Читать книгу Black Angels - Jana Marie Deniè - Страница 3
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Tom
Ich stöhnte frustriert auf.
Fünf Mal hatte ich die verdammte Anklageschrift schon gelesen und wusste immer noch nicht das Geringste über ihren Inhalt. Es gelang mir einfach nicht, mich zu konzentrieren. Meine Gedanken waren bei der Frau, die zwei Zimmer weiter in ihrem Bett lag und hoffentlich eine ruhige Nacht hatte.
Seufzend legte ich die Füße auf den schweren, alten Schreibtisch meines verstorbenen Patenonkels, und lehnte mich im Sessel zurück.
Claire ging mir unter die Haut. Sie hatte etwas an sich, das mich berührte, mich anzog, wie die Motte das Licht. Sie war atemberaubend schön, mit ihrem herzförmigen Gesicht, den langen blonden Haaren, die in der Sonne wie ein Strahlenkranz um ihren Kopf leuchteten, und ihren smaragdgrünen Augen, in denen kleine braune Pünktchen funkelten, wenn sie wütend war. Ein amüsiertes Grinsen hob meine Mundwinkel, als ich mich an ihre funkelnden Augen erinnerte, die sie mir mit einem überraschend zornigen Blick gezeigt hatte. Diese Frau hatte nicht die geringste Ahnung, wie unglaublich sexy sie war, wenn sie ihre Wut zeigte. Gespannt wie eine Feder hatte sie vor mir gestanden, der zierliche Körper hatte gebebt, vor unterdrücktem Zorn. Ihre vollen Lippen hatten sich geöffnet, als müsse sie nach Luft japsen und als ihre kleine Zunge vorschnellte und die Lippen benetzte, musste ich mich zusammenreißen, um nicht laut aufzustöhnen. Hingerissen hatte ich ihr nachgesehen und schamlos ihren süßen Hintern bewundert, als sie sich vor der Spülmaschine bückte. Das brachte mir einen tadelnden Blick von Bella ein, deren Anwesenheit ich zugegebenermaßen vergessen hatte.
Als ich dann jedoch Claires bebende Schultern sah, kam ich mir vor wie der allerletzte Arsch. Verdammt, sie weinte und ich war auch noch schuld daran. Dabei war ich nur überrascht über Claires Backkünste ….
In Ordnung, ich war tatsächlich ein Arsch. Sie konnte ja nicht wissen, dass die bisherigen Frauen in meinem Leben nicht mal Tütensuppe zubereiten konnten, ohne sie anbrennen zu lassen. Vivian hatte es beim Rührei braten immerhin zu einem Küchenbrand gebracht, und an das Mikrowellenkuchen Experiment von Sonja, einer Gelegenheitsfreundin, wollte ich besser nicht denken, obwohl ich durch sie jetzt immerhin wusste, dass eine Mikrowelle explodieren kann. So gesehen war eine Frau, die Apfelstrudel buk, und anschließend die Küche noch nutzbar war, wirklich eine Überraschung für mich.
Claire konnte all das jedoch nicht wissen. Sie fühlte sich angegriffen und das zu Recht. Hinzu kam, dass sie bei diesem Ungeheuer schlechter als ein Tier behandelt wurde und es ihr dadurch an Selbstvertrauen fehlte.
Als ich zu ihr ging und sie vor einem Sturz bewahrte, hörte ich auf zu denken. Ich handelte instinktiv, indem ich sie in eine Umarmung zog.
Claire hielt nur schwer Berührungen aus, was bei ihrer Vergangenheit nachvollziehbar war. Ich hatte sie förmlich damit überrumpelt und ja, es war nicht ungefährlich, was ich getan hatte. Sie hatte sich gewehrt, ihre Fäuste gegen meine Brust gestemmt und ich hätte sie sofort losgelassen, wenn nicht ihr ganzer Körper das genaue Gegenteil ausgedrückt hätte, indem er sich regelrecht an mich presste. Claire sehnte sich nach Berührungen, doch ihre Überlebensinstinkte warnten sie davor. Dass sie in meinen Armen die Kontrolle über sich abgeben konnte, löste etwas in mir aus, das ich mir nicht erklären konnte. Es war nicht nur das Bedürfnis, eine traumatisierte Frau zu trösten und ihr Schutz zu geben. Da war mehr. Und genau dieses Mehr bereitete mir Kopfzerbrechen. Sie weckte meinen Beschützerinstinkt, aber auch mein Verlangen.
Verärgert über den Weg, den meine Gedanken gingen, fuhr ich mir durch die Haare und verschränkte die Hände im Nacken. Mein Blick ging zur obersten Schreibtischschublade, die ich vor ein paar Minuten erst verschlossen hatte. Ich bewahrte darin hochsensible Papiere auf, zu denen auch Claires Akte gehörte. Es handelte sich nicht um ihre Scheidungspapiere, die lagen in meinem Büro bei Gericht. Es war eine Akte, die Ralph erstellt hatte und deren Inhalt nur ihm, Kim und mir bekannt war.
Eigentlich war ich bisher davon überzeugt, dass mich nichts mehr erschrecken könnte. Das, was Claire widerfahren war, ging jedoch über meine Vorstellungskraft hinaus. Es gab Unmengen an Bild- und Videomaterial, auf dem die abscheulichsten Dinge zu sehen waren. Benedikt von Erlenfels hatte seine Kunden heimlich gefilmt, um sie später damit zu erpressen.
Ralph und seine Leute hatten in der Villa einen Folterkeller vorgefunden, der über alles hinausging, was ich jemals gesehen hatte. Auf fast dem gesamten Filmmaterial war Claire zu sehen. Dieses Schwein hatte sie verkauft und verliehen, wie einen Putzlappen. Er hatte ihr ihre Würde als Mensch genommen und sie seinen perversen Freunden überlassen. Diesem Abschaum ging es nicht um Sex, sie holten sich ihren Kick, wenn sie einen wehrlosen Menschen quälen durften.
Ein markerschütternder Schrei durchbrach meine Gedanken und die Stille.
Noch bevor ich auf den Flur rannte, schrie Claire wieder. Mir stellten sich die Nackenhaare auf, so furchtbar hörte es sich an. Ein Mensch schrie in Todesangst, nicht anders konnte man die Schreie interpretieren. Pure Mordlust wallte in mir auf, als ich durch den langen Flur zu Claires Zimmer hastete. Als ich die Tür so heftig aufriss, dass sie gegen die Wand hinter ihr schlug, spülte der Schmerz, den ich bei Claires Anblick empfand, sämtliche Wut aus meinen Gehirnzellen. Sie wand sich unruhig auf dem Bett, die Decke hatte sie weggestrampelt und ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Das dünne Hemdchen klebte an ihrem verschwitzten Körper und eine wahre Tränenflut strömte aus ihren weit geöffneten Augen. Der Albtraum hielt sie noch immer gefangen, auch wenn sie jetzt nicht mehr schrie. Es war nur noch ein verzweifeltes Wimmern zu hören, doch das genügte, um mir einen Stich ins Herz zu versetzen.
Ich packte Claire an den Oberarmen und zog sie trotz ihres heftigen Widerstandes in meine Arme. Sie zappelte und kratzte wie eine Verrückte, sodass ich ziemlich kräftig zupacken musste. „Claire, wach auf! Du bist in Sicherheit!“ Immer wieder sagte ich ihr, dass sie träumte, aber es kam mir wie eine halbe Ewigkeit vor, bis sie in meinen Armen erschlaffte. Augenblicklich lockerte ich meinen Griff um ihre Oberarme. Im Stillen betete ich, dass sie morgen früh keine Blutergüsse haben würde, so fest hatte ich zugepackt.
Als sie anfing zu weinen, bettete ich ihren Kopf an meine Brust und wiegte sie sanft hin und her. Dabei murmelte ich beruhigende Worte an ihrem Ohr, damit sie wusste, dass sie in Sicherheit war.
„Tom“, flüsterte sie. Ihre Stimme klang gehetzt und heißer von ihren Schreien.
„Ich bin da. Hab keine Angst, ich passe auf dich auf, Prinzessin“, beruhigte ich das zitternde Bündel in meinen Armen.
„Bitte … lass nicht zu, dass ich … zurück muss. Das … überlebe ich nicht.“
Ihr Schluchzen schnürte mir die Kehle ab. Meine Stimme klang unnatürlich belegt, als ich ihr antwortete. „Nein, Prinzessin. Niemals würde ich das zulassen.“
„Schwöre!“ Sie hob den Kopf und sah mich flehentlich aus tränennassen Augen an. Ich verspürte einen schmerzhaften Stich, als ich die Angst in ihren Augen las, und fühlte mich erbärmlich. „Ich schwöre dir, dass du nie wieder dorthin musst.“
Sie sah mich so intensiv an, als würde sie bis auf den Grund meiner Seele blicken. Ich verlor mich in ihren wunderschönen Augen, in denen ich den Schmerz lesen konnte, den sie ertragen musste, aber auch eine unbändige Stärke, die mir schier den Atem nahm. Sie hatten versucht, sie zu brechen, doch sie hatten es nicht geschafft. Claire war eine Kämpferin und sie würde es schaffen, davon war ich überzeugt. Ich hielt einen Meter fünfundsechzig purer Lebenswille in meinen Armen. Sie würde es allen zeigen, die an ihr zweifelten. Und ich würde nichts lieber tun, als sie darin zu unterstützen.
Ich hielt Claire die restliche Nacht in meinen Armen.
Als sie eingeschlafen war, versuchte ich vorsichtig, uns in eine bequeme Position zu bringen. Meine Füße waren eingeschlafen und meine Muskeln brannten unter der Last dieses verstörten Engels, doch es war mir gleichgültig. Ich hielt sie in meinen Armen, ihr zarter Körper drückte sich vertrauensvoll an Meinen. Ich vergrub meine Nase in ihrem duftenden Haar und empfand ein Gefühl, das ich mit Glück vergleichen konnte.
Obwohl der Tag mich ziemlich geschafft hatte, fand ich keinen Schlaf.
Schon lange hatte keine Frau mehr in meinen Armen geschlafen. Ich hatte fast vergessen, wie gut es sich anfühlte.
Viv hatte es vorgezogen, ohne Umarmung einzuschlafen. Selbst, nach dem wir uns geliebt hatten, rückte sie nach wenigen Minuten auf ihre Seite, was ich nie wirklich verstehen konnte.
Nach unserer Trennung hatte ich hin und wieder Sex, doch ich blieb nie über Nacht bei einer Frau. Es war eben nur Sex und vielleicht noch Empathie – aber kein Gefühl, das tiefer ging.
Nun lag ich im Bett einer Frau, die ich nicht wirklich kannte, hatte keinen Sex, hielt sie aber in meinen Armen und es fühlte sich gut und richtig an.
Irgendwann hatte mich der Schlaf wohl doch übermannt.
Als ich verschlafen die Augen öffnete, spürte ich zuerst Claires Po, der sich an meine Lenden drückte. Meinem Schwanz schien das sehr zu gefallen, wie ich schnell bemerkte. Ich hatte eine fast schmerzhafte Erektion, die Claire ohne Zweifel bemerken würde, wenn sie aufwachte. Während ich fieberhaft überlegte, wie ich von ihr abrücken konnte, ohne sie zu wecken, spürte ich zu meinem Entsetzen, dass sich Claires Hintern an meinem Schwanz rieb. Ich konnte ein verhaltenes Stöhnen nicht unterdrücken. Dieser zarte, weibliche Körper brachte mich um den Verstand.
Weil mir kein anderer Ausweg einfiel, zog ich meinen Arm vorsichtig unter Claires Kopf hervor und rückte von ihr ab. Sie blieb stillliegen, doch ich merkte an ihrer Atmung, dass sie wach war. Wahrscheinlich hatte ich sie völlig verängstigt, ich Idiot! Wütend auf mich selbst, rutschte ich bis zur Bettkante, stieg aus dem Bett und schlich mich aus Claires Zimmer. Sie sollte wissen, dass ich die Situation nicht ausnutzen würde.
In meinem Zimmer angekommen, ging ich sofort unter die Dusche und stellte das Wasser auf kalt.
Claire
Als ich das leise Klacken des Türschlosses hörte, fiel mir ein Stein vom Herzen.
Er hatte das Zimmer verlassen.
Eine Sekunde später flatterte mein Herz, aufgeregt wie ein gefangener Schmetterling, in meiner Brust. Er hatte die Nacht in meinem Bett verbracht.
Tom war bei mir geblieben, hatte mich in seinen Armen gehalten und mich getröstet.
Ich war verwirrt.
Er hatte mich nicht angefasst, nichts von mir gefordert. Er war einfach geblieben und hielt mich, lieh mir seinen Arm als Kissen, als wäre es das Normalste der Welt.
Ich rollte mich auf den Bauch und drückte meine Nase ins Kissen. Es roch nach Tom. Genießerisch sog ich seinen Duft in meine Lungen. Dieser wunderbare Duft nach Holz und Wald, es war Sandelholz, wenn ich mich nicht irrte, aber da war noch etwas anderes, eine feine Ambernote vielleicht. Ja, das musste es sein. Dieser Duft passte perfekt zu dem Mann mit den sanften, dunklen Augen.
Entsetzt über meine Gedanken setzte ich mich ruckartig auf.
Tom war ein Mann, und Männern hatte ich abgeschworen. In ihnen schlummerten Tiere, die die Oberhand gewannen, wenn sie eine Frau nehmen wollten. Ich hatte am eigenen Leib erfahren, wie es war, wenn Männer das Tier in sich herausließen.
Dann wurden aus fürsorglichen Familienvätern plötzlich keuchende, eklig schwitzende Monster, die sich an den Schmerzen, die sie mir zufügten und an meiner Angst freuten. Sie fanden ihre Befriedigung, wenn sie mich demütigten.
Ich hatte oft erlebt, dass sie mich mit einem anderen Namen ansprachen.
Mir war klar, dass sie in seiner Fantasie nicht mich schlugen, sondern die eigene Frau, die Sex verweigerte oder sie wegen anderer Dinge erzürnte.
Für mich war es jedes Mal eine Demütigung, die ein Stück von mir zerstörte.
Hastig verdrängte ich die Erinnerungen an die schreckliche Zeit und ging unter die Dusche. Ich war in einer merkwürdigen Hochstimmung, was meine Verwirrung noch verstärkte. Unbewusst fing ich an, eine Melodie zu summen, während ich mir den Schaum aus den Haaren wusch. Außerdem sah ich ständig Tom vor mir, wie er mich mit seinen schönen dunklen Augen ansah und mir liebevoll die Haare aus dem Gesicht strich.
Normalerweise zuckte ich panisch zurück, wenn mich jemand berühren wollte.
Nur Michelle, meine Anwältin, durfte mir näherkommen und selbst bei ihr hatte es einige Zeit gebraucht, bis ich ohne Angst ihre Berührung aushielt.
Bei Bellas Umarmung, als sie mich vor ein paar Tagen begrüßt hatte, war ich auch zuerst starr geworden, vor Angst.
Zum Glück hatte sich meine Angst im Laufe der Tage gelegt. Ich wollte Bella nicht vor den Kopf stoßen. Sie war so nett zu mir und las mir jeden Wunsch von den Augen ab.
Bei Tom war von Anfang an alles anders. Ich genoss seine Berührungen und spürte eine seltsame Leere, wenn er seine Hände zurückzog.
Energisch vertrieb ich sein Gesicht aus meinem Kopf. Es gab in meinem Leben keinen Platz für romantische Träume, die sowieso niemals erfüllt wurden. Ich war nun einmal keine Frau, die sich ein Mann an seiner Seite wünschte. Benedikt hatte recht; ich sah abschreckend aus mit meinen Narben und ich war ein seelisches Wrack. Ich konnte mich ja selbst nicht ansehen, ohne Ekel zu verspüren.
Unglücklich betrachtete ich mich im Spiegel und fuhr mit den Fingerspitzen über die mittlerweile verheilten Narben. Erst als ein Tropfen auf meine Brust fiel, merkte ich, dass ich weinte.
Schnell wandte ich den Blick von den Zeichen aus dieser qualvollen Zeit und schrubbte wie eine Besessene meine Zähne. Sobald ich an die Männer dachte, denen ich die Narben zu verdanken hatte, bekam ich einen bitteren Geschmack in den Mund. Es schmeckte fast wie Eisen oder Blei – jedenfalls war es so eklig, dass ich mich meist übergeben musste.
Mit Zahncreme und Zahnbürste versuchte ich, den bitteren Geschmack zu vertreiben. Meine Therapeutin hatte mir erklärt, der Geschmack wäre mein Blut, an das ich mich erinnern würde. Ich hatte ihr versprechen müssen, die Zähne nicht mehr so exzessiv zu putzen. Mittlerweile konnte ich mein Versprechen die meiste Zeit halten, doch heute musste ich es einfach tun. Mein Mund sollte sauber werden, damit ich mich nicht mehr beschmutzt fühlte.
Beim Ausspülen sah ich Blut im Waschbecken. Ich hatte es wieder einmal übertrieben. Seufzend putzte ich das Waschbecken und ging, in meinen kuscheligen Bademantel gehüllt, in mein Zimmer, um mich anzukleiden.
Als ich wenig später die Küche betrat, saßen Tom und Bella bereits an dem großen Tisch, der die Mitte des großzügigen Raumes bildete, und frühstückten.
Zögerlich trat ich näher. Ich schämte mich plötzlich für die Ereignisse der letzten Nacht.
„Guten Morgen.“ Meine Stimme war nicht mehr als ein zittriges Piepsen. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Die Situation überforderte mich ziemlich, doch Bella und Tom schienen meine Unsicherheit nicht zu bemerken.
Bella, die mit dem Rücken zur Tür saß, drehte sich zu mir um und bedachte mich mit einem freundlichen Lächeln. „Guten Morgen, Claire“, begrüßte sie mich herzlich. „Setz dich zu uns. Ich schenke dir gleich frischen Kaffee ein.“ Schon sprang sie auf und ging zur Anrichte, um die Kanne mit frisch aufgebrühtem Kaffee zu holen.
Ich setzte mich mit gesenktem Kopf Tom gegenüber auf die massive Holzbank und starrte auf den Teller vor mir.
Plötzlich schob sich ein Korb mit frischen, verführerisch duftenden Brötchen vor meinen Blick. Prompt knurrte mein Magen laut und ungehalten. Ich hörte Tom leise lachen und konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Als ich aufsah, hielt Tom mir nach wie vor den Korb mit Brötchen unter die Nase und grinste breit. „Ich glaube, dein Magen hat gerade Nahrung gefordert.“
Verlegen nahm ich ein Brötchen aus dem Korb und bedankte mich leise.
Bella goss mir Kaffee in die Tasse und nahm wieder Platz.
„Greif zu, Liebes.“ Bella zeigte auffordernd auf die Tischmitte, wo mehrere Sorten Marmelade, Käse und Wurst appetitlich angerichtet waren.
Ich war wirklich sehr hungrig, deshalb überwand ich meine Scheu und bediente mich.
Genüsslich schloss ich die Augen und seufzte zufrieden. Gott schmeckte das lecker!
Als ich die Augen wieder öffnete, blickte ich direkt in Toms Gesicht.
Er sah mich so merkwürdig an, dass ich schnell zu Bella sah, die seelenruhig an ihrem Kaffee nippte. Mein Herz schlug schneller und meine Hände zitterten, als ich meine Tasse hochnahm. Ich traute mich nicht mehr, Tom anzuschauen. Ich hatte in seinen Augen etwas gesehen, das mich verwirrte. Dann verwarf ich den Gedanken schnell wieder. Ich hatte mich ganz bestimmt geirrt.
Bella und Tom unterhielten sich angeregt während des Frühstücks. Sie versuchten immer wieder, mich in ihr Gespräch mit einzubeziehen, doch ich war zu beschäftigt damit, Toms tiefer Stimme zu lauschen. Er sprach ruhig und selbstbewusst, seine Stimme klang angenehm melodisch. Sein Lachen hinterließ ein sanftes Kribbeln auf meiner Haut und ein warmes Gefühl in meinem Bauch.
Heimlich riskierte ich einen Blick auf ihn. Er hob seine Tasse an den Mund und schaute mich genau in diesem Augenblick an. Erschrocken starrte ich ihn an, nicht fähig, den Blick von seinen dunklen Augen zu nehmen. Er zwinkerte mir zu und trank von seinem Kaffee. Ich spürte, wie ich rot wurde, und senkte den Blick. Mittlerweile klopfte mir das Herz im Hals, so nervös war ich plötzlich.
Was war nur mit mir los? Weshalb reagierte ich so auf ihn?
Das musste schnellstens ein Ende finden, sonst würde ich keine Ruhe finden.
Hastig stand ich auf. Der Stuhl schrubbte unüberhörbar über den Küchenboden, sodass Bella zusammenzuckte. Ich flüsterte schnell eine Entschuldigung und verlies fluchtartig die Küche.
Es war mir unangenehm, einfach wegzulaufen, doch ich konnte nicht anders. Ich brauchte dringend ein paar Minuten für mich, um meinen Herzschlag zu beruhigen und wieder klar denken zu können.
Ohne es bewusst wahrzunehmen, war ich in mein Zimmer geflüchtet, doch hier fühlte ich mich nicht wesentlich wohler. Ständig sah ich Tom auf meinem Bett sitzen, was meinen Herzschlag eher beschleunigte, als beruhigte.
Ich beschloss, einen Spaziergang zu machen. Die frische Luft würde mir guttun und die Bewegung könnte mich auf andere Gedanken bringen.
Ich schnappte mir meine Jacke und schlüpfte in bequeme Sneakers. Wie ein Einbrecher schlich ich die Treppe hinunter. Ich schämte mich für mein Verhalten am Frühstückstisch. Bella und Tom waren so liebevoll um mich bemüht und ich benahm mich wie eine Verrückte.
Als die Haustür hinter mir ins Schloss fiel, atmete ich erleichtert aus. Die Sonne schien und es war kein Wölkchen am blauen Himmel zu sehen. Die Luft roch nach Frühling; tief atmete ich ein und stieß geräuschvoll die Luft wieder aus. Es war so herrlich friedlich hier oben. Zielstrebig ging ich in die Richtung, in die ich am ersten Tag mit Tom gelaufen war. Ich hatte bei unserem Spaziergang einen großen Findling entdeckt. Dort wollte ich mich ausruhen und den Blick auf die Felder genießen. Vielleicht gelang es mir, meine Gedanken zu sortieren, wenn ich eine Zeit lang dort verbrachte.
Ich war schon ein großes Stück gelaufen, als ich Hundegebell hörte. Ängstlich sah ich mich um. Tom sagte, hier oben würden sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, so einsam wäre es. Vielleicht waren es einfach nur Spaziergänger, versuchte ich, mich zu beruhigen. Immerhin war in der Nähe ein Dorf und die Felder waren bestellt. Also konnte es auch ein Bauer sein, der mit seinem Hund unterwegs war.
Angestrengt blickte ich über die Felder. In weiter Entfernung sah ich irgendwann tatsächlich einen Mann und einen Hund, der vor ihm herumsprang. Die Entfernung war zu groß, um zu erkennen, wie der Mann bekleidet war. Ich sah nur an seinem Gang, dass es sich um einen Mann handeln musste.
Was wäre, wenn Benedikt herausgefunden hätte, wo ich mich versteckt hielt?
Der Gedanke kam so plötzlich, dass ich einen Moment glaubte, mein Herz bliebe stehen.
Angst stieg wie eine Stichflamme in mir hoch und versetzte mich in Panik.
Ich drehte mich um und rannte los. Ich rannte, als wäre der Teufel hinter mir her, was der Realität entsprach, wenn es Benedikt war, der mich gefunden hatte.
Mein Herz raste, während ich versuchte, Steine und Wurzeln zu umlaufen oder über sie hinweg zu springen. Ich durfte auf keinen Fall stürzen, dann wäre ich verloren hier draußen.
Warum hatte ich Bella und Tom nicht gesagt, wohin ich ging? Warum musste ich mich wie ein Dieb davonschleichen? Wenn mir jetzt etwas zustieß, war es allein meine Schuld.
Ich sprang über einen kleinen Graben und blickte hoch. Im nächsten Moment prallte ich gegen einen harten Gegenstand. Ein heißer Blitz schoss durch meinen Kopf, dann wurde es dunkel.
Tom
Als ich den Schrei hörte, rannte ich in die Richtung, aus der ich ihn gehört hatte. Instinktiv wusste ich, dass es Claire war, die geschrien hatte. Hier oben kam selten ein Spaziergänger vorbei. Nur die Bauern kamen mit ihren Traktoren, um die Felder zu pflügen oder die Ernte einzuholen. Ich hatte Claire gerade noch gesehen, als sie das Haus verließ, und war ihr gefolgt. Sie hatte beim Frühstück die Küche fluchtartig verlassen, nachdem sie mich angesehen hatte. Ich machte mir Sorgen und war verwirrt. Hatte sie bemerkt, dass ich sie beobachtete?
Ich hatte ihr zugesehen, wie sie mit großem Appetit zwei Brötchen und ein Croissant verputzte. Wie ein Magnet zog sie meine Blicke auf sich, wenn sie über ihre Lippen leckte. Immer wieder war ihre kleine Zungenspitze hervorgeschnellt, um Marmelade oder Butter einzufangen, die auf ihrer Lippe klebte. Sie sah dabei so verführerisch aus, dass mir das Blut in die Lenden schoss. Verdammt! Ich Idiot hatte sie verängstigt – schon wieder.
„Claire!“ Angestrengt horchte ich, ob sie antwortete, doch es blieb still. Ich lief weiter in die Richtung, aus der ich den Schrei gehört hatte. Als ich den Körper auf dem Boden liegen sah, gefror mir das Blut in den Adern. Das war Claire, die regungslos am Boden lag. Verdammt!
Bei ihr angekommen, sank ich auf die Knie. Entsetzt sah ich, dass ihr hellblondes Haar eine rote Färbung hatte. Vorsichtig strich ich ihre Haare aus ihrem Gesicht, da sah ich die Bescherung. Auf ihrer Stirn prangte eine Platzwunde, die heftig blutete. Nachdem ich ihre Atmung und den Puls kontrolliert hatte, atmete ich erst einmal auf. Claire war ohnmächtig, aber sie atmete ruhig.
Mit dem Handy informierte ich Bella über unseren Standort. Sie würde mit dem Jeep kommen, um uns abzuholen. Wir befanden uns ein ganzes Stück von Bellas Grundstück entfernt und ich wollte Claire so schnell wie möglich ärztlich untersuchen lassen.
Behutsam zog ich ihren Oberkörper auf meine Schenkel, sodass ihr Kopf nicht länger auf dem harten Boden lag. Sie wimmerte leise und verzog das Gesicht. Ich nahm ihre Hand und redete beruhigend auf sie ein, doch ich war mir nicht sicher, ob sie mich hörte.
„Bleib ganz ruhig liegen. Gleich kommt Hilfe. Alles wird gut. Hab keine Angst, Claire.“
Ich redete leise mit ihr, bis ich das Geräusch von Bellas Jeep hörte. Ich hatte wohl eher mich beruhigen wollen, denn Claire gab noch immer keinen Mucks von sich.
Bella sprang aus dem Wagen und lief auf uns zu.
„Ach du lieber Himmel!“, flüsterte sie erschrocken. „Wie ist das denn passiert?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung. Sie ist scheinbar gerannt und dabei gegen die Birke geprallt.“ Ich zeigte auf den Baum direkt vor uns. Die Birke war das einzige Hindernis, das infrage kam. Sie stand einsam, inmitten riesiger Felder und Claire blutete an der Stirn. Ich fragte mich, was geschehen war, dass Claire den einzigen Baum in der Umgebung übersehen hatte. Sie musste panisch gerannt sein … aber weshalb? Was hatte sie so erschreckt, dass sie so in Panik geraten war? Ich blickte beunruhigt immer wieder über die Felder, doch es war keine Menschenseele hier oben zu sehen.
Bella hielt mir die Fondtür auf, damit ich Claire auf die Rückbank legen konnte. Ich setzte mich zu ihr und bettete ihren Kopf auf meinen Schoß, damit sie es bequemer hatte. Bella stieg an der Fahrerseite ein. Sie warf einen besorgten Blick auf Claire und startete den Wagen.
„Sollen wir direkt zu Hans ins Dorf fahren?“ Dr. Hans Wegener war der Hausarzt von Bella und ein Freund der Familie.
Eigentlich passte mir der Gedanke, mit Claire ins Dorf zu fahren, nicht. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war einfach zu groß. Auf der anderen Seite zählte im Moment nur ihre Gesundheit. Ich wollte schon zustimmen, da rührte sich Claire auf meinem Schoß. Mein Entschluss stand fest. „Sie wird wach, Bella. Fahr uns nach Hause.“
Bella nickte nur und versuchte, den Jeep um die Schlaglöcher herum zu lenken, damit Claire nicht zu sehr durchgeschüttelt wurde.
Ich strich Claire sanft über die Wange, um sie zu beruhigen. Ihre Lider flatterten unruhig und sie stöhnte leise. Sie sah aus wie das leibhaftige Dornröschen, mit dem langen blonden Haar und den geschlossenen Lidern.
Blinzelnd öffnete sie die Augen und sah mich verwirrt an.
„Es ist alles in Ordnung, Claire“, beruhigte ich sie schnell. „Wir sind gleich zu Hause. Beweg dich bitte nicht.“
Sie krächzte ein leises „okay“ und schloss wieder die Augen.
Als Bella kurz darauf den Jeep vor das Haus fuhr, hob ich Claire auf meine Arme und trug sie ins Haus. Ich hatte sie gerade auf die Couch im Wohnzimmer gebettet, als Bella hereinkam.„Hans ist unterwegs“, sagte sie und neigte sich zu Claire, die wieder bei vollem Bewusstsein war. „Liebes, wir müssen dich untersuchen lassen. Ich habe meinen Hausarzt verständigt, damit er nach dir sieht. Er ist ein Freund der Familie, du musst keine Angst haben.“
Sie hatte in der Zwischenzeit Claire die Schuhe von den Füßen gestreift und eine Decke über ihr ausgebreitet.
„Ich hole jetzt warmes Wasser, damit wir nach deiner Stirn sehen können. Tom, du machst uns bitte einen Kaffee. Ich denke, wir können einen mit Schuss vertragen.“
Schon huschte Bella durch die Tür, um heißes Wasser zu holen.
Verwundert sah ich meiner Patentante nach. Es war ihr nicht anzumerken, dass sie sich erschreckt hatte. Einzig die Tatsache, dass sie schon am späten Vormittag nach einem Schuss Cognac in ihrem Kaffee verlangte, war ein Zeichen dafür, dass sie sich Sorgen um Claire machte.
Claires Stöhnen schreckte mich auf. Ich kniete mich an das Kopfende des Sofas, um nach ihr zu sehen. Sie tastete mit schmerzverzerrtem Gesicht ihre Stirn ab. Behutsam zog ich ihre Hand weg. „Du hast eine Platzwunde, Claire. Hast du starke Schmerzen?“ Sie sah noch blasser aus als sonst, ihre Lippen hatten kaum Farbe. „Es geht schon“, wisperte sie und schloss die Augen. Ich hielt ihre Hand in meiner und strich mit dem Daumen beruhigend über ihren Handrücken.
Als Bella mit einer Schüssel Wasser und Tüchern bewaffnet zurückkam, deutete sie mit einer energischen Handbewegung zur Küche, dann beugte sie sich zu Claire und strich ihr liebevoll übers Haar, während sie ihr erklärte, dass sie die Wunde reinigen würde.
Während ich Kaffee übergoss, überlegte ich, was oder wer Claire so in Panik versetzt haben könnte. Um sicherzustellen, dass sie niemandem aus dem von Erlenfels Clan begegnet war, tippte ich schnell eine Kurznachricht an Ralph in mein Handy. Er würde es wissen, falls wider Erwarten einer der feinen Herren aus der Untersuchungshaft entlassen worden war.
Ich schraubte gerade den Deckel auf die Thermokanne, als ich ein Fahrzeug hörte.
Das schien endlich Dr. Wegener zu sein. Mit großen Schritten durchquerte ich die Diele. Als ich die Tür öffnete, griff Dr. Wegener gerade nach seiner Arzttasche auf dem Beifahrersitz.
„Hallo Tom! Lange nicht gesehen!“ Er drehte sich um und kam lächelnd auf mich zu. Ich musste aussehen wie ein Fragezeichen. Woher wusste er, dass ich an der Haustür stand? „Hallo Dr. Wegener!“ Ich schüttelte die freundlich ausgestreckte Hand. „Ich habe Augen im Hinterkopf, mein Junge.“ Der Arzt zwinkerte verschwörerisch hinter den Gläsern seiner Nickelbrille und grinste vergnügt.
„Na komm, führe mich zu eurer Patientin. Bella sagte, es sei dringend.“
Ich bat den Hausarzt herein, hielt es jedoch für angebracht, ihn vorab über die besonderen Umstände zu informieren. Familiennamen und Ermittlungsdetails verschwieg ich, doch ich entschied mich, ihm wenigstens die Teilwahrheit zu sagen. Dr. Wegener hatte schon meine Schürfwunden und Platzwunden behandelt, als ich noch ein kleiner Junge war. Außerdem hatte er eine Verschwiegenheitspflicht als Arzt.
Der Hausarzt hörte mir kopfschüttelnd zu. Ihm war die Empörung anzusehen, die er für Claires Ex-Mann empfand.
„Stellen Sie mir bitte eine Privatrechnung aus, Doc“, endete ich.
„Mach dir darum mal keine Sorgen, Junge“, antwortete er und drückte die Türklinke zum Wohnzimmer herunter.
Bella hatte Claires Wunde schon gereinigt, als ich mit Dr. Wegener näher trat.
Herzlich begrüßte sie den guten Freund und deutete lächelnd auf Claire.
„Claire, das ist mein guter Freund, Dr. Wegener.“
Claire versuchte ein Lächeln und wollte sich aufrichten, doch Dr. Wegener hielt sie zurück.
„Na na, junge Frau! Sie bleiben besser liegen.“ Er beugte sich zu ihr und nahm ihre Hand. „Ich werde mir mal Ihre Stirn ansehen und Ihren Blutdruck messen. Dann kontrolliere ich Ihre Augen und werde Sie untersuchen. Möchten Sie, dass Bella uns Gesellschaft leistet?“
Als Claire nickte, ging ich in die Küche, um nachzusehen, ob Ralph mir geantwortet hatte.
Als Dr. Wegener zwanzig Minuten später in die Küche trat, wusste ich, dass Benedikt von Erlenfels, sein Vater und zwei seiner engsten Vertrauten, noch immer in Gewahrsam waren. Das bedeutete zwar keine Entwarnung, aber Claire war vorübergehend sicher, denn die Herrschaften hatten ein Besuchsverbot bekommen. Somit war es für sie nicht unmöglich, aber erschwert, Kontakt zu ihren Hintermännern aufzunehmen. Vorerst musste ich mich damit zufriedengeben, denn ich hielt mich an unsere Gesetze, auch wenn ich mir in Einzelfällen eine Verschärfung wünschte.
„Wie geht es Ihr, Doc?“
Der Arzt sah erschüttert aus. Ich stellte ihm eine Tasse Kaffee hin, die er dankbar annahm.
„Was weißt du, Tom?“, fragte er nach einigen Minuten des Schweigens.
„Alles“, antwortete ich knapp.
Dr. Wegener seufzte. „Claire hat eine leichte Gehirnerschütterung. Es ist nicht besorgniserregend, aber sie sollte sich die nächsten Tage ruhig verhalten. Die Platzwunde am Haaransatz habe ich mit einem Klammerpflaster versorgt.“ Er nahm einen Schluck aus seiner Tasse und stellte sie vorsichtig auf den Tisch, als hätte er Angst, sie zu zerbrechen. Ich konnte die Wut, die er versuchte zu unterdrücken, regelrecht spüren.
„Sie ist eine tapfere kleine Frau.“
„Das ist sie.“
„Sie wurde gefoltert.“
„Ja.“
Der Arzt atmete geräuschvoll aus. Ich konnte seine Erschütterung verstehen. Immerhin kannte ich Claires Akte und wusste, was man ihr angetan hatte.
Mich überkam jedes Mal ein Brechreiz, wenn ich die Bilder sah und daran dachte, wie sehr sie gelitten haben musste.
„Wie entkam sie dieser Hölle?“, wollte der Arzt wissen.
„Sie wurde bewusstlos in die Notaufnahme gebracht. Ein unbekannter Mann legte sie dort auf den Stühlen ab und verschwand. Die Ärzte haben sofort die Polizei informiert, als sie Claires Verletzungen sahen. Es wurde alles dokumentiert und die Staatsanwaltschaft eingeschaltet.“
Dr. Wegener sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Habt ihr diese Bestien?“
Als ich bestätigend nickte, schien er erleichtert. „Gut! Ich hoffe, sie bekommen ihre gerechte Strafe.“ Er erhob sich vom Stuhl und kramte in seiner Tasche. Dann drückte er mir einen Streifen Tabletten in die Hand.
„Das sind leichte Beruhigungsmittel. Ich gehe davon aus, dass Claire unter Albträumen leidet. Wenn sie möchte, kann sie abends eine Tablette davon nehmen.“
Ich begleitete den Arzt zur Tür und dankte ihm noch einmal zum Abschied. Er hatte Claire nicht erkannt, obwohl die Szenen vor dem Gerichtsgebäude und die Festnahme ihres Exmannes durch die Medien gingen. Scheinbar war er noch immer ein Gegner der modernen Medien. Manches änderte sich eben nie.
Als ich das Wohnzimmer betrat, half Bella gerade Claire beim Aufstehen. Ich sah auf den ersten Blick, dass Claire keine zwei Schritte schaffen würde. Sie verzog das Gesicht vor Schmerzen, doch es kam kein Laut über ihre zusammengepressten Lippen. Ich beeilte mich, an ihre Seite zu kommen, um sie notfalls aufzufangen.
„Claire, wo willst du hin?“ Sie sah aus wie ein Gespenst und wankte bedrohlich. Ich legte meine Hände an ihre Taille, um sie zu stützen. Sie zuckte nicht einmal, so wacklig war sie auf den Beinen. Bella sah Claire besorgt an. „Claire wollte sich in ihr Bett legen, aber sie wird die Treppe nicht schaffen.“
Claire lehnte mittlerweile mit geschlossenen Augen an meiner Brust. Sie war völlig erschöpft, was verständlich war. Ich hob sie kurzerhand auf meine Arme, was sie sich ohne Widerstand gefallen ließ. „Danke“, flüsterte sie müde und schlang ihre Arme um meinen Hals. Ein warmes Gefühl durchströmte mich. Diese zarte Frau, die so vertrauensvoll ihre Wange an meine Brust schmiegte, war so unglaublich stark und tapfer. Ich konnte nur mit Mühe dem Impuls widerstehen, sie auf die blasse Nase zu küssen. Ich spürte ihren Körper, der sich an mich drückte, unglaublich intensiv.
Sie sah mich mit ihren faszinierenden, grünen Augen an und hob auffordernd die Augenbrauen. Ein kleines, spöttisches Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. „Mein Zimmer ist im Obergeschoss.“ Ihre Stimme klang amüsiert trotz ihrer Erschöpfung. Sie hatte mich dabei erwischt, dass ich sie anstarrte, das war mir klar. „Oder bin ich dir zu schwer?“, fragte sie mit gerunzelter Stirn, was ihr im nächsten Moment ein gequältes Stöhnen entlockte.
Ich schnaubte verächtlich. „Soll das ein Scherz sein? Du bist ein Fliegengewicht“, entgegnete ich belustigt. Claires Lächeln vertiefte sich.
Gott, sie war wunderschön! Mein Herz schlug plötzlich viel zu schnell in meiner Brust. Diese Frau entfachte ein wahres Feuerwerk der Gefühle in mir, ohne es zu wissen. Ich wollte sie nicht mehr loslassen; ich wollte sie halten und beschützen, sie zum Lachen bringen und sie trösten.
Ich atmete tief durch und rief mich zur Besinnung. Claire war verletzt und ich stand da und träumte. Wie einen kostbaren Schatz trug ich sie durch die Diele und ging, langsamer als notwendig, die Treppe hoch in ihr Zimmer.
Dort angekommen legte ich sie behutsam auf die Laken. Bella scheuchte mich ungeduldig aus dem Zimmer. Ich gehorchte widerstrebend, da rief Claire leise nach mir. „Kommst du noch mal?“ Ich nickte und verließ das Zimmer, damit Bella Claire beim Auskleiden helfen konnte.
Auf dem Flur lehnte ich mich mit dem Rücken an die Wand und atmete tief durch. Was zum Teufel war nur los mit mir? Ich legte stets großen Wert darauf, alles unter Kontrolle zu haben. Was ich tat, war nicht ungefährlich; ein Fehler konnte Menschenleben kosten. Gefühle waren ein absolutes No Go, besonders wenn es sich um Personen handelte, deren Leben von unserem Plan abhing. Ralph hatte das bitter erfahren müssen, als Kim entführt wurde. Er war damals wie ein Irrer losgezogen, um die Frau zu befreien, die er liebte. Dabei hatte er sich und sein Team in Gefahr gebracht, weil seine Leute ihn nicht im Stich lassen wollten.
Als Bella aus Claires Zimmer trat, hatte ich mir vorgenommen, keine Gefühle zuzulassen. Punkt. Ausrufezeichen!
Kurz darauf stand ich vor Claire. Sie empfing mich mit einem zauberhaften Lächeln auf ihren schönen Lippen und ich verwarf meine heroischen Pläne. Stattdessen verzogen sich meine Lippen zu einem Grinsen, ohne dass ich einen Einfluss darauf gehabt hätte. Claire klopfte mit der Hand auf ihr Bett und sah mich auffordernd an. Dass sie meine Nähe nicht nur duldete, sondern regelrecht forderte, machte es mir endgültig unmöglich, auf Distanz zu bleiben. Die Vernunft hatte verloren – und ich war froh darüber.
Claire
Tom saß auf der Bettkante und lächelte mich an.
Er schien nicht sauer auf mich zu sein, und wenn doch, zeigte er es nicht.
Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil ich heute Morgen so kopflos aus dem Haus gelaufen war. Dass ich zu allem Überfluss mit dem einzigen Baum weit und breit kollidiert war, machte es nicht gerade besser. Bella und Tom hatten sich große Sorgen gemacht; eine Entschuldigung war mehr als angebracht.
„Es tut mir sehr leid, was geschehen ist. Ich kann verstehen, wenn du wütend auf mich bist.“
So, es war gesagt. Ich wusste, Tom würde mir nichts tun, aber allein die Vorstellung, er könnte sauer auf mich sein, machte mir zu schaffen.
Tom sah mich erschrocken an. Er nahm meine Hand in seine und bedachte mich mit einem Blick, den ich als liebevoll deutete.
„Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest, Claire. Niemand ist böse auf dich, im Gegenteil. Bella und ich haben uns Sorgen um dich gemacht.“
Plötzlich brach alles über mir zusammen. Die Angst, etwas für ihn zu empfinden, dann der fremde Mann mit dem Hund, der blöde Baum … Ich hatte erwartet, dass Tom mir Vorwürfe macht. Stattdessen saß er auf meinem Bett, hielt meine Hand und war einfach nur unglaublich lieb und verständnisvoll.
Ich hatte mir vorgenommen, tapfer zu sein, doch seine Reaktion war zu viel für mich. Unaufhaltsam quollen mir die Tränen aus den Augen. Es war, als hätte jemand Schleusen geöffnet, die jahrelang verschlossen waren. Erst kamen einzelne Tränen, dann brachen sie sich Bahn und schossen mir in Strömen übers Gesicht. Meine Stimme gehorchte mir nicht mehr und Tom verschwand hinter einem dichten Tränenschleier.
Ich spürte, wie er mich an sich zog und mich umarmte.
Es tat so gut, gehalten zu werden. Aus Furcht, er könne mich loslassen, klammerte ich mich wie eine Ertrinkende an ihn. Er strich mir sanft übers Haar und murmelte beruhigende Worte, die ich vor lauter Weinen nicht verstand. Es war mir egal; ich fühlte mich sicher und beschützt in seinen Armen. Ich steckte meine Nase in sein T-Shirt und sog seinen Duft in meine Lungen, während ich ihn unter Wasser setzte.
Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Meine Tränen versiegten irgendwann, dafür hämmerte es in meinem Schädel und meine Augen fühlten sich geschwollen an. Ich stöhnte leise, als ich den Kopf heben wollte. Erst jetzt bemerkte ich, dass Tom neben mir auf der Decke lag und mich in seinen Armen hielt.
„Hast du Schmerzen?“
Ich öffnete meine verweinten Augen und sah in Toms besorgtes Gesicht.
„Mein Kopf explodiert.“ Stöhnend griff ich mir an die Stirn, die hinter dem Mullverband pochte.
Tom löste sich von mir; ich hätte beinahe laut protestiert, konnte mich aber gerade noch zurückhalten. Er reichte mir ein Glas Wasser und eine Tablette.
„Die sind von Dr. Wegener. Du wirst noch ein paar Tage Kopfschmerzen haben. Nimm besser die Schmerztabletten.“
Dankbar schluckte ich die Tablette und trank das frische Wasser. Tom schüttelte mir das Kissen auf und deckte mich fürsorglich zu. Als er sich wieder auf die Bettkante setzte, war ich erleichtert. Ich wollte nicht, dass er ging. Wenn er bei mir war, fühlte ich mich sicherer. In einem seltenen Anfall von Mut griff ich nach seiner Hand. Er lächelte und strich mit dem Daumen über meine Fingerknöchel.
„Wenn du willst, bleibe ich hier. Du solltest jetzt aber etwas schlafen.“
Ich war wirklich todmüde. „Es ist in Ordnung, wenn du dich wieder hinlegen willst“, murmelte ich mit geschlossenen Augen. Innerlich betete ich, dass er mich wieder halten würde.
Nach wenigen Augenblicken gab die Matratze unter ihm nach. Glücklich schmiegte ich mich in seine schützenden Arme und schlief ein.
Das dringende Bedürfnis, die Toilette aufzusuchen, weckte mich.
Noch bevor ich meine Augen öffnete, spürte ich Toms beruhigende Anwesenheit. Er lag mit seiner Brust an meinem Rücken, einen Arm locker um mich geschlungen und atmete tief und gleichmäßig. Ich verfluchte im Stillen meine Blase, die mich zwang, diesen herrlich warmen und sicheren Kokon zu verlassen, den mir Toms Umarmung bot. Mein einsames Herz sehnte sich nach diesem Schutz und dem wunderbaren Gefühl der Geborgenheit. In meiner Erinnerung gab es keine Geborgenheit, keinen Schutz. Es gab nur Qual und Demütigung und düstere, kalte Einsamkeit.
Ich seufzte bedauernd und hob vorsichtig Toms Arm etwas an, um mich unter ihm zur Bettkante zu schieben. Behutsam legte ich seinen Arm auf das Laken und setzte mich langsam auf. Das Zimmer begann sich zu drehen; mir wurde übel und in meinem Kopf spielte ein kleiner Scherzbold Hau den Lukas.
Ich krallte meine Hände in die Bettkante und versuchte, langsam und gleichmäßig zu atmen. Der Schweiß lief in Strömen über meinen Rücken, während sich die Welt drehte, als säße ich auf einem viel zu schnellen Karussell.
„Oh mein Gott!“ Ich stöhnte leise oder auch laut, so genau wusste ich das nicht, denn in meinen Ohren rauschte ein Wasserfall, der mein Gehör lahmlegte.
Ich schloss die Augen, um das Karussell zu stoppen, riss sie aber schnell wieder auf, als ich Hände spürte, die meine Oberarme umschlossen. Erleichtert stellte ich fest, dass es Tom war, der mich vor einem Sturz bewahrte. Er zog mich sanft nach hinten, sodass ich mich an seine Brust lehnen konnte.
Ich begann zu frösteln. Das dünne Nachthemd war von meinem Schweiß so durchnässt, als hätte ich unter einer Dusche gestanden. Tom bemerkte es und legte meine Decke über mich.
„Das mit dem Aufstehen müssen wir noch üben“, brummte er. Ich hörte die Besorgnis in seiner Stimme, auch wenn er einen Scherz daraus machte.
„Ich muss dringend ins Bad“, verteidigte ich mich mit dünner Stimme. Meine Blase tat mittlerweile weh, so dringend musste ich zur Toilette.
„Kein Problem.“ Im nächsten Moment hatte mich Tom auf seine Arme gehoben und marschierte mit mir die wenigen Schritte zum Badezimmer. Vor der Toilette ließ er mich vorsichtig herunter und drehte mir den Rücken zu.
Ungläubig starrte ich ihn an. Das konnte ja wohl nicht sein Ernst sein!
Mit schwachen Beinen setzte ich mich auf den Toilettendeckel. Tom schien sich nicht so einfach davon überzeugen zu lassen, mir das Badezimmer zu überlassen, und mir fehlte einfach die Kraft, mich im Stehen zu wehren. Meine Knochen waren eine Pudding ähnliche Masse und der kleine böse Zwerg in meinem Schädel hämmerte auch schon wieder los.
„Tom, ich kann das nicht. Bitte warte vor der Tür“, bat ich ihn schwach.
Ich hörte ihn unverständlich brummen, dann seufzte er ergeben.
„Du rufst nach mir, Claire. Keine Alleingänge, versprochen?“
„Versprochen. Danke, Tom.“
Gerührt sah ich ihm nach, als er das Badezimmer verließ.
Er war besorgt um mich. Er wollte, dass es mir gut ging. Er behandelte mich respektvoll und war rücksichtsvoll. Bei ihm musste ich meine Grenzen nicht verteidigen; er erahnte sie und hielt sie ein.
Mein Herz flog ihm zu, wie ein wild flatternder Schmetterling. Mein Verstand allerdings war anderer Meinung. Mahnend hielt er den Zeigefinger hoch und erinnerte mich daran, wer ich war – ein Nichts.
Nachdem ich mich erleichtert hatte, wusch ich mir die Hände. Dabei wagte ich einen Blick in den Spiegel. Ich hatte einen dicken Mullverband auf der Stirn. Meine Haare sahen aus wie ein Vogelnest – ein rostrotes Vogelnest. Meine Haut schien durchsichtig weiß und unter meinen Augen hatten sich dunkle Ränder gebildet.
„Claire ist alles in Ordnung?“ Tom war tatsächlich vor der Tür stehen geblieben.
„Ich bin fertig!“ Eilig trocknete ich mir die Hände ab. An meinen Haaren konnte ich leider nichts ändern, solange der dicke Verband meine Stirn verdeckte.
Tom kam zu mir und sah mich fragend an.
„Meine Haare sind voll getrocknetem Blut“, erklärte ich beschämt das Offensichtliche. „Ich sehe fürchterlich aus.“
Tom schüttelte lächelnd den Kopf und hob mich auf seine Arme. Sein Gesicht war meinem so nah, dass ich die silbrigen Sprenkel in seinen dunklen Augen sehen konnte. Mein Blick wanderte zu seinen vollen Lippen, die er leicht geöffnet hatte.
Wie sie sich wohl auf meinen anfühlen würden?
Erschrocken über meine Gedanken sah ich wieder in Toms Augen, was auch nicht wirklich beruhigender war. Er hatte bestimmt erraten, an was ich gedacht hatte. Seine Augen funkelten wie ein Sternenhimmel; sie hielten meinen Blick gefangen und drangen in mich, zu meinem flatternden Herzen.
Etwas Fremdes, Beruhigendes zog mich magisch an. Ich spürte seine Energie; ich spürte seine Sehnsucht, seine Stärke. Ein unsichtbares Band wand sich um unsere Körper. Es zog uns näher und näher, bis sich unsere Lippen berührten; sanft, so sanft wie ein warmer Windhauch und so schnell vorüber, dass ich mich fragte, ob ich nur geträumt hatte.
Tom ließ mich behutsam auf mein Bett sinken und sah mich verwirrt an. Ich tastete mit den Fingerspitzen nach meinen Lippen, auf denen ich noch immer seine Berührung spüren konnte, und blickte nicht weniger verwirrt zurück.
Das Klopfen an der Tür riss uns aus einem merkwürdig entrückten Zustand.
Schnell zog ich die Decke über mein nasses Hemdchen, das meine Brustwarzen durchscheinen ließ, wie ich erst jetzt entsetzt feststellte.
Tom ging zur Tür, um sie zu öffnen. Bella kam mit einem Tablett herein, von dem ein verführerischer Duft zu mir wehte. Wie auf Kommando fing mein Magen laut zu grummeln an. Tom hob mit einem amüsierten Grinsen die Augenbrauen, was mich zum Kichern brachte.
Bella stellte das Tablett auf den kleinen Tisch, der an dem Ohrensessel stand.
„Der Schlaf hat dir gutgetan, Liebes“, sagte sie lächelnd. „Du siehst schon etwas besser aus. Nun lass es dir schmecken.“
Sie war schon an der Tür, als sie Tom ansprach. „Ich habe noch einen zweiten Teller dazu gestellt.“ Ich spürte, wie die Röte in meine Wangen stieg. Tom blieb gelassen. „Danke, Bella“, sagte er, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, dass er sich in meinem Zimmer aufhielt, während ich im Bett lag.
Er durchquerte das Zimmer und richtete zwei Teller an. Einen stellte er auf das kleine Tablett und brachte es mir ans Bett. Prompt knurrte wieder mein Magen.
Tom reichte mir Messer und Gabel, dabei grinste er vergnügt. „Guten Appetit, Mylady!“ Er verbeugte sich wie ein Butler aus dem Neunzehnten Jahrhundert, dabei legte er sich schwungvoll das Handtuch über den Unterarm.
Ich kicherte vor Vergnügen. Es sah einfach zu lustig aus, wie sich der riesige Mann als Butler versuchte. Er füllte mit seinen breiten Schultern fast vollständig den Raum zwischen meinem Bett und der Badezimmertür aus.
Er grinste fröhlich und verbeugte sich noch einmal. Dabei schlug er sich fast die Stirn am Bettrahmen auf, so tief verneigte er sich. Ich gab einen erschrockenen Laut von mir und zuckte reflexartig mit der Hand nach vorne. Meine Fingerspitzen streiften Toms rauen Bartschatten an seiner Wange, dann seine Lippen. Als hätte mich ein Blitz getroffen, zog ich meine Hand zurück. „Entschuldige“, stammelte ich verlegen. Tom erhob sich und strich mit dem Handrücken sanft über meine Wange. Abrupt drehte er sich weg und setzte sich in den großen Ohrensessel.
Schweigend fingen wir mit dem Essen an. Bella hatte Curryhühnchen gekocht, das Beste, das ich je gegessen hatte. Ich verputzte alles; am Liebsten hätte ich den Teller sauber geleckt, so fantastisch schmeckte es. Mit einem zufriedenen Seufzer sank ich in die Kissen.
„Prinzessin, wenn du deinen Schönheitsschlaf hältst, kann ich ja deinen Nachtisch haben.“
Ich grinste mit geschlossenen Augen. „Ich überlasse ihn dir“, antwortete ich träge. Seit wann war Essen nur so anstrengend?
„Oh, danke! Ich liebe Schokoladenpudding!“
„Schokoladenpudding?“ Ruckartig setzte ich mich auf und ließ sofort stöhnend den Kopf wieder ins Kissen sinken. Der kleine Scherzbold in meinem Kopf spielte wieder mit seinem Hämmerchen.
„Claire?“ Toms Stimme klang besorgt. Vorsichtig öffnete ich die Augen. Er hatte sich über mich gebeugt. Das Hämmern rutschte, ohne Zwischenstopp, von meinem Kopf in meine Brust. Schnell schloss ich die Augen wieder und atmete Toms wunderbaren Duft ein.
„Mund auf“, flüsterte er, dann spürte ich etwas Weiches, Kaltes auf meinen Lippen. Ich leckte es mit der Zungenspitze ab und stöhnte genüsslich. Schokoladenpudding, wie lecker! Tom lachte leise. „Mund auf“, befahl er wieder. Ich gehorchte und er schob mir vorsichtig einen Löffel Pudding in den Mund. Mmh, wie köstlich! Als mein Mund leer war, öffnete ich ihn freiwillig für den nächsten Löffel. Tom fütterte mich liebevoll. „Jetzt weiß ich endlich, wie ich dich dazu bekomme, mehr zu essen.“ Ich hörte an seiner Stimme, dass er schmunzelte. „Du siehst aus, wie ein kleiner, hungriger Spatz.“ Ich stellte mir vor, wie diese Spatzenfütterung aussah, und musste kichern. Der nächste Löffel verrutschte und schon klebte Pudding auf meiner Nasenspitze. Kichernd öffnete ich die Augen und sah in Toms lachendes Gesicht. Eine Haarsträhne fiel ihm über die Augen; instinktiv hob ich die Hand und strich ihm die Strähne aus dem Gesicht. Sein Haar war unverhofft weich; sanft glitt ich mit den Fingern hindurch. Tom saß ganz still mit geschlossenen Augen da und ließ mich gewähren. Andächtig strich ich durch die seidig glänzenden Strähnen. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen; zaghaft berührte ich seine Wange.
Tom drückte seinen Kopf leicht in meine Handfläche und legte seine Hand sanft auf meine.
Mein Herz hämmerte wild gegen meine Rippen. Er sah aus wie ein Engel. Mein Engel. Der dichte Wimpernkranz, der seine geschlossenen Augen umrahmte, das schwarze glänzende Haar, die hohen Wangenknochen und die sinnlichen Lippen ...
Er war so schön, dass es mir den Atem raubte. Seine große Hand mit den langen, schlanken Fingern lag warm auf meiner viel kleineren Hand. Seine Brust hob und senkte sich gleichmäßig, ganz im Gegensatz zu meiner. Ich hatte Angst, dass mir das Herz jeden Moment aus der Brust springen würde, so aufgeregt hüpfte es hin und her.
Tom öffnete die Augen und fesselte mich mit seinem Blick. Ich hielt den Atem an, denn ich spürte wieder diese sanfte Kraft, die sich wie ein wärmendes Band um uns schlang. Näher und näher zog es uns zueinander.
„Du bist wunderschön, Claire.“
Ich spürte Toms Lippen auf meiner Nasenspitze und erschauerte wohlig. Ein sanftes Summen durchlief meinen Körper. Erst dann drangen seine Worte zu mir durch. Schön? Er hielt mich für schön, dabei war ich alles andere als das. Heißer Schmerz durchflutete mich und verbrannte die wohligen Schauer.
Ich keuchte entsetzt und drehte mein Gesicht zur Seite, damit Tom die Tränen nicht sah, die hinter meinen Augen lauerten.
Er zuckte zurück und ließ meine Hand los. Augenblicklich überfiel mich der schmerzhafte Verlust seiner Berührung.
„Bitte entschuldige, Claire! Ich wollte dir nichts tun.“
Ich hörte die Bestürzung in Toms Stimme. Er dachte, er hätte etwas falsch gemacht, dabei war er doch so perfekt! Er war zu perfekt für mich; zu schön, zu makellos.
Ich musste ihn beruhigen, ihm erklären, dass er gar nichts falsch machen konnte.
Mit geschlossenen Augen sagte ich: „Du hast nichts falsch gemacht, Tom. Bitte geh jetzt.“ Es kostete mich meine ganze Kraft, die Tränen zurückzuhalten. Er durfte mich nicht weinen sehen, sonst würde er nicht gehen. „Bitte, geh!“, flehte ich mit brüchiger Stimme. Ich hörte ihn schwer seufzen, dann bewegte sich die Matratze unter mir.
Als ich das leise Klacken des Türschlosses hörte, ließ ich meinen Tränen freien Lauf. Ich weinte um alles, was ich verloren hatte und um alles, was mir verwehrt blieb.
Mein Herz zerbrach, als es verstand, dass es diesen Mann, den es so sehr wollte, niemals bekommen durfte.
Ich musste eingeschlafen sein, denn als ich das nächste Mal die Augen öffnete, ging gerade die Sonne auf. Tatsächlich hatte ich eine Nacht ohne Albträume verbracht. Das war mehr als verwunderlich. Vorsichtig setzte ich mich auf und lehnte mich an das Kopfteil meines Bettes. Die Kopfschmerzen waren schon fast weg und auch vom Schwindel blieb ich verschont.
Meinem Körper ging es besser, nur mein Herz schmerzte wie verrückt.
Langsam stieg ich aus meinem Bett. Als ich merkte, dass ich sicher auf den Füßen stand, beschloss ich zu duschen. Im Badezimmer löste ich das große Pflaster mit dem dicken Mullverband von meiner Haut, dann sah ich mir den Schaden im Spiegel genauer an. Der Riss lief direkt am Haaransatz entlang und war mit einem Klammerpflaster verklebt. Ich hatte noch einmal Glück gehabt. Die Narbe konnte ich ohne Probleme mit meinen Haaren verdecken.
Es kam andererseits auf eine Narbe mehr oder weniger, auch nicht mehr an. Mein ganzer Körper war von Narben überzogen; Narben, die deutlich schlimmer aussahen, als die kleine Narbe auf meiner Stirn. Mit einer Nagelschere schnitt ich aus dem großen Pflaster ein Kleineres zurecht und verdeckte damit die Wunde, um sie vor Nässe zu schützen.
Bevor ich mir das dünne Nachthemd über den Kopf zog, wendete ich mich von meinem Spiegelbild ab. Mein eigener Körper stieß mich ab, wenn ich die vielen roten Linien sah, die über meinen Brüsten verliefen.
Benedikt und seine Freunde hatten mich gebrandmarkt. Sie hatten mit allem, was ihnen in die Finger kam, auf mich eingeschlagen und mich gezeichnet.
Tom durfte mich niemals so sehen. Ich würde es nicht überleben, wenn er sich angeekelt abwenden würde.
Ich drehte das warme Wasser in der Dusche auf und stellte mich darunter.
Das Wasser aus dem Duschkopf vermischte sich mit meinen Tränen.
Ich blickte an mir herab, fuhr mit den Fingerspitzen die Narben auf meiner Brust und an den Schenkeln nach und weinte bitterlich.
Ich hatte einen samtweichen, nachtblauen Jogging Anzug aus Nikki in meinem Schrank gefunden, den ich begeistert angezogen hatte. Unter der kuscheligen Jacke trug ich ein schlichtes, weißes T-Shirt mit einem hübschen V-Ausschnitt. An meinen Füßen trug ich weiße Sneakers, da ich ein wenig im Garten spazieren gehen wollte.
Die Sonne schien und es war wunderbar warm für die Jahreszeit.
Im Haus war es noch still und ich genoss die Ruhe. Ich gönnte mir eine Tasse Kaffee aus dem Vollautomaten, den Bella strikt mied. Sie liebte frisch aufgebrühten Kaffee und duldete den modernen Kaffeeautomaten nur wegen Tom und seinem Bruder.
Mit der Tasse in der Hand betrat ich die große Terrasse. Glücklich, dass die Kopfschmerzen erträglich waren, setzte ich mich in einen der gemütlichen Korbsessel. Während ich meinen Kaffee genoss, beobachtete ich zwei Eichhörnchen, die sich nachliefen. In einem atemberaubenden Tempo liefen sie an den Tannen empor, sprangen auf Äste und wieder zurück, um am nächsten Baum hinunter zu laufen. Sie tobten ausgelassen auf der Wiese und balgten sich freundschaftlich. Ich war so abgelenkt von dem Treiben der kleinen Nager, dass ich erschrocken zusammenzuckte, als ich Hundegebell hörte.
Sofort waren die Erinnerungen vom Vortag wieder da. Panisch sah ich in die Richtung, aus der ich den Hund bellen hörte. Plötzlich schoss ein großes, braunes Fellknäuel über die Wiese auf mich zu. Ich sprang hastig auf, doch das gefiel mein angeschlagener Kopf ganz und gar nicht. Mir wurde schwarz vor Augen, dann hörte ich das Zerspringen von Porzellan. Oh Gott, die Tasse, dachte ich noch, dann wurde es dunkel.
„Claire! Bitte wach auf, Claire!“
Toms Stimme drang durch einen dichten Nebel in meinen Kopf.
Stöhnend versuchte ich, die bleischweren Lider zu öffnen. Als es mir endlich gelang, blickte ich direkt in Toms dunkle Augen.
„Hi“, wisperte ich benommen. Ein kleines Lächeln flog über Toms besorgte Miene. Entzückt betrachtete ich die kleinen Lachfältchen um seine Augen. Sein Lächeln vertiefte sich. „Hallo Dornröschen.“ Er strich zärtlich mit seiner Nasenspitze über meine. „Es wird langsam zur Gewohnheit, dich aufzuwecken“, raunte er und zwinkerte mir zu.
Etwas Nasses an meiner Hand zerstörte den Augenblick. Erschrocken zog ich meine Hand weg, dann hörte ich ein Winseln. Tom richtete sich auf und gab den Blick auf einen Golden Retriever frei, der vor mir saß und mich reumütig ansah. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Der Hund hatte einen Blick, der Eis zum Schmelzen brachte. Ich streckte meine Hand aus, die er sofort mit seiner großen Zunge hingebungsvoll ableckte.
„Goldi, mach Platz! Du hast für heute genug Schaden angerichtet“, hörte ich eine Männerstimme. Augenblicklich erstarrte ich vor Angst. Ein Mann und ein Hund hatten mich gestern und vorhin in Panik versetzt.
Tom schien meine Angst zu spüren. „Es ist alles in Ordnung, Claire. Das ist nur der Förster. Er schaut ab und zu bei Bella vorbei, um sich zu versichern, dass es ihr gut geht.“ Er lächelte mich beruhigend an. „Kannst du aufstehen?“ Ich nickte beschämt. Es war mir peinlich, dass ich wegen des Försters und seinem Hund in Panik geraten war. Tom half mir hoch und setzte mich in einen Korbsessel. Der Hund kam mir nach und legte seinen großen Kopf auf meine Knie. Dabei sah er mich mit seinen treuen Hundeaugen bettelnd an. Liebevoll strich ich über das weiche Fell an seinem Kopf. „Du bist aber ein hübscher Rabauke“, sprach ich leise mit ihm und kraulte ihn hinter den Ohren. „Er ist ein ungezogener, hübscher Rabauke!“ Der Förster schmunzelte; die Erleichterung war ihm anzuhören. „Es tut mir außerordentlich leid, dass wir Sie erschreckt haben. Ich wollte mir nur eine Tasse Kaffee bei Bella ergaunern.“ Der Förster kam näher und lächelte entschuldigend. „ Ich bin der Förster in diesem Gebiet. Mein Name ist Bader. Heinrich Bader.“ Er zog seinen grünen Hut und deutete eine Verneigung an. Ich musste über sein altmodisches Verhalten schmunzeln. Herr Bader war bestimmt schon jenseits der Siebzig. Er hatte einen kleinen Bauchansatz, über dem die goldenen Knöpfe seiner grünen Försterjacke spannten und sein Haar war strahlend weiß. Das kräftige Gesicht war wettergegerbt und dementsprechend faltenreich.
Ich lächelte ihn freundlich an. Bevor ich jedoch den Mund öffnen konnte, sagte Tom: „Das ist Marie, eine Freundin.“ Puh, das war knapp! Beinahe hätte ich dem alten Mann meinen Namen verraten. Dass Tom meinen Taufnamen ausgesucht hatte, wunderte mich allerdings. Woher kannte er ihn? Vielleicht stand auf den Scheidungspapieren mein Zweitname. Ja, das war einleuchtend.
„Dann mach dieses zauberhafte Wesen schnell zu deiner Freundin, Tom.“ Der Förster zwinkerte vertraulich. „Sonst schnappt sie dir ein anderer weg.“
„Da könntest du recht haben, Heinrich“, murmelte Tom, sah mich aber nicht an.
Zum Glück bog in diesem Moment Bella mit einem Tablett mit Tassen und Kaffee um die Ecke.
Vorsichtig stand ich auf. „Ich hole mal Besen und Schaufel, damit niemand in die Scherben tritt.“ Neben mir lag die zerbrochene Tasse auf dem Boden, in einem braunen Kaffeefleck, der in der Sonne schon zu trocknen begann. Tom legte mir seine Hand auf die Schulter. „Bleib bitte sitzen. Ich mach das schon.“
Tatsächlich kam er wenige Minuten später mit Handfeger und Schaufel bewaffnet zurück, beseitigte den Schaden, dann brachte er mir frischen Kaffee.
„Danke“, sagte ich leise. Tom schenkte mir ein Lächeln, das mein Innerstes erreichte. Was geschah da mit mir? Wie konnte ich zulassen, dass er mein Herz so berührte? Du weißt, wie es endet! Willst du sein entsetztes Gesicht sehen? Die Stimme meiner Vernunft troff vor Sarkasmus. Dennoch hatte sie recht, es durfte nicht sein. Irgendwann würde er erfahren, wie benutzt und verdorben der Körper war, den er dachte, zu begehren. Ich wusste nicht einmal, ob ich mich ihm hingeben könnte. Niemand wusste, dass ich zu dumm war, um mich vor diesem Fiesling zu schützen, der in dem Kinderheim arbeitete, indem ich untergebracht war. Zuerst hatte ich überlegt, meine Anwältin zu informieren, doch ich verwarf den Gedanken wieder. Wer sollte mir schon Glauben schenken? Da glaubte man schon eher einem Hausmeister, der sich in einem Kinderheim engagiert.
Ich musste diese dummen Gefühle, die ich für Tom hegte, abstellen. Es wäre das Beste für alle, wenn ich mich auf meine Probleme konzentrierte, denn davon hatte ich wirklich genug.
Bella und Heinrich unterhielten sich angeregt. Tom saß entspannt in einem der Korbsessel, trank von seinem Kaffee und verfolgte das Gespräch.
Ich kraulte Goldis weiches Fell und beobachtete ihn heimlich.
Seine Hände umschlossen die Kaffeetasse. Mit den Daumen strich er gedankenverloren am Rand entlang. Sie bewegten sich bedächtig, fast zärtlich, über das feine Porzellan.
Tom strahlte eine Ruhe aus, die meine Angst besänftigte. In seiner Gegenwart fühlte ich mich sicher und geborgen. Ich spürte einfach, dass er mich niemals verletzen würde. Er war mir so nah, wie schon lange kein Mensch mehr und doch war er unerreichbar für mich.
„Marie?“ Verwirrt blickte ich hoch. Im ersten Moment fühlte ich mich nicht angesprochen, weil er meinen Taufnamen benutzt hatte.
„Ich gehe mit Goldi ein Stück spazieren. Willst du mich begleiten?“ Tom sah mich belustigt an. Er musste bemerkt haben, dass ich vor mich hin träumte. Ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden, und sah schnell zu Goldi, die mich schwanzwedelnd ansah.
„Wenn du mich mitnimmst, gerne“, sagte ich lächelnd und strich der Hündin über den großen Kopf.
„Geht nicht zu weit, ihr beiden. Cl ... äh Marie ist noch nicht gesund.“
Bella hatte sich beinahe verplappert, doch der Förster schien zum Glück nichts davon mitbekommen zu haben.
Tom nahm meine Hand und pfiff nach Goldi, die sich schon ein ganzes Stück von uns entfernt hatte. Mit flatternden Ohren kam sie zu uns gerannt. Lachend wehrten wir sie ab, als sie freudig an uns hochsprang. Tom legte seinen Arm um meine Schultern und hielt mich am Oberarm fest, damit ich nicht nach hinten fiel.
Die Hündin fegte davon und Tom ließ seinen Arm da, wo er war. Es fühlte sich so gut an, dass ich alles andere verdrängte. Als Goldi uns das nächste Mal ansprang, hielt ich mich an Toms T-Shirt fest. Ich spürte seine Rückenmuskeln unter meiner Hand und atmete tief durch. Gott, er fühlte sich so verflixt gut an!
„Halte dich ruhig an mir fest, ich falle nicht so schnell um“, raunte er und zog mich sanft an sich. Er hielt mich umarmt und ging weiter, als wäre es das Normalste der Welt.
Nach einer Weile hatte sich meine Atmung etwas normalisiert, aber mein Herz hämmerte noch immer wild gegen meine Rippen. Wenn Tom etwas bemerkt hatte, sagte er es nicht. Er strahlte Ruhe und Gelassenheit aus, was langsam auf mich übersprang. Es dauerte ein bisschen, aber dann wagte ich es, meine Finger in einer Gürtelschlaufe seiner Jeans zu verhaken. Ich hätte ewig so weiter laufen können. An Toms Seite geschmiegt, seinen Duft in meiner Nase, seine warme Hand an meinem Oberarm …
An dem Findling, zu dem ich am Tag zuvor hatte gehen wollen, blieben wir stehen und genossen den weiten Blick über die Felder. Toms Daumen strich so zärtlich über meinen Arm, dass ich mich traute, meinen Kopf in seine Armbeuge zu legen. Ich spürte seine Lippen, die er sanft auf meinen Scheitel drückte und erschauerte unter seiner Berührung.
„Ist dir kalt?“ Tom zog mich mit dem freien Arm an seine Brust und umschlang mich zärtlich. Meine Wange lag über seinem Herzen, das kräftig und beruhigend in seiner Brust schlug. Ich schloss die Augen und brannte diesen Augenblick in meinen Kopf, damit ich mich den Rest meines Lebens daran erinnern konnte.
Das Klingeln von Toms Handy beendete grausam den Augenblick. Mit Bedauern im Gesicht löste er sich von mir. Nach einem kurzen Blick auf das Display nahm er das Gespräch an.
„Ralph, was gibt es?“ Seine Miene wurde hart, während er den Worten seines Bruders lauschte. Ich spürte ein unheilvolles Kribbeln auf meiner Kopfhaut, das sich verstärkte, als Tom mich besorgt ansah. Etwas Schlimmes war geschehen, nur was? Hatten sie Benedikt aus dem Gefängnis entlassen? Mir wurde übel vor Angst. Plötzlich waren meine Beine wie Pudding. „Ich melde mich später bei dir, in Ordnung?“ Tom umfasste mit einer Hand meine Taille, drückte den Anruf weg und fing mich gerade noch rechtzeitig auf. Er presste mich an sich und hielt mich fest.
„Ist er frei?“ Ich hörte selbst die Panik in meiner Stimme.
„Nein, Claire. Er sitzt in Untersuchungshaft und wartet dort auf seine Verhandlung, keine Sorge.“
Verwirrt sah ich zu ihm hoch. Tom strich mir liebevoll über die Wange. Sein Blick sagte mir, dass etwas wirklich Schlimmes passiert war.
Er seufzte schwer. „Deine Mutter hatte einen Herzinfarkt. Es sieht nicht gut aus.“
„Mama! Oh Gott, bitte nicht!“ Sie durfte nicht sterben! Ich hatte sie noch nicht um Verzeihung gebeten, ihr noch nicht gesagt, wie sehr ich sie liebe. Sie war der einzige Mensch, den ich hatte. Sie war meine Mutter!
„Ich muss zu ihr! Bitte Tom!“ Flehend sah ich ihn an. Er musste mich zu ihr lassen, unbedingt!
„Claire, es ist zu gefährlich für dich. Ich verspreche dir, dass mein Bruder alles in seiner Macht stehende tun wird, um deiner Mutter zu helfen. Aber du musst auch an dich denken.“
Ich schüttelte entsetzt den Kopf. Das konnte er doch wohl nicht im Ernst meinen?
„Es geht um meine Mutter, Tom! Sie ist alles, was ich habe, verstehst du das nicht? Ich muss sie um Verzeihung bitten!“
Er wollte mich an sich ziehen, doch ich stemmte die Hände gegen seine Brust. Keine Macht der Welt hielt mich davon ab, meiner Mutter zur Seite zu stehen. Nicht einmal die Angst vor Benedikt hielt mich davon ab. Wenn meine Mutter mir nicht verzieh, konnte er mich gerne umbringen. Dann wäre mein Leben sowieso sinnlos.
„Wo ist sie?“
Tom sah mich bedauernd an und schüttelte den Kopf.
Wut und Verzweiflung schossen in mir hoch und löschten jeglichen klaren Gedanken aus. Ich stemmte die Hände in die Hüften und drückte den Rücken durch, in der Hoffnung, größer zu wirken. „Ich werde auf jeden Fall meine Mutter besuchen! Sie hat niemanden außer mir und ich werde sie nicht alleine lassen.“ Es sei denn, sie würde mich fortschicken, fügte ich im Stillen hinzu. Über diese Möglichkeit durfte ich nicht nachdenken, stattdessen blickte ich Tom fest in die Augen, um meine Worte zu unterstreichen. Woher ich den Mut nahm, mich ihm so energisch entgegenzustellen, wusste ich selbst nicht.
Ich spürte instinktiv, dass dieser Mann, hinter dessen Stirn es gerade arbeitete, mir nichts antun würde. Als er sich mit beiden Händen durchs Haar fuhr, zuckte ich trotzdem zurück, hatte mich jedoch so schnell wieder gefangen, dass ich hoffte, er habe es nicht bemerkt.
„In Ordnung, ich helfe dir“, sagte er ergeben.
Die Erleichterung, die ich bei seinen Worten verspürte, war unermesslich groß. So dumm war ich nicht, zu glauben, es ohne seine Hilfe schaffen zu können. Mit viel zu viel Schwung für meinen Kopf, warf ich mich in seine Arme.
Tom hielt mich lachend fest und stellte mich behutsam auf den Boden, wo ich schwankend versuchte, Halt zu finden.
„Nicht schon wieder Dornröschen spielen, sonst muss ich dich am Ende wachküssen“, scherzte er.
„Wäre das so schlimm, holder Prinz?“, gab ich lachend, aber verunsichert zurück.
Er zog mich an sich und schlang die Arme um mich. „Im Gegenteil, Prinzessin. Ich freue mich schon aufs nächste Mal.“ Seine Lippen legten sich sanft auf meine, nur kurz, dann zog er sich wieder zurück. „Komm mit, es gibt viel zu tun“, murmelte er mit rauer Stimme. Wie in Trance nickte ich, noch immer in diesem zarten Kuss gefangen.
Hand in Hand liefen wir zurück zum Haus. Wir schwiegen beide, hingen unseren Gedanken nach. Selbst Goldi lief brav neben mir her; sie spürte, dass sich unsere Stimmung verändert hatte.
Als Bellas Haus in Sichtweite kam, war ich erleichtert. Ich machte mir große Sorgen um meine Mutter, die in dieser schlimmen Zeit so alleine war. Ob sie an mich dachte? Würde sie mir überhaupt verzeihen? Ein Schluchzer löste sich von meinen Lippen, ohne dass ich ihn hätte aufhalten können. Tom drückte meine Hand. „Du musst jetzt stark sein, Claire. Du kannst deiner Mutter nur helfen, wenn du den Kopf nicht verlierst.“ Ich nickte und schluckte meine Sorgen tapfer hinunter. Tom hatte recht; ich durfte mich jetzt nicht gehen lassen.
Bella stand mit dem Förster vor dessen Wagen, als wir näher kamen. Goldi erkannte ihr Herrchen und schoss wie ein Pfeil auf ihn zu. Der Förster lachte, als sie ihn ansprang, und ließ die Hündin in seinen Jeep springen. „Bis bald!“, rief er uns zu und verabschiedete sich bei Bella mit einem Wangenkuss. Dann kletterte er in den Jeep und fuhr winkend davon.
Bella sah uns nervös entgegen. „Gott sei Dank seid ihr da! Ralph hat angerufen.“ Tom beruhigte seine mütterliche Freundin. „Ich weiß schon Bescheid, Bella. Beruhige dich, ich erzähle dir gleich, was los ist. Zuerst muss ich aber noch ein paar Telefonate führen.“ Er nahm zwei Stufen auf einmal, als er die Treppe hoch lief und verschwand im Büro.
Bella musterte mich besorgt. Sie schob mich zu einem Stuhl und drückte mich sanft aber bestimmt auf die Sitzfläche.
Nachdem sie mir eine Tasse Kaffee hingestellt hatte, legte sie ihre Hand auf meine. „Kind, was ist los?“ Da brach es aus mir heraus. Unter Tränen berichtete ich ihr, was mit meiner Mutter passiert war und dass Tom mich zu ihr bringen würde.
Bella streichelte beruhigend meine Hand und versuchte, mich zu trösten. „Die Ärzte tun ihr Möglichstes, Liebes. Sie wird es schaffen.“
Stumm tranken wir unseren Kaffee, bis Tom zu uns stieß.
„Claire, du musst etwas Kleidung zum Wechseln einpacken. Wir werden ein paar Tage weg sein, um mögliche Verfolger nicht zu Bellas Haus zu führen.“
Ich stand sofort auf und lief in mein Zimmer, um Kleidung herauszulegen. Wenig später steckte Tom den Kopf durch die Tür. „Bella bringt dir gleich einen kleinen Koffer. Nimm bitte noch eine Schmerztablette, bevor wir fahren, der Tag wird anstrengend werden.“ Bevor ich ihm antworten konnte, war er schon wieder verschwunden.
Als wir uns in der Eingangshalle trafen, blickte Tom mir angespannt entgegen. Mir wurde jetzt erst bewusst, in welche Gefahr ich ihn brachte. Ich musste hart schlucken; niemals würde ich mir verzeihen, wenn ihm etwas zustoßen sollte, aber ich hatte keine Wahl.
Wir verabschiedeten uns hastig von Bella, die mich noch einmal an sich drückte.
„Passt auf euch auf, ihr beiden.“ Ihre Stimme klang besorgt, doch Tom winkte ab. „Keine Sorge Bella, in ein paar Tagen sind wir wieder da.“ Er küsste sie auf die Wange, dann verließen wir das Haus und luden unsere Taschen in den Kofferraum von Toms SUV.
Ich kletterte neben Tom auf den Beifahrersitz, Tom startete den Motor und fuhr langsam durch das große Tor, das nur nachts geschlossen war.
„Sieh bitte nach hinten, da liegt etwas für dich.“
Als ich zur Rückbank blickte, sah ich eine Sonnenbrille und einen Schal. Aha, es war an der Zeit, sich zu verkleiden. Ich band mir den Schal um mein Haar und setzte die schwarze, große Sonnenbrille auf. Fragend sah ich anschließend zu Tom, der zufrieden nickte.
„Was ist mit dir?“
Wortlos griff er in die Seitentasche und zog eine Sonnenbrille hervor, die er sich auf die Nase setzte. Schade, jetzt konnte ich seine schönen, dunklen Augen nicht mehr sehen.
Wir fuhren durch den kleinen Ort, den ich von meiner Ankunft kannte. An einer kleinen Kreuzung bog Tom in eine Seitenstraße und von dort in eine Art Garage. Das große Rolltor fuhr hinter uns herunter und Tom stellte den Motor des Wagens ab. Ein kleiner, alter Mann kam aus einem Glashäuschen auf uns zu.
„Wir steigen um, Prinzessin und denk dran, du heißt Marie.“
Tom stieg aus, um den Mann herzlich zu begrüßen. Ich folgte ihm, wobei ich mir selten dämlich vorkam. Ich hatte die Sonnenbrille noch immer auf der Nase. Sicherheitshalber ließ ich sie auch dort. Tom nahm meine Hand und führte mich zu einer Limousine. Galant hielt er mir die Beifahrertür auf. Ich schlüpfte in das Wageninnere und Tom schloss die Tür. Der Kofferraum wurde geöffnet und wieder zugeschlagen, dann schlüpfte Tom hinters Steuer und startete den Motor. Das Rolltor öffnete sich und wir verließen die Garage.
Wozu der Fahrzeugwechsel diente, war mir bewusst. Tom versuchte, Risiken auszuschalten, soweit es möglich war. Das müsste er nicht, wenn ich ihn nicht angefleht hätte, mich zu meiner Mutter zu bringen. Ich hoffte inständig, dass alles glatt verlaufen würde. Wenn Tom etwas zustieß, wäre ich dafür verantwortlich. Allein der Gedanke, ihm könnte etwas passieren, brachte mich an den Rand eines Nervenzusammenbruchs.
Nach einigen Kilometern Landstraße lenkte Tom den Wagen auf die A 61, in Richtung Koblenz. Er griff in die Innentasche seiner Jacke und schloss sein Handy an die Freisprechanlage an. Ein Bluetooth Signal erschien, dann erklärte eine metallene Frauenstimme, dass das Gerät identifiziert wurde. Als Nächstes gab Tom über Stimmerkennung unser Ziel in das Navigationsgerät ein. Als ich Mainz hörte, atmete ich erleichtert auf.
Wieder hörte ich die metallene Stimme, die uns jetzt mitteilte, dass wir in zwei Stunden Mainz erreichen würden.
Zwei Stunden, die für mich zur Ewigkeit anwachsen würden. Ich hatte irrsinnige Angst um meine Mutter. Auch wenn sie enttäuscht von mir war, liebte ich sie unermesslich. Sie war eine so starke Frau und eine liebevolle Mutter. Immer hatte sie ihre Wünsche hinten angestellt, um mir meine erfüllen zu können.
Ein eingehender Anruf erweckte meine Aufmerksamkeit. Vielleicht war es ja Ralph und er wusste Näheres über meine Mutter.
„Ralph, ich bin mit Claire im Wagen“, begrüßte Tom seinen Bruder. Ich verstand den Hinweis und hatte Verständnis für seine Vorsicht. Auch wenn Tom mich in Sicherheit gebracht hatte, so war ich doch die Ehefrau … nein, die Exfrau eines Kriminellen, den er zu Recht, für lange Zeit hinter Gitter bringen wollte.
Einen kleinen, schmerzhaften Stich spürte ich dennoch. Warum hatte ich Tom nicht kennengelernt, als ich vor vier Jahren zum Ersten- und zum letzten Mal in der Frankfurter Festhalle auf der Bühne stand? Mein Leben hätte sich völlig anders entwickelt und ich könnte noch immer tanzen. Tanzen. Daran wollte ich nie wieder denken. Um nicht laut zu weinen, hielt ich mir die Faust vor den Mund.
Toms Hand, die sich auf meine legte, erinnerte mich daran, wo ich war.
Als ich zu ihm hinblickte, musterte er mich halb besorgt, halb belustigt.
„Alles Okay?“, flüsterte er und deutete auf die Freisprechanlage. Ich nickte verlegen. Dass sein Bruder am Telefon war, hatte ich völlig vergessen.
Tom drückte liebevoll meine Hand und lächelte mich aufmunternd an.
„Ralph, du kannst loslegen.“
„Hallo, Claire.“ Die Stimme von Toms Bruder erklang im Wageninneren.
„Hallo.“ Ich versuchte, meiner Stimme etwas Kraft zu geben, damit er mich hören konnte.
„Ich komme gerade vom behandelnden Arzt deiner Mutter. Sie hat das Schlimmste überstanden, sagt er. Allerdings ist die Gefahr eines erneuten Infarktes erst nach achtundvierzig Stunden nicht mehr so hoch. Das bedeutet, du darfst sie auf keinen Fall aufregen.“
Meine anfängliche Erleichterung über die Entwarnung schlug in Sorge um.
„Aber sie wird sich aufregen, wenn sie mich sieht!“ Tränen stiegen mir in die Augen. War es falsch, meine Mutter zu besuchen? Mein Wunsch, sie zu sehen, war vielleicht dumm und egoistisch und würde sie in Gefahr bringen.
„Nein Claire, keine Angst. Sie freut sich sehr auf deinen Besuch.“
Wie meinte er das? Woher sollte er das wissen? Verwirrt starrte ich auf das Display von Toms Handy.
Toms Daumen strich beruhigend über meine Fingerknöchel. Ich merkte erst jetzt, dass ich seine Hand vor Aufregung förmlich zerquetschte. Ich lockerte sofort meinen Griff, konnte mich aber nicht überwinden, ihn loszulassen. Toms Hand erdete mich und verband mich mit ihm. Ich spürte förmlich, wie seine Ruhe auf mich überging.
Tom seufzte. „Ralph, du verwirrst Claire mit deinen kryptischen Aussagen. Spuks endlich aus.“ Ich hörte Ralph leise lachen, dann wurde er ernst. „Claire, wir haben deiner Mutter in Anwesenheit ihres Arztes gesagt, dass du sie besuchen wirst. Sie durfte mittlerweile die Intensivstation verlassen und sträubte sich mit Händen und Füßen, als sie in ein Privatzimmer verlegt wurde.“ Er lachte leise. „Sie ist eine starke Frau, Claire und sie wird es schaffen.“ Ralph klang belustigt; mir war klar weshalb und musste grinsen. Meine Mutter konnte äußerst starrsinnig sein, wenn sie ein Ziel verfolgte. Plötzlich fiel mir ein, dass meine Mutter Toms Bruder gar nicht kannte. Oh Gott, was hatte er ihr erzählt?
Wieder beruhigte mich Toms sanfte Berührung. Er strich in kleinen Halbkreisen über meine Hand, während er einen Niederländer mit seinem Wohnwagen überholte.
„Claire bist du noch da?“ Ich musste wieder grinsen. „Aussteigen kann ich zurzeit nicht, also ja.“ Sofort biss ich mir auf die Lippen, doch im nächsten Moment erfüllte Ralphs tiefes Lachen den Innenraum des Wagens. Tom blickte auf die Straße, schüttelte aber grinsend den Kopf.
Erleichtert lachte ich mit. Tom warf mir einen kurzen Blick zu, den ich nicht deuten konnte, da seine Augen hinter der schwarzen Sonnenbrille verborgen waren. Da er jedoch nicht aufhörte, meine Hand zu streicheln, war er wohl nicht böse auf mich.
„Ähm, ich weiß nicht, was ich meiner Mutter erzählen soll“, gab ich, nun doch wieder kleinlaut, zu.
„Kim war bei deiner Mutter. Sie sagte, sie wäre eine Freundin von dir und sie solle ihr ausrichten, du seist auf dem Weg zu ihr.“ Oh! Das hörte sich nachvollziehbar an. „Deine Mutter weiß, dass du geschieden bist, Claire. Sie hat es in den Nachrichten gesehen.“ Eine dunkle Ahnung beschlich mich. Verdammte Presse! Was war nur so wichtig an einer Scheidung? Alles, wenn man Benedikt von Erlenfels hieß, beantwortete ich mir selbst die Frage.
„Sie weiß auch von der Verhaftung, Claire“, berichtete Ralph weiter.
Mir wurde immer elender zumute. Ich durfte nicht dran denken, dass meine Mutter eventuell wegen mir einen Herzinfarkt erlitten hatte, doch ich konnte die Augen nicht davor verschließen. Ich holte tief Luft, dann fragte ich Toms Bruder: „Hat sie deswegen einen Infarkt bekommen?“ Mit klopfendem Herzen wartete ich auf die Antwort, die ich schon kannte.
„Nein, Claire.“ Ralphs Antwort kam zögerlich, das konnte ich hören.
„Ralph warte einen Moment. Ich halte kurz an.“ Tom nahm beide Hände ans Lenkrad, um von der Autobahn auf einen Rastplatz zu fahren. Ich schimpfte mich innerlich, weil ich seine Hand nicht hergeben wollte. Schließlich brauchte man zum Autofahren beide Hände.
Tom parkte den Wagen und nahm wieder meine Hand. Dankbar legte ich meine andere Hand auf seine.
„Schieß los, Ralph“, sagte er und nahm die Sonnenbrille ab.
„Sie hat im Fernsehen alles verfolgt, Claire. Die Verhaftung deines Exmannes, die Razzien, die wir durchgeführt haben und die Verhaftung eines Richters vom Landgericht.“
„Oh mein Gott!“ Es war kein Wunder, dass das Herz meiner Mutter das nicht verkraftet hatte. Ich schmeckte plötzlich Metall in meiner Kehle. Panisch riss ich mich von Tom los und wollte aus dem Wagen springen, doch die Tür ging nicht auf.
„Claire, was ist los?“ Tom packte meinen Oberarm und hielt mich fest. Das verstärkte die Panik noch und ich dachte, ich müsse mich jeden Moment übergeben.
„Raus! Schnell!“, brachte ich mühsam hervor. Mir brach der Schweiß aus, dann bekam ich keine Luft mehr.
Tom griff an mir vorbei und stieß die Tür auf. Im letzten Moment beugte ich mich mit dem Oberkörper aus dem Wagen und erbrach auf den Seitenstreifen.
Wie aus dem Nichts tauchte Tom vor mir auf. Er befreite mich aus dem Gurt und hob mich aus der Limousine. An einem Grünstreifen setzte er mich vorsichtig ab und befahl mir, den Kopf zwischen die Beine zu stecken.
Es half. Ich konnte wieder besser durchatmen und die Übelkeit verschwand nach einigen Minuten. Etwas zittrig hob ich den Kopf und blickte in Toms besorgte Miene. „Geht`s wieder?“
„Ja, danke.“ Ich brachte sogar ein kleines Lächeln zustande. Es war mir unendlich peinlich, dass ich diese Panikattacke hatte. Tom musste mich für das Sensibelchen des Jahres halten, so wie ich mich aufführte.
Er schien meine Gedanken zu erraten, denn er sah mich aufmunternd an und sagte: „Mir ging es genauso, als ich damals zu meiner Mutter gerufen wurde. Du hältst dich gut, Prinzessin.“ Liebevoll strich er mir eine Haarsträhne hinters Ohr, dann reichte er mir beide Hände. Ich ergriff sie und ließ mich von ihm hochziehen. Er hielt meine Hand, bis ich wieder im Auto saß.
Wieder auf der Autobahn reichte Tom mir wortlos eine kleine Dose mit Pfefferminz Bonbons und rief seinen Bruder an.
Ralph hatte sich schon Sorgen gemacht, weil er den kleinen Tumult mitbekommen hatte, als ich die Tür nicht öffnen konnte. Tom beruhigte ihn, erwähnte aber nicht meine Panikattacke, wofür ich ihm sehr dankbar war.
Das Ganze hatte mich so erschöpft, dass ich die Augen schloss, nachdem wir uns von Ralph verabschiedet hatten. Das monotone Geräusch des Motors schaukelte mich in den Schlaf.