieder bei der armen unterdrückten Frau.“
Gut. Heck hatte den Köder geschluckt.
„Also gut, ich nenne Ihnen ein Beispiel: Nehmen wir einen Mann, der abends im Stadtpark die Hose runterlässt und sich nackt zeigt. Nehmen wir an, es käme zu einer Anzeige, da sich jemand durch diesen Mann bedroht fühlte. Nach Paragraf 183 StGB kann der Mann hier entsprechend bestraft werden. Was aber, beginge eine Frau genau die gleiche Handlung? Im Zusammenhang mit Exhibitionismus ist im Gesetzestext nur von einem Mann die Rede. Wenn wir konsequent weiterdenken, ist die Handlung im Fall des Mannes eine Straftat, aber wie würde das Gericht bei einer Frau entscheiden? Auf Ordnungswidrigkeit? Wenn ja, würde das Gericht eine gleiche Handlung ungleich bewerten, ein Verstoß gegen Artikel drei des Grundgesetzbuches. Mir ist schon klar, dass es Vorstöße gab, diesen Paragrafen zu ändern, aber erfolglos.“
„Zu Recht“, fuhr Heck auf. „Welche anständige Frau tut so etwas? Das kann man sich doch gar nicht vorstellen!“
Heck schleuderte die Sätze heraus, und dann schien es, als wäre er selbst über die Heftigkeit erschrocken. Er fuhr sich mit dem Taschentuch über die schweißnasse Stirn und schaute zu Boden. Das Publikum war still. Zum ersten Mal an diesem Abend blieben sogar die Kameramänner ruhig stehen.
Michael hatte seinen Kopf nach oben genommen. Er lächelte jetzt.
Erst nach einem deutlichen Moment sagte Trové: „Ein gutes Beispiel.“ Wieder ein Punkt. Jessica schaute ins Publikum und versuchte zu lächeln.
„Genau das meine ich“, sagte sie jetzt ruhig. „Wenn wir schon im Gesetzestext in Bezug auf eine Handlung Frauen und Männer ungleich bewerten, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass es in der Gesellschaft zu noch größeren Ausgrenzungen kommt.“
„Das ist doch Unsinn“, attackierte Heck. „Sie wissen doch selbst, was es für ein Aufwand ist, ein Gesetz zu ändern. Da müssen wir uns doch zu Recht fragen, ob sich der Aufwand lohnt, nur weil es einmal in hundert Jahren vorkommt, dass eine Frau ohne Slip durch den Stadtpark läuft. Lächerlich das Ganze!“
„Äh“, von Ackern fasste sich ans Kinn, „liegen uns Zahlen vor? Häufigkeit Exhibitionismus im Vergleich Frauen und Männer?“
„Geht es wirklich darum?“, antwortete Jessica. „Auch dieses Thema haben zahlreiche Leser auf meinem Profil kommentiert. Ich finde es wichtig zu zeigen, und das habe ich auch so geschrieben: Vor Gericht sind alle gleich. Das sollte sich natürlich auch im Gesetzestext widerspiegeln, was aber bis jetzt nicht der Fall ist. Paragraf 183 ist ein altes Gesetz aus dem Jahr 1870. Also es geht auf meinem Profil um solche Themen, und für mich als Juristin ist es sehr interessant zu erfahren, wie meine Leser darüber denken.“
Jessica hörte jetzt deutlichen Beifall der Gäste.
„Weiter so, Frau Scheffold“, hörte Jessica eine Frau rufen.
Heck schien zu spüren, dass sie die Oberhand gewonnen hatte. Er ereiferte sich: Alte Gesetze müssten nicht zwangsläufig schlecht sein, und wenn schon so eine Diskussion, dann sei ein Facebook-Profil kein geeigneter Ort, um diese auszutragen. Arnold und Trové hielten dagegen und folgten Jessicas Meinung. Noch einmal brandete die Diskussion lebhaft auf, dann schaltete sich von Ackern ein.
„Liebe Zuhörer und Gäste! Leider muss ich hier unterbrechen, unsere Sendezeit ist vorbei. Allerdings dürften wir alle gemerkt haben: Es besteht zu diesem Thema noch Redebedarf. Ich würde mich also freuen, könnten wir recht bald eine Fortsetzung der heutigen Talkrunde hinbekommen. Viele Grüße an den Sender.“ Der Moderator stand auf. „Ich danke der Regie und meinen Gästen: Steffen Arnold, Henning Trové, Dr. Jürgen Heck und Frau Dr. Scheffold.“
Der Applaus schwoll noch einmal an, als von Ackern Jessicas Namen nannte. Michelle kam über das Podest und streckte ihr einen Strauß Rosen entgegen. Jessica stand ebenfalls auf, nahm die Blumen und winkte mit dem Strauß dem Publikum.
Gewonnen, dachte sie. Sieg nach Punkten. Dank Steffen Arnold war es auch nicht schwer gewesen, auf das Buch hinzuweisen. Der Verlag würde das wohlwollend registrieren. Alles gut.
***
Die anderen Talkgäste hatten genau wie Michael und Jessica im Berghotel in unmittelbarer Nähe zum Studio eingecheckt, und zu Jessicas Überraschung fanden sich alle nach und nach in der Bar ein. Sogar der Moderator Harald von Ackern kam im Moment hereingeschlendert, kurz drauf setzte er sich mit einem Whiskyglas zu Trové, der von Ackern auf die Schulter klopfte. Steffen Arnold schien besonders froh, den Auftritt hinter sich zu haben. Er bestellte sich schon ein drittes Pils und einen Booster-Energy-Drink. Jetzt rückte er an Jessica heran und präsentierte ihr die Homepage seines Shops. Michael berührte sie an der Schulter und deutete mit einer Hand zum Eingang. Jessica drehte sich um und sah Heck. Ihre Blicke begegneten sich. Heck zögerte kurz, machte kehrt und lief wieder davon. Genau jetzt wäre es möglich, Heck zu fragen, was das eigentlich sollte. Er hatte während der Sendung weder Trové noch Arnold beachtet, sondern war ausschließlich auf Jessica fixiert gewesen. Das ließ sich kaum noch mit der Rivalität zwischen ihrem Chef und Heck erklären. Zumal Jessica wusste, wie brillant Heck reden konnte, wenn es darauf ankam. Sie schwenkte ein Bein über den Barhocker, spürte aber Michaels Hand am Unterarm.
„Komm, lass es gut sein!“
Jessica zögerte, nickte dann und wandte sich wieder Arnold zu. Er hielt ihr sein Tablet unter die Nase. Gerne hätte Jessica mehr über seine Arbeit für die Onlinegewerkschaft erfahren. Insgesamt fand sie, dass Arnold während der Sendung ein bisschen zu kurz gekommen war. Lag das vielleicht daran, dass sie so viel geredet hatte? Jessica schaute Arnold kurz an. Er griff mit einer Hand nach seiner Brille, und mit der anderen wischte er über das Display. Er schien stolz zu sein, ihr die Fotos zeigen zu können. Allerdings konnte Jessica kaum noch verstehen, was er zu den Bildern sagte. Er hatte zu viel getrunken.
„Komm, lass uns gehen“, flüsterte ihr Michael von der anderen Seite ins Ohr.
„Hast du alle Pilssorten durch?“
„Ja, und das eine oder andere Craft Beer. Ich bin nicht so konsequent wie du.“ Er deutete auf Jessicas Aperol-Glas.
„Das Einzige, was mir schmeckt“, gab Jessica zu.
„Komm schnell, Arnold ist wahrscheinlich auf die Toilette.“ Michael zeigte auf den leeren Platz. Jessica hatte gar nicht mitbekommen, dass Arnold gegangen war.
Sie verließen die Bar. Trové hob ihnen sein Whiskyglas entgegen und nickte freundlich. Im Hotelflur kam ihnen Steffen Arnold doch noch entgegengeschlurft.
„Frau Scheffold, ich bin auch gut mit Sprachen“, rief er laut und überschwänglich.
„So“, antwortete Jessica und lachte.
„Ja. El Natter – die Schlange, Aqua Miserable – das Mineralwasser und, und …“ Arnold hielt sich kurz die Hand vor den Mund und rülpste, „… der Busch – la Bouche.“
„Das sind ja mindestens zwei Sprachen auf einmal.“
Jessica spürte Michaels Hand im Rücken.
„Herr Arnold“, sagte sie, „wir müssen leider gehen. Morgen ist zwar Sonntag, aber wir sollten sehr früh los.“
„Oh, wie schade.“
„Ja, das finde ich auch. Also, auf Wiedersehen.“
Kurz darauf lief sie mit Michael die Treppen zum ersten Stock nach oben, und er hakte sich bei ihr ein. Jessica staunte, wie vertraut sich sein Arm anfühlte.
Michael sah im Grunde immer noch so aus wie während ihrer gemeinsamen Studienzeit. Meistens trug er eine recht gute Hose, zu der aber das Jackett nicht passte und schon gar nicht die Baseballkappe. Er sah immer noch danach aus, als könne er die ordnende Hand einer Frau gut vertragen, dabei war er seit Langem verheiratet und hatte drei Kinder. Bevor Jessica mit Alexander zusammengekommen war, hatte sie mit Michael eine kurze Affäre gehabt. Das lag aber lange zurück.
Vor der Zimmertür angekommen, drehte sich Jessica zu ihm um, und er sagte: „Komm, lass uns noch etwas trinken.“
Jessicas Blick fiel auf den Stoffbeutel, den er in einer Hand hielt. „Diskussionsrunden im Radio, Interview hier, Pressekonferenzen da … aber ein Fernsehauftritt zur besten Sendezeit …“, Michael kratzte sich am Kinn, „… meinst du nicht, dass deine Arbeit und damit unsere Zusammenarbeit einen neuen Höhepunkt erreicht hat?“
Jessica nickte. Dieser Abend konnte tatsächlich der Beginn eines neuen Lebensabschnitts sein. Sie dachte kurz an Alexander und hoffte gleichzeitig auf eine gute Resonanz der Sendung, die sich hoffentlich auf die Vorbestellungen des Buchs auswirken würde. Ihr Blick lag noch immer auf dem Stoffbeutel, aus dem eine Flasche mit dem typisch blauen Drehverschluss und dem golden geschwungenen A herausschaute.
„Du weißt, was ich mag“, sagte sie.
Im Zimmer nahm sie zwei Gläser aus dem Schrank und stellte sie auf ein Tischchen.
„Komm“, rief Michael. „Der Sekt ist schon auf.“
„Erst den Aperol und dann den Sekt.“
„Beim nächsten Mal“, antwortete er und hielt ihr das zu volle Glas hin.
Sie stießen an.
„Frau Dr. Scheffold“, bellte Michael auf einmal und zog wie Heck auch den Kopf tief zwischen die Schultern. „Sie werden doch einsehen müssen …“
Er nahm ein Taschentuch und fuhr sich damit über die Stirn. Jessica lachte und hielt sich die Hand vor den Mund.
„Den hast du richtig vorgeführt“, meinte Michael und drehte Jessica so wie Heck den ganzen Körper zu, sobald er den Kopf bewegte.
„Nein, ich habe ihn nicht vorgeführt. Er hat geantwortet, wie die meisten antworten würden.“
„Vorgeführt, aufs Eis geschoben.“
„Entschuldigung, war keine Absicht. Du hast den Heck gut beobachtet. Ich meine, in so kurzer Zeit seine Stimme und Bewegungen so zu verinnerlichen …“
„Ja“, sagte Michael. „Hatten wir während des Studiums weit und breit den besten Theaterclub, oder nicht? Du erinnerst dich doch?“
„Natürlich! Aber dass du das noch so gut draufhast …“
Michael zuckte die Schultern und nahm einen großen Schluck. Wilde Zeiten, dachte Jessica. Michael, seine Frau Christine, Alexander und Jessica waren der harte Kern des Clubs. Die Premierenfeiern legendär. Heute schien es Jessica so, als wäre der Club eine Art Gegenpol zum staubtrockenen Jura gewesen. Natürlich hatten Bier, Sekt und Aperol immer dazugehört.
Michael taumelte etwas unbeholfen durch das Zimmer und versuchte immer noch, sich so zu bewegen wie Heck. Jessica lachte, verschlucke sich und hustete.
„Was hat es denn damit auf sich?“, fragte er.
Michael deutete auf ein Dirndl. Es hing an dem einzigen Schrank des Zimmers.
„Immerhin sind wir in München“, überlegte sie. „Das Oktoberfest geht bald los.“
Er nahm das Kleid vom Schrank und hielt es in Jessicas Richtung. „Also, ich könnte wetten, es hat genau deine Größe.“
„Nein, nein, denk nicht mal dran.“
„Im Club damals hast du innerhalb von zehn Minuten drei verschiedene Kleider angehabt. So schnell wie du konnte sich niemand von uns umziehen. Hast du das noch drauf?“
„Bestimmt“, antwortete Jessica. „Aber ich zieh das Ding jetzt nicht an.“
„Okay, okay“, antwortete Michael. Er schmunzelte, und in seinem Blick lag etwas wie: Schon gut, altes Mädchen, die besten Jahre … du weißt, wie der Spruch geht? Er drehte sich um und ging zur Toilette. Jessica hörte die Tür. Sie trat vor den Spiegel, drehte sich und betrachtete ihr seitliches Profil. Verdammt, hatte sie nicht gerade in der Show bewiesen, wie schlagfertig sie war? Sie wusste nicht so recht, wie sie Michaels Gesichtsausdruck deuten sollte. Oder fand er sie gar nicht mehr attraktiv? Konnte das sein? Hatte er damit nicht etwas mit Alexander gemeinsam? Sie brauchte Michaels Blick nicht, und sie war auch keine verklemmte Emanze, wie ihr alle weiszumachen versuchten. Was sie brauchte, war Alexander und sein Atem, der auf ihren Hals traf und sie umspülte wie eine Umarmung. Ja, wie lange schon nicht mehr? Viel zu lange.
Das Warum tauchte auf, und genau darauf gab es keine Antwort. Momentan fühlte sie sich nicht vollständig, weder als Frau noch als Liebhaberin. Sie strich sich mit den Händen über den flachen Bauch und gab sich einen Ruck. Kurz drauf stieg sie aus der Hose und schob sie mit dem Fuß zur Seite. In null Komma nichts hatte sie sich die Bluse über den Kopf gestreift und war genauso schnell in das Dirndl gestiegen. Es hatte einen tiefen Ausschnitt, und mit einem Blick in den Spiegel sah Jessica: Ihr schwarzer BH schaute hervor. Nein, so ging es nicht. Sie öffnete kurzerhand den BH und warf ihn zur Hose.
Plötzlich summte ihr Handy. Wer konnte das sein? Toni vielleicht. Sie wollte bestimmt nachfragen, wie die Talkrunde gelaufen war. Jessica hielt mit der linken Hand das Oberteil des Dirndls, mit der rechten griff sie nach dem Handy und schob den Daumen über das Display.
Auf einmal Michaels Stimme: „Ha, ha, ha.“ Jessica fuhr herum und ließ das Handy fallen. Es knallte zu Boden und rutschte Michael genau vor die Füße.
„Du bist nicht ganz fertig“, rief er und lachte noch lauter als zuvor.
Jessica lief auf ihn zu und bückte sich, um nach dem Handy zu greifen, ein Schwindelgefühl überkam sie. Ihr rutschte das Oberteil von der Brust. Das war der Alkohol. Sie zog am Saum und langte nach dem Handy, doch Michael war schneller. Schon hörte Jessica ein leises Klacken.
„Hörst du auf!“, rief Jessica und versuchte, das Dirndl mit der linken Hand nach oben zu ziehen.
Michael ließ noch einen langen Moment, wie es Jessica schien, den Finger auf dem Auslöser, dann erst legte er das Handy aus der Hand und taumelte auf Jessica zu.
„Es geht erst richtig los“, lallte er und zog sie grob an sich. Er versuchte, sie zu küssen. Jessica drehte den Kopf weg. Sie roch seine gewaltige Bierfahne. Schnell legte sie beide Hände auf seine Brust und stieß ihn von sich weg.
Das Dirndl rutschte nach unten. Sie verfing sich darin und fiel um. Jessica strampelte sich das Kleid von den Füßen, behielt aber dabei Michael im Blick. Allerdings verschwammen seine Konturen. Schwankend kam sie wieder auf die Beine und legte sich endlich einen Arm über die Brust.
„Michael! Es reicht! Ich gehe jetzt auf die Toilette, und du gehst auf dein Zimmer! Denk an Christine und nicht an mich.“
Der Name Christine hatte bei Michael schon immer gezogen. Michael grinste und drehte seine Baseballkappe in den Händen. Jessica war jetzt hellwach. Sie lief langsam an ihm vorbei in Richtung Toilette und hob dabei ihre Bluse vom Boden auf. Er brauchte nur den Arm nach ihr ausstrecken, doch zum Glück rührte sich Michael nicht. Vielleicht, weil er selbst erschrocken war. Jessica nutzte den Moment und huschte in die Toilette. Sie schloss die Tür ab.
„So ein schöner Abend“, lallte Michael im Zimmer.
Jessica horchte angestrengt. Endlich, nach einigen langen Minuten fiel die Zimmertür ins Schloss. Vorsichtig öffnete Jessica die Toilettentür und atmete tief aus.
***
Am nächsten Morgen fühlte Jessica zuerst ihre Zunge und den fürchterlichen Geschmack im Mund. Sie setzte sich auf. Die Wände des Zimmers verschwammen ihr vor den Augen. Sie legte sich eine Hand auf die Stirn. In ihrem Kopf ein pulsierender, dumpfer Schmerz. Erst nach einem Moment nahm das Zimmer schärfere Konturen an. Da lag die Hose, nicht weit davon der BH und dort das Dirndl.
Um Gottes willen! Jessica hielt sich die Hände vor das Gesicht. Noch einmal roch sie Michaels Atem und sah seinen gierigen Blick. Sie stieg langsam aus dem Bett, öffnete die Minibar und griff nach einer Flasche Wasser. Sie trank und sah dabei auf das Handydisplay. Was, neun Uhr schon?
Sie setzte das Glas ab, fühlte, wie schwer ihr Körper war und wie träge die Gedanken. Ein Zustand, den sie zutiefst hasste. Er stand ganz im Gegensatz zur wunderbaren Klarheit und den Gedanken, die das Yoga mit sich brachte. Vor allem hasste sie sich in diesem Moment selbst. Sie wusste es doch. Ein Glas Alkohol und dann Schluss. Wieso hatte sie sich gestern nicht einfach daran gehalten?
Während Jessica sich im Bad Wasser ins Gesicht spülte, dachte sie an Michael. Er war so oft abgelehnt worden. Die Hauptrolle hatte er im Club nie bekommen, jetzt gelang es ihm nicht, in Sebastians Kanzlei Fuß zu fassen, und das lag an Sebastian. Jessica wusste, wie sehr Michael darunter litt. Sie putzte sich die Zähne, griff nach der Feuchtigkeitscreme. Anschließend packte sie ihre Sachen zusammen, zog sich an und hängte das Dirndl wieder an den Schrank. Sie trat in den Flur und klopfte an Michaels Tür. Ein dunkelhaariges Zimmermädchen öffnete.
„Der Herr Belzer ist schon weg.“
***
Zehn Minuten später saß Jessica allein beim Frühstück. Der Kaffee tat ihr gut. Am besten gar keinen Alkohol mehr, dachte sie, und es kam ihr noch einmal in den Sinn, dass sie fast nackt vor Michael gestanden hatte. Das Handy brummte. Das wird er sein. Er wird sich entschuldigen wollen.
Jessica fuhr mit dem Daumen über das Display und schaute in ihr eigenes Gesicht. Sie sah die Augenringe, das entspannte breite Grinsen, das man nur so gelöst hinbekommt, wenn Alkohol im Spiel ist. Sie sah ihre Brüste. Das Bild verschwand, und ein Text erschien.
Frau Dr. Scheffold, las sie. Von Ihnen droht ein brisanter Datensatz in Umlauf zu geraten. Für einen überschaubaren Monatsbeitrag schützen wir Ihre Daten zuverlässig und bieten außerdem ein ganzes Paket zur Internetsicherheit an. Nehmen Sie unseren speziellen Service ganz einfach an, so wie andere Prominente auch, indem Sie uns mit Ja antworten.
Was zum Teufel …? Jessica griff mit beiden Händen nach dem Telefon. Das war nicht Michaels Nummer. Wie konnte das sein? War jemand anderes an das Foto gelangt? Aber wie? Sie hielt das Handy, bis ihr die Finger schmerzten.
„Alles in Ordnung, Frau Scheffold?“
Jessica nickte dem Kellner zu. Hatte Michael das Foto verschickt? Sie lehnte sich zurück, dachte angestrengt nach und versuchte, den gestrigen Abend im Hotelzimmer Schritt für Schritt zu durchdenken. Sie hatte sich auf der Toilette die Bluse übergezogen, während das Handy im Zimmer lag. Genug Zeit für Michael, das Foto zu stehlen und zu verschicken?
Wieder fuhr sie mit dem Daumen über das Handydisplay, fand eine neue Informationsmitteilung.
Neue Elemente in Google Fotos las sie. Google? Wieso Google? Sie tippte auf die Mitteilung. Einen Moment später entdeckte sie in ihrem Account nicht nur ein Dirndlfoto, sondern eine ganze Serie. Jessica legte das Handy aus der Hand und hielt sich die Hände vors Gesicht. Kurz drauf vibrierte das Smartphone auf dem Tisch.
Jessica, ich musste früh los und wollte dich nicht wecken. Lösch die Bilder. LG Michael
***
Zum Glück war Sonntag und die A8 in Richtung Stuttgart frei von LKWs. Jessica fuhr die meiste Zeit auf der linken Spur. Sie hatte bis jetzt zweimal angehalten, aber nur, um Michael anzurufen, der nicht ans Telefon gegangen war. Sie ahnte, was passiert war. Sollte sich diese Vermutung als wahr herausstellen, war es ein Ärgernis ohnegleichen. Verdammte Technik! Sie schlug mit der Hand auf das Lenkrad. Und auf der anderen Seite Michael. Jessica feierte gern. Das wusste er. Und hatte er sie nicht zum Trinken überredet? Wäre es dann nicht auch möglich, dass er die ganze Situation so provoziert hatte? Warum? Beruflich trat er auf der Stelle. Er kam einfach nicht an Sebastian vorbei. Auch den Heinrich-Prozess hatte Jessica schließlich übernommen.
Jessica fuhr über eine Brücke und sofort hielten die Hände das Lenkrad fester. Sie hatte sich bei Sebastian immer für Michael eingesetzt. Die beiden konnten nicht miteinander. War das ihre Schuld?
Sie schüttelte den Kopf, verfluchte den Aperol und klopfte noch einmal mit der Faust auf das Lenkrad. Jetzt musste sie Alexander die Fotos zeigen, wo sie es ohnehin schwer miteinander hatten. Und sie musste sich beeilen. Vielleicht waren die Fotos schon im Netz, noch bevor sie nach Hause kam.
Andererseits: Ging es hart auf hart, konnte sie auf Alex zählen. Er hatte auch einmal seiner Assistentin sehr zur Seite gestanden. Sie war wegen einer Angststörung lange krankgeschrieben gewesen.
Zwei Stunden später trat Jessica in die Scheffold-Villa. Sie ignorierte die kühle Umarmung des Hauses. Während sie schnell die Treppen nach oben lief, hielt sie sich an dem Gedanken fest, die Bilder könnten Alexander und sie wieder näher zusammenbringen. Im Flur streifte sie sich schnell die Schuhe von den Füßen. Alexander war im Wohnzimmer. Jessica hörte seine Stimme, er schien zu telefonieren. Sie öffnete die große Flügeltür.
„Du bist zu blöd, um aus einem Bus rauszuschauen“, sagte Alexander ungehalten. Jetzt drehte er sich Jessica zu und nickte. „Du, ich mach jetzt Schluss.“ Er nahm das Handy vom Ohr. „Wenn man nicht alles selber macht“, sagte er.
Gleich wird er sich die Fotos kurz anschauen und sagen: Wer sich mit uns anlegen will, muss sich warm anziehen. Das sitzen wir auf einer Arschbacke aus.
Jessica konnte in dem Moment, da sie auf ihren Mann zuging, die typischen Alexander-Sätze beinahe fühlen. Er würde die Arme nach ihr ausstrecken, und sie würde das Gesicht auf seine Brust legen.
Er griff nach Jessicas Handy und sah sich die Fotos an. Sie konnte keine Gefühlsregung in seinem Gesicht ablesen.
„Ja“, sagte Jessica. „Und ich habe im Verlauf des Tages drei SMS bekommen.“
„Was für SMS?“
„Also ich soll jeden Monat Geld zahlen. Die Fotos kämen nicht ins Internet, und außerdem wäre ich in Zukunft vor solchen Angriffen geschützt.“
„Verstehe“, antwortete Alexander nach kurzem Zögern. „Äh, aber trotzdem eine Erpressung. Oder nicht?“
Jessica nickte, registrierte aber sehr wohl, dass Alexanders Stimme eine Nuance heller geworden war. Jessica hatte erst relativ spät ihr großes Talent entdeckt, die Mikrozeichen der Kommunikation zu erkennen. Viele Male hatte ihr diese Begabung zum entscheiden Vorteil vor Gericht verholfen. Und jetzt? Er kannte die Fotos bereits? Konnte das sein? Alexander gab ihr das Handy zurück, schaute an ihr vorbei, drehte sich um und lief zum Fenster. Jessica lief ihm ein paar Schritte hinterher. Das Parkett knarrte. Er drehte sich um.
„Bleib, wo du bist! Du hast ja wohl die Fotos nicht alleine gemacht.“ Er legte sich beide Hände an die Brust und grinste. „Du und Belzer, ich hätte es mir denken können.“
Jessica ging auf Alexander zu.
„Lass mich einfach allein“, rief er zornig und kehrte ihr wieder den Rücken zu.
Langsam drehte sich Jessica um und lief in ihr Büro. Mit zittrigen Fingern wählte sie Tonis Nummer.
„Ja?“
„Toni, wo bist du?“
„In Frankfurt auf dem Flughafen.“
„Gott sei Dank.“
„Vielen Dank, dass du dir Sorgen um mich machst.“
„Ja, das auch. Aber kommst du morgen in die Kanzlei?“
Jessica schilderte Toni kurz, was am Samstag und heute passiert war. „Ich muss Sebastian darüber informieren.“
Toni zog so deutlich die Luft durch die Zähne, dass es Jessica selbst am Handy hören konnte.