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Black Angels

Codename: Dornröschen

Von Jana Marie Deniè

Alle Rechte vorbehalten!

2016

Alle beschriebenen Personen sind erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufälliger Natur.

1

Claire

„Die Ehe ist hiermit geschieden!“

Der Richter bedachte mich mit einem unergründlichen Blick, der meine Scham noch verstärkte, doch ich hielt standhaft den Augenkontakt aufrecht.

„Die Scheidung ist rechtskräftig", sprach er weiter, dabei verzog sich der rechte Mundwinkel etwas nach oben. „Das bedeutet, Sie dürfen grundsätzlich morgen wieder heiraten.“ Jetzt sah ich es deutlich, dieses kleine amüsierte Schmunzeln, das sein ernstes Gesicht ein wenig freundlicher machte.

„Nein, danke!“ Bevor mein Gehirn registrierte, dass sich mein vorlautes Mundwerk öffnete, hallten die Worte auch schon von den hohen Decken des altehrwürdigen Gebäudes wider. Niemandem in dem kleinen Gerichtssaal blieb wohl der Sarkasmus in meiner Stimme verborgen.

Der Richter zog eine Augenbraue hoch und musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. Innerlich schlug ich mir die Hand auf den Mund. Beschämt senkte ich den Blick. Na Bravo Claire, du kannst wirklich nicht die Klappe halten, schimpfte ich mit mir selbst.

Einer meiner größten Fehler war es, im falschen Moment den Mund aufzumachen.

„Ich muss mich für das Benehmen meiner Frau entschuldigen, Euer Ehren. Es ist ihr Drang, im Mittelpunkt zu stehen, der ihr den vorlauten Mund öffnet!“

Die eiskalte Stimme von Benedikt ließ mich zusammenfahren. Der drohende Unterton war mir nicht entgangen und was er bedeutete, wusste ich. Immer tiefer sank ich in meinen Stuhl, den Blick nun fest auf meine Schuhspitzen geheftet.

Die zarte Berührung meiner Anwältin an meiner Schulter holte mich aus der Starre, so dass ich atmete. Ich vergaß es immer wieder, wenn ich Angst hatte. Ich verfiel in eine Starre und hörte auf zu atmen. Der menschliche Überlebensinstinkt verhindert normalerweise, dass man wie ich, irgendwann wegen Sauerstoffmangel umkippt. Bei mir funktionierte er irgendwie nicht, was die behandelnden Ärzte schlussfolgern ließ, ich hinge nicht an meinem Leben.

Vor einem Jahr hätte ich ihnen zugestimmt. Ich wollte tot sein. Jetzt aber wollte ich leben.

„Herr von Erlenfels, Sie müssen sich für niemanden entschuldigen und schon gar nicht für Ihre Gattin, denn Sie sind nicht mehr verheiratet!“

In der Stimme des Richters lag unterdrückte Wut, was mich dazu trieb, vorsichtig nach vorne zu schauen.

Benedikt saß kerzengerade auf seinem Stuhl, als würden die Worte des Richters an ihm abprallen, doch ich kannte ihn zu gut. Es war alles nur eine große, perfekte Maskerade. In Wirklichkeit bebte er vor Zorn, das sah ich an seinem verkrampften Kiefer und an seinem Zeigefinger, mit dem er kleine Kreise auf der Tischplatte zog.

„Das bedeutet, Ihre Exfrau darf ungefragt ihren Mund öffnen und alles sagen, was ihr gerade einfällt. Und Sie müssen das hinnehmen, ob es Ihnen schmeckt oder nicht. Ist das bei Ihnen angekommen!“ Der letzte Satz war eindeutig keine Frage, das hatte sogar ich verstanden.

Benedikt zuckte, als wollte er vom Stuhl aufspringen. Noch bevor seine Anwälte ihn an den Schultern fassten, um ihn zu beruhigen, war ich, mit klopfendem Herzen, tief in meinen Stuhl gerutscht.

„Keine Angst, Claire.“ Michelle, meine Anwältin, drückte aufmunternd meine Schulter. „Er kann Ihnen nichts tun.“

Vorsichtig linste ich nach vorne und begegnete dem prüfenden Blick des Richters.

Er wendete sich wieder Benedikt zu, der sich nur mit Mühe zurückhalten konnte. Sein Gesicht war eine verzerrte Fratze, die stahlblauen Augen blitzten eiskalt und mörderisch, wie die Augen eines Hais. Er fuhr sich mit einer Hand durch das perfekt gekämmte, blonde Haar, wobei sich in dem Siegelring an seinem Ringfinger ein Sonnenstrahl verfing, der durch die hohen Fenster des alten Gebäudes fiel. Kurz leuchtete der Ring, als würde jeden Moment eine Flamme aus ihm schießen. Das Siegel der von Erlenfels, alter deutscher Hochadel aus dem Rheinland. Sie waren reich und beliebt bei ihren Gönnern und sie waren gefürchtet bei ihren Angestellten und all denen, die nicht nach ihrer Pfeife tanzten.

Der Richter erhob sich und wir taten es ihm gleich. Mit gesenktem Kopf wartete ich darauf, dass er die Verhandlung beendete. Dann war ich frei. Arm wie eine Kirchenmaus, aber frei.

„Bevor ich die Verhandlung beende, verfüge ich, dass Herr von Erlenfels in Begleitung seiner Anwälte und zweier Saaldiener, das Gebäude sofort nach Ende der Verhandlung verlässt.“

Erstaunt hob ich den Kopf und sah gerade noch, wie Benedikt, vor Wut schäumend, die Hand seines Anwalts von seinem Arm schüttelte.

„Das lasse ich mir nicht bieten! Ich gehe, wann ich es für richtig halte und davon hält mich garantiert kein kleiner Richter ab!“ Er schrie nicht, das tat er nie. Er verkündete es, mit unbeugsamer Stimme, in der pure Verachtung lag.

Oh ja, das beherrschte er wie kein anderer. Selbst sein sadistischer Vater reichte nicht an ihn heran.

Instinktiv zog ich die Schultern hoch. Ich wusste, was dieser Ton bedeutete. Ich hatte gelernt, seine Stimmung auszuloten. Jede seiner Regungen hatte ich regelrecht studiert, um seinen Bestrafungen zu entgehen, oder sie wenigstens auf ein erträgliches Maß zu senken.

Den Richter schien Benedikts warnender Ton nicht zu beeindrucken. Er stand an seinem Richterpult und blickte gelassen zu dem innerlich Tobenden hinunter, in seinem schwarzen Talar, der ihn, wie ich fand, sehr würdevoll und mächtig aussehen ließ. Fasziniert beobachtete ich den Mann in der Robe. Er sah ein bisschen aus wie ein Engel. Ein schwarzer Engel allerdings, mit seinem pechschwarzen, dichten Haar, das bis über den Kragen seiner schwarzen Robe reichte. Er wirkte sehr groß, und als er jetzt einen Arm vorstreckte, um den zornigen Benedikt in die Schranken zu verweisen, wartete ich angespannt darauf, dass er sich jeden Augenblick in die Luft erhob, um majestätisch über uns zu schweben.

Seine Erscheinung hatte etwas Magisches, fast Überirdisches; er war so elegant und mächtig, so formvollendet, dass es mir den Atem raubte.

Ein dunkler Schatten drängte sich in mein Sichtfeld und holte mich jäh aus meinen Träumereien. Benedikts, vor wutschäumendes Gesicht, tauchte über mir auf. Augenblicklich senkte ich den Kopf und blickte mit hämmerndem Herzen zu Boden.

„Ich finde dich, sei dir sicher!“ Seine Stimme klang unheilverkündend. Ein leises gezischtes Wort, ließ mich erzittern. „Hure!“

Ich hörte Schritte, die sich von mir entfernten, dann fiel die schwere Eichentür mit lautem Krachen ins Schloss.

Wieder spürte ich die Hand meiner Anwältin auf meiner Schulter. „Es ist vorbei, Claire. Sie haben es geschafft.“

Ja, ich hatte es geschafft. Vorbei würde es niemals sein, es sei denn, die Familie von Erlenfels löste sich in Luft auf.

Er würde mich finden, so wie er es angedroht hatte. Es war nur eine Frage der Zeit. „Vielen Dank für alles.“ Ich hob den Kopf und brachte ein Lächeln zustande. Michelle hatte ihr Bestes gegeben. Sie hatte Drohbriefe bekommen, als bekannt wurde, dass sie mich bei meiner Scheidung vertreten würde. Ihre Mitarbeiterin wurde bedrängt und die für eine kleine Kanzlei so wichtigen Klienten, waren im Laufe der Zeit, bis auf wenige, abgesprungen. Benedikt hatte der engagierten Anwältin sogar angeboten, für ihn zu arbeiten, wenn sie das Mandat für mich niederlegen würde, doch Michelle blieb standhaft. Ihr hatte ich zu verdanken, dass ich die letzten Monate sicher vor meinem Mann und seiner Familie war; dass ich Kraft tanken konnte.

Mir war bewusst, dass sich Benedikt weder an die Bannmeile, noch an die ausgesprochene Scheidung halten würde. Er wollte mich zurückhaben und daran würde ihn nichts und niemand hindern. Niemand nahm ihm sein Eigentum weg, ohne dafür zu büßen.

„Frau von Erlenfels, begleiten Sie mich doch bitte noch kurz in mein Amtszimmer.“

Der Richter deutete auffordernd auf die Tür, durch die er, am Anfang der Verhandlung, den Gerichtssaal betreten hatte. Fragend blickte ich zu meiner Anwältin, die scheinbar ebenso überrascht, mit den Schultern zuckte. Sie packte meine Akte in ihren kleinen Koffer und fasste mich am Ellbogen.

„Nein, Frau Anwältin, bitte nur Ihre Mandantin“, kam es ruhig, aber bestimmt vom Richterpult. „Das kann ich nicht zulassen, Euer Ehren! Meine Mandantin hat Angst“, erklärte Michelle mit klarer Stimme. Dankbar sah ich sie an. Sie lächelte beruhigend und bedeutete mir, mit ihr zum Amtszimmer zu gehen. Vor der Tür erwartete uns der Richter, der das Podest verlassen hatte. Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Es tut mir leid, Michelle. Du musst mir vertrauen und jetzt den Saal verlassen. Ich kann und will nicht riskieren, dass dir oder deiner Mandantin etwas geschieht.“ Überrascht über die vertrauliche Anrede blickte ich zwischen dem Richter und Michelle hin und her. Der Richter bemerkte meinen verblüfften Blick und schmunzelte kaum merklich. „Michelle und ich sind schließlich Kollegen. Wir duzen uns allerdings nur privat“, erklärte er flüsternd. „Was hast du vor?“ Michelle verfiel ohne Probleme in die vertraute Anrede. „Das darf ich dir nicht sagen, sonst bringe ich dich in Gefahr“, erwiderte der Richter. „Du kennst mich, Michelle. Bitte, vertraue mir“, flüsterte er eindringlich. Wir standen so dicht beieinander, dass selbst die noch wartenden beiden Saaldiener nichts verstehen konnten. Sie blickten jedoch interessiert zu uns herüber, was meinen Verdacht bestätigte. Die beiden Herren arbeiteten in Wirklichkeit für Benedikt. Er hatte überall seine schmierigen Finger drin. Nichts war ihm heilig außer seinem eigenen Wohlbefinden. In der riesigen Villa am Stadtrand von Frankfurt gingen Richter, Staatsanwälte, Polizisten, aber auch Kirchenvertreter und Politiker, ein und aus. Sie alle waren Freunde der Familie von Erlenfels, manche davon notgedrungen.

Ich hatte Michelle davon berichtet und sie versprach, sich um einen anderen Richter zu kümmern, um die Scheidung nicht zu gefährden. Als sie mich heute Morgen zur Verhandlung abholte, berichtete sie mir, der für die Scheidung eingeteilte Richter, hätte ein akutes Darmleiden, welches ihn ans Bett, besser gesagt, an die Toilette fesselte. Ich meinte, ein kleines, zufriedenes Lächeln in ihrem Gesicht zu sehen, das so gar nicht zu ihrem mitleidigen Ton passen wollte. Stattdessen hatte der Richter, der nun vor mir stand, die Verhandlung geführt.

Michelle sah mich besorgt an. „Schaffen Sie es alleine, Claire? Tom, äh. Dr. Wagner, gehört zu den Guten, er wird Ihnen nichts tun.“

Ich wollte nein sagen, den Kopf schütteln, sie anflehen, „Nein! Ich schaffe es nicht! Bitte, lass mich nicht alleine!“, doch ich tat es nicht. Warum auch? Wenn sich dieser Richter als Benedikts Gehilfe herausstellte, nahm alles seinen Lauf. Benedikt würde mich töten lassen, so wie er es angedroht hatte. Ich konnte nur hoffen, dass er sich nicht noch eine seiner Gemeinheiten ausgedacht hatte. Vielleicht brachte er mich in den Club, oder ich musste dem Richter zu Willen sein. Wenn ich Glück hatte, stand er nicht auf die besonders schmerzhaften Spiele, wie einige seiner Kollegen.

Ich musste Michelle schützen, sie hatte schon zu viel für mich riskiert.

„Es ist in Ordnung, Michelle. Vielen Dank für alles.“ Ein letztes Mal umarmte ich die taffe Anwältin.

„Passen Sie auf sich auf, Claire. Ich werde Sie nie vergessen.“ Die Stimme der Anwältin klang erstickt. Bevor ich anfing zu weinen, löste ich mich von ihr. Schnell schlüpfte ich in das Amtszimmer des Richters, auf alles gefasst, nur nicht auf das, was ich sah.

Verängstigt wich ich zurück, den Mund geöffnet, um zu schreien, doch ich kam nicht weit. Eine Hand legte sich über meine Lippen, gleichzeitig schob sich ein starker Arm um meine Taille und hielt mich fest. Eingeschüchtert erstarrte ich augenblicklich zu einer Statue. Ich hatte gelernt, dass es nur schlimmer wurde, wenn ich mich wehrte.

Nur das Beben meines Körpers und den rasenden Puls, den ich als Rauschen in meinen Ohren wahrnahm, konnte ich nicht unterdrücken.

„Es ist alles in Ordnung, Claire. Das sind mein Bruder und eine Polizistin, die mit ihm zusammenarbeitet. Ich lasse Sie jetzt los, aber Sie dürfen nicht schreien, sonst war alles umsonst.“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Worte des Richters mich erreichten. Ich reagierte zuerst auf seine beruhigende Stimme. Sie klang warm und wohlwollend, so dass sich mein Herzschlag beruhigte und das Rauschen in meinen Ohren leiser wurde. Der dezente Geruch von Seife strömte von seiner großen Hand in meine Nase. Er schien Nichtraucher zu sein, analysierte ich instinktiv.

„Kann ich meine Hand wegnehmen?“ Das Gesicht des Richters tauchte neben mir auf. Dunkle Augen schauten mich besorgt an. Ich nickte scheu und seufzte beklommen, als er tatsächlich seine Hand von meinem Mund nahm. Erneut wagte ich einen Blick zu den zwei Gestalten, die mir wie eine Fata Morgana vorkamen. Die Frau sah fast aus wie ich, der Mann hingegen ähnelte sehr dem Richter. Ich konnte mir die Bedeutung der Situation nicht erklären, was man mir wohl am Gesicht ablesen konnte. Die Frau, die mir ähnlichsah, lächelte plötzlich. „Ich kann verstehen, dass Sie durcheinander sind, mir erging es gerade genauso.“ Ihre Stimme passte nicht zu meiner Erscheinung; es war alles ziemlich verworren. „Claire, das sind für heute unsere Doppelgänger. Die beiden werden gleich mein Amtszimmer durch den Gerichtssaal verlassen und uns damit den Weg für unsere Flucht frei machen.“

Ungläubig wagte ich einen Blick in das Gesicht des Richters. Er lächelte freundlich, sogar ein wenig verschmitzt. Dabei erinnerte er mich eher an einen jugendlichen Lausebengel, als an einen ehrwürdigen Richter. Der Vergleich brachte mich zum Schmunzeln, was ihm ein breites Grinsen auf die Lippen lockte.

„Bitte, setzen Sie sich, Claire.“ Er schob mich sanft zu einem Stuhl, auf dem ich mich folgsam niederließ. Er sah mich aufmerksam an und schob mir eine Tasse hin, aus der mir der wundervolle Duft von Kaffee entgegenschlug. „Ich glaube, den können Sie jetzt brauchen. Etwas Stärkeres habe ich leider nicht hier“, sagte er mit Bedauern in der Stimme.

Argwöhnisch sah ich die Tasse an. Ich würde wirklich fast alles für eine Tasse Kaffee geben, doch was, wenn Schlafmittel oder sogar Drogen in den Kaffee gemischt wurden? Ich hatte das alles schon erlebt. Zweimal beging ich nicht den gleichen Fehler, es sei denn, er zwang mich, das Gebräu zu trinken.

„Es ist nur Kaffee in der Tasse. Schauen Sie her.“ Die Frau nahm die Tasse und trank einen Schluck. „Sehen Sie? Es ist alles in Ordnung.“ Sie setzte sich neben mich auf einen Stuhl und nahm meine eiskalte Hand in ihre. „Du lieber Himmel Mädchen, sind Sie durchgefroren!“ Entgeistert sah sie mich an und begann, meine Hand in beiden Händen zu wärmen. Es fühlte sich angenehm, fast tröstlich an, was sie tat. Ihre Bewegungen waren ruhig und sie strahlte eine fast mütterliche Stärke aus, obwohl sie höchstens in meinem Alter war. Erst jetzt erkannte ich an den dunkleren Augenbrauen, dass sie ihre Haare gefärbt haben musste, doch wir hatten die gleiche Größe und eine ziemlich ähnliche Figur.

Sie trug haargenau die gleichen Kleider, die ich für heute ausgesucht hatte. Moment mal, Michelle hatte mich gestern Abend mit dem schicken Kostüm überrascht und darauf bestanden, dass ich es heute trug. Sie wusste also, dass mir jemand bei meiner Flucht helfen wollte; eine andere Möglichkeit gab es nicht. Warum hatte sie mir nichts davon gesagt? Gerade noch hatte sie völlig überrascht gewirkt!

Weil du gezittert hättest vor Aufregung und damit alles verraten hättest!, gab ich mir selbst die Antwort.

Zaghaft ergriff ich die Tasse und trank einen Schluck. Der Kaffee war stark und tat so gut, dass ich gleich noch einen Schluck und noch einen nahm, bis die Tasse, zu meinem großen Kummer, leer getrunken war.

Der Doppelgänger des Richters nahm meine Tasse, stellte sie auf die kleine Plattform einer Hightech Maschine und drückte einen Knopf. Kurz darauf erfüllte das Geräusch des Mahlwerks den Raum, dann floss frischer Kaffee in meine Tasse.

Ich liebte den Duft von frischem Kaffee. Immer wenn ich Benedikt Kaffee bringen sollte, schnupperte ich verstohlen an seiner Tasse. Eines Tages überraschte er mich dabei, wie ich genüsslich das verführerische Aroma mit der Hand zu meiner Nase wedelte. Er zwang mich, die große Tasse zu leeren – in einem Zug. Eine ganze Woche lang konnte ich, wegen der Verbrennungen, nur unter Schmerzen Nahrung zu mir nehmen.

Der Doppelgänger des Richters stellte mir mit einem Zwinkern die Tasse hin.

„Hier kleine Lady. Sie sehen aus, als könnten Sie noch eine Tasse vertragen.“ Er sah mich freundlich an, seine Augen blitzten fröhlich.

Ich wagte ein Lächeln, das mutiger wurde, als er es erwiderte. „Vielen Dank“, sagte ich leise. Die Anspannung fiel etwas von mir ab.

Ich straffte die Schultern und sah zum Richter, der mich mit hochgezogenen Augenbrauen musterte, wie ich erschrocken feststellte. „Entschuldigung, es tut mir leid!“ Schnell senkte ich den Blick und zog die Schultern hoch. Mein Herz klopfte schnell gegen meine Rippen vor Angst.

„Claire, bitte sehen Sie mich an.“ Die Stimme des Richters klang weich und bittend, was mich völlig verwirrte, denn das war ich nicht gewohnt.

Zögernd hob ich den Blick. Er sah mich lächelnd an, doch in seinen Augen erkannte ich so etwas wie Traurigkeit. „Sie haben keinen Grund, sich für irgendetwas zu entschuldigen, Claire.“ Ich nickte, gefangen von seinen Augen, die plötzlich so traurig aussahen, dass es mir das Herz zuschnürte. Ich fragte mich, aus welchem Grund er wohl so traurig war.

„Ich bringe Sie von hier weg, Claire. Mein Bruder und diese junge Dame hier“, der Richter zeigte auf unsere Doppelgänger, „werden jetzt das Gebäude durch den Gerichtssaal verlassen. Wir warten hier, bis ich ein Zeichen bekomme, dann bringe ich Sie in Sicherheit.“

In Sicherheit ... Das hörte sich traumhaft schön an. Es klang nach Ruhe und Frieden, nach Zufriedenheit. Ich wollte ihm gerne glauben, schon deshalb, weil ich die Traurigkeit aus seinen Augen vertreiben wollte.

„Ziehen Sie das bitte an.“ Meine Doppelgängerin hielt mir Kleidungsstücke hin. Ich nahm sie an mich und begann sofort, mich umzuziehen. Als ich fertig war, zog mich meine Doppelgängerin, zufrieden grinsend, vor einen kleinen Wandspiegel. Ein weitgeschnittener, schwarzer Kaftan verhüllte meine Figur und eine Burka verbarg meinen gesamten Kopf. Als ich mich umdrehte, hatte der Richter einen strahlend weißen Kaftan übergezogen. Sein Bruder half ihm, einen langen Bart ans Kinn zu kleben und auf seinem Kopf thronte eine Art Turban.

Der Richter war fast nicht wieder zu erkennen. Sein Bruder schob ihm noch eine große, schwarze Hornbrille auf die Nase, was der Richter augenrollend geschehen ließ. Ich konnte ein Kichern nicht unterdrücken, unterbrach mich jedoch abrupt, als er mich ansah. Mit klopfendem Herzen lugte ich verängstigt durch die feinen Netze der Burka. Plötzlich grinste er und sah wieder aus wie ein Lausebengel. „Lachen Sie mich ruhig aus, Claire. Sie sehen deutlich eleganter aus!“

Unsere Doppelgänger machten sich bereit für ihren Auftritt. Als die junge Frau mir Lebewohl sagte, umarmte sie mich plötzlich. „Ich wünsche Ihnen alles Gute, Claire“, flüsterte sie an meinem Ohr.

„Ich danke Ihnen, für alles“, flüsterte ich ergriffen zurück. Ich hoffte, den beiden netten Menschen würde nichts geschehen. Sie wollten mir helfen, einfach so, ohne mich zu kennen.

Der Bruder des Richters, zwinkerte mir zum Abschied freundlich zu. „Kopf hoch, Claire. Sie sind in guten Händen“, sagte er, dann öffnete die Frau die Tür und sie verschwanden.

Eine Weile geschah nichts. Ich stand stumm an die Wand gelehnt und lauschte angestrengt in die Stille. Der Richter lauschte hin und wieder dem kleinen Knopf in seinem Ohr, dann nahm er plötzlich meine Hand in seine.

„Es geht los“, flüsterte er. Im gleichen Augenblick schnellte mein Puls nach oben. Panik wollte sich in mir breitmachen, doch ich hatte keine Zeit dazu. Der Richter öffnete eine weitere Tür, die in ein anderes Büro führte. Dort warteten mehrere Menschen auf uns. Alle trugen Burkas oder Turbane und weite Kaftans. Sie nahmen uns in die Mitte und kurz darauf, gingen wir gemeinsam durch die Flure des Gerichtsgebäudes. Der Richter hielt meine Hand fest in seiner, während eine mir unbekannte Frau, meine andere Hand ergriff. Ich hielt den Kopf gesenkt, um nicht auf die Füße meiner Vordermänner oder vielleicht auch Frauen zu treten, das war unter den Kaftan nicht wirklich zu erkennen.

Durch das feine Netz vor meinen Augen war meine Sicht ziemlich eingeschränkt.

So musste eine Fliege die Welt sehen, ging es mir durch den Kopf, worüber ich fast gelacht hätte. Es war typisch für mich, in einer so bedrohlichen Situation über Dinge nachzudenken, die die Bezeichnung ad absurdem verdiente.

Wir stiegen Treppenstufen hinab, liefen durch Flure, passierten mehrere Türen und stiegen wieder Treppenstufen hinunter, nur um wieder durch endlose Flure zu laufen. Ich schwitzte unter dem dichten Stoff, dazu kamen Angst und Verunsicherung. Irgendwann, nach unzähligen Gängen und Türen, wie es mir schien, spürte ich kühle Luft und wagte einen Blick nach oben. Ich konnte die breite Treppe erkennen, die zu dem imposanten Eingang des Gerichtsgebäudes führte. Hier und da standen Menschen und unterhielten sich; Reporter blickten suchend an uns vorbei. Mir war bewusst, dass sie wegen der Scheidung hier Stellung bezogen hatten. Benedikt hatte bis zuletzt die Gerüchte, wir würden getrennt leben, dementiert. Eine weitere Sache, die er mir vorhielt; ich hatte seinem Ruf geschadet, indem ich weggelaufen war und dann auch noch gewagt hatte, die Scheidung einzureichen.

Wir traten aus dem Gebäude und hielten uns links, als ich im Augenwinkel den Bruder des Richters und die junge Frau sah. Sie rannten in die entgegengesetzte Richtung, praktisch direkt in die Arme einer Horde Vermummter, die schwere Maschinengewehre auf sie richteten. Oh Gott, nein! Ich erstarrte vor Entsetzen. Benedikt würde sie töten, weil er dachte, sie seien der Richter und ich. „Komm weiter! Sie sind in Sicherheit!“ Der Richter riss an meiner Hand und ich stolperte, blind vor Tränen, vorwärts. Er konnte doch nicht so grausam sein und seinen eigenen Bruder opfern!

Plötzlich wurde ich an der Taille gepackt und hochgehoben, und fand mich gleich darauf in einem Transporter wieder. Die Tür wurde zugeschoben, es wurde dunkel. Der Wagen fuhr keine zwei Sekunden später an und ich fing an zu schreien. Das Herz drohte mir aus der Brust zu springen, denn die Dunkelheit war mein Feind. Jemand riss mir die Burka vom Kopf und knipste eine kleine Lampe an.

Das Gesicht des Richters erschien vor mir. „Schsch, es ist alles in Ordnung, Claire.“ Er strich mir das zerzauste Haar aus dem Gesicht, dann zauberte er ein Taschentuch hervor und wischte mir fürsorglich die Tränen vom Gesicht.

„Ihr Bruder, was ist mit ihm und der Frau?“ Bei dem Gedanken, Benedikt könnte sie getötet haben, liefen mir wieder die Tränen übers Gesicht.

„Es geht ihnen gut, Claire. Sie haben Ihren Exmann und seine feine Familie in eine Falle gelockt. Eine Spezialeinheit hat die sauberen Herren erwartet. Vorerst kommen sie alle hinter Gitter.“ Der Richter lächelte aufmunternd. „Wir wechseln gleich das Fahrzeug, dann haben sie es bequemer.“

„Ich hatte es schon deutlich unbequemer“, antwortete ich, dankbar für seine Fürsorge. Im nächsten Moment biss ich mir auf die Lippen. Der Richter sah mich wieder so traurig an. Kurz überlegte ich, ob er meinetwegen traurig war, doch ich verwarf den Gedanken gleich wieder. Ich nahm mir vor, ein wenig tapferer zu sein. Vielleicht lächelte er dann öfter.

Der Transporter hielt und wir stiegen in einen schwarzen SUV mit getönten Scheiben.

Der Richter lenkte den Wagen auf die Autobahn. Er zupfte sich den Kleber vom Kinn, der den Bart gehalten hatte. Wir hatten die Kleidung im Transporter zurückgelassen und sahen nun wieder wie wir selbst aus.

„Wohin fahren wir … Euer Ehren?“, wagte ich, leise zu fragen. Ich war mir nicht sicher, wie ich den Richter ansprechen sollte, dummerweise hatte ich seinen Namen vergessen. Euer Ehren schien mir angebracht, oder zumindest nicht falsch.

Der Richter bedachte mich mit einem kurzen Blick, dann sah er wieder auf die Straße. „Tom Wagner, aber bitte nenn mich einfach Tom. Wir fahren in ein kleines Dorf in der Eifel. Dort lebt eine Freundin meiner Mutter. Sie freut sich, dich kennen zu lernen. Vorerst bist du bei ihr in Sicherheit.“

Wieder sagte er dieses Wort, an das ich so gerne geglaubt hätte. Sicherheit. Nicht für mich, aber das sagte ich ihm nicht.

Ich legte den Kopf an die Seitenscheibe und sah die Felder, die an uns vorüberflogen.

Das Summen des Motors ließ mich schläfrig werden. Ich schloss für einen Moment die Augen, nur um ein wenig auszuruhen …

Tom

Sie war eingeschlafen.

Ich war froh, dass sie etwas zur Ruhe kam, nach den Ereignissen, die sie sichtlich mitgenommen hatten. Ihr Kopf lag an der Scheibe, der Hals merkwürdig verdreht, sodass ich allein bei ihrem Anblick, eine schmerzhafte Verspannung spürte.

Ihre Lippen hatten sich geteilt; sie sah so unschuldig aus und verletzbar. Einige Strähnen ihres hellblonden Haares hatten sich in ihr Gesicht verirrt, doch es schien sie nicht zu stören.

Manchmal zuckte sie zusammen, als ängstige sie sich. Einmal stöhnte sie leise und ihr zartes Gesicht verzog sich, als habe sie Schmerzen.

Ich wagte nicht, sie zu berühren, obwohl ich sie zu gerne beruhigt hätte.

Als ich die Autobahn verließ, seufzte ich erleichtert. Wir hatten es fast geschafft.

Während ich mir Gedanken darüber machte, wie ich die verängstigte Frau in meinem Wagen wecken könnte, wurde sie von alleine wach. Glück gehabt.

Bella erwartete uns bereits ungeduldig. „Junge, du bist viel zu mager!“

Ich grinste nachsichtig über ihren Standardspruch und nahm sie in die Arme. Isabelle Hofgarten, von uns allen nur Bella genannt, war die beste Freundin meiner Mutter, meine Taufpatin und seit Ma`s Tod Mutterersatz für Ralph und mich. Wir besuchten sie regelmäßig und ließen uns ihren selbst gebackenen Apfelkuchen schmecken.

Als Bella Claire entdeckte, die eingeschüchtert neben mir auf der Treppe von Bellas Haus stand, löste sie sich von mir, um ihren Gast zu begrüßen.

Claire reichte ihr zaghaft die Hand, doch Bella zog sie einfach in ihre Arme.

„Willkommen, meine Liebe“, sagte sie in ihrer ruhigen, aber herzlichen Art und warf mir mit gerunzelter Stirn einen heimlichen Blick zu, der ihre Erschütterung ausdrückte.

Sie hielt Claire auf Armeslänge von sich und lächelte sie an. „Ich bin Bella und Sie sind dann wohl Claire.“ Claire lächelte schüchtern und nickte stumm. Scheinbar hatte es ihr die Sprache verschlagen.

„Kommt herein ihr beiden, ich habe Apfelkuchen gebacken!“ Bella wandte uns den Rücken zu und ging voran ins Haus. Behutsam nahm ich Claires kleine, eiskalte Hand in meine und ging mit ihr in ihr Zuhause für die nächsten Monate. Ich beugte mich etwas zu ihr hinunter und raunte: „Bellas Apfelkuchen ist Weltklasse!“ Dabei strich meine Nasenspitze versehentlich durch ihr weizenblondes Haar. Heimlich sog ich ihren Duft auf, der mich schon den ganzen Tag umgab. Ihr Haar roch verlockend nach Aprikose und ein Hauch von Vanille verwöhnte meine Geruchsinne, was gut zu ihrem sanften Wesen passte.

Als sie zu mir hochsah, lächelte sie selig, was mich bis ins Mark berührte.

„Ich liebe Apfelkuchen“, flüsterte sie und zum ersten Mal seit heute Morgen sah ich Freude in ihren schönen grünen Augen aufblitzen.

Wut kroch in mir hoch. Was musste ein Mann tun, um eine Frau so zu zerstören? Was hatte dieser Bastard ihr alles angetan, um sie zu brechen?

Ich sah die Angst, die plötzlich in ihrem zarten Gesicht auftauchte, und verbarg schnell meine Emotionen. Innerlich fluchte ich, weil ich meine Mimik nicht im Griff hatte, doch Bella half mir ahnungslos aus der Patsche.

„Claire, wären Sie so freundlich, mir mit dem Geschirr zu helfen?“, rief sie aus der Küche. Claire lief sofort in den Nachbarraum, aus dem Bellas Stimme kam. Während ich gedankenverloren aus dem Fenster schaute, hörte ich schon nach kurzer Zeit die Stimmen der beiden Frauen. Als ich Claire kichern hörte, schmunzelte ich zufrieden. Bella würde ihr guttun. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Wunden auf ihrer geschundenen Seele verheilten. Es würden Narben zurückbleiben, doch sie würde leben, und wäre in Freiheit.

Bella und Claire kamen mit Kuchen und frisch aufgebrühtem Kaffee aus der Küche. Die beiden Frauen hatten so ziemlich die gleiche Körpergröße, nur war Claire ein bisschen zu mager. Wahrscheinlich konnte sie während der letzten Monate kaum einen Bissen zu sich nehmen, vor Angst. Sie sah aus wie eine zerbrechliche, kleine Puppe neben Bella, obwohl die für ihr Alter eine außerordentlich schlanke Figur besaß. Bella war kleiner, als meine Mutter zu Lebzeiten, die mit knapp einem Meter achtzig, ihre Freundin um einen Kopf überragte. Wenn ich früher mit meinem einen Meter fünfundneunzig die beiden begleitete, sahen wir aus wie Orgelpfeifen.

„Setz dich zu uns Tom!“ Bellas Stimme riss mich aus meinen Gedanken.

Nachdem wir uns Bellas Apfelkuchen hatten schmecken lassen, zeigte ich Claire das Haus und ihr Zimmer.

„Das hier ist dein Reich“, sagte ich und öffnete die Tür. Claire trat schüchtern ein und sah sich um. Ihre Augen glänzten, als sie sich mir zuwandte. „Es ist wunderschön, Tom!“

Ich deutete auf eine weitere Tür. „Da ist dein Badezimmer. Es ist für dich alleine, du kannst dich also nach Herzenslust ausbreiten.“ Sie öffnete die Tür und verharrte eine Weile still, dann schluchzte sie plötzlich herzzerreißend. Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund und sah mich furchtsam an.

In diesem Moment schwor ich mir, dieses Schwein von Erlenfels, für immer hinter Schloss und Riegel zu bringen.

Um Claire nicht weiter zu ängstigen, wich ich ihrem Blick aus und ging zu dem großen Kleiderschrank. „Wir haben etwas Kleidung für dich besorgt. Ich hoffe, wir haben deinen Geschmack getroffen. Wenn du noch etwas brauchst, lass es mich wissen, ich lasse es besorgen.“ Mit offenem Mund stand Claire vor dem Kleiderschrank. „Das ... das ist … Danke“, flüsterte sie zaghaft, doch ihre Augen strahlten. Sofort fühlte ich mich besser.

„Wenn du nicht zu müde bist, würde ich dir gerne das Grundstück zeigen.“ Ich sprach betont lässig, aber mein Herz pochte. Ich wollte, dass sie glücklich war; so gelöst lachen konnte, wie beim Kuchenessen, als Bella ihr Anekdoten aus ihrer Zeit mit Ma` erzählt hatte.

Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, wollte ich der Grund für ihr glückliches Lachen sein.

„Das wäre schön“, antwortete Claire mit einem zaghaften Lächeln.

„Nimm dir besser eine Jacke mit, es ist Anfang Mai noch empfindlich kühl hier oben“, riet ich ihr. Sie nickte und nahm die Jacke, die ich ihr reichte.

Bei einem Blick auf ihre Füße erinnerte ich mich an die Schuhe, die Kim für Claire gekauft hatte. „Deine Doppelgängerin hat auch Schuhe für dich besorgt.“

Claire wirkte ziemlich überfordert, als ich einen kleinen Schrank öffnete, in dem mehrere Paar Schuhe standen.

„Weißt du was? Ich gehe schnell in mein Zimmer und ziehe mir etwas Bequemes an. Wie wäre es, wenn wir uns in zwanzig Minuten in der Eingangshalle treffen?“, schlug ich ihr vor. Als sie erleichtert nickte, wusste ich, dass sie ein paar Minuten für sich gebrauchen konnte.

Ich hatte das Zimmer neben Claire. Unsere Badezimmer teilten sich eine Wand. Da ich oft hier bei Bella übernachtete, hatte ich einen einigermaßen gut gefüllten Kleiderschrank, sodass ich kurz darauf in Jeans und einem dicken Pullover das gemütliche Wohnzimmer betrat.

Bella wartete schon auf mich.

„Setz dich einen Moment zu mir, Tom.“ Sie klopfte auffordernd neben sich auf das Sofa, auf dem sie saß. „Wo ist Claire?“

„Sie zieht sich um, wir wollen noch ein bisschen spazieren gehen“, beruhigte ich meine Tante. Sie seufzte tief. „Es wird dauern, bis sie wieder lachen kann.“

Ich nickte nur. Bella lag richtig mit ihrer Vermutung. Man hatte ihr furchtbare Dinge angetan, das wusste ich von meinem Bruder und von Michelle.

„Ralph hat sich gemeldet. Ihm und Kim geht es gut, sie halten sich aber noch ein oder zwei Tage versteckt.“

Nun seufzte ich, aber erleichtert. „Das ist gut, danke Bella.“ Liebevoll drückte ich ihre Hand. Sie sah mich ernst an. „Ihr Beide bringt mich eines Tages noch ins Grab“, sagte sie tadelnd, doch ihre Augen blitzten. „Ich bin stolz auf euch und eure Mutter wäre es auch.“ Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange und sprang auf. „Um Sieben gibt es Abendessen, also seid rechtzeitig wieder da“, rief sie, schon auf dem Weg in die Küche.

Ich sah ihr lächelnd nach. Bella hatte ein großes Herz, besonders für die Schwachen in dieser Welt. Ralph und ich hatten schon einige Male ihre Hilfe gebraucht. Sie half immer, ohne groß zu fragen. Sie vertraute darauf, dass wir das Richtige taten.

Es klopfte leise an der offenen Tür. Als ich mich umdrehte, stand Claire im Türrahmen. Sie trug Jeans, Sneakers und die Fleece Jacke mit dem Teddyfutter, die ich vorhin in den Händen hatte. Gott, sie sah so zart und zerbrechlich aus, und so unglaublich jung! Ich wusste, dass sie sechsundzwanzig war, sechs Jahre jünger als ich und doch sah sie gerade aus wie ein Teenager. Zu dem Eindruck passte der Pferdeschwanz, den sie sich gebunden hatte. Claire trug kein Make-up, das hatte ich heute Morgen schon bemerkt. Sie benötigte auch keins. Ihre Haut war makellos, so hell wie feines Porzellan. Sie krauste ihre kleine Nase und sah mich abschätzend an. Dabei kaute sie nervös auf ihrer vollen Unterlippe, was so reizvoll aussah, dass mir das Blut wie glühende Lava in die Lenden schoss. Das wiederum verwirrte mich zutiefst. Lange hatte ich nicht mehr so heftig auf eine Frau reagiert, und jetzt war definitiv der falsche Zeitpunkt für solche Gedanken.

Ich achtete darauf, keine hektischen Bewegungen zu machen, als ich mich vom Sofa erhob und auf Claire zuging. Mir war ihre schreckhafte Art aufgefallen, ganz besonders in der Nähe von Männern.

Als wir das Haus verließen, ergriff ich behutsam ihre kleine Hand und wollte sie am liebsten nie wieder loslassen. Mein Beschützerinstinkt lief regelrecht Amok, seit ich Claire zum ersten Mal im Gerichtssaal gesehen hatte. Ich schob meine Reaktion auf die Misshandlungen, die man ihr angetan hatte. Diesem Widerling von Exmann hatte sie zahlreiche Knochenbrüche und Narben zu verdanken. Die Knochenbrüche waren verheilt, doch die Narben würden sie immer an ihren Peiniger erinnern.

Erst als Claire zusammenzuckte, bemerkte ich, dass ich ihre Hand beinahe zerquetschte. Ich Idiot fügte ihr Schmerzen zu, anstatt auf sie aufzupassen!

„Entschuldige. Ich wollte dir nicht wehtun“, sagte ich schnell und lies ihre Hand los.

Sie lächelte zaghaft und eine zarte Röte schoss in ihre Wangen. „Schon gut“, war alles, was sie sagte, dann senkte sie den Kopf und ging weiter.

Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinander her. Ich fühlte mich merkwürdig einsam ohne ihre Hand in meiner.

„Es ist so friedlich hier.“ Sie blieb stehen und genoss den Ausblick über die Felder. Bellas Haus stand versteckt in einem kleinen Wald auf einer Anhöhe mitten im Eifler Hügelland. Frank, ihr verstorbener Mann, hatte das Haus für sie gebaut. Bella war eine passionierte Malerin; sie verbrachte ganze Tage in der Natur und fing mit Pinsel und Farbe die friedlich daliegenden Felder ein. Meine Mutter hatte sie häufig begleitet. Während Bella in ihre Malerei versunken war, hatte sich Ma` Geschichten für Kinder ausgedacht und niedergeschrieben. Mein Bruder und ich durften sie stets zuerst testen, und erst dann, wenn wir die Geschichte gut fanden, gab meine Mutter sie zum Verlag. Sie hörte auf zu schreiben, als mein Vater an Krebs erkrankte.

Claires besorgter Blick holte mich aus meinen Erinnerungen. Sie stand vor mir, den Kopf in den Nacken gelegt, damit sie mich ansehen konnte. Ihre grünen Augen nahmen mich regelrecht gefangen.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie leise. Zum ersten Mal hielt sie meinem Blick stand. Ihre blassen Wangen waren durch den kühlen Wind gerötet und ihre vollen Lippen hatte sie leicht geöffnet. Ich fragte mich, wie sie wohl schmecken würden, wenn ich von ihnen kosten dürfte.

Claire fasste sanft nach meinem Arm; sie musterte mich mit gerunzelter Stirn, als ich nicht antwortete. Ich holte tief Luft. Diese kleine verängstigte Frau, mit dem Aussehen eines Engels, brachte mich ziemlich durcheinander. Das war mir seit Jahren nicht mehr passiert.

„Ich habe mich nur an meine Kindheit erinnert“, erklärte ich ihr meine geistige Abwesenheit. „Ich war sehr oft mit meinen Eltern hier und später, nach dem Tod meines Vaters, mit meiner Mutter.“

Sie nickte verstehend. „Es ist bestimmt schön hier für Kinder.“ Sie blickte versonnen über die Felder, dann sagte sie leise: „Mein Vater ist auch tot. Nur meine Mutter lebt noch.“

Ich wusste es natürlich längst. Ich wusste fast alles über sie, doch das musste sie nicht erfahren. Ralph hatte eine dicke Akte über Claire angelegt. Über sie und über die von Erlenfels Sippe. Mein Bruder arbeitete für eine Spezialeinheit, die nur wenigen hohen Tieren der Regierung bekannt war. Sie arbeiteten im Untergrund, bekämpften Bestechung, Terrorismus und Menschenhandel im eigenen Land. Die von Erlenfels Familie stand ganz oben auf ihrer Liste, zusammen mit einigen namhaften Unternehmern, Ärzten, Politikern, Justizangehörigen und Kirchenvertretern.

„Weißt du, wo deine Mutter lebt?“ Ich tat ahnungslos, um Claire zu schützen. Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Leider nicht“, meinte sie traurig. „Meine Mutter will nichts mehr von mir wissen, also spielt es keine Rolle. Ich wünsche mir nur, dass es ihr gut geht.“

Claire sagte die Wahrheit, doch sie wusste nicht, dass ihr feiner Exmann der Mutter einen Besuch abgestattet hatte. Ralph hatte mit Claires Mutter ein Gespräch gehabt, in dem sie zugab, von Benedikt von Erlenfels bedroht worden zu sein. Sie solle ihre Tochter in Ruhe lassen, sonst könne er nicht mehr für deren Unversehrtheit garantieren, hatte er gesagt. Er hatte Claire systematisch von der Umwelt abgeschnitten, damit sie auf ihn angewiesen war.

„Vielleicht kannst du ihr eines Tages alles erzählen, dann wird sie dich verstehen.“

Ein schwacher Trost in ihrer Lage, aber ich wollte sie ermutigen, nicht aufzugeben.

„Erst einmal muss ich überleben“, entgegnete Claire mit einem schiefen Grinsen. Sie überraschte mich. Trotz ihrer traumatischen Erlebnisse und der daraus resultierenden Hilflosigkeit, die sie verspürte, sah sie die Dinge klar und deutlich. Sie zeigte keine Angst, wenn sie davon sprach, eventuell nicht zu überleben. Es schien, als würde sie jederzeit damit rechnen, was leider im Bereich des Möglichen lag.

Dass es so sein könnte, traf mich mit voller Wucht. Ich wollte, dass sie überlebte und ich würde sie beschützen, mit allen Mitteln!

Auf dem Rückweg schob sie ihre Hand in meine Armbeuge. Ein tief vergrabenes Glücksgefühl stieg in mir hoch; ich fühlte mich ein bisschen, wie ein Primaner beim ersten Date.

Es war ein Vertrauensbeweis, den ich mir in ihren Augen verdient hatte, und es fühlte sich verdammt gut an.

Claire

„Gute Nacht!“ Leise schloss ich die Tür zum Wohnzimmer und ging die breite Treppe hinauf zum Obergeschoss, in dem mein Zimmer lag.

Ich hatte mit Tom und Bella zu Abend gegessen, würziges Gulasch mit Knödeln und Salat; dabei hatte ich nach den Hausregeln gefragt. Ich wollte alles richtig machen, denn es gefiel mir in diesem Haus. Die beiden hatten mich verständnislos angesehen, dann hatte Bella meine Hand ergriffen und mir erklärt, dass es in diesem Haus keine Regeln gab. Jeder tat das, was er gerade tun wollte. Ich dürfe ihr etwas bei der Hausarbeit zur Hand gehen, wenn ich das wolle, sollte mich jedoch erst einmal ein paar Tage ausruhen.

Ich war verwirrt. Irgendeine Aufgabe musste ich doch haben, wenn ich schon hier wohnen durfte. Was sollte ich nur den ganzen Tag tun?

Ich nahm mir vor, am nächsten Tag, das Haus näher anzusehen. Vielleicht konnte ich Bella eine Freude machen, indem ich Fenster putzte oder den Rasen mähte. Wenn ich keine Aufgabe hätte, würde ich den ganzen Tag an die Dinge denken, die ich am Liebsten so schnell wie möglich vergessen würde. Ich musste mein Gehirn permanent ablenken, es beschäftigen. Sonst sah ich immerzu diese Männer vor mir, wie ihnen der Schweiß über ihre Gesichter rann, während sie ihre Spielzeuge auf und in meinen Körper trieben.

Ich hörte mich selbst wimmern, als die Bilder vor meinen Augen aufflackerten. Noch immer spürte ich den Schmerz, den mir die Peitschen, Rohrstöcke und Nadeln zugefügt hatten. Ich spürte die Gürtel mit ihren scharfen Spitzen, die sich schmerzhaft in mein Fleisch bohrten, bis sich feine, rote Rinnsale gebildet hatten; ich hörte das bösartige Lachen, als sie den Gürtel enger zogen und enger und enger.

„Du wolltest doch unbedingt ein Kleidungsstück tragen“, hatten sie gehöhnt und sich an meinem Schmerz, meiner Angst und meinem Ekel geweidet.

Stunden und Tage hing ich an meinen Handgelenken. An der Decke hatten sie mich aufgehängt, mit einer dicken Eisenkette, die sie um meine Handgelenke banden. Meine Zehenspitzen berührten gerade so den kalten Boden aus Beton. Drei Mal hatte ich mir die Schulter ausgerenkt, weil ich mich vor Schwäche nicht mehr halten konnte. Benedikts Hausarzt hatte mich dann versorgt. Er gehörte nicht zu seinen Kunden, war jedoch schon seit Jahrzehnten der Leibarzt der Familie. Wie oft ich ihn angefleht hatte, mir zu helfen, wusste ich nicht mehr. Er hatte immer verneint, hatte Angst um seine Familie und um seinen Ruf.

Oh bitte lieber Gott! Wenn es dich wirklich gibt, lass es mich vergessen!

Schluchzend sank ich auf mein Bett. Dort kauerte ich mich zusammen, schlang die Arme um meine angezogenen Beine und wiegte mich hin und her.

Ich fühlte mich einsam und war furchtbar traurig. Schon lange hatte mich niemand mehr gehalten, um mich zu trösten. Liebevolle Berührungen kannte ich schon lange nicht mehr; nur Berührungen, die grausam waren und schmerzten, mich demütigten.

Erschöpft ging ich in mein Badezimmer. Beim Anblick der großen, frei stehenden Badewanne beschloss ich, mir ein Bad zu gönnen. Bella hatte mir beim Abendessen sogar empfohlen, ein Bad zu nehmen. Also würde es wohl in Ordnung sein, wenn ich ihr Angebot annahm.

Wenig später lag ich im heißen Wasser und bedeckte mich mit zartem, wohlriechenden Schaum. Langsam entspannten sich meine Muskeln. Ich schloss die Augen und dachte an den Richter, an Tom.

Er war ein beeindruckender Mann, schon wegen seiner tiefen, sonoren Stimme.

Tom war groß und hatte breite Schultern. Für einen Mann, der den ganzen Tag im Büro oder im Verhandlungssaal saß, war er ungewöhnlich muskulös. Er schien viel Sport zu treiben und es zahlte sich aus. Seine Taille war schlank, seine Unterarme sehnig.

Es war ein schönes Gefühl, als er meine Hand in seiner gehalten hatte. Seine Hand war groß und warm; ich genoss die Berührung sehr, auch wenn er etwas zu fest zugedrückt hatte, als er in Gedanken versunken war.

Am faszinierendsten fand ich sein glänzendes schwarzes Haar, das eine dekadente Länge hatte, für einen Mann in Robe. Die dichten Strähnen fielen bis über seinen Kragen und am Oberkopf war sein Haar so lang, dass es ihm immer wieder in die Stirn fiel, sobald er den Kopf neigte. Seine Augen waren so dunkel, dass man glauben konnte, sie seien schwarz. Im Lieferwagen war er mir jedoch für einen Augenblick so nahe, dass ich kleine, fast silbrige Sprenkel darin sehen konnte.

Der Richter war kein aalglatter Schönling wie Benedikt. Er war kernig und maskulin, mit einem kantigen Kinn und einer geraden, langen Nase. Die hochstehenden Wangenknochen gaben ihm ein raubtierhaftes Aussehen, das in völligem Kontrast zu seinen vollen, sinnlich geschwungenen Lippen stand. Sicher hatte er eine wunderschöne Frau an seiner Seite. Ein so attraktiver und gebildeter Mann blieb nicht alleine.

Als das Wasser abkühlte, stieg ich aus der Wanne und trocknete mich mit einem dicken und herrlich weichen Badetuch ab. Ich cremte mich mit einer wundervoll duftenden Lotion ein und bürstete mein Haar, bis es in seidigen Wellen über meine Schultern fiel. In einen flauschigen Bademantel gehüllt, legte ich mich auf das große Himmelbett und starrte auf den weißen seidigen Stoff, der sich über mir spannte.

Die Aufregung, die mich bisher mit Adrenalin versorgt hatte, forderte ihren Tribut. Irgendwann fielen mir vor Erschöpfung die Augen zu.

Als ich das nächste Mal die Augen öffnete, schwebte Benedikts zorniges Gesicht über mir. „Keinen Ton wirst du von dir geben“, zischte er warnend.

Zitternd gehorchte ich ihm, was konnte ich schon tun? Mein Herz raste vor Angst. Was wollte er von mir? Wie hatte er mich gefunden? Die Gedanken drehten sich im Schleudergang und machten es mir unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen.

Benedikt packte meinen Bademantel am Kragen und riss ihn auseinander. Voller Abscheu blickte er an meinem Körper entlang. „Du siehst zum Kotzen aus!“, spie er mir angewidert ins Gesicht.

Ich bemühte mich, keinen Ton von mir zu geben, doch ich schaffte es nicht, ein leises Wimmern zu unterdrücken. Gleich darauf spürte ich seine Hand in meinem Gesicht. Meine Wange brannte wie Feuer, doch ich gab keinen Laut von mir.

Benedikt wandte sich von mir ab und blickte über seine Schulter. „Du kannst sie dir nehmen, aber lass ihr Gesicht aus, sonst taugt sie zu gar nichts mehr!“ Augenblicklich war mir klar, was das bedeutete. Er hatte mich wieder einem seiner sadistischen Freunde versprochen. Ich musste würgen, denn ich wusste, was ich jetzt ertragen musste.

Angsterfüllt wagte ich einen Blick hinter Benedikt. Verwirrt stellte ich fest, dass wir uns im Keller der von Erlenfels Villa befanden. Wie war ich hierher gekommen? Irgendetwas stimmte hier nicht. Als ich endlich begriff, dass ich mich in einem Albtraum befand, schrie ich aus Leibeskräften um Hilfe. Wenn ich mich nicht irrte, war der schreckliche Traum gleich vorbei.

Plötzlich hörte ich, wie jemand auf mich einredete, doch Benedikts gemeines Lachen wollte nicht verschwinden, also schrie ich weiter.

Jemand fasste meinen Arm. Panisch versuchte ich, ihn abzuschütteln, dann hörte ich eine bekannte Stimme. „Claire, mach die Augen auf! Es ist nur ein Traum! Mach die Augen auf, Claire!“

Tom! Der Richter war da. Er würde mir helfen. Beherzt riss ich die Augen auf und blickte in Toms sorgenvolle Miene.

„Tom!“ Meine Stimme war nicht mehr als ein heißeres Krächzen.

„Ja Claire. Du hast nur geträumt.“ Er strich mir sanft das verschwitzte Haar aus dem Gesicht.

„Hier Claire, das wird dir guttun.“ Bella erschien an meinem Bett und stellte mir eine Tasse mit dampfendem Tee auf den kleinen Tisch. Sie strich mir liebevoll über den Kopf, bevor sie zur Tür ging. „Wenn ihr mich braucht, ich bin in meinem Zimmer.“ Sie schloss leise die Tür, dann war ich mit Tom alleine. Er saß auf meinem Bett vor mir, nur in Boxershorts und T-Shirt bekleidet, fiel mir auf. Scheinbar hatte ich die beiden aus dem Schlaf geholt.

„Es tut mir leid“, setzte ich beschämt an, doch Tom schüttelte mit zusammengepressten Lippen den Kopf. Ich verstummte sofort, was ihm scheinbar auch nicht gefiel, denn er seufzte schwer. Verunsichert zog ich die Schultern hoch und blickte auf meine Hände. Der Albtraum hatte mich noch nicht vollständig losgelassen. Mein Herz schlug noch viel zu schnell und der Schweiß auf meiner Haut ließ mich frösteln. Hatte ich vor wenigen Sekunden noch gedacht, Tom könne mich retten, drohte mich jetzt die Angst erneut zu überwältigen.

Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, um aus dieser Lage einigermaßen glimpflich herauszukommen. Was wusste ich schon über diesen Mann?

Er legte seine große Hand auf meine ineinander verschlungenen Hände. „Du brauchst keine Angst zu haben, Claire. Nicht vor mir, hörst du?“, sagte er mit ruhiger, fester Stimme.

Ich glaubte ihm. In seiner Stimme war etwas, das meine Angst milderte und mein rasendes Herz beruhigte. Eine Träne tropfte auf seinen Handrücken. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich weinte. Wohl aus Erleichterung, doch nun erstarrte ich.

„Tut mir …“ Mir blieben die Worte im Hals stecken, als er mich an sich zog, doch zu meiner großen Verwunderung wiegte er mich sanft in seinen Armen.

Erleichtert schloss ich die Augen und schmiegte mich irgendwann schläfrig an Toms Brust. Er roch so gut; nach frisch gefälltem Holz und nach Waldboden, wenn es geregnet hat. Ein beruhigendes Gefühl von Sicherheit machte sich in mir breit und ich schlief im Schutz von Toms starken Armen ein.

Am nächsten Tag wachte ich erst gegen Mittag auf.

Zuerst bekam ich Angst, Bella oder Tom könnte verärgert sein, weil ich nicht zum Frühstück erschienen war, doch dann sah ich das Tablett auf dem kleinen Tisch vor dem gemütlichen Sessel und atmete erleichtert auf.

Ich krabbelte mit der Decke über den Schultern aus dem Bett und besah mir das liebevoll angerichtete Frühstück. Bella hatte mir Kaffee in eine Thermokanne gefüllt, stellte ich erfreut fest. Außerdem gab es Croissants, Brötchen und dazu Marmelade, Käse, kleine Tomaten und in einer kleinen Warmhalteschüssel fand ich sogar Rührei, das köstlich duftete.

Hungrig machte ich mich über die Köstlichkeiten her und verputzte das wunderbarste Frühstück seit Langem.

Eine Stunde später betrat ich, frisch geduscht und angezogen, das Tablett in den Händen, die Küche. Niemand war hier, was mich nicht weiter verwunderte. Immerhin war es schon fast Mittag und Bella schien ein Mensch zu sein, der irgendwie immer etwas zu tun hatte.

Nachdem ich das Geschirr abgespült und die Küche wieder in Ordnung gebracht hatte, ging ich über die Terrasse in den weitläufigen Garten. Die Sonne schien und man konnte spüren, dass sie jeden Tag an Kraft zulegte.

Vor einer Baumgruppe, die am Ende des Gartens Schatten spendete, setzte ich mich auf eine Bank, die, liebevoll restauriert, im Schatten der Bäume stand und dazu einlud, auf ihr zu sitzen und die Stille, die hier oben herrschte, zu genießen.

Ich schloss die Augen, nahm den Duft der Tannen wahr, lauschte dem Gesang der Vögel und genoss ein Gefühl inneren Friedens. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich zum letzten Mal eine solche Ruhe in mir verspürt hatte, wie in diesem Moment.

Meine Gedanken schweiften zur letzten Nacht, in der ich mich ähnlich gefühlt hatte. Der Richter mit den schwarzen Augen hatte mich nach meinem Albtraum in den Armen gehalten. Die Albträume waren intensiv und bedrohlich, und sie entsprangen der bitteren Realität. Immer wieder traf ich auf Benedikt in meinen Träumen, der mich demütigte, mir drohte, mich verlieh oder mich schlug. Ich war vor ihm geflüchtet, doch in meinen Träumen holte er mich zu sich zurück, so wie er es mir angedroht hatte.

Tom hatte mich letzte Nacht aus meinem Traum geholt und mich anschließend tröstend im Arm gehalten. Er gab mir das Gefühl in Sicherheit zu sein, und ich war in seinen Armen eingeschlafen, was mich verwirrte. Berührungen, besonders von Männern, konnte ich nicht ertragen, denn sie bedeuteten Schmerz und Demütigung für mich. Eine liebevolle oder gar tröstende Umarmung hatte ich so lange nicht gespürt, dass ich mich nicht mehr daran erinnern konnte. Toms Umarmung hingegen hatte mich beruhigt, ich hatte mich geborgen bei ihm gefühlt. Und ich hatte so tief geschlafen, dass ich nicht einmal mitbekam, als er das Zimmer verließ. Das war eine Premiere. Seit Jahren hatte ich nicht mehr so gut geschlafen, wie letzte Nacht. Wenn mich die Albträume einmal nicht in ihren Klauen hatten, wagte ich es nicht, tief einzuschlafen, aus Angst vor Übergriffen. Benedikt hatte einen perfiden Spaß daran gehabt, mich im Schlaf zu überwältigen. Nie war ich vor ihm sicher, denn er überwachte mein Zimmer mit einer Kamera und hatte so die Möglichkeit, mich in schutzlosen Momenten, mit irgendeiner perversen Idee zu überraschen, wie er es nannte.

„Liebes, das bist du ja!“ Bellas Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Sie stand auf der Terrasse und winkte mich zu ihr. Als ich mich erhob, wandte sie sich um und ging ins Haus.

Wir betraten gleichzeitig die Terrasse, wo Bella den runden Gartentisch gedeckt hatte. „Ich dachte, wir lassen das Mittagessen ausfallen und gehen direkt zu Kuchen über“, scherzte sie fröhlich und legte mir ein Stück Apfelkuchen auf einen der Teller. Sie hatte Kaffee mitgebracht und schenkte uns die Tassen damit voll.

Wenig später hielten wir die Gesichter in die Sonne und genossen die wärmenden Strahlen. Wir hatten die Reste des leckeren Apfelkuchens vertilgt und uns dabei über alles Mögliche unterhalten. Ich hatte erwartet, dass Bella mich wegen meines Albtraums fragen würde, doch es schien fast, als mied sie dieses Thema, wofür ich ihr dankbar war.

Insgeheim fragte ich mich, wo Tom geblieben war. Bella hatte nur für uns beide gedeckt, daraus schloss ich, dass er sich nicht hier aufhielt. Der Gedanke stimmte mich traurig, wofür ich mich innerlich rügte. Er hatte mich in Sicherheit gebracht und ging nun wahrscheinlich seinen Verpflichtungen nach. Als Richter hatte er bestimmt wahnsinnig viel zu tun, außerdem kam ihm garantiert Angenehmeres in den Sinn, als sich um das Wrack, das ich war, zu kümmern. Nur weil er mich letzte Nacht getröstet hatte, hieß das noch lange nicht, dass er die Tage mit mir verbrachte.

Bella und ich standen in der Küche und bereiteten das Abendessen zu, als wir Toms Stimme hörten. Kurz darauf stand er im Eingang zur Küche und lächelte uns an. Augenblicklich klopfte mein Herz schneller und ein freudiges Gefühl erfasste mich. Er trug eine schwarze Stoffhose und ein weißes Hemd, dessen Ärmel er umgeschlagen hatte, sodass ich seine sehnigen Unterarme sehen konnte.

Mein Mund wurde trocken bei seinem Anblick. Eine Strähne seiner glänzenden, schwarzen Haare fiel ihm über ein Auge, was ihm einen verwegenen Ausdruck verlieh. Das weiße Hemd saß tadellos und schmiegte sich sanft an seinen muskulösen Oberkörper. Als er jetzt näher kam, konnte ich bei jedem Schritt die kräftigen Oberschenkel sehen, die sich an den Stoff seiner Hose drückten. Sein Gang war selbstbewusst und geschmeidig; man konnte sehen, dass er sich wohl in seiner Haut fühlte und er hatte jedes Recht dazu. Vom Scheitel bis zu den schwarzen, eleganten Schuhen sah er göttlich aus. Dieser Mann strahlte etwas Verheißungsvolles aus, ohne es bewusst zu provozieren.

Als er dicht vor mir stehen blieb und auf mich herab lächelte, merkte ich erst, dass ich ihn angestarrt hatte. Sofort schoss mir die Schamesröte in die Wangen. Ich war mir sicher, dass er mein Starren bemerkt hatte und das war mir mehr als peinlich. Was sollte er nur von mir denken? Ich musste ein entsetztes Stöhnen unterdrücken, als mir klar wurde, was ich empfunden hatte, als er in der Tür stand. Ich hatte ihn anziehend gefunden, sehr anziehend. Hatte ich denn immer noch nicht genug? Ich hatte mir geschworen, nie wieder einem Mann zu vertrauen oder ihm zu gestatten, dass er mir näher kam. Und was tat ich stattdessen? Ich himmelte den ersten Mann an, der mir über den Weg lief.

„Wie geht`s dir heute?“ Seine tiefe Stimme klang aufrichtig besorgt und so liebevoll, dass ich mich augenblicklich beruhigte. Wie schaffte er das nur? Es war mir ein Rätsel, wie er all diese Emotionen in mir auslösen konnte. Meine Reaktion auf ihn machte mir Angst.

„Es geht mir schon besser, vielen Dank“, antwortete ich leise und wandte mich ab. Ich musste dringend Abstand zu ihm haben, um einen klaren Kopf zu bekommen. Seine Nähe, sein Duft, seine dunklen Augen, die mich in ihren Bann zogen ...

Er brachte mich völlig durcheinander. Ich konnte nicht mehr klar denken, wenn er mir so nah war. Wo zum Teufel blieb meine Angst, wenn ich sie ausnahmsweise einmal gebrauchen konnte?

Ich verbrachte das Abendessen hauptsächlich damit, mich davon zu überzeugen, dass ich, wie jede andere Frau, auf Toms maskuline Ausstrahlung reagierte. Dabei versuchte ich außer Acht zu lassen, dass ich keine normale Frau war, sonst hätte der Selbstbetrug nicht funktioniert. Ich redete mir ein, dass ich an einer Art Stockholm Syndrom litt. Immerhin hatte Tom mich gerettet, da konnte es gut möglich sein, dass ich ihn deshalb mit anderen Augen sah. Am Ende hatte ich kaum etwas zu mir genommen, sondern die ganze Zeit nur in meinem Essen herumgestochert, was Bella mit sorgenvoller Miene beobachtete.

„Vielleicht hast du mehr Appetit auf den Apfelstrudel, den du heute Nachmittag gebacken hast“, sagte sie mit Hoffnung in der Stimme. Ich glaubte nicht daran, wollte sie aber nicht enttäuschen und nickte deshalb zustimmend.

„Du kannst backen?“ Tom sah mich ungläubig an, das brachte das Fass in mir zum Überlaufen. Endlich hatte ich etwas gefunden, das ihn vom Thron des perfekten Mannes stürzen würde. Ich war ungerecht zu ihm, doch ich musste mich vor ihm retten.

„Ja, selbst ich bin zu etwas nützlich, auch wenn man es kaum glauben mag“, antwortete ich leise und sprang auf, um die Teller in die Spülmaschine zu räumen. Einen Moment war es still hinter mir. Ich unterdrückte die aufsteigenden Tränen und atmete tief durch, bevor ich mich umdrehte. Als ich es tat, prallte ich gegen Toms harte Brust. Erschrocken taumelte ich zurück und wäre auf die Klappe der geöffneten Geschirrspülmaschine gefallen, hätte Tom mich nicht festgehalten.

Sein verständnisvoller Blick traf mich wie ein Schlag in den Magen. Mir wäre es lieber gewesen, wenn er böse auf mich gewesen wäre. Damit hätte ich umgehen können, doch nicht mit diesem Blick.

„Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was mit mir los ist“, murmelte ich beschämt und senkte den Kopf. Er hatte alles Recht der Welt, sauer zu sein, doch er überraschte mich schon wieder. Er zog mich in eine Umarmung und – küsste meinen Scheitel … Oh Gott! Bitte nicht!

Ich spürte, wie ein verzweifeltes Schluchzen in mir hochstieg und kämpfte gegen den Drang zu weinen an. Wieso konnte er nicht einmal das tun, was ich von ihm erwartete? Er sollte sauer auf mich sein, sich beleidigt von mir abwenden. Stattdessen war er so liebevoll, dass ich drohte zusammenzubrechen.

Panisch wollte ich mich von ihm lösen, doch er ließ es nicht zu. Ich kämpfte, drückte die Hände gegen seine Brust, doch ich hatte nicht die geringste Chance gegen ihn. Irgendwann übermannte mich das Gefühl, gehalten, getröstet zu werden, und mein Widerstand erschlaffte. Ich überließ mich seiner Umarmung und spürte, zum ersten Mal seit Jahren, das tröstliche Gefühl von Geborgenheit.

Das Zeitgefühl war mir abhandengekommen. Es hätten Minuten vergangen sein können, ebenso wie Stunden, ich wusste es nicht und es war mir gleichgültig. Tom hielt mich so lange, wie es eben dauerte. Meine Wange lag an seiner Brust und ich lauschte dem gleichmäßigen Takt seines Herzens. Toms Wange ruhte auf meinem Kopf und seine Arme hielten mich umschlungen. Er hatte einen Kokon um mich geschaffen, mich für die Welt unsichtbar gemacht.

An meinem zweiten Abend in Bellas Haus ging ich ruhiger schlafen. An was – oder besser gesagt, an wem das lag, darüber wollte ich nicht nachdenken.

Black Angels

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