Читать книгу Gegen den Wind: Windstärke 1-12 Gesamtausgabe - Jana Seidel - Страница 14

Zweites Buch: Windstärke 2

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Windstärke 2: Eine leichte Brise, Blätter rascheln, Wind ist im Gesicht spürbar. Mittlere Windgeschwindigkeit in 10 Meter Höhe: 6–11 km/h.

Beaufortskala

An diesem kalten Februarmorgen liege ich inmitten der Ruinen einer Kirche. Der Schnee unter mir ist weich, riecht aber merkwürdig. Neugierig betrachte ich den Nebel um mich herum. In den Augen anderer Betrachter würde er womöglich eine unheimliche Stimmung erzeugen. Aber mich fasziniert er aus anderen Gründen. Der Schleier ist nämlich alles andere als auf mysteriöse Weise durch die Streuung des Lichts entstanden. Nachdem feuchte Warmluft aus dem Süden die kalte Luft am Boden aufgewirbelt hat, lässt der Lichteinfall die feinen Tröpfchen als wabernde Masse erscheinen. Meine beste Freundin Kessie und meine Mutter behaupten immer, ich sei unromantisch. Ich bin anderer Meinung. Ich finde nur, Licht, Wasser und Luft haben ihre eigene Poesie.

„Cut“, schreit der dicke Mann hinter dem Megafon. Darauf folgen mehrere unanständige Flüche, ebenfalls auf Englisch. Ich vermute mal, das heißt, dass ich jetzt meine steifen Gelenke bewegen darf. Sanft reibe ich meine kalten Arme und massiere mein eingeschlafenes Handgelenk, das zu lange in einer ungünstigen Stellung verharren musste. Selbst 150 Euro sind für diesen Wahnsinn viel zu wenig, denke ich mir. Doch ich kann die Schuld auf niemanden abwälzen, schließlich habe ich mich selbst als Komparsin für einen amerikanischen Zombie-Film angeboten. Eigentlich erhalten Statisten nur 50 Euro pro Tag. Aber weil trotz der winterlichen Temperaturen nur die intimsten meiner Körperteile bedeckt sind, gab es einen kleinen Aufschlag.

Das klingt natürlich, als sei ich total bescheuert, und zu meiner Verteidigung bleibt mir nur zu erwähnen, dass der Mann schöne Augen hatte. Ich meine den, der mich überredet hat, hier mitzumachen. Kennengelernt habe ich ihn – ganz unromantisch, aber manche würden ja sagen, das passt zu mir – vor den Türen der Arbeitsagentur. Womit wir schon bei dem zweiten Grund für meinen Auftritt wären: Nachdem mein Arbeitgeber in einem Institut für Klimaforschung mir vor Kurzem gekündigt hat, habe ich das Gefühl, jeden Cent mitnehmen zu müssen. Selbst in einer großen Stadt wie Hamburg sind Jobs für Meteorologen, die dazu noch alleinerziehende Mütter sind, rar gesät.

Zumindest ist der Schnee unter mir nicht allzu kalt. Die Filmemacher haben den tatsächlichen Schnee aufwendig durch Kunstschnee ersetzt – wenn ich es richtig verstanden habe, weil das Plastikgemisch viel „echter“ als das Original aussieht, vor allem aber auch sehr viel weißer und unschuldiger. Schließlich braucht man einen krassen Kontrast zu dem Kunstblut, von dem reichlich in die Flocken sickert, die dann schnell wieder ausgetauscht werden müssen. Weil der Hauptdarsteller seinen Text nicht hinbekommt, muss dieser Vorgang ziemlich oft wiederholt werden, was für die Produzenten sicher teuer, für die Meute am Boden aber hauptsächlich todlangweilig ist. Zumindest bekommen wir in den langen Wartezeiten Wolldecken gereicht. Die kratzen auf der Haut und riechen auch nicht mehr ganz frisch, aber sie halten warm.

Der Regisseur schimpft immer noch, jetzt aber auf das Wetter. Und weil der Mann ein unsympathischer Choleriker zu sein scheint, denke ich fast ein wenig schadenfroh daran, dass der Kerl lange darauf warten kann, dass sich der Nebel verzieht. Und wenn er den ganzen Tag „fucking fog“ brüllt, wird es ihm nichts nützen. Vielleicht sollte ich ihm sagen, dass es sich ganz offensichtlich um einen Advektionsnebel handelt. Weil sich gerade ein Hochdruckgebiet nähert, wird es der Sonne nicht gelingen, ihn aufzulösen. Doch mein Gefühl sagt mir, dass ich für meine Einmischung keine Bonuszahlung erhalten würde. Also halte ich einfach meine Klappe.

Der Hauptdarsteller ist nun auch in grimmiger Stimmung und brüllt, dass er niemals unterzeichnet hätte, wenn er gewusst hätte, dass er unter diesen Bedingungen in diesem Kackdeutschland festhängen würde, bloß weil der Dreh dort billiger ist. Das finde ich ganz interessant, weil mir nicht klar war, dass wir in der Wahrnehmung des internationalen Films ein unterentwickeltes Dritte-Welt-Land sind.

Die aufgeschminkte Fratze des Darstellers verzieht sich endgültig zu einer Höllenvisage und der dicke Regisseur braucht gar kein Make-up, um wie der Vertreter einer nicht eben freundlich gesinnten Art zu wirken. Ich weiß nur gar nicht, ob sie nun wütend auf dieses Land, den Nebel oder aufeinander sind. Ich denke, sie wissen das auch nicht genau. Der ganze Sonnenschein in L. A. hat sie vermutlich so konditioniert, dass sie bei der kleinsten Wolke sofort Vitamin-D-Mangel-bedingte Depressionen bekommen.

Doch nun scheint es weiterzugehen. Einer der Assistenten streckt seine Hand nach mir aus und mir ist klar, dass er mir nicht etwa hochhelfen, sondern nur meine Wolldecke klauen will. Widerwillig drücke ich sie ihm in die Hand und lege mich wieder auf den Boden.

„Darf ich dich zum Essen einladen?“, raunt der Zombie neben mir. Es ist der arbeitslose Schauspieler, dem ich diese, nennen wir es mal, Erfahrung verdanke. Noch bevor ich antworten kann, hat er seine Hand auf meinen Hintern gelegt, was aber dem Kommando entspricht, das uns anfangs gegeben wurde. Mir wird trotzdem ein wenig warm, denn ich bin ja im Gegensatz zur Kamera keine Maschine. In deren Augen hat die Berührung keinerlei sexuelle Komponente. Jonas’ Arm dient nur als Requisit, das meine Unterhose verdecken soll. Denn offenbar werden Untote in diesem Film bevorzugt leicht bekleidet dargestellt. Endgültig eliminiert wurden wir mit einer speziellen Schusswaffe. Es ist komisch, angeblich toter als tot zu sein und dennoch zu frieren. Auf dem Rückenband meines trägerlosen BHs liegt ein weiterer, viel kleinerer Arm. Er gehört zu einem achtjährigen Jungen. Es soll wohl so aussehen, als gehörten wir zusammen. Eine tote Zombie-Familie neben einem Dutzend anderer toter Zombie-Familien. Nur der Hauptdarsteller sowie eine Handvoll Männer und eine junge Frau, die trotz der Aufmachung sexy aussieht, stehen noch. Ich vermute, für sie geht die Sache gut aus. Ein paar der Männer müssen vielleicht noch sterben und wie ich Hollywood kenne, ist der lustige Schwarze zuerst dran.

Am Anfang kamen mir beinahe die Tränen, weil der Junge mit den geschlossenen Augen und dem blass geschminkten Gesicht neben mir so süß war und ich an meinen kleinen Sohn denken musste.

Beim mittlerweile zehnten Take bin ich abgestumpfter, aber immer noch nicht davon überzeugt, dass es in Ordnung ist, sein Kind eine Zombie-Leiche spielen zu lassen. Allerdings findet Emil, so heißt der Junge, alles „voll cool, oder?“.

Am Anfang war es ihm so peinlich gewesen, mich anzufassen, dass mir seine Aufregung ganz schnell meine eigene Befangenheit genommen hat. Die Mutterrolle bin ich schließlich gewohnt. Also habe ich grinsend zu ihm gesagt: „Hey, keine Angst, Kumpel. Was meinst du, wie cool dich deine Freunde finden werden, wenn sie dich im Kino sehen?“

Da hat er ebenfalls gegrinst und vorsichtig seinen Arm über mich gelegt, den ich ohnehin kaum wahrnehme, weil da immer noch die viel größere, warme Hand eines fast fremden Mannes auf meinem Hintern ruht. Jedes Zucken seines Fingers sendet Vibrationen durch meinen Körper, was ich ein wenig bedenklich, dann aber auch wieder logisch finde. Schließlich bin ich Naturwissenschaftlerin und kenne mich ein wenig mit Biologie aus. Das nützt mir allerdings nicht viel, weil es mir nur hilft, die Reaktion zu verstehen, nicht aber, sie abzustellen. Deshalb versuche ich, mich auf etwas anderes zu konzentrieren.

Ich frage mich zum Beispiel, ob dem Verein, der die Kirchenruine am Rande des Hamburger Stadtzentrums pflegt,

überhaupt bewusst ist, dass dieses Bauwerk als Kulisse für einen Schundfilm missbraucht wird. Die Produktionsfirma muss eine verdammt hohe Spende zugesagt haben. Vielleicht hat aber auch die Sprachbarriere zu einem fatalen Missverständnis geführt. Möglicherweise dachten die Denkmalschützer, sie unterstützen einen Antikriegsfilm, was zu diesem Mahnmal ja auch ganz gut passen würde, da es den Opfern des Krieges gewidmet ist. So stand es auf der Plakette, die ich in einer der langweiligen Zwangspausen gelesen habe. Doch sicher würden sich die Betroffenen im Grabe umdrehen, wenn sie die tief dekolletierten Krankenschwestern sehen könnten, die Jagd auf die lebenden Toten machen und allesamt eine Magda-Goebbels-Gedächtnisfrisur tragen. Wenn ich es mir genauer überlege, ist dies vielleicht doch ein Antikriegsfilm. Die Art und Weise, in der er die Verbrechen einer faschistischen Gesellschaft anprangert, mag so hintersinnig sein, dass er sich einer spröden Wetterforscherin nicht erschließt.

„Also, gehst du nun mit mir essen?“, raunt Jonas mir erneut zu.

„Warum nicht?“, flüstere ich gespielt missmutig. „Solange du mich nicht mit Blutkonserven abspeist.“

„Ach komm“, sagt er und ich höre, dass er grinst. „Du willst es doch auch.“

„Das Unterbewusste, das es auch will, muss aber ganz tief vergraben sein“, entgegne ich ernst.

Noch einmal ermahnt uns der Assistent zur Ruhe und schon geht es weiter.

Mir gelingt es nicht, die Hand auf meinem Hintern dauerhaft auszublenden, und je länger ich hier liege, desto egoistischere Gedanken löst sie aus. Ich stelle mir tatsächlich zuerst vor, wie ich es mit ihm an den unterschiedlichsten Orten treibe. Erst danach male ich mir aus, wie er mit Mäxchen gemeinsam Marshmallows über einem offenen Feuer röstet.

Das heißt aber nicht, dass ich unbedingt etwas mit ihm anfangen möchte, wirklich nicht. Ich kenne ihn ja gar nicht. Aber der Winter macht eben, dass wir uns zusammenscharen und beieinander Wärme suchen. Frühlingsgefühle wurden immer schon überschätzt. Sie erklären wohl kaum, warum die Geburtenrate im September am höchsten ist. Ich habe mal von einer Studie gelesen, in deren Verlauf Männern alle drei Monate Fotos derselben Frauen gezeigt wurden. Am attraktivsten erscheinen wir ihnen im Dezember. Ich habe dazu eine Theorie, die ausnahmsweise nichts mit den Temperaturen zu tun hat, oder nur indirekt: Die andauernde Sichtbarkeit von nacktem Fleisch führt im Sommer bei Männern zu einer gewissen Ermattung und Faulheit. Denn viele von ihnen – merkwürdigerweise gerade die weniger begehrenswerten Exemplare – setzen ja Sichtbarkeit ohnehin mit Verfügbarkeit gleich. Blitzt aber im Winter unter all der Wolle mal ein Streifen nackter Haut hervor, ist der ganze männliche Organismus sofort in Alarmbereitschaft, oder zumindest ein mehr oder weniger großer Teil davon.

Und ich zeige in diesem Moment mitten im Winter mehr als nur einen kleinen Streifen nackter Haut. Kein Wunder, dass ich eine Einladung erhalte. Da ist nur dieser winzige Teil in mir, der es gerne hätte, dass es meine inneren Werte sind, die er ausführen möchte. Woher auch immer er die kennen sollte. Denn anders als Extrem-Romantiker bilde ich mir nicht ein, die würden über einen Blickkontakt übertragen, so wie ich Anziehung auch niemals mit Liebe verwechseln würde.

Das Brüllen des Regisseurs unterbricht meinen Gedankenfluss. Aus Neugierde habe ich vorab bei YouTube ein Interview mit ihm angeschaut, in dem es auch um die anstehenden Dreharbeiten ging. Für meinen Geschmack hat er etwas zu oft seine Begeisterung für Deutschland betont. Und wie viele amerikanische Schauspieler, die deutschen Journalisten doofe Fragen beantworten müssen, gab auch er sich charmant, indem er deutsche Wörter einflocht. Ich habe einige solcher Interviews gesehen und kann vermelden, dass „Fränkförter“ auf der Liste der beliebten Begriffe ganz oben steht. Die liebt auch der Regisseur, das nahm ich ihm sogar ab. Anders als all den dünnen Schauspielern, die sich in Wahrheit nicht mal trauen würden, der Sauerkrautbeilage auch nur einen zweiten Blick zuzuwerfen. Es sei denn, sie wollen ein Food-Porn-Foto posten. Da berührt ein Ende des fettigen Würstchens schon mal einen Mundwinkel, wenn man für das Foto so tut, als würde man abbeißen.

„Hämbörga“ mag der Regisseur übrigens auch – haha –, was ja passe, weil er ja dort drehen wolle. Er sei eben kein „Börliner“, sondern wolle mal etwas Neues zeigen als orangefarbene Kacheln. Ich denke mal, er meint die Unterführung am Berliner Messedamm, die in jedem Actionfilm von „Tribute von Panem“ bis „Captain America“ mitspielen darf.

Er schätze aber nicht nur das Essen, sondern auch die spezielle Atmosphäre im Vaterland des Gruselrocks und dass man so herrlich morbide Kulissen vorfände. Tja, dachte ich, bei ihm zu Hause ist vermutlich nichts alt genug, um auf vornehme Weise zu verfallen. Ich frage mich, ob er die Welt hier so sieht wie meine kleine Schwester Zoe, die sechzehnjährige Gothic-Braut, nur etwas altmodischer. Eine Welt voll dunkler Katakomben, in denen immer noch Murnaus Nosferatu das Blut von schönen „Fräuleins“ schlürft. Seine Worte vermittelten mir jedenfalls das Gefühl, in einer herrlich exotischen Stadt zu wohnen, in der Trümmer und eine Kirchenruine die typischsten Elemente sind.

„Cut.“

Dankbar nehme ich die Wolldecke wieder entgegen und versuche, nicht darüber nachzudenken, wessen Körperwärme mich da einhüllt. Denn natürlich erhält man nicht immer wieder dieselbe Decke und nicht alle Komparsen sind so sexy wie Jonas. Ein Assistent vertreibt Jugendliche, die versuchen, einen Winkel zu finden, aus dem ihnen Selfies gelingen, die auch noch den Hauptdarsteller mit abbilden. Die Jugendlichen murren, trollen sich aber schnell mit einem Respekt, den sie vermutlich weder vor Polizisten noch vor Sanitätern an einem Unfallort zeigen würden. Rettungsgasse? No way! Nicht wenn die Aussicht besteht, bei irgendetwas Coolem selbst der Kameramann zu sein.

Der Typ, der sie verscheucht hat, zuckt mit den Achseln. Er ist es gewohnt, dass andere auf ihn hören – und das sind alle, die in der Hackordnung unter ihm stehen, also wir Komparsen und, schlimmer noch, Menschen, die nichts mit dem Film zu tun haben. Denn eines habe ich an diesem Tag gelernt: Beim Film sind einfach alle wichtig. Seine Vertreter sind moderne Imperatoren, die dem Volk Brot und Spiele offerieren, die Zuschauer aber in erster Linie dafür brauchen, um viele Tickets zu kaufen. Kommt man ihnen zu nahe, gefriert das publikumsliebende Lächeln und man wird flugs auf die billigen Stehplätze unterhalb der Tribünen verwiesen, wo der Löwe nach einem schnappt.

Am Ende des Drehtags bleiben mir immerhin ein echtes Date und die Erkenntnis, dass ich mich lieber an irgendeiner Kasse von schlecht gelaunten Kunden beschimpfen lasse, als mich vor der Kamera eines Oberpavians zum Affen zu machen.

„Wir sehen uns dann morgen?“, fragt Jonas, als wir uns wieder mollig warm angezogen haben.

Ich nicke und nachdem wir einen Treffpunkt vereinbart haben, rase ich zur U-Bahn, damit ich Mäxchen noch rechtzeitig vom Kindergarten abholen kann. Dass ich einen Sohn habe, werde ich Jonas dann am Freitag erzählen. Falls es überhaupt zu einer Verabredung kommt und mein Mitbewohner Paul sich bereit erklärt, für mich den Babysitter zu spielen. Doch das sollte kein Problem darstellen. Schließlich hat er selbst zwei Kinder und schon viel öfter als ich von unserem Arrangement profitiert: Zwei alleinerziehende Singles teilen sich eine große Wohnung, die sie sich andernfalls in Hamburg niemals leisten könnten, und ersetzen einander noch den teuren Babysitter. Den brauchen wir nicht, weil wir nie zusammen ausgehen. Zwar verbindet uns mittlerweile eine Freundschaft, die mir unverbrüchlich vorkommt, aber wir sehen uns ja ohnehin andauernd, manchmal sogar zu einem abendlichen Serien-Marathon im gemeinsamen Wohnzimmer.

„Hallo? Jemand zu Hause?“, rufe ich, während ich dem zappelnden Max im Hausflur die Wintersachen ausziehe. Als keine Antwort kommt, bin ich erleichtert und Max ist enttäuscht.

„Schade“, murmelt er und wehrt sich etwas weniger gegen meinen Kampf mit seinem Schnee-Overall. Schließlich muss er nun keine Angst mehr haben, eine großartige Spielgelegenheit mit Leon oder Sophie zu verpassen. Sophie ist Pauls vierjährige Tochter, ohne die wir uns niemals in der Krabbelgruppe kennengelernt und angefreundet hätten. Und nein, obwohl Paul ziemlich gut aussieht, ist zwischen uns in den vergangenen drei Jahren außer ein bisschen harmlosem Flirten wirklich nichts gelaufen. Sobald Kinder im Spiel sind, lässt man es nicht mehr drauf ankommen, ein funktionierendes Modell zu gefährden. Doch weil wir beide sehr vernünftig sind, konnte unser eigenwilliges Konstrukt sowohl Pauls Beziehung mit einer Kollegin als auch meine Beinahe-Beziehung mit einem Ex-Kommilitonen überstehen. Bevor einer von uns über einen Auszug nachdenken konnte, ging praktischerweise alles wieder in die Brüche. Ich bin bequem und finde es hier eigentlich recht behaglich. Heute muss ich lächeln, wenn ich daran denke, wie sicher ich mir mal war, an meinem dreißigsten Geburtstag nicht mehr ohne Job in einer WG zu leben. Nein, mein innerer Plan hatte eindeutig eine brillante Karriere, eine stets gut gelaunte Familie sowie eine Altbauwohnung mit Stuck und Alsterblick vorgesehen. Das alles wird mir wohl kaum innerhalb der nächsten acht Wochen gelingen. In acht Wochen werde ich dreißig!

Eine miese Bilanz zum runden Geburtstag. Andererseits: Für keines meiner einstigen Ziele hätte ich Max hergegeben. Niemals, da sitze ich lieber auf einem Schuldenberg im weniger schönen Teil von Barmbek. Immerhin hat unsere Erdgeschosswohnung einen kleinen Garten und ganz in der Nähe kann man schön am Kanal spazieren …

„O Gott“, entfährt es mir, als ich am Küchentisch plötzlich eine dunkle Gestalt ausmache, die ich beim Reinkommen übersehen hatte – in Gedanken versunken, wie ich war. Ich greife mir an die Brust.

Leon, denke ich dann erleichtert. Ich habe mich noch nicht dran gewöhnt, dass Pauls dreizehnjähriger Sohn seit Kurzem ebenfalls bei uns wohnt. Nach der Trennung war Leon mit seiner Mutter Tine nach München gezogen und Sophie bei Paul geblieben. Doch nun hat Tine den Jungen ans andere Ende Deutschlands geschickt, weil seine Anwesenheit das Aufblühen ihrer neuen Beziehung gefährdet.

Tja, wenn er ihren Neuen so angeschaut hat wie mich gerade, ist diese Gefahr wohl nicht von der Hand zu weisen. Sein Blick lässt einen vermuten, er würde gleich eine Voodoo-Puppe mit meinem Konterfei mit Stecknadeln malträtieren. Aber seine Mutter spielte natürlich auf seine anderen Eigenschaften an, für die er nichts kann, weswegen er sich brutal abgeschoben fühlen muss. Ja gut, er hat einen Tick, der sich äußert, indem er bellt, vor allem wenn er nervös ist. Er geht auch öfter mal mitten im Gespräch in die Hocke oder knurrt – er ist halt ein Teenager. Meine Schwester hat schlimmere Macken. Nur sein stechender Blick, der macht mir wirklich ein wenig Angst. Ich fühle mich dann immer so seltsam durchschaut, als wolle er sagen: Versuch nur weiterhin, die Erwachsene zu spielen. Wir beide wissen, dass du ein erbärmliches Staubkorn im Getriebe des Universums bist und insgesamt null Überblick hast.

Leider macht mich das so nervös, dass ich mich in seiner Gegenwart tatsächlich pädagogisch wertlos verhalte. Und weil er zu den beiden Kleinen sehr nett ist, fällt es mir noch schwerer, seine offensichtliche Abneigung mir gegenüber nicht persönlich zu nehmen.

„Hallo, Leon“, jubelt Max. Insgeheim wurmt mich das, weil ich nicht will, dass der wichtigste Mensch in meinem Leben auf Leute abfährt, die mich nicht ausstehen können. Doch weil der Gedanke so unreif ist, quetsche ich ihn in irgendeine selten genutzte Schublade meines Hirnkastens.

„Hast du uns denn nicht gehört, als ich gerufen habe?“, frage ich und kann doch nicht verhindern, dass meine Stimme ein wenig gereizt klingt.

Leon zuckt mit den Achseln.

Ruhig bleiben, Lisa. Er ist schließlich nur eine arme … wenn man von Strohwitwern spricht, gibt es dann auch Strohhalbwaisen?

„Schau mal, was ich hier habe“, ruft Max.

Er hält eine kleine Lego-Ninja-Figur hoch, für die er noch viel zu jung ist. Die Zeitschrift, der sie beilag, hat er sich im Supermarkt hart erquengelt. Sein Kindergartenkumpel Murad hatte eine ähnliche Figur zum Spielzeugtag mitgebracht. Und weil Murad schon fast sechs Jahre alt ist, coole Spiderman-Pullis tragen und auch sonst an der Merchandising-Front ganz vorne mitmischen darf, ist er natürlich ein Vorbild. Die Eltern sehen das ein wenig anders, zumal er in seiner Brot-Box Leberwurst-Stullen und Capri-Sonnen herumtragen darf, während wir anderen unseren Kindern vergeblich Hirsekringel und Paprika-Aufstrich schmackhaft machen wollen. Das sorgt immer für viel Aufregung an Elternabenden, aus der ich mich mental stets ausklinke. Mein Motto lautet ja: Was ich nicht weiß … Das heißt, ich gebe Max verantwortungsbewusstes Dinkelzeugs mit und bemerke gar nicht, dass er dank kleiner Tauschgeschäfte mit Leberwurst-Weißmehl-Fahne wiederkommt.

Leider bin ich nur rein theoretisch wahnsinnig konsequent in Erziehungsfragen, oft aber zu erschöpft, um den guten Vorsätzen treu zu bleiben. Vermutlich wird Mäxchen mir das irgendwann um die Ohren hauen.

Mama, hättest du mir nur mal Grenzen gesetzt, dann würde ich nicht Seniorinnen überfallen.

Andererseits: Trotz moralisch fragwürdig befüllter Snack-Box hat Murad anders als beispielsweise Karl anderen Kindern noch nie Stücke aus dem Körper gebissen. Auch wenn ich nichts zum Thema Spätfolgen sagen kann, ist er vorerst ein eher ausgeglichenes und freundliches Kind, was womöglich mit seiner in sich ruhenden Mutter zusammenhängt.

„Alles halal“, versichert sie stets und ihr Lächeln dabei ist zu Recht siegessicher, denn was sollte man darauf erwidern, ohne wie ein ignoranter Kulturrüpel dazustehen?

Leon nimmt Mäxchen die Lego-Figur aus der Hand.

„Cool“, sagt er mit so viel Ernsthaftigkeit, dass es mich in einen Zwiespalt stürzt. Wer nett zu meinem Sohn ist, ist sofort mein Blutsbruder. Howgh!

„Und, bist du aufgeregt?“ Die plötzliche Sympathiewelle in meiner Brust hat mich verleitet, eine uncoole Frage zu stellen. Daraus macht er keinen Hehl, seine Augen sind nun wieder so klein zusammengekniffen, dass ich nicht mal mehr ihre Farbe erkennen kann. Na klar, er hat mich wieder mal als eine doofe Erwachsene enttarnt, die sich einen abkrampft, um pseudolässig Konversation zu betreiben. Da würde ich auch lieber mit meinem Sohn reden, der auf bezwingende Weise er selbst ist. Aber da kommst du auch noch hin, möchte ich ihm trotzig zurufen. Wenn du erst mal lernen musst, in gewissen Situationen eine bestimmte Rolle einzunehmen, weil das von erwachsenen Menschen nun einmal erwartet wird.

Ich bilde mir ein, dass er mir mit seinem Blick antwortet:

Egal was du sagst, ich verachte dich trotzdem. Verdammt seist du bis in alle Ewigkeit. Muhäähahaaa. Möge die Ohnmacht mit dir sein.

Der letzte Punkt in diesem Mental-Krieg geht an ihn. Beinahe verlegen fixiere ich die Tischplatte. „Ich meinte doch nur, weil du morgen zum ersten Mal in deine neue Schule gehst.“

„Ne, ich bin gar nicht aufgeregt“, sagt er und bellt zweimal laut. „Ich find’s einfach nur scheiße. Und vermutlich werde ich morgen Bauchweh bekommen und gar nicht hingehen. Noch Fragen?“ Sein grollendes, kehliges Knurren klingt sehr echt. Um nicht durchzudrehen, beschließe ich, dass sein unfreundliches Verhalten allein auf die Kombination aus Tick und Pubertät zu schieben ist. Es kann für einen Jungen in seinem Alter nicht einfach sein, sich damit zu arrangieren. In diesem Gedanken finde ich meine Größe und reife Weisheit wieder. „Man muss sich den vermeintlich unangenehmen Situationen einfach stellen“, sage ich mit einem Buddha-Lächeln, dem das Außen gar nichts anhaben kann. „Oft wird es besser als erwartet und bestimmt sind auch ein paar nette Leute in deiner Klasse.“

Egal was nun noch passiert. Ich muss nur bis heute Abend durchhalten. Dann besucht mich meine Freundin Kessie und ich kann alles bei ihr rauslassen. Als mein Handy klingelt, denke ich kurz an Gedankenübertragung, doch es ist nicht Kessies Nummer, sondern die meines Bruders, die über das Display flimmert. Nur eine Ansammlung von an sich unbedeutenden Zeichen, die mich aber daran erinnern, dass mein Leben ein klein wenig aus dem Ruder gelaufen ist. Ich beschließe, den Anruf zu ignorieren, bis ich mit Kessie über alles gesprochen habe. Noch nie konnte ich einen unvoreingenommenen – na gut, einen zu meinen Gunsten voreingenommenen – Blick so gut gebrauchen wie im Moment.

„Mama, dein Telefon klingelt“, sagt mein Sohn. Das Klingeln kommt mir doppelt so laut vor wie gewöhnlich, wohl weil ich mir so sehr wünsche, dass es aufhört.

Neugierig schaut Leon mich an.

„Man muss sich den Situationen einfach stellen“, sagt er dann mit einem diabolischen Lächeln, ganz ohne Begleitgeräusche.

Schade, dass in meiner Familie niemand Anwalt geworden ist. Mich würde brennend interessieren, ob es als einfache oder doch als gefährliche Körperverletzung bewertet würde, einem Minderjährigen ein Telefon an den Kopf zu werfen. Eine Woche im Altersheim zu putzen, wäre mir die Sache wohl wert.

Dass ich insgeheim weiß, dass Leon ein Stück weit im Recht ist, macht die Sache nur schlimmer. Nichts stachelt Wut mehr an als ein Gegner, der im Recht ist. Moment, ein gebeuteltes Kind ist ja wohl kaum ein Gegner, rufe ich mir ins Gedächtnis. Und an meiner verfahrenen Situation hat Leon einen insgesamt eher geringen Anteil.

Das Tattoo auf meiner Schulter juckt. Meist kündigt sich so ein Wetterwechsel an. Ein Blick durchs Fenster verrät nichts, aber vielleicht kommt gleich wie durch ein Wunder die Sonne heraus und lässt den ekelhaften Schneematsch schmelzen. Das kann jede Sekunde eintreten, zeitgleich mit einem Lottogewinn und dem Gefrieren der Hölle.

Fast möchte ich mich bekreuzigen, als sich tatsächlich die Wolken verziehen. Schade, dass ich nicht Lotto gespielt habe. Doch mir kommt beim Blick auf die Wanduhr eine andere gute Idee. Wenn es mir gelänge, innerhalb von dreißig Minuten in die Innenstadt zu kommen, könnte ich in der Speicherstadt die blaue Stunde einfangen. Das Fotomotiv steht schon eine ganze Weile auf meiner Wunschliste und ist nur bei wolkenfreiem Himmel zu realisieren. Und als Realistin halte ich mich wohl besser an die Wünsche, die ich mir selbst erfüllen kann. Ich liebe es zu fotografieren und Leon legt garantiert keinen gesteigerten Wert darauf, dass wir ihm Gesellschaft leisten.

„Mir kommt gerade eine Idee. Fährst du noch mal mit mir in die Stadt?“, frage ich Max.

Als ich seine Miene sehe, sage ich mir, dass ich ihm das nicht aus reinem Egoismus antue. Mit ein bisschen frischer Luft wird er nachher viel besser schlafen. Sicher war er an diesem Tag wieder kaum draußen. Wie sollen es die chronisch unterbesetzten Erzieher auch schaffen, ständig zu zweit zwanzig Kinder in Schneeanzüge zu packen und kurz darauf wieder auszuziehen?

„Nein, Mama. Ich wollte doch mit Leon spielen.“

„Und wenn wir hinterher bei Burger King zu Abend essen?“, zwitschere ich. Billig, Lisa, billig. Er hat mir gerade erst von der Dinosaurier-Figur vorgeschwärmt, die dort mit dem Kindermenü verteilt wird. Mit nun doch schlechtem Gewissen beobachte ich das Wechselspiel der Gefühle in seinem Gesicht.

Bekomme ich da eine Cola?“, fragt er schlau.

„Nein“, sage ich schnell. „Kein Koffein. Aber eine Limo.“

„Na gut“, sagt mein wunderbarer Sohn.

„Zum Abendessen ist Paul doch sicher wieder hier, oder? Wir können dir auch etwas mitbringen“, biete ich Leon an.

„Ne, lasst mal“, sagt Leon grimmig, ohne uns anzusehen. „Er wollte gleich mit Sophie wiederkommen.“

Geschafft! Es ist Punkt 17.10 Uhr, als wir in der Speicherstadt auf der Poggenmühlenbrücke stehen. Vor uns liegt das vertraute Postkartenmotiv, das Wasserschloss zwischen den Kanälen, umrahmt von alten Backstein-Lagerhäusern mit Giebeln und Türmchen. Glücklich packe ich mein Stativ und meine Kamera aus und unterhalte derweil Max mit dem guten alten „Ich sehe was, was du nicht siehst“-Spiel. Ich muss raten und rate jedes Mal falsch, was ihn immer wieder zum Lachen bringt.

Doch mit den Händen und Augen bin ich konzentriert bei meinen Instrumenten. Das Zeitfenster ist knapp. Kaum mehr als eine halbe Stunde bleibt Zeit, um den Moment abzulichten, in dem das direkte Sonnenlicht verschwindet und nur das reine Himmelsblau bleibt. Und die Geduld eines Vierjährigen währt noch kürzer. Doch es gelingt mir, ein paar Bilder zu machen, von denen ich glaube, dass sie richtig gut sind – für meine Maßstäbe. Ich bin keine Künstlerin, für mich hat ein gutes Foto eher mit Wissen und Handwerk zu tun, deshalb sind meine Motive womöglich oft so abgegriffen wie dieses. Aber mir gefällt es und ich will ja auch kein Geld damit verdienen.

Das habe ich bislang mit der Meteorologie. Die Leute haben immer so getan, als fänden sie das wahnsinnig spannend. Früher habe ich das geglaubt und hätte ihnen sofort von der Chappuis-Absorption erzählt, die für das einmalige Blau verantwortlich ist. Doch mittlerweile weiß ich, dass solche Dinge die meisten nur theoretisch fesseln. Viele finden es insgeheim desillusionierend, wenn sie merken, dass man die geheimnisvollen Zeichen des Himmels erklären kann. Das habe ich nie ganz verstanden, denn in meinen Augen sind die Dinge umso aufregender, je mehr man über sie weiß. Die Leute tun gerade so, als gäbe es nur das Unaussprechliche oder Einstein und als schlössen diese Dinge einander aus. Aber warum soll denn ein Regenbogen kein göttliches Zeichen mehr sein, bloß weil man weiß, dass die Farben des Regenbogens durch die Brechung des Sonnenlichts in den Wassertropfen entstehen? Meiner Meinung nach kann man Dinge sehr wohl erklären und ihre Existenz trotzdem fantastisch finden. Und nur weil ich mich sicher im Zahlenraum von eins bis zehn bewege, bin ich noch lange kein Freak, auch wenn meine Mutter mich manchmal so hinstellt.

„Mama, das ist langweilig, können wir jetzt weitergehen?“ Mein Sohn zerrt an meiner Hand.

„Sicher, mein Schatz“, sage ich sanft und packe meine Kamera ein. „Wir können gehen.“

Ich schaue dem Wippen des Bommels seiner Pudelmütze zu, während ich mit ihm an der Hand in Richtung Bahnhof marschiere. Bei Burger King beharrt Max darauf, nicht nur eine der Pappkronen für sich mitzunehmen, sondern auch noch jeweils eine für Leon und Sophie. Peinlich berührt sehe ich mich um, bevor ich unauffällig insgesamt drei der Kronen in meinem Rucksack verschwinden lasse.

Doch Max klatscht in die Hände und ruft laut: „Super, Mama, können wir noch mehr einpacken?“

Auch wenn ich vermeide, irgendjemanden anzusehen, bin ich mir sicher, dass uns nun alle beobachten und für elende Schnorrer halten.

„Ich glaube, das reicht.“

Während der ganzen S-Bahn-Fahrt will er seine Krone aufbehalten und knabbert glücklich die kalten Fritten, die er sich aufbewahrt hat und die nun das Abteil beduften. Aufgeregt plappert er vor sich hin und erzählt, was der Dinosaurier aus seinem Kindermenü alles kann. „Der nimmt die anderen voll aufs Horn und macht sie platt.“ Neben uns sitzt eine Mutter mit ihrer Tochter in Jack-Wolfskin-Uniform, zu der das Mädchen einen niedlichen rosa Schlauchschal samt passender Mütze trägt. Beides aus Jersey-Stoff, beides ganz sicher handgenäht oder zumindest bei DaWanda gekauft.

Sie sehen uns seltsam an – vielleicht wegen des Pommes-Geruchs oder weil sie sich denken können, dass Mäxchens Jacke im Schlussverkauf von H&M erstanden wurde, oder vielleicht weil auf seinem Kopf das Logo einer Fast-Food-Kette prangt. Ich stelle mir vor, wie in ihrer Wahrnehmung Comic-Sprechblasen über unseren Köpfen aufploppen, in denen Wörter wie „Hartz-IV-Familie“, „drohende Fettsucht“, „Lernschwäche“ und „bildungsfern“ zu sehen sind.

Vielleicht ist es auch nur mein eigenes schlechtes Gewissen. Außerdem ist Max eher hager.

Ich entsorge seine leere Pommes-Tüte schnell in den Abfallbehälter und sehe ihm zu, wie er danach, müde von der warmen Luft und nun eher schweigsam, abwechselnd seinen neuen Triceratops untersucht und müde die Lichter im Dunklen beobachtet.

Sein ernster, versonnener Blick stimmt mich plötzlich wehmütig. Es ist dieser schmerzende Zwiespalt in der Brust, den nur Mütter kennen: Er ist noch so klein und verletzlich, doch – o Gott – wie groß er zugleich schon geworden ist! Warum ist er jetzt schon dieses ganz und gar eigenwillige Wesen, zu dem ich ihn natürlich erziehen wollte, aber nicht ganz so schnell?

Ich drücke ihn kurz an mich und gebe ihm einen Kuss auf die Stirn. Da kehrt zappeliges Leben in ihn zurück. Er schüttelt mich ab und ruft verärgert: „Mama, du sollst mich nicht abknutschen, sonst beißt dich mein Dinosaurier.“

Das möchte ich auf keinen Fall, wer weiß, was so ein Urzeitmonster für Krankheiten überträgt!

Nur wenige Stunden später schlummert mein Sohn friedlich in seinem Bett, den Triceratops hält er aber vermutlich noch immer fest in der Hand. Ich sitze derweil mit Kessie auf meinem Bett und versuche, die Ereignisse der letzten Zeit zusammenzufassen. Doch ich verliere immer wieder den Faden, weil Kessie mich mit lauten Ausrufen unterbricht, sodass ich wieder von vorne anfangen muss.

„Du hast was?“, kreischt Kessie zum wiederholten Mal.

„Psst“, mache ich mit einem Zeigefinger vor den Lippen. Mit dem anderen deute ich auf das Nebenzimmer, in dem Mäxchen schläft.

„Sorry“, flüstert Kessie etwas leiser. „Aber mal im Ernst, wie schafft man es denn, einen Balkon abzufackeln?“

Ich schaue peinlich berührt auf die ineinander verkrampften Hände in meinem Schoß. „Wespennester brennen wie Zunder.“

Was ist eigentlich Zunder? Das muss ich unbedingt einmal nachschauen. Ich wünschte, Kessie würde sich nicht so aufregen, denn ihre Empörung führt mir noch einmal gründlich vor, was für eine Idiotin ich war.

Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass es sich bei meinem verantwortungslosen Verhalten um eine Panikreaktion handelte. Nicht ich habe alles in Brand gesetzt, sondern mein Körper, der in einem urzeitlichen „Kämpf oder flieh“-Modus gefangen war. Denn kurz zuvor hatte ich wegen eines Wespenstichs um Mäxchens Leben gebangt. In einem Anfall von mütterlichem Wahn habe ich das Wespennest abgefackelt.

Alles ging so schnell. Nachdem die Feuerwehr Schlimmeres verhindern, den Balkon über unserer Terrasse aber nicht mehr retten konnte.

„Aber du bist doch versichert?“, fragt Kessie ganz pragmatisch, als sie bemerkt, dass es keinen Sinn hat, mir weiter zuzusetzen. Reuiger als ich kann nämlich niemand sein.

„Noch nicht“, sage ich und winde mich unter ihrem entgeisterten Blick. „Aber ich habe nun alle nötigen Unterlagen ausgefüllt. Beim nächsten Mal bin ich also auf der sicheren Seite.“

Das hatte ich ohnehin vor, weil ich die Sorge hatte, dass Mäxchens Fußball mal in Nachbars Scheibe fliegen könnte. Es konnte ja keiner ahnen, dass seine Mutter die größere Gefahr für das Eigentum anderer Menschen darstellt.

„Wie viel?“, fragt Kessie. Zu Recht geht sie davon aus, dass ich genau weiß, was sie meint.

„So ungefähr 30 000 Euro?“ Das ist natürlich eigentlich keine Frage. Aber als Tatsache mit einem Ausrufezeichen versehen, würde ich die Worte nicht über die Lippen bringen.

„Wahnsinn! Können deine Eltern dir aushelfen?“

Früher wäre das kein Problem gewesen, aber nachdem meinen Vater die offenbar schwer zu lösende Frage nach den Grenzen zwischen schwarzen Löchern und ihrer Umgebung in ein Burn-out getrieben hat, musste er vorzeitig in Rente gehen. Eine Weile wandelte er wie ein Geist durchs Haus und murmelte Dinge wie „Gravitationsschlund“ und „Ereignishorizont“. Jetzt wirkt er wieder ganz normal – für seine Verhältnisse –, aber dummerweise fallen die Zahlungen knapper aus als gedacht. Da rächt sich ein wenig sein langes Studium mit anschließender Promotion in Form fehlender Beitragsjahre. Natürlich geht es ihnen immer noch vergleichsweise gut, meine Mutter hat nur leider bislang versäumt, ihren Lebensstandard an die neue Situation anzupassen.

„Ich kann meinen Vater auf keinen Fall fragen. Das Haus ist noch gar nicht abbezahlt und er muss ja auch noch eine minderjährige Tochter durchbringen. Und eine Ehefrau mit vielen Interessen.“

Meine Mutter würde an dieser Stelle im Namen der Emanzipation darauf hinweisen, dass sie natürlich eigenes Geld verdiene. Doch im Grunde ihres Herzens muss sie wissen, dass ihre Liebesroman-Heftchen und Filztiere nicht die Summen auf das Konto bringen, die sie ausgibt. Sie ist Gast auf sämtlichen Kulturveranstaltungen Hamburgs, zu denen sie gerne extravagant gekleidet erscheint.

„Das hatte ich vergessen. Deine Mutter ist echt eine Marke. Aber ich mag sie.“

Fast jeder mag meine Mutter für ihre unterhaltsame und einnehmende Art. Es ist nur nicht immer leicht, mit ihr zu leben. Und Papa ist ein toller Physiker, aber eben ausgerechnet ein Astrophysiker, da ist es mit seiner eigenen Bodenhaftung leider auch nicht allzu weit her.

Im Moment ist unklar, ob sie ihr hübsches Häuschen im Süden Hamburgs überhaupt halten können.

„Was ist denn mit deinem Bruder?“, fragt Kessie.

Und damit sitzen wir schon mitten auf der nächsten Baustelle. Mein Bruder hat mit der Entwicklung von Computerspielen unanständig viel Geld verdient. Und tatsächlich hat er mir ein Angebot gemacht, das ich nach der Sache mit dem Balkon nicht mehr ablehnen konnte. Aber bislang habe ich aus gutem Grund mit niemandem über seinen Plan gesprochen. Er ist zu abwegig, um ihn mit der Welt außerhalb meiner Familie zu teilen.

„Mein Bruder ist nicht bereit, mir das Geld zu leihen“, sage ich also zögerlich. „Er beharrt darauf, es mir zu schenken.“

Erleichtert atmet Kessie aus. „Dafür hast du mich nun so auf die Folter gespannt? Dann ist doch alles gut.“

„Allerdings ist es kein echtes Geschenk, denn er hat es an eine Bedingung geknüpft“, entfährt es mir fast gegen meinen Willen.

Kessie zieht ihre dichten, schön geschwungenen Augenbrauen hoch. Sie stehen ihr perfekt, ohne diesen Kontrast sähe sie mit ihren langen roten Locken und der hellen Haut zu zart und mädchenhaft aus. So ähnelt sie einer schönen Elfenkriegerin.

„Er will ein Kind von mir.“

„Was?“, kreischt sie, wird aber sofort wieder leiser. „Entschuldigung, ich weiß, Mäxchen schläft. Sag, dass ich mich gerade verhört habe! Das ist ja ekelhaft.“

„Na ja, er will natürlich nicht direkt ein Kind mit mir zeugen“, versuche ich die Sache zu erklären. „Der leibliche Vater soll Martin sein und das Ganze soll schön hygienisch per Samenspende in einer Befruchtungsklinik durchgezogen werden.“

Ich bin selbst ganz beeindruckt, wie lässig ich das hervorbringe. Doch ich halte nicht lange durch. Plötzlich rollen mir die bislang unterdrückten Tränen herunter und ich kann gar nicht mehr aufhören zu jammern. „Ich war verzweifelt, als ich zugesagt habe. Aber ich kann jetzt keinen Rückzieher machen. Mal unabhängig von dem Geld, mein schrecklicher Bruder hat sein ganzes Herz daran gehängt. Ich …“

An der Stelle weiß ich nicht weiter. In meinem Kopf führen die Neuronen einen irren Veitstanz von Synapse zu Synapse auf. Ein Kind austragen und es abgeben? Aus dem gleichen Grund, aus dem ich mir das nicht vorstellen mag, verstehe ich die Verzweiflung meines Bruders, der sich seit Jahren ein Kind wünscht. Er und Martin gehörten im vergangenen Herbst zu den ersten schwulen Paaren, die geheiratet haben, und theoretisch dürften sie nun adoptieren. Doch wurde ihre Hoffnung schnell wieder zunichtegemacht. Im Beratungsgespräch wurde ihnen klar, dass sie sich in eine lange Schlange von Bewerbern einreihen müssten – und sie nicht gerade ganz oben auf der Liste der aussichtsreichen Kandidaten stünden.

„O Mann, Lisa, ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll.“

In ihren zarten Zügen spiegelt sich eine so große Verwirrung, dass es mir fast ein wenig leidtut. Unsere Rollen sind seit Jahren klar verteilt. Sie erzählt mir von ihren verrückten Single-Abenteuern und ich kommentiere alles trocken mit der Abgeklärtheit einer Frau, die bereits Leben geschenkt hat und deshalb über die Niederungen des profanen Alltags erhaben ist. Mit dieser Verteilung war ich sehr zufrieden. Ich habe Kessie immer gerne zugehört. Sie war mein Fenster zu einem Leben, das ich wohl auch dann nicht geführt hätte, wenn ich kein Kind bekommen hätte. Nein, es waren filmreife Ereignisse, an denen ich lieber passiv teilnahm. Seit Kessie ihr Meteorologie-Studium geschmissen hat, jobbt sie als Kellnerin. Wie ich wohnt sie in einer Wohngemeinschaft, allerdings in einer coolen Künstler-WG im angesagten Caro-Viertel.

Zugegeben, manchmal bin ich ein wenig getroffen, wenn sie mir mal wieder vorschwärmt, wie gerne sie mit mir am Eilbek-Kanal spazieren geht. Es erde sie, weil es sie an Sonntagsspaziergänge mit ihren Eltern erinnere. Ich fühle mich dann immer wie ein Hausmütterchen, das Spitzengardinen häkelt und jeden Sonntag den gleichen Käsekuchen backt. Aber weil ich gar nicht tauschen will, ärgert es mich nie lange.

An den meisten Tagen arbeitet sie in einem Restaurant in der Langen Reihe, in dem offenbar sämtliche Filmstars verkehren, wenn sie sich gerade mal in Hamburg aufhalten. Neidisch war ich nur an dem Abend, an dem sie Philip Seymour Hoffman das Essen brachte. Den vergöttern wir beide. Doch bei

Kessie grenzte es an Besessenheit. Und weil sie sich – anders als ich – ebenso brennend für das Privatleben der Stars wie für ihr Leinwandgeschehen interessiert, verzieh sie ihm weder seine Überdosis noch, dass er die fatale Menge um der Sensation willen nicht sofort in dem Restaurant genommen hat.

Und weil das, was sie erzählt, so spannend ist, höre ich ihr häufiger zu, statt sie an meinem Alltag teilhaben zu lassen, indem ich die Kastanienmännchen heraushole, die ich am gleichen Tag mit Mäxchen gebaut habe. Nie hat unsere Freundschaft an unseren Unterschieden gelitten. Es ist nicht zu übersehen, wie wohl sich Kessie bei uns fühlt. Außerdem beharkt sie sich gerne mit Paul, der sie amüsant, aber auch anstrengend findet, was wiederum Kessie amüsiert, weil ihr viele Männer zu Füßen liegen.

„Hast du noch Alkohol im Haus?“, fragt Kessie, nachdem wir eine Weile nachdenklich geschwiegen haben.

„Meinst du, das hilft wirklich? Der Kater danach ist dann umso schlimmer“, sage ich und schniefe. Vor allem wenn man morgens um 6 Uhr von einem Kind geweckt wird, das sofort Frühstück haben möchte.

„Manchmal muss man im Moment leben“, erklärt Kessie. „Und in Momenten wie diesem muss es Alkohol sein. Du musst doch am besten wissen, dass man sich Naturgesetzen besser unterwirft.“

Kessie sagt oft Dinge, die sehr weise klingen, über die man aber nicht allzu lange nachdenken darf.

„Ehrlich gesagt“, wispere ich, „mag ich gerade nicht in die Küche gehen. Ich sehe bestimmt verheult aus und ich will nicht, dass Leon oder Paul das bemerken.“

Ich gehöre nicht zu den Frauen, die beim Weinen süß oder rührend aussehen. Ich sehe verquollen und rotfleckig aus und klinge einfach nur verschleimt. „Aber im Kühlschrank steht noch eine Flasche Rotwein, die mir gehört.“

„Na, dann flitze ich mal los“, sagt Kessie und lässt ihren Worten prompt Taten folgen.

„In der Küche saß ein finsterer Junge, der mich nicht gegrüßt hat. Das war wohl Leon?“, fragt sie stirnrunzelnd, als sie mit der Weinflasche und zwei Gläsern zurück in mein Zimmer kommt.

Ich nicke seufzend.

„Wow!“, entfährt es Kessie nach einer weiteren Schweigepause. „Dein Leben erinnert mich gerade an eine richtig krasse Telenovela. Wir brauchen unbedingt noch eine intrigante Ölmillionärsgattin, ein uneheliches Kind … obwohl, nein, Kinder sind hier eigentlich schon zu viele im Spiel … egal, mindestens einer muss noch an einer tödlichen Krankheit leiden, aber natürlich nicht du oder Max, und …“

Lächelnd nippe ich an meinem Wein, höre ihren Ausführungen zu und für einen Moment fühlt sich mein Leben wieder so vertraut an, wie es sich vor gerade einmal zwei Monaten noch jeden Tag anfühlte.

Als sie uns ausmalt, wie Leon in ihrer persönlichen Soap-Variante meines Lebens einen auf Billy Elliot macht und seine Liebe zum Ballett entdeckt, kann ich sogar schon wieder lachen. „Und dann beglückt er die Welt als … ja, als was eigentlich? Als Schwan? Als Nussknacker? Warum gibt es im Ballett eigentlich so viel bekloppte Figuren? Na ja, in seinem Fall wird es vielleicht eher Tim und Struppi.“

Als ich den Gag endlich kapiere, haue ich ihr gegen den Ellbogen, wobei Rotwein auf meiner Überdecke landet – das fällt aber kaum auf, sie zeigt das All mit einer rosafarbenen Galaxie. Ihr Farbton deutet darauf hin, dass die Sterne dieser Galaxie schon sehr alt sind, wie auch die Decke, es ist also nicht sonderlich schade darum. Es tut mir genauso wenig leid, dass Kessie sich ihr Gelenk reiben muss, ein bisschen Schmerz hat sie verdient.

„Aua, spinnst du, Lisa?“

„Das war fies, sich über sein Bellen lustig zu machen. Dafür kann er nichts. Wenn du lästern willst, dann bitte nur über den schrecklich griesgrämigen Gesichtsausdruck.“

„Du meinst, nur weil er nichts dafürkann, darf ich keine Witze darüber machen?“ Sie hält eine ihrer Haarsträhnen hoch. „Siehst du, ich bin rothaarig. Dafür kann ich ja nun auch nichts. Natürlich könnte ich färben. Aber das wäre genau so, als würde ich nur noch lange Röcke tragen, damit keiner sagen kann, sie wollte es doch auch. Verstehst du?“ Sie ballt die Faust und haut damit in die Luft. „Freiheit!

Wo war ich? Ach ja. Für die Haarfarbe kann ich rein gar nichts, aber was meinst du, was ich mir schon alles anhören musste? Ich sag nur ‚Hashtag MeToo‘ – wenn ich der Liste alle ertragenen Kommentare hinzugefügt hätte, wäre kein Platz mehr für die üblen Witze gewesen, denen Blondinen ausgesetzt sind.“

Wie schon gesagt, ich liebe Kessie, aber sie quatscht einen in Grund und Boden, bis das Gehirn vor lauter Erschöpfung das Mitdenken aufgibt. Ich habe nicht verstanden, inwiefern ihre Ausführungen zeigen, dass es legitim ist, sich über die unverschuldeten Handicaps anderer lustig zu machen. Ich weiß nicht mal, ob „Handicap“ aktuell ein politisch korrektes Wort ist oder ob man vielmehr etwas sagen müsste wie „Menschen mit einem besonderen Merkmal, das vorurteilsbehaftete Faschos zu Unrecht mit einer Einschränkung gleichsetzen“.

Und weil ich mich hier womöglich auch auf eher unsicherem Parkett bewege, verkneife ich mir jede weitere Belehrung.

„Na, was musstest du dir anhören? Womöglich so etwas wie ‚Rote Haare, Sommersprossen sind des Teufels Artgenossen‘?“, frotzele ich.

„Schön wär’s“, schnaubt Kessie. „Ich sag nur: rostiges Dach, feuchter Keller. Das ist das Niveau, auf dem wir uns hier bewegen.“

„Apropos“, sage ich lachend. „Was macht dein Kollege?“

„Der hat sich als Three-Night-Stand entpuppt“, antwortet sie gelassen. „Derzeit habe ich an der Geschlechterfront nichts Neues zu vermelden.“

„Dabei ist die Geschichte doch schon mindestens zwei Wochen her“, sage ich gespielt empört.

Kessie ist keineswegs die freigeistige Männerfresserin, die den Entschluss gefasst hat, ausschließlich ihrer sexuellen Bedürfnisbefriedigung zu huldigen. Es gefällt ihr, so gesehen zu werden, weil es zu ihrer Lebenskünstler-Existenz passt und Menschen aus irgendeinem Grund auch sich selbst gerne in Schubladen stecken. Doch ich kenne sie schon lange und weiß, dass eigentlich das Gegenteil der Fall ist. In Wahrheit ist sie beständig und treu – und zwar ihrem Traum von der großen Liebe. Männer hingegen kann sie extrem gut loslassen, wenn sie ihrer Vorstellung nicht hundertprozentig gerecht werden. Sie stempelt oft etwas zu schnell den Aufdruck „Mängelexemplar“.

Mich fragt Kessie höflicherweise nicht nach meinem seit einer Weile eher nicht vorhandenen Liebesleben. Doch nach dem zweiten Glas Wein erzähle ich ihr trotzdem von meinem Date, obwohl ich im Gegensatz zu ihr solche Dinge gerne für mich behalte. Zumindest bis ich sicher bin, dass es etwas zu erzählen gibt. Oder ich entscheide mich, dass es schlau ist zu schweigen.

Kessie starrt mich an. „Stopp, meine Liebe! Du spielst in einem Film mit und bist mit einem Schauspieler verabredet? Moment, lass mich raten: Für Meteorologen ist aus irgendeinem Grund, den keine Sau kapiert, der 5. Februar der 1. April und du hast mich die ganze Zeit veralbert und du wirst auch nicht die Mutter des Kindes deines Bruders und der Balkon deiner Nachbarin ist auch noch vollkommen intakt, richtig?“

Ich schüttele verlegen grinsend mit dem Kopf.

Sie seufzt. „Nein, das hätte meiner Fakten-Lisa auch nicht ähnlich gesehen. Außerdem waren die Brandspuren durchs Küchenfenster gut zu erkennen, da hast du echt ganze Arbeit geleistet. Aber ich fasse es nicht, dass du diesen Regisseur kennengelernt hast! Der ist ein Gott.“

Aus mehreren Gründen verärgert, unterbreche ich sie. „Nein, das sieht mir wohl nicht ähnlich, meine Fantasten-Kessie. Und deshalb war ich auch nur Komparsin, der Regisseur ist keineswegs Gott und an den Brandspuren arbeite ich ja nun.“

„Ja, und zwar unter Ganzkörpereinsatz.“ Kessie prustet los. Sie ist einfach unverbesserlich, aber leider auch so unwiderstehlich, dass ich mitlachen muss.

„Na gut“, sagt sie schließlich. „Erzähl mir weiter von den schönen Dingen des Lebens. Wie heißt er? Wie sieht er aus? Kenne ich ihn?“

„Jonas Niemeyer.“

„Nicht wahr?! Nicht gerade ein Charakterdarsteller, aber ziemlich sexy, muss ich zugeben.“

„Vielleicht hatte er nur noch nicht die Gelegenheit, etwas anderes zu zeigen“, wende ich ein.

„Nein“, widerspricht Kessie. „Wer sein Leben der Kunst geweiht hat, verrät sie nicht für schnöden Mammon.“

„Ne, auf keinen Fall“, sage ich trocken. „Da geht man schon lieber kellnern, das ist auch viel naheliegender.“

Es war klar, dass in Kessies Augen der mittelerfolgreiche Darsteller einer Vorabendserie überhaupt kein echter Schauspieler ist. In die Kategorie darf nur eintreten, wer in kirgisischen Autorenfilmen mit malaiischen Untertiteln auftaucht. Oder wer als absoluter Star die Klatschspalten füllt – dies aber nur inoffiziell, weil Kessie die natürlich nicht liest, außer beim Friseur, beim Zahnarzt, im Café um die Ecke …

„Kein Grund, fies zu werden“, sagt Kessie nun doch ein wenig beleidigt. „Bei Dingen, die mir am Herzen liegen, mache ich eben keine Kompromisse.“

Sie schaut auf ihre Uhr. „Oje, wird es langsam Zeit für dich, ins Bett zu gehen? Du musst mich nur rauswerfen.“

Ich greife nach ihrem Handgelenk. „Mist, um 6 Uhr ist Mäxchen wach und damit die Nacht vorbei. Und ich muss noch eine Liste für die Arbeitsagentur zusammenstellen.“

„Alles klar, ich verschwinde“, sagt sie und verabschiedet sich mit einem Kuss auf die Wange. Vor meiner Tür hält sie noch einmal kurz inne. „Hunde, die bellen, beißen nicht, oder? Ich kann mich wirklich rauswagen?“

Lachend werfe ich ein Kissen nach ihr.

Dann setze ich mich wieder an die Liste mit den Bewerbungen, die ich geschrieben habe und auf die ich keine Antworten erhalten werde. Die ausgeschriebenen Stellen, bei denen auch Meteorologen eine Chance haben, fallen in den Bereich Windenergie. Davon habe ich nicht nur wenig Ahnung, sondern konkurriere auch noch mit speziell ausgebildeten Ingenieuren. Dann gibt es noch eine schlecht bezahlte Assistentenstelle an der Uni, die am Ende garantiert intern besetzt wird. Die Aussichten wären besser, wenn ich meine Unterlagen deutschlandweit verschicken würde, doch noch gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass Mäxchen und ich unseren gewohnten Alltag nicht ganz auflösen müssen. Kinder sind echte Spießer, die es schon krummnehmen, wenn die Lieblings-Tasse zum Frühstück nicht auf dem Tisch steht, sondern noch unbenutzbar im Geschirrspüler steckt. Einen Umzug weit weg von der Familie und Paul, der auch zu Max’ Familie gehört, mag ich mir nicht einmal vorstellen. Andersherum: Wenn ich an meinen Bruder denke, ist es eine verlockende Vorstellung, die Segel zu streichen.

Doch es hilft ja alles nichts: Ich habe mir die Suppe eingebrockt, ich muss sie auslöffeln. Aber eine neunmonatige Schwangerschaft ist schon ein ziemlich heftiger Brocken, der einem schnell im Halse stecken bleibt. Von den versprochenen 50 000 Euro bleiben nach der Sanierung von Frau Holles Balkon noch 20 000 Euro. Wenn ich sparsam lebe und zusätzlich Hartz IV erhalte, kann ich davon zwei Jahre leben, auch wenn ich keinen Job finde, habe ich ausgerechnet. Und deshalb muss ich rasch die Liste fertig machen, damit mir nicht noch etwas von den mickrigen Beträgen abgezogen wird.

Am Ende statte ich Instagram noch einen kurzen Besuch ab und freue mich tierisch, dass jemand zu meinen Speicherstadtbildern die Frage „Machst du das beruflich?“ gepostet hat. „Schön wär’s“, gebe ich mit einem Zwinkersmiley zurück.

In der gleichen Sekunde wird mir klar, dass ich es ernst meine. Ich hatte die Fotografie immer ebenso sehr gemocht wie die Wetterkunde und am liebsten mache ich deshalb Bilder von Himmelsphänomenen. Eventuell könnte ich mich umschulen lassen, wenn sich kein anderer Job auftut. Meine Sachbearbeiterin hält mich ohnehin für überqualifiziert und etwas „speziell“ ausgebildet. Da entlaste ich doch den Staat ein wenig, indem ich nicht Däumchen drehe, sondern versuche, eine alternative Einnahmequelle aufzutun.

Frau Celik, meine Sachbearbeiterin, holt mich am nächsten Morgen aber leider schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie schenkt meinen Ausführungen immerhin einen bedauernden Blick, aber mehr scheint nicht drin zu sein. „Ich verstehe, dass Sie das fasziniert. Aber wenn Sie eine Ausbildung anfangen, bekommen Sie von uns kein Geld mehr.“

„Ich würde natürlich trotzdem weiter Bewerbungen schreiben“, sage ich hastig. „Es ist ja in meinem eigenen Interesse, wieder in meinem alten Beruf zu arbeiten, schließlich habe ich dafür lange genug studiert. Ich dachte nur, es ist Unsinn rumzusitzen, solange sich nichts tut. Und ich dürfte ja auch nebenher jobben, warum also keine Ausbildung machen? Mir ist klar, dass das Geld angerechnet würde. Aber das ist ja vollkommen in Ordnung für mich.“

Hastig höre ich auf zu sprechen, weil es in meinen eigenen Ohren wie eine jammerige Bettelnummer klingt. Ich hatte es mir nur in der vergangenen Nacht so schön ausgemalt.

„Ja, jobben könnten Sie natürlich. Aber während einer Ausbildung sind wir nicht mehr zuständig. Wir sind zuständig, solange Sie empfangsbereit sind. Für einen neuen Job, meine ich. Auszubildende können von der BAB unterstützt werden. Aber Sie würden auch dort kein Geld bekommen, vermute ich. Erstens haben Sie schon eine Ausbildung, zweitens wohnen Sie nicht bei Ihren Eltern, wobei …“

„Nein, auf keinen Fall“, sage ich matt, ohne auch nur zu fragen, was die BAB ist. „Könnte ich die Ausbildung nicht notfalls einfach abbrechen, sodass ich quasi empfangsbereit bin?“

„Nicht vorgesehen“, murmelt Frau Celik fast ein wenig verlegen. Ich nehme es ihr nicht krumm, sie erledigt ja nur ihre Arbeit. Immerhin ist die Weiterbildungsmaßnahme vom Tisch, die sie mir beim letzten Mal aufdrängen wollte: Theater spielend meine kaufmännischen Fähigkeiten entdecken.

„Theoretisch kann man Sie dazu zwingen“, hatte sie mir bei unserem letzten Telefonat erklärt. „Aber Sie haben Glück, dass bei den Weiterbildungsmaßnahmen noch mehr gespart werden soll, zumindest was die Hartz-IVler angeht. Selbst wenn Sie wollten, würden Sie derzeit wohl keine bewilligt bekommen. Schließlich sollen die Maßnahmen für den Arbeitsmarkt qualifizieren und Sie sind ja schon so gut qualifiziert.“

Ich würde zu gerne wissen, was mich von den unterqualifizierten Hartz-IVlern unterscheidet, wo wir doch insgeheim offenbar alle als hoffnungslose Fälle abgetan werden, an die jede Weiterbildung verschwendet wäre.

Es ist wirklich toll, so qualifiziert zu sein, dass ich weder in meinem Beruf arbeiten noch mich in einem anderen versuchen kann.

Zwar würde ich als Fotografen-Azubi in etwa das gleiche Geld erhalten wie jetzt – einen Betrag zwischen 300 und 400 Euro –, nur dass niemand darüber hinaus Miete und Heizung bezahlt.

Doch zumindest haben unsere Kinder einen Anspruch auf einen kostenfreien Kita-Platz für immerhin fünf Stunden am Tag, dann muss Mäxchen immerhin nicht mit mir allein zu Hause verblöden.

Zu Hause berichte ich Paul von meiner Enttäuschung, nachdem die Kinder sich verkrümelt haben, um in Leons Zimmer mit der Wii ein Box-Spiel zu spielen.

„Wir bräuchten neue Bilder für unsere Homepage“, sagt Paul nachdenklich. „Wie wäre es, wenn du einfach ohne Ausbildung versuchst, Bilder an den Mann zu bringen? Ich fand deine Fotos immer schon klasse.“

„Wirklich?“, frage ich überrascht. Bisher war ich der festen Überzeugung, das Künstler-Gen, das mütterlicherseits in unserer Familie liegt, hätte vor meiner DNA entsetzt haltgemacht. „Wieso hast du das noch nie gesagt?“

„Weil du es ohnehin wieder runtergespielt hättest“, sagt er lächelnd. „Oder nicht?“

„Wahrscheinlich schon“, gebe ich zu. „Aber das heißt nicht, dass ich es nicht gerne höre. Also wenn du noch weitere verborgene Talente von mir kennst, lass alles raus.“

Paul lacht wieder. Er ist wirklich der netteste Mann, den ich kenne. So nett, dass ich es nicht übers Herz bringe, ihm etwas von dem Deal mit meinem Bruder zu erzählen, weil ich nicht will, dass er ein allzu schlechtes Bild von mir hat. Dabei wurmt es mich, Paul etwas zu verschweigen. Wir mögen zwar kein Paar sein, dennoch fühlt es sich zwischen uns oft genug wie eine familienähnliche Beziehung an, in der man sich Aufrichtigkeit schuldet.

„Also, Lisa, was meinst du? Hast du Lust, für uns ein paar Bilder zu machen?“

Natürlich hätte ich Lust. Doch da ist es wieder, das Mysterium der Weiblichkeit schlägt wieder einmal zu – und zwar in der ungeliebten Form des Prinzips der Selbstsabotage. „Es ist so nett, dass du mir das anbietest. Aber ich habe noch nie Objekte wie eure fotografiert. Damit kenne ich mich nicht aus. Es war ja auch nur so eine unausgegorene Idee, die ich im Hinterkopf hatte, vermutlich völliger Quatsch.“

Ich hatte einfach Schiss, die Bilder zu verpfuschen – und dass Paul sich am Ende verpflichtet fühlt, sie mir trotzdem abzunehmen.

Der zuckt mit den Achseln und dringt nicht weiter in mich. Natürlich nicht, denn sein Seelenheil hängt ja nicht davon ab. Es gibt Momente, nur ganz kurze, in denen ich bedauere, dass wir den Männern eingebläut haben, dass unser „Nein“ auch wirklich „Nein“ heißt.

Weil Paul einer von den Guten ist, akzeptiert er das natürlich und denkt sowieso, alle würden genau nach dem handeln, was sie so von sich geben.

„Was hast du heute Abend eigentlich Schönes vor?“, fragt er, während ich noch überlege, ob ich mir die verpasste Chance zurückholen kann. Zu spät, denke ich.

In dem Moment stürmen Max und Sophie wieder herein.

„Das war anstrengend, aber ich habe gewonnen“, ruft Sophie mit errötetem Gesicht.

„Aber nur auf dem Gerät. In echt bin ich stärker“, behauptet Max. „Können wir was trinken?“

Die beiden setzen sich zu uns und Paul füllt Leitungswasser in zwei bunte Plastikbecher, die er vor ihnen abstellt.

„Und?“, fragt Paul.

Ach ja, er hatte mich nach meinem Abendprogramm gefragt. Netterweise war er bereit, den Babysitter zu spielen.

„Nur so eine Verabredung mit einem Bekannten“, nuschele ich.

„Nur so eine Verabredung?“, zieht er mich grinsend auf.

„Ja“, knurre ich. Bevor er doofe Anspielungen machen kann, deute ich mit dem Kinn vielsagend in Mäxchens Richtung. Der quasselt zwar gerade munter mit Sophie über Dinge, die wohl nur die beiden verstehen, aber ich habe schon zu oft die Erfahrung gemacht, dass Kinder am Ende doch alles mitbekommen.

„Wo geht ihr denn hin?“, fragt Paul unverfänglich.

„Ins Edelcurry“, antworte ich.

Nun berühren seine Mundwinkel fast die Augenwinkel, so sehr grinst er. „Warum nur können nicht alle Frauen so unkompliziert sein wie du?“

Böse schaue ich ihn an. Das war wohl ein ebenso zweischneidiges Kompliment wie das Loblied auf die Gemütlichkeit bei mir zu Hause, das Kessie immer so gerne singt.

Denn natürlich ist mir bewusst, dass sowohl Kessie als auch sämtliche Ratgeber der Meinung sind, ich würde mich unter Wert verkaufen, wenn ich mich mit einer Currywurst abspeisen lasse. Aber was soll der Quatsch? Erstens gibt es dort wirklich die leckersten Pommes und mir ist bewusst, dass Jonas kein Geld hat. Wieso sollte ich mir meinen eigenen Wert durch die Auswahl eines möglichst teuren Mahls bestätigen lassen? Und mir ist es egal, dass er gerade keinen Job hat. Wie ich am eigenen Leib erfahren habe, war das nicht unbedingt eine Wahl, die er getroffen hat. Deswegen sagt es rein gar nichts über ihn aus. Geld auszugeben, ist nun wahrlich keine Leistung, wenn man es hat. Ich bevorzuge schlichte, kostenlose Zeichen der Wertschätzung und Aufmerksamkeit. Emanzipation hin oder her – ein Mann darf mir gerne die Tür aufhalten oder mir in meine Jacke helfen.

„Nun guck doch nicht so böse. Ich meinte das wirklich ernst“, sagt Paul.

Ich beschließe, ihm zu glauben. Schließlich ist Paul nicht nur einer der nettesten, sondern auch einer der offensten Menschen, die ich kenne. Man ist nur nicht an Leute gewöhnt, bei denen die eigentlichen Botschaften NICHT auf der Subtextebene verlaufen. Deshalb bin auch darauf gedrillt, überall Untertöne herauszuhören.

„Champagner verlange ich erst bei der zweiten Verabredung“, sage ich schließlich lässig und klimpere lasziv mit den Wimpern.

„Flirtet ihr etwa?“ Leon hat von mir unbemerkt den Raum betreten und bellt empört.

„Flirten?“, fragt Sophie und kichert, weil sie das Wort so komisch findet. Und wenn Sophie lacht, kichert auch Mäxchen sich scheckig. „Flirten?“, wiederholt er mit kieksenden Lauten.

Verlegen schauen Paul und ich uns an. Natürlich flirten wir NICHT miteinander. Wie ich weiß, ist Paul derzeit sehr an einer Kundin interessiert, die schon öfter exklusive Möbelstücke in seiner Tischlerei in Auftrag gegeben hat. Sie ist ganz aus dem Häuschen über seine Fingerfertigkeit. Sie hat recht, Paul ist ein verdammt guter Schreiner mit einem erfolgreichen kleinen Unternehmen in der Schanze. Dass ich dennoch immer leicht gereizt bin, wenn er von ihr erzählt, hat nichts zu sagen. Der Frauentyp, den ich mir nach seinen Erzählungen vorstelle, würde bei mir immer eine leichte Gereiztheit bewirken. Außerdem bin ich diejenige, die gleich ein aufregendes Date hat.

Leon muss Pauls und meinen nonverbalen Austausch fälschlicherweise für eine Bestätigung des Flirt-Verdachts gedeutet haben. Mit angewidertem Blick lenkt er die Aufmerksamkeit von Sophie und Max erst auf sich, dann auf uns, wobei er sich einen Finger in den Hals steckt. Die Kleineren rutschen vor Lachen vom Stuhl. Wenn das mal kein gelungenes Patchwork-Leben ist. Hauptsache ist doch, die Kinder haben Spaß, oder nicht?

Zuerst erkenne ich Jonas im Edelcurry gar nicht wieder – er ist vollständig bekleidet und trägt kein Zombie-Make-up. Doch sieht er so natürlich viel besser aus. Fast ein wenig zu gut, denke ich. Das kann ich ihm aber schlecht anlasten. Schuld ist wohl eher der Mangel an Selbstvertrauen, der mich in letzter Zeit häufiger beschleicht. Die Kündigung aus dem Nichts hat mich schwer getroffen.

Er trägt einen dunkelgrauen, gestrickten Troyer zu einer dunkelblauen Jeans und sieht darin sehr viel kerniger aus als in seinem fast dandyhaften Outfit vor dem Arbeitsamt. Ich selbst trage wie er eine dunkelblaue Jeans, dazu einen schlichten cremefarbenen Pullover, der als kleine Finesse einen nicht zu tiefen Spitzeneinsatz zwischen Rundhalskragen und Dekolleté eingebaut hat. Meine halbhohen Brokatstiefeletten sollten ja ein kleiner Gruß an sein Samt-Jackett unter dem auffällig karierten Wollmantel vom letzten Mal sein, doch heute hat er sich ja für den rustikal-männlichen Auftritt entschieden. Ich frage mich, welche Kleidung ihm eher entspricht oder ob man als Schauspieler einfach in jedem Kostüm zu Hause ist. Oder vielleicht waren Farben und Samt auch nur der erhobene Mittelfinger für die triste Umgebung der Arbeitsagentur im Plattenbau.

Wir begrüßen uns ungeschickt mit einem Wangenkuss. Bevor er tatsächlich stattfindet, müssen wir mehrmals den Kopf drehen, weil wir jeweils die Wange anpeilen, die der andere gerade weggedreht hat.

Ich hatte ganz vergessen, mit wie vielen Unsicherheiten so eine erste Verabredung verbunden ist. Wenn es gut lief, würde man sich gegenseitig irgendwann kichernd all die peinlichen Dinge anvertrauen, die einem dabei durch den Kopf gehen. Unsinn, sage ich mir, ich kann mir gerade gar keine Beziehung leisten. Ich möchte nur für einen Abend mit dieser Möglichkeit kokettieren.

Und wie ich eigentlich gar nicht so genau weiß, was ich hier mache, denke ich beschämend lange darüber nach, ob ich die Pommes mit Zwiebeln nehme. Diese Kombi liebe ich, aber wenn er mich eventuell küsst – wovon ich natürlich nicht ausgehe und worauf ich es sicher auch nicht anlege –, könnte der Geruch abschreckend wirken. Da ich aber ja weiß, dass diese Möglichkeit ein theoretischer Gedanke bleiben soll, könnte ich genauso gut die Zwiebeln verschlingen und ihm so auch noch lässig zeigen, dass ich ganz sicher nicht mit einer Annäherung rechne. Es wummert an meiner Stirn. Vermutlich klopft da genau der Persönlichkeitsaspekt von mir an, der insgeheim doch genau darauf spekuliert.

Auf keinen Fall möchte ich von der Grübelei Kopfschmerzen bekommen, deshalb wähle ich einfach nur die Frittensoße zu den Pommes. Die Wurst bestellen wir beide mit pikanter Soße, was man natürlich nicht gleich als Schicksalswink deuten muss, mich aber trotzdem freut, weil man ja am Anfang ständig nach Hinweisen auf Gemeinsamkeiten sucht. Ich mag mein Essen scharf.

Ich bin wirklich froh, dass Jonas und ich noch einen Platz an einem kleinen Tisch für uns bekommen haben. Die lang gezogenen Tresen mit Barhockern, die sich überall – auch hier – breitmachen, mag ich nicht. Sie geben einem das Gefühl, Teil einer großen Familie sein zu müssen, in der einem ständiger Ellbogenkontakt mit anderen nicht sauer aufstößt und man auch keine Geheimnisse voreinander hat. Mich aber hemmt es beim Reden, wenn ich weiß, dass jeder es hört. Ich schäme mich dann auch sofort, wenn mein Gegenüber etwas richtig Peinliches sagt, was ich unter vier Augen womöglich sogar ganz lustig fände.

Jonas lächelt mir über den Tisch hinweg zu. „Stell dir weiße Tischdecken und Servietten vor“, sagt er beinahe entschuldigend.

„Besser nicht“, sage ich ehrlich, während ich zufrieden an meinem Hefeweizen nippe. „Es würde hier hinterher aussehen wie ein Zombie-Massaker auf weißem Schnee – ich schaffe es nie, die rote Soße nicht zu verspritzen.“

„Oh, soll ich dir etwa ein Lätzchen besorgen? Es wäre schade um deinen Pulli, der steht dir nämlich sehr gut.“

„Das wäre sehr fürsorglich von dir“, murmele ich, während ich geschmeichelt erröte.

Ach, Jonas. Apropos Lätzchen: Ich kenne da noch jemanden, der immer kleckert. Er heißt Max, ist vier Jahre alt und zufällig mein Sohn.

Es liegt mir wirklich auf der Zunge. Aber weil ich ja gar nicht plane, dass die Dinge sich weiterentwickeln, mein „Geständnis“ aber genau das Gegenteil vermitteln würde, schlucke ich es einfach runter. Für diesen Moment genieße ich einfach das Gefühl, die sorglose junge Frau zu sein, die für niemanden verantwortlich ist, außer für sich selbst. Eine, die sich am Sonntagmorgen genüsslich rekelt, sich eine rosafarbene Schlafbrille ins Haar schiebt und dann spontan überlegt, ob sie zu dem herrlichen Brunch geht oder mit einer 200-Gramm-Tafel Marabou im Bett bleibt, um dort die ganze zweite Staffel „Stranger Things“ zu gucken, die ich immer noch nicht gesehen habe, weil ich fürchte, sie könnte mir zu gruselig sein, obwohl ich die erste genial fand.

Jonas hat sich derweil eine Serviette geschnappt. Halb entsetzt und halb belustigt bemerke ich, dass er versucht, sie wie eine Art Lätzchen an meinem Ausschnitt zu befestigen.

Es ist merkwürdig, aber wie seine warmen Finger so unabsichtlich mein Schlüsselbein berühren, fühlt sich noch viel aufregender an als die Hand, die beim Dreh auf meinem Hintern platziert wurde.

Die Kellnerin, die uns unser Essen bringt, beäugt uns neugierig. Peinlich berührt zucke ich zurück und versuche, mir die Serviette vom Hals zu zerren, doch die Frau beachtet mich gar nicht.

„Jonas Niemeyer?“, haucht sie.

Ihrem verhangenen Blick nach zu urteilen, ist er berühmter, als ich dachte, oder die beiden hatten etwas miteinander.

„Bedaure. Sie müssen mich verwechseln. Ich heiße Peter Müller“, sagt er und bedenkt sie mit einem so charmanten Lächeln, dass sich sogar seine Zurückweisung wie ein unanständiges Kompliment anfühlen muss.

„Ach so“, sagt sie, ohne Anstalten zu machen, den Tisch zu verlassen. Als sie es schließlich doch tut, wirft sie ihm über die Schulter noch einen Blick zu und lässt beim Gehen die Hüfte wippen. Selbst die langen schwarzen Haare schwingen. Sie ist genau der Typ, von dem wir Frauen glauben, dass er Männer willenlos macht. Für eine Sekunde bin ich eifersüchtig, denn ich war nie so eine Frau-Frau. Eher normal, mit klitzekleinen Eigenheiten, die meine Schwester dazu veranlassen, mich als „Freak“ zu bezeichnen, was aus ihrem schwarz geschminkten Mund echt seltsam klingt.

Doch ich muss Jonas hoch anrechnen, dass er ihr nicht eine Sekunde nachblickt.

„Wow“, sage ich ehrlich beeindruckt. „Du hast es echt drauf.“

Jonas lacht. „Du solltest erst mal sehen, wie ich auf Kommando weine.“ Er fängt an, sein Gesicht zu verziehen.

„Bitte, bitte nicht“, sage ich schnell und ganz ernsthaft. „Vermutlich zieht sie mir dann die Fritteuse über den Schädel, weil sie denkt, ich hätte irgendetwas Schlimmes getan.“

Jonas lacht wieder. Danach unterhalten wir uns eine ganze Weile über Filme und die Arbeit, die wir ja derzeit gar nicht haben. Aber irgendetwas muss man ja sagen und mir ist ohnehin die ganze Zeit bewusst, dass es sich eher um einen Balztanz handelt als um ein ernst zu nehmendes Gespräch. Leider macht mich der Gedanke noch nervöser, weil mich die Situation an Vorstellungsgespräche erinnert. Natürlich würde man bei einer Verabredung nie sagen: „Meine Schwäche ist, dass ich einfach zu gerne arbeite.“ Aber eigentlich fällt doch „Schau mal, wie witzig und lässig ich bin“ in die gleiche Kategorie, nur dass man es nicht ausspricht, sondern mit Tonfall und Gesten über andere Gesprächsthemen ausdrückt. Gleichzeitig fühle ich mich angenehm beschwipst und ich weiß, dass es nicht an der zu vernachlässigenden Menge Alkohol liegt, sondern an der vibrierenden Energie einer Begegnung von Mann und Frau, in der noch nichts festgelegt ist.

Als das Restaurant gegen 22 Uhr schließt, sind wir beide noch nicht bereit auseinanderzugehen. Deshalb freut es mich, als er mir vorschlägt, ihn noch zu Freunden in einer Bar zu begleiten. Doch weiß ich nicht, ob ich schon bereit bin, unser kleines Geplänkel den neugierigen Augen Fremder und deren Bewertung auszusetzen, oder ob ein geheimnisvoller, frühzeitiger Abgang nicht die elegantere Option wäre.

Am Ende siegt die Neugierde und nach einem kurzen, dezenten SMS-Austausch mit Paul auf der Toilette – es macht ihm nichts aus, wenn ich noch bleibe – verlasse ich mit Jonas das Restaurant.

Vor der Tür gerate ich ins Schlittern, sodass Jonas mich festhalten muss. Was für ein Klischee, fehlt nur noch, dass ich ein Taschentuch fallen lasse, denke ich und mache mich schnell los.

„Ich habe gar nicht gemerkt, dass es geregnet hat“, sage ich, während mir schon wieder ein Fuß wegrutscht.

„Das kommt, weil du so fasziniert von meiner Gesellschaft warst“, sagt Jonas lachend. „Brr … das muss wohl Eisregen gewesen sein“, fährt er fort, als er merkt, dass auch sein Gleichgewicht zu wünschen übrig lässt.

„Genau genommen unterkühlter Regen“, ergänze ich automatisch.

„Hä?“

Ich zucke zusammen. Es ist schon wieder passiert. Natürlich ist es immer ein guter Ausweg, auf das Wetter zu sprechen zu kommen. Allerdings will niemand, dass man dabei allzu sehr in die Tiefe geht. Ein ärgerlicher Fehler, der mir häufiger unterläuft. „Ich schätze, die Luft ist wärmer als 0 Grad“, murmele ich hastig. „Deswegen müssen es unterkühlte Regentropfen gewesen sein, die schlagartig gefrieren, wenn sie den Boden berühren.“

„Okaaaaay?!“ Er blinzelt verwirrt.

„Ich meine nur, weil … nun ja, öfter handelt es sich ja um gefrierenden Regen. Ganz normale Tropfen treffen auf den gefrorenen Boden und vereisen. Doch dieser Regen hier ist viel schwerer vorherzusagen, da sich die Minustemperaturen in den höheren Luftschichten tummeln.“

Er tippt grinsend mit dem Finger meine Nasenspitze an. „Wie auch immer, Miss Granger, es ist verdammt glatt. Wir sollten uns gegenseitig stützen.“

Bevor ich mich darüber ärgern kann, dass ich auf ihn wie ein neunmalkluges Harry-Potter-Mädchen wirke, hat er schon meinen Arm untergehakt, sodass ich für einen kurzen Moment nichts anderes wahrnehme, als dass er mir sehr nahe ist. Zum Glück bleibt mir nicht allzu viel Gelegenheit, dies verwirrend zu finden, denn ich brauche meine ganze Konzentration, um nicht immer wieder hilflos wegzurutschen.

Wir schlittern langsam zu einer Bar an der Michaelisbrücke. Diese versteckte Ecke Hamburgs ist für mich eine der romantischsten. Hier, umschlungen von Hamburgs Wasserarmen, den Fleeten, kommt mir die Stadt wie ein hanseatisches Venedig vor. Damit stehe ich nicht alleine da, wie die unzähligen Schlösser an den verschnörkelten Gittern der Michaelisbrücke zeigen. Viele von ihnen sind mit den Namen von Paaren beschriftet, die sich mittlerweile inzwischen darüber ärgern, dass sie damals den Schlüssel weggeworfen haben. Damit sind sie symbolisch bis in alle Ewigkeit an Hans-Peter gekettet, wo sie in der Realität längst Klaus-Dieter geheiratet haben.

Die Bar, in die wir gehen, entspricht so gar nicht meiner Preisklasse, gefällt mir aber sehr gut. Zwischen all den braunen Ledersofas und barocken Tapeten würde es mich nicht wundern, wenn gleich Hercule Poirot um die Ecke schauen würde, um den Mord im Salon aufzuklären. Die Etablissements, die ich vor Mäxchens Geburt aufgesucht habe, waren eher rustikale, angeranzte Schuppen mit Brandlöchern in sperrmüllreifen Sesseln, in denen zum Teil noch geraucht werden durfte und die Rockmusik immer ein wenig zu laut lief. Dafür gab es festgelegte Wochentage, an denen man für sein Gläschen Tequila nur einen Euro bezahlt hat. Und weil ich Max schon mit fünfundzwanzig bekommen habe, habe ich es verpasst, mich zwischenzeitlich in die erwachseneren Locations der ernsthaften Arbeitnehmer und angehenden Großerben wie diese vorzuarbeiten.

Bang wird mir klar, dass hier erwartet wird, Cocktails der James-Bond-Klasse zu trinken, und selbst ein simpler Gin Tonic nicht für unter 9 Euro zu haben ist. Spätestens als wir uns dem Grüppchen in der Ecke nähern und Jonas dem Haufen munter zuruft: „Die nächste Runde geht auf mich“, wird mir klar, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich überschlage es im Kopf, dort sitzen drei Männer und zwei Frauen, macht mit uns beiden zusammen sieben Drinks und damit etwa 70 Euro.

Aber sich nicht zu revanchieren und sich mit irgendeiner Ausrede an ein Glas Mineralwasser zu klammern, scheint mir keine ernsthafte Option zu sein.

Seine Freunde johlen uns mit erhobenen Martini-Gläsern zu.

Mit leicht verkrampftem Lächeln gebe ich allen die Hand und habe am Ende der Runde keinen Namen behalten, weil ich noch mit meiner kleinen Kopfrechnung beschäftigt war.

Nachdem noch zwei Stühle an den Tisch geschoben wurden, lasse ich mich neben Jonas in den Sitz fallen.

„Der klassische Hartz-IV-Schuppen eben“, raune ich ihm für die anderen unhörbar zu.

Er lacht und legt einen Arm um mich. „Wurde dafür nicht der Dispo erfunden? Um zu leben, auch wenn gerade kein Geld reinfließt?“

Dass wir beide pikante Wurst mögen, hat mich für eine Sekunde über eine Tatsache hinweggetäuscht, die uns trennt – er hat den Vorteil, dass er nur die Verantwortung für sich selbst tragen muss. Meine Mutter würde ihn lieben. Das allein sollte schon abschreckend genug wirken, mindert seine Anziehungskraft aber leider nur wenig.

Männer, die das Schicksal mit einem lässigen Lächeln herausfordern, erscheinen mir als mein unwiderstehliches Gegenstück, frei nach dem Yin-und-Yang-Prinzip.

Dennoch war es ein Fehler, ihn hierherzubegleiten. Von seinen Freunden macht sich keiner die Mühe, mich einzubeziehen. Sie haben mich zur Kenntnis genommen, wie man ein neues Smartphone zur Kenntnis nimmt, und das war’s. Der schlaue Satz, mit dem ich mich in ihr Gespräch über Theater und Filme einklinken könnte, wird mir wohl erst später im Bett einfallen. Genau genommen wird ziemlich viel über Kollegen gelästert, doch Jonas zieht netterweise nicht mit, sondern lacht viel und bringt gelegentlich einen selbstironischen Spruch. Dazwischen macht er keinen Hehl daraus, dass er gerne mit mir zusammen ist, doch ich antworte nur noch knapp auf seine Fragen, weil mich die Zuhörer ein wenig nervös machen. Eine der Frauen schaut die ganze Zeit zu mir und wirft dann ihrer Freundin vielsagende Blicke zu. Irgendwann bekomme ich mit, dass sie Emilia heißt und ihre Freundin Katherina. Nervös zupfe ich an meinem Pulloverkragen.

Ich beschließe, als Nächstes eine Runde auszugeben, um nicht als Schnorrer dazustehen, und dann schnell zu verschwinden.

Da spricht mich Ich-glaube-sein-Name-war-Thomas zu meiner Rechten an, der sehr nett zu sein scheint. Er ist derzeit an einem Hamburger Theater engagiert, spielt aber auch noch einen Polizisten in einer Vorabendkrimiserie. Damit scheint er ziemlich gut aufgestellt, denn es ist kein leichtes Los, Schauspieler zu sein, wird mir an diesem Abend bewusst. Im Verlauf des Abends lerne ich sogar Schauspieler am Theater von denen zu unterscheiden, die vorrangig vor der Kamera stehen. Bei ersteren ist alles eine Nummer größer, die Gesten, die Mimik, sogar die Stimme ist raumgreifender. Die beim Fernsehen haben dafür das hübschere Aussehen. Thomas gehört demnach mehr dem Theater an und Jonas scheint das Chamäleon unter ihnen zu sein. Immer wenn ich gerade zu wissen glaube, wo er hinzusortieren ist, überrascht er mich.

Doch obwohl Thomas für mich einer fremden Spezies angehört, die sogar abseits der Bühne wie vom blendenden Scheinwerferlicht bestrahlt wirkt, entspinnt sich zwischen uns ein angeregtes Gespräch. Nach einer Weile beginnt er, mich auszufragen. Wie erwartet interessiert er sich nicht sehr fürs Wetter. In seinem „echt spannend“ liegt so viel Irritation, dass mir klar ist, dass ich für ihn ebenfalls einer fremden Art angehöre – wir sind etwa wie Eisbären und Pinguine, die sich höchstens im Zoo begegnen.

Aber umso mehr kann er sich für Fotografie begeistern. Sofort schaut er sich auf Instagram meine Fotos an, was mir sehr unangenehm ist, und versieht ein paar davon mit netten Kommentaren, was mir wieder böse Blicke von Emilia einbringt.

„Deine Freundin ist ziemlich talentiert“, sagt er und zeigt Jonas eines der Bilder. „Da lernt man den Winter fast wieder zu schätzen.“

„Wir sind nicht …“, sage ich schnell.

„Stimmt“, unterbricht mich Jonas, dem es nichts auszumachen scheint, dass ich als seine Freundin bezeichnet werde. Er sieht sich erst das Bild genau an und dann mir tief in die Augen. „Das wundert mich gar nicht.“

Mir wird ganz warm im Bauch. Sicherheitshalber vermeide ich jeden Blick in Emilias Richtung.

„Genau genommen habe ich das Bild im Sommer gemacht“, erkläre ich, ermutigt von ihrem mir aufrichtig erscheinenden Interesse. „Es ist kein einfaches Schwarz-Weiß-Foto, sondern ein Infrarotbild, deswegen sehen die Blätter so aus, als seien sie von Raureif bedeckt. Das normalerweise sichtbare Licht wird unterdrückt und dafür die unsichtbare Strahlung eingefangen. Das finde ich ziemlich spannend, weil unser Auge so Dinge wahrnehmen kann, die es sonst nicht sieht.“

Thomas sieht mich verblüfft an. „Wer hätte gedacht, dass du mal jemanden mitbringst, der so begeistert das Wort ‚Infrarot‘ ausspricht! Sonst ist man schon froh, wenn sie überhaupt mal einen sinnvollen Satz rausbringen.“

Nicht einmal dieser Kommentar bringt Jonas in Verlegenheit. Er lacht nur und sagt: „Sie ist eben großartig.“

Damit ist es mal wieder an mir zu erröten. Doch meine Freude über die netten Komplimente wird gedämpft durch das Gefühl, sie sähen in mir so etwas wie ein Zirkuspony, das jeden Moment ein irrwitziges Kunststück zu bringen hat. Eine kurzzeitig erfrischende Fehlfarbe im gewohnten System, deren Charme sich auch schnell wieder verbrauchen kann. Das Showgeschäft ist definitiv nicht meins.

„Machst du auch Bilder von Menschen?“, fragt Thomas.

„Nur Schnappschüsse von … Familienmitgliedern“, antworte ich. Fast hätte ich meinen Sohn erwähnt, doch dies ist sicher nicht der richtige Zeitpunkt für Anekdoten über Max.

„Mich würde wirklich interessieren, wie Menschen aussehen, wenn man sie so aufnimmt“, sagt Thomas nachdenklich.

„Ein wenig wie Zombies“, sage ich.

„Cool“, sagt Thomas.

Jonas klinkt sich ein. „Und so haben wir uns ja auch kennengelernt.“ Er erzählt die Geschichte unserer gemeinsamen Komparsentätigkeit so, dass sie viel witziger klingt, als sie war. Doch wieder einmal finde ich es sympathisch, dass er Witze über sich selbst macht, statt sich erfolgreicher darzustellen, als er ist. Doch offenbar hat er das auch nicht nötig. Es ist offensichtlich, dass er derjenige ist, um den sich diese Runde dreht.

Während er so erzählt, berührt er mich immer wieder wie aus Versehen und nach dem dritten Gin Tonic fühlt sich alles warm und entspannt an. Dennoch kommt der Punkt, an dem ich mir nicht länger vormachen kann, frei von Verantwortung zu sein, und ich mich danach sehne heimzukehren, um meinem schlafenden Sohn noch vorsichtig einen Kuss auf die Stirn zu geben. Denn das ist die Wirklichkeit, während ich mir bei dieser Situation nicht ganz sicher bin, was es ist.

„Ich bringe dich noch zur S-Bahn“, sagt Jonas, nachdem ich meinen Aufbruch angekündigt habe. „Ciao“, ruft er den anderen zu und schnappt sich seine Jacke. Obwohl ich weiß, dass nichts zwischen uns laufen wird, halte ich Emilias entsetztem Gesicht munter den Mittelfinger entgegen – nur in Gedanken, versteht sich. Die Rolle der Rebellin füllt in meiner Familie schon Zoe zur Gänze aus.

Als wir draußen sind, hakt Jonas mich wieder unter und gemeinsam gleiten wir zur S-Bahn-Station Stadthausbrücke. Die ist zum Glück nur eine winzige Schlitterpartie entfernt, denn der Alkohol hat das Balancegefühl nicht verbessert. Auf dem Bahnsteig lässt er mich los, um mir gegenüberstehen zu können.

„Willst du wirklich nach Hause?“, fragt er so locker, als spiele es keine Rolle.

„Ja, ganz sicher“, sage ich lächelnd und wohl wissend, dass die Antwort „Absolut nicht“ lauten würde, wenn zu Hause nicht dieser kleine Junge auf mich warten würde.

Als die Bahn anfährt, lächelt er mir verführerisch zu. „Ich mag dich, Lisa.“

Dann küsst er mich leicht auf den Mund. So kurz, dass ich den Kuss erst hinterher realisiere, aber lange genug, dass meine Lippen heftig kribbeln.

Ich steige ein, finde einen Sitzplatz und erwidere durchs Fenster seinen Blick, bis wir losfahren. Erst als nach einer Weile der alte Herr mir gegenüber das Hamburger Abendblatt sinken lässt, damit ich seinen genervten Blick sehen kann, merke ich, dass ich die ganze Fahrt laut gegiggelt habe.

„Ooops, sorry“, sage ich fröhlich. „Schönes Wetter heute, oder?“

Könnten Blicke töten, wäre seiner eine Massenvernichtungswaffe. Ich schaue so ernst drein, wie ich kann, strecke ihm aber die Zunge raus, sobald er sich die Zeitung vor die Nase hält.

Als am nächsten Vormittag alle das Haus verlassen haben und ich Mäxchen zum Kindergarten gebracht habe, bin ich froh, einen Moment alleine zu sein. Wegen des Alkohols und des Gedankenwirbels in meinem Kopf habe ich nicht gut geschlafen und verkatert war ich schon immer leicht unsozial. Ich denke nicht, dass mir jemand etwas angemerkt hat, ich funktioniere einwandfrei, wenn ich weiß, dass ich mich gleich zurücklehnen darf. Geduldig und unter vielen kleinen Scherzen habe ich einen störrischen Max in die vielen Schichten seiner Winterbekleidung gesteckt und sie ihm im Kindergarten wieder ausgezogen. Statt die Erzieherin über die miese Ökobilanz von Früchten aus Peru aufzuklären, habe ich nur milde verlegen gelächelt, als sie mich schalt, weil sich in Mäxchens Snack-Box an diesem Tag mal kein frisches Obst, sondern ausnahmsweise eine Erdbeer-Banane-Quetschtüte befand.

Ich bin auch nicht ausgeflippt, als mich Paul den ganzen Morgen mit anzüglichen Bemerkungen überschüttet hat. Und ich habe es sogar vermieden, Leon nach seinem ersten Schultag zu fragen, wo ich doch an seinem finsteren Gesichtsausdruck sowieso seine Einstellung dazu ablesen konnte.

Doch nachdem mir all dies gelungen war, fühlte ich mich so erschöpft, dass ich zu Hause einen ganzen Liter eiskalte Cola in mich hineinschüttete – mein Katergetränk – und dabei auf dem Bett liegend die Bilder auf meinem Rechner sortierte. Auch wenn mir klar war, dass man dem euphorischen Zuspruch von Menschen, die dafür bezahlt werden, anderen etwas vorzutäuschen, eventuell nicht allzu viel Bedeutung beimessen sollte. Und dennoch hat mich das Lob von Jonas und seinem Freund Thomas dazu inspiriert, mir ein paar meiner Bilder noch einmal genauer anzusehen.

Nein, eine von göttlichen Inspirationen gesegnete Künstlerin war ich sicher nicht, doch vielleicht erzielte man ja mit einer großen Faszination für alle Facetten dieses Handwerks am Ende ein ähnliches Ergebnis? Doch selbst wenn es so wäre, finde ich keine Möglichkeit, daraus Kapital zu schlagen. Das Internet scheint nur so von Agenturen bevölkert zu sein, bei denen man die Werke von semiprofessionellen Fotografen für einen Euro erwerben kann.

Da ist es doch lukrativer, sich als Wetterforscherin ein nettes Foto-Hobby zuzulegen, als umgekehrt. Zumal Menschen es cool zu finden scheinen, wenn sich herausstellt, dass man nebenher fotografiert. Sich nur so zum Spaß mit Wetterdaten auseinanderzusetzen, könnte hingegen auf viele skurril wirken. Schlagartig fällt mir ein, dass mir die lukrative Variante ja derzeit gar nicht zur Verfügung steht. Und ich vergebe mir ja nichts, wenn ich einfach mal bei einem Anbieter ein paar meiner Bilder einstelle.

Es ist nicht so, dass ich nicht schon früher über eine Ausbildung zur Fotografin nachgedacht hätte, aber am Ende hatte ich wohl immer das Gefühl, dass zumindest eines der Kinder unserem Vater die Treue halten und in die Wissenschaft gehen sollte – und dass dies am ehesten meine Aufgabe sei. Es war ja auch naheliegend: Während meinen Geschwistern ein Gewitter nicht geheuer war (mein Bruder) oder eine exaltiert-spirituelle Begeisterung für die Lichter und das Grollen gezeigt wurde (meine Mutter und meine Schwester), interessierten meinen Vater und mich die Details dieser elektrostatischen Entladung. Übrigens spielen auch dabei wieder mal Eiskristalle und Wolken eine Rolle. Und wer schon einmal Eiskristalle mit einem Elektronenmikroskop betrachtet hat, weiß, dass sie mit das Schönste sind, was die Natur hervorgebracht hat …

Wobei mein Bruder es ja spielend schafft, die Anlagen beider Elternteile zu verbinden. Er ist nicht nur kreativ, sondern auch noch ein erfolgreicher Informatiker, der zudem auch noch blendend aussieht, was einen zur Verzweiflung bringen kann. Dachte man doch, das sei ein Widerspruch in sich. Wenn man vom Teufel spricht …

Mein Telefon klingelt und ich kann es unmöglich schon wieder ignorieren. Mit zitterndem Finger berühre ich den grünen Hörer auf dem Touch-Screen und hauche dann ein zaghaftes „Hallo“ in das Gerät.

„Willst du vielleicht einen Rückzieher machen?“, blafft mein Bruder Roman los, ohne mich vorher zumindest zu begrüßen.

Ja, ja, ja, das siehst du ganz richtig.

„Natürlich nicht“, bringe ich hervor und räuspere mich anschließend mehrmals, weil sich meine Kehle plötzlich trotz der ganzen Cola so trocken anfühlt.

Abgesehen von den emotionalen Querelen, die so eine Schwangerschaft mit sich bringt, ist sie auch rein pragmatisch betrachtet nicht der ideale Ausgangspunkt, um etwas gegen meine Arbeitslosigkeit zu unternehmen. Da nützt es auch gar nichts, wenn Arbeitsrechtler einem immer wieder bestätigen, dass man im Vorstellungsgespräch lügen dürfe. Was nützt das, wenn die Kugel irgendwann sichtbar und der Arbeitsvertrag nur befristet ist, sodass der Arbeitgeber ihn dann einfach auslaufen lässt!

„Also gut“, sagt mein Bruder etwas freundlicher. „Ich vermute mal, dass du heute keine wichtigen Termine anstehen hast?“

„Ja, reib’s mir nur rein. Ich bin ein Sozialschmarotzer, der sich den ganzen Tag die Nägel lackiert“, sage ich nun meinerseits ein wenig ärgerlich. „Unvorstellbar, dass ich wichtige Termine haben könnte.“

„Entschuldigung“, sagt er versöhnlich. „Ich bin wohl ein bisschen durch den Wind. Das ist einfach alles so aufregend für uns. Deswegen habe ich schon einmal einen Termin in der Fruchtbarkeitsklinik für Martin und dich vereinbart.“

„Ach ja? Wann soll es denn so weit sein?“, frage ich gespielt munter.

Stille in der Leitung. Mir schwant Fürchterliches.

„In einer Stunde“, platzt es aus Roman heraus.

„Was?“, rufe ich entsetzt. Das ist ja wohl der Gipfel der Dreistigkeit. Was, wenn ich das Klingeln nicht gehört hätte oder aus anderen Gründen nicht spontan zur Verfügung stünde?

„Ich hätte ja nicht gedacht, dass man so kurzfristig einen Termin bekommt“, sage ich misstrauisch.

Wieder dringt kein Geräusch durch die Leitung.

„Roman?“

„Nun ja.“ Hüstel, hüstel. „Den Termin habe ich schon vor zwei Wochen vereinbart, direkt nach deiner Einwilligung. Und bevor du gleich Martin zur Schnecke machst: Er wollte auch, dass wir keinen Termin ohne dein Einverständnis festlegen. Aber …“

Zumindest hat er den Anstand, nicht weiterzureden. Im Grunde muss auch ihm bewusst sein, dass es zu Martins Ansicht kein gutes Aber gibt.

Nicht dass er falschliegen würde, falls er vermutet, ich hätte sonst eine Ausrede erfunden. Die Folgen meiner Einwilligung hätte ich gerne noch eine ganze Weile verdrängt. Zumal ich noch keine Idee habe, wie ich Romans Vorhaben Max erklären soll. Hey, Schätzchen, was da in meinem Bauch wächst, ist nicht etwa ein Geschwisterchen. Nein, es ist eine entzückende kleine Cousine oder ein Cousin. Nach der Geburt geben wir das Würmchen ab, aber du musst dir keine Sorgen machen, denn im Gegensatz zu dir hat es einen Vater, der sich liebevoll kümmern möchte. Ach nein, es sind ja sogar zwei.

Zugegebenermaßen habe ich auch Bedenken bei meinen eigenen Gefühlen dabei.

„Sobald mir Martin eine SMS schreibt und mir versichert, dass du bei ihm im Auto sitzt, überweise ich dir die erste Hälfte des Geldes. Er holt dich gleich ab.“

Dann kann ich zumindest das Unternehmen bezahlen, das demnächst Frau Holles Balkon erneuert. Dennoch wird mir ganz unwohl. Romans Worte klingen in meinen Ohren nach Kindeshandel und kriminellen Machenschaften. Vor deiner Tür steht gleich ein Wagen, die Kohle ist unterwegs? Bei dem Mann hakt es wohl. Andererseits habe ich schon öfter gehört, dass Menschen über einen unerfüllten Kinderwunsch so verzweifeln können, dass sie sich fragwürdig verhalten.

„Du hast doch einen Knall“, schimpfe ich hilflos und lege auf. Danach kann ich nur noch auf meinem Bett herumliegen und an die Decke starren.

Als es klingelt, fühle ich mich, als müsse ich den Gang zum Schafott antreten, weshalb ich kurz davor bin, Martin um eine letzte Zigarette anzuschnorren, obwohl ich eigentlich nicht mehr rauche. Doch als Nichtraucher hat er ohnehin keine Kippen dabei. Er lebt gesund, pflegt anders als mein Bruder aber keinerlei Ernährungsmacken und verweigert sich auch sonst jedem Schwulenklischee. Er hält Zarah Leander und Céline Dion für Folterinstrumente, wirft bei Kritik nicht schmollend mit rosa Wattebäuschen um sich, ist alles andere als promiskuitiv und wählt nicht grün.

Mit all diesen Unterlassungen und seinen Holzfällerhemden ist er beinahe eine Enttäuschung für meine Mutter, die zwar froh ist, sich nicht mit einer Schwiegertochter herumschlagen zu müssen, von Roman bis dahin aber eher überkandidelte Partner gewohnt war. Die waren genau ihr Ding. Doch in meinen Augen ist Martin ein extrem cooler Typ, der von seinen Recherchereisen – er ist Journalist – mit den herrlichsten Abenteuergeschichten wiederkehrt. Das macht ihn zu einem echten Traumonkel für Max – eine Rolle, die mein Bruder bis vor Kurzem auch noch sehr gut ausgefüllt hat. Und als Martin mir nach meinem Telefonat mit Roman gegenübersteht, gewinne ich ihn sogar noch lieber, weil er genauso peinlich berührt wirkt wie ich.

„Sollen wir?“, fragt er, ohne mich direkt anzusehen.

Ich nicke und folge ihm zu seinem Wagen.

Schweigsam sitzen wir im Auto nebeneinander – den Blick starr auf die Fahrbahn gerichtet. Angesichts der Tatsache, dass wir gleich die Vorbereitungen treffen, ein Kind miteinander zu zeugen, könnte unsere Befangenheit fast lustig werden – aber nur für Außenstehende.

Irgendwann platzt es aus ihm heraus. „Es war übrigens Romans Idee.“

„Du willst gar kein Kind?“, rufe ich überrascht und wittere einen Ausweg. Wenn sein Mann der Verweigerer ist, leiht mein Bruder mir das Geld ja vielleicht doch ohne weitere Bedingungen?

„Doch, ich stelle es mir wahnsinnig schön vor, ein Kind großzuziehen. Aber das Kind soll – wie sagt man so schön – schließlich ein Kind der Liebe und nicht das Ergebnis einer perfiden Erpressung sein.“

Sein wehmütiges Lächeln rührt mich. Ich sehe, dass er mir einen schnellen Ausweg anbietet, und bringe es bei seinem Anblick doch nicht übers Herz, ihn auch zu ergreifen. Vielleicht können wir es den Kindern ja so erklären, dass es am Ende Liebe und Zuneigung waren, die bei unserem Unterfangen den Ausschlag gegeben haben. So wie es bei einer Familiengründung ja auch sein sollte. Vielleicht wird am Ende ja alles gut. Das Kind von Martin und Roman wird niemals behaupten können, dass es kein Wunschkind war.

„Wir ziehen das durch“, sage ich fest und in dieser Sekunde fühle ich mich so stark und großzügig, dass ich die unterschwellige Panik für einen Moment ausblenden kann.

Martin strahlt über das ganze Gesicht und für eine Sekunde lege ich meine Hand auf seine, ganz so, als wären wir ein echtes Paar, das nun einen der größten Momente seines Lebens antritt. Wir lächeln einander mit der alten Vertrautheit an – mein Bruder und er waren schon zusammen, als ich noch ein Teenager war -, dann ziehe ich meine Hand wieder zurück.

„Ich habe übrigens in der Zeitung einen Bericht über eine Frau gelesen, die für ihren schwulen Bruder ein Kind austrägt“, berichtet Martin aufgekratzt. „Ich glaube, das hat Roman erst auf die Idee gebracht. Allerdings hat die Schwester des Mannes das Kind wirklich nur ausgetragen – die Eizelle stammte von einer Spenderin. Leider ist das in Deutschland verboten.“

Kurz überlege ich, ob dieser kompliziertere Weg die Sache vereinfachen würde. Das Kind wäre dann genetisch nicht mit mir verwandt. Fakt. Ich würde es nur über die Nabelschnur mit ein paar Nährstoffen versorgen. Aber würde es sich wirklich weniger verwirrend anfühlen? Ich glaube eigentlich nicht. Außerdem klingt „befruchtete Eizelle einpflanzen“ nach einem größeren operativen Eingriff.

Davor hätte ich zu viel Bammel, dann lieber ein paar Spritzen mit einer Auswahl von Martins besten Spermien – und ansonsten der Biologie ihren Lauf lassen.

„Es ist schon in Ordnung so, Martin, ist es wirklich“, versichere ich ihm.

Doch im Beratungszimmer verfliegt mein neu gefasster Mut. Wir befinden uns in einem Fertility-Center. Der Begriff erinnert mich an Facility-Manager. Was ja auch ungefähr hinkommt, wenn man darunter einen Objektbetreuer versteht und meine Gebärmutter als das Objekt ansieht. Als der Arzt zu uns kommt, vermute ich für einen Moment, wir hätten uns aus Versehen in eine Schönheitsklinik verirrt. Der Herr Doktor sieht nämlich aus wie ein passabel gelifteter Hugh Jackman, was Martin und mich so sehr aus der Fassung bringt, dass wir nach einigem Gestammel schnell zugeben, dass wir zwar miteinander ein Kind bekommen wollen, aber eigentlich kein Paar sind, sodass wir es eher nicht auf dem natürlichen Wege empfangen mögen. Roman hatte uns eigentlich geraten, uns als Paar auszugeben, das keine Kinder bekommen kann, weil er Probleme gewittert hat.

Doch Dr. Wagner zuckt nicht mit der Wimper, sondern nur einmal kurz mit den Achseln. „Sie müssen sich nicht rechtfertigen. Mich interessiert das Wohl meiner Patienten und ich sehe davon ab, Familienmodelle zu bewerten.“

So übel scheint er also gar nicht zu sein. Nüchtern fasst er zusammen, was wir seiner Meinung nach wissen müssen. Bei all den medizinischen Fakten driften meine Gedanken schon nach kurzer Zeit ab. Hinter dem Rücken unseres Arztes hängt ein riesiges Bild, das einen Wirbel in verschiedenen Blautönen mit einem gelben Fleck in der Mitte zeigt, vielleicht das Licht am Ende des Tunnels. Möglicherweise handelt es sich um die Darstellung eines Nahtoderlebnisses – oder um den Geburtskanal? Beides hängt ja irgendwie zusammen. Gleich am Anfang gibt es einen Vorgeschmack auf das Ende. Oder ist es gar das Auge des Orkans? Die Redewendung wird von den meisten ja vollkommen falsch gebraucht. Sie meinen dann, sie steckten inmitten der Turbulenzen und wären besonders stark von ihnen betroffen, doch in Wahrheit ist es das nahezu windstille, wolkenfreie Zentrum des Wirbelsturms. Es muss sich anfühlen wie …

„Was?“ Martins lauter Ausruf holt mich zurück ins Beratungszimmer.

Es sieht geschockt aus. Kein gutes Zeichen.

„Entschuldigen Sie, ich war gerade ganz kurz woanders“, ermutige ich den Arzt tapfer, mir die schmutzigen Details nicht vorzuenthalten.

„Nicht dass mir das entgangen wäre“, sagt er trocken. So ausgeprägt kann Ihr Kinderwunsch ja nicht sein, ergänzt sein Blick. Den echten, möglicherweise sogar ungelifteten Hugh Jackman habe ich nie so unterkühlt gesehen.

„Die ganze Prozedur ist extrem teuer – und die Krankenkasse zahlt nicht, weil wir nicht verheiratet sind.“

Zum Glück kann er mir nun nicht auch noch eine Scheinehe vorschlagen, denn Bigamie ist immer noch verboten. Gut, dass homosexuelle Paare endlich heiraten dürfen.

„Was kostet es denn?“, frage ich nur wenig interessiert, weil mein Bruder es sich ohnehin leisten kann, den Betrag zu zahlen.

„3000 Euro pro Versuch“, sagt Martin.

„Das ist nicht gerade wenig“, sage ich gelassen. Sowohl Martin als auch ich wissen, dass solche Beträge für meinen Bruder Peanuts sind. Es übersteigt eben nur das Netto-Monatsgehalt von normalen Menschen wie Martin und mir.

„Ich denke, das ist die Sache wert“, sage ich beschwichtigend zu Martin, der es nicht ausstehen kann, mit Romans Geld umherzuwerfen.

„Das hoffe ich doch“, sagt der Arzt lachend. „Sonst können Sie sich ohnehin kein Kind leisten. Was da noch an Kosten auf Sie zukommen wird! Ich kann Ihnen sagen …“

Er unterbricht sich und schweigt für einen Moment. Vielleicht ist ihm aufgefallen, dass er gerade aus seiner Rolle gefallen ist. Schnell widmet er sich wieder den Fakten: „Pro Zyklus liegen die Chancen, dass es klappt, zwischen 15 und 25 Prozent. Sie haben genau das richtige Alter, sind nicht zu jung, nicht zu alt. Vermutlich gehören Sie zu den glücklichen 60 Prozent, bei denen es schon innerhalb der ersten drei Behandlungszyklen funktioniert.“ Ausführlich erklärt er uns daraufhin die eher ernüchternde Prozedur der intrauterinen Insemination. Mir war nicht klar, dass ich mich erst mal mit Hormonen bombardieren lassen muss. Doch schließlich sollen erst die Follikel reifen und dann der Eisprung manipuliert werden, so verstehe ich es zumindest. Die Sache mit den Hormonen gefällt mir nicht, andererseits habe ich jahrelang die Pille genommen, um genau die Prozesse zu verhindern, die ich jetzt anregen soll. Viel schlimmer kann es dann wohl nicht werden.

„Am Ende war er doch ein ganz schönes Ekelpaket“, sagt Martin entnervt, als wir wieder im Auto sitzen. „Bei dem lasse ich dich nur ungern auf den Behandlungsstuhl.“

Danke, Martin! Bislang hatte ich alle Gedanken an den konkreten Vorgang verdrängt. Von Dr. Wagner möchte man nicht wirklich befruchtet werden, andererseits ist es wohl egal, wer diesen Job übernimmt, und die Vorstellung, noch mehr dieser Kliniken abklappern zu müssen, finde ich auch nicht sehr verlockend.

„Das ist nicht wichtig“, sage ich müde. „Schließlich wird nicht er der Vater des Kindes, sondern du. Hauptsache ist doch, dass es klappt.“

„Du bist echt tapfer“, sagt Martin bewundernd. „Ich wusste immer, dass ihr das stärkere Geschlecht seid. Wie gut, dass du die Mutter meines Kindes wirst. Ich glaube, mir hätten seine Ausführungen echt Angst gemacht.“

Erschrocken sehe ich ihn an. Vermutlich hätte ich meinen Verdrängungsmodus doch zwischenzeitlich aufheben und genauer hinhören sollen.

„Soll ich dich nach Hause fahren oder willst du noch mit zu mir und Roman kommen?“, fragt Martin. „Dann können wir ihm die frohe Botschaft gemeinsam überbringen, dass du in den Augen des Arztes die ideale Kandidatin bist und es bald losgehen kann.“

„Noch ist aber ja nicht viel passiert“, sage ich mit gezwungenem Lächeln. „Im Ernst, mir wäre es lieber, du würdest mich zu Max’ Kindergarten fahren“, sage ich ehrlich. „Er freut sich, wenn ich ihn früher abhole als sonst.“

Von wegen. Er will sicher lieber noch mit seinen Freunden spielen. Ich bin diejenige, die ihn jetzt ganz fest umarmen und seinen warmen, duftenden Nacken küssen muss, ob es ihm passt oder nicht. Dabei sollte ich als seine Mutter ja natürlich der Fels in der Brandung sein. Doch gedanklich verspreche ich ihm und mir, dass ich alles wieder in den Griff bekomme, bevor ihm überhaupt auffällt, dass es in unserem Leben ein paar winzig kleine Probleme gibt.

Als ich mit Max an der Hand unseren Hausflur betrete, um einen schönen, achtsamen Mutter-Sohn-Nachmittag zu zelebrieren, erwartet uns dort bereits Zoe.

„Da bist du ja endlich.“ Sie sieht sauer aus. „Ich habe tausendmal geklingelt und niemand hat aufgemacht.“

„Vielleicht weil keiner da war? Soweit ich weiß, waren wir nicht verabredet.“ Ich kann nichts dafür, dass meine Stimme immer sofort ein wenig gereizt klingt, sobald ich mit meiner Schwester rede. Ich mag es eben nicht sonderlich, wenn Menschen mich anblaffen, bevor sie auch nur die Andeutung eines Grußes über die Lippen gebracht haben, und meine Schwester ist eine Meisterin in dieser Unart.

„Ich dachte, du öffnest die Tür einfach nicht“, sagt sie. „Ich habe nämlich Geräusche gehört.“

„Geräusche?“, entgegne ich zuckersüß. „Möglicherweise auch noch Stimmen aus einer anderen Welt?“

„Nun sei doch nicht blöd. Schließ lieber mal schnell die Tür auf. Wieso wird bei euch im Flur eigentlich nicht geheizt?“

Als ich sehe, wie sie bibbert, überkommt mich schließlich doch Mitleid mit meiner kleinen Schwester, die noch nie ein Haus ohne Fußbodenheizung bewohnt hat.

„Das wäre wohl etwas verschwenderisch. Der Flur ist schließlich nicht zum Überwintern gedacht“, sage ich etwas milder und schließe schnell die Tür auf. „Wie lange stehst du denn schon hier?“

„Bloß so ungefähr zwei Stunden.“ Ihrer Stimme nach zu urteilen, ist sie immer noch mucksch. Unsanft drängelt sie sich an mir vorbei in den warmen Wohnungsflur und ignoriert Max dabei unhöflicherweise völlig, doch ihn selbst scheint es nicht zu stören, er ist es von ihr gewohnt.

„Wo warst du denn? Ich dachte, du hast keinen Job mehr.“

Offenbar veranlasst dieser Umstand all meine Familienmitglieder zu glauben, ich müsste nun jederzeit für sie zur Verfügung stehen. Nervös schaue ich Max hinterher. Doch er scheint nicht zugehört zu haben, sondern sitzt schon auf dem Fußboden, um sich die Winterstiefel vom Fuß zu zerren. Er weiß nicht, dass ich arbeitslos bin. Weil ich vorher sehr viel arbeiten musste, habe ich ihm ausführlich erklärt, wie wichtig es für uns beide ist, dass Mama Geld verdient. Ich fürchte, es könnte ihn beunruhigen, wenn ich es nun nicht mehr tue.

Wehmütig betrachte ich ihn, wie er sich fröhlich die Mütze vom Kopf reißt und „Hallo, Leon“ in die Küche brüllt. So viel zu unserem schönen Mutter-Sohn-Nachmittag.

„Leon?“, formt meine Schwester beinahe lautlos mit den Lippen. Mit komplizierten Zeigefingerbewegungen versuche ich, ihr zu vermitteln, dass sie alles erfahren wird, sobald wir uns in meinem Zimmer befinden.

Natürlich macht sie sich gar nicht erst die Mühe, meine hektischen Gesten zu entschlüsseln. Sie stapft geradewegs hinter Max her in die Küche und mir bleibt nichts anderes übrig, als hinter ihr herzuflitzen, um notfalls Schadensbegrenzung zu betreiben. Wobei ich mir gerade nicht sicher bin, wen ich eigentlich schützen will, wenn zwei Naturkatastrophen aufeinanderprallen.

„Du?“, ruft Zoe erbost in Richtung Küchentisch. „Ey, Lisa, was macht denn der Idiot hier bei euch?“

Na gut, damit hat sie die Nase im Unhöflichkeitsrennen vorne. Damit bin ich im Team Leon.

„Zoe“, zische ich. „Das ist wohl nicht die angemessene Art, den Sohn meines Mitbewohners zu begrüßen. Vergiss nicht, dass du hier Gast bist.“

Leon beäugt uns allerdings eher neugierig als betroffen. Ein bisschen habe ich das Gefühl, er hat nichts dagegen, beleidigt zu werden, wenn ich als Gegenleistung zum zappelnden Hampelmann werde. „Entschuldigung, Leon“, sage ich trotzdem. „Meine Schwester ist leider nicht ganz zurechnungsfähig.“

Er verzieht die Lippen zu einem spöttischen Lächeln, als wolle er sagen: Muss wohl in der Familie liegen.

Zoe schaut mich wütend an. „Lisa, der Typ hat heute Morgen auf dem Schulhof erst Herrn George angebellt, der übrigens megastreng ist, und dann auch noch Joey aus der Zwölften, der ja nur so ziemlich der beliebteste Schüler bei uns ist. Wie doof kann man denn sein?“ Sie schaut Leon finster an. „Ich glaube nicht, dass du dich noch mal dort blicken lassen solltest.“

Nun hat sie es doch geschafft, Leon aus der Fassung zu bringen. Angespannt beobachte ich sein wechselhaftes Mienenspiel und weiß, dass er nun die Kontrolle verlieren wird. Tatsächlich springt er auf, geht rasch in die Hocke, erhebt sich wieder und bellt ein paar Mal laut. Und egal wie schwer er es mir macht: Spätestens Zoes Zusammenfassung seines zweiten Schultages macht allzu deutlich, dass er es auch nicht leicht hat. Mich für meine Schwester zu schämen, ist kein neues Gefühl für mich – aber das hier geht echt zu weit. Falls sie jetzt auch nur einen Mundwinkel verzieht, werde ich sie erwürgen. Doch Leons Anblick ist so wenig zum Lachen, dass sogar Zoe nicht schadenfroh kichert.

Bevor ich etwas sagen kann, kommt Max mir zuvor.

„Leon ist kein Spinner“, ruft er empört. „Mama, sag ihr das.“ Sein Verhältnis zu seiner Tante ist nicht gerade innig. Kein Wunder, wo sie ihn doch meistens ignoriert oder noch deutlicher signalisiert, dass sie Kinder lästig findet.

„Zoe? Du gehst in mein Zimmer“, sage ich scharf. Als ich den Widerspruch in ihren Augen glimmen sehe, rede ich schnell weiter. „Oder du verlässt auf der Stelle die Wohnung.“

Sie wäre nicht Zoe, wenn sie nicht dennoch den Mund öffnen würde, doch sie schließt ihn gleich wieder und geht tatsächlich aus der Küche.

„Leon, ich entschuldige mich für meine Schwester.“

„Lasst mich einfach in Ruhe, ja?“ Er bellt kurz und hechelt zweimal. „Ich brauche echt keine Babys und verpeilte Mütter, um mich zu verteidigen.“

Jetzt sieht Max ganz erschrocken drein. Noch versteht er nicht, dass man manchmal die Falschen angreift, um sich selbst zu schützen.

„In Ordnung“, sage ich ruhig, während ich meinem Sohn sanft über das Haar streichele. „Max, kommst du bitte mit? Ich glaube, Leon will ein bisschen für sich sein.“

„Ooch“, macht Max und sieht den großen Jungen traurig an.

„Er kann bleiben“, sagt Leon, ohne den Blick zu heben. Ich lächele ihm dennoch ermutigend zu, auch wenn er es möglicherweise gar nicht sieht.

„Ja! Liest du mir was vor?“, fragt Max, für den es nicht mehr braucht als diese Erlaubnis, um die gute Stimmung wiederherzustellen.

Leon hechelt einmal kurz. „Vielleicht lieber nicht“, sagt er dann lässig. „Aber ich kann dir in meinem Zimmer ein tolles Computerspiel zeigen.“

„Au ja“, ruft Max.

„Ich weiß nicht, ob …“, fange ich an.

„Schon klar, nix mit Ballern, ich bin doch nicht blöd“, sagt Leon. „Wollen wir noch mal Boxen spielen?“

„Cool“, ruft Max nun restlos verzückt.

„Na gut“, seufze ich matt, streichele meinem Sohn noch mal übers Haupt und verzichte darauf, auch noch Leons Haar zu verstrubbeln, auch wenn mir gerade zum ersten Mal der Sinn danach steht.

Ich denke, Boxen kann man als Sport sehen, auch wenn er auf der Wii praktiziert wird. Und im Winter bekommen die Kleinen ja sonst eher wenig Bewegung.

„Danke, dass du dich um Max kümmerst“, schiebe ich meiner etwas lustlosen Einwilligung schnell noch hinterher.

„Dann kann ich schnell noch das Kind dadrinnen übers Knie legen.“ Ich deute mit genervtem Blick und dem Daumen über der Schulter in die Richtung meines Zimmers.

Er rollt mit den Augen, aber ich bin mir sicher, dass seine Mundwinkel vorher eine winzige Aufwärtsbewegung gemacht haben.

„Gib mir fünf“, höre ich Leon sagen, als ich schon im Flur stehe. Es folgt ein lautes Klatschen. Das muss Mäxchens begeisterte Einwilligung sein. Yeah, Kumpel – wird schon schiefgehen, sage ich mir.

Und nun zur nächsten Baustelle – wer hätte gedacht, dass mein Leben ohne Job so stressig wird! Zoe erwartet mich im Schneidersitz auf meinem Bett. Ganz so, als wäre dies ihr Zuhause. An ihren Socken und Hosenbeinen klebt dreckiger Schneematsch.

„Gib dir keine Mühe, du kannst mich nicht bei Mama und Papa abladen, die sind für ein paar Tage im Urlaub und ich habe mich ausgeschlossen“, erklärt sie, ohne dass ich etwas gefragt hätte.

„Das ist doch nur wieder einer deiner Tricks, Zoe“, erwidere ich müde. „Warum willst du eigentlich unbedingt einziehen? Ich kapiere das einfach nicht.“

Tue ich wirklich nicht. Zu Hause ist Zoe die Herrin gleich zweier Zimmer, das ist mehr, als mir für mich alleine zur Verfügung steht, obwohl ich mit meinen neunundzwanzig Jahren fast doppelt so alt bin wie sie. Welche Sechzehnjährige will denn bitte schön ins Zimmer ihrer älteren Schwester ziehen? Nie hat Zoe einen Hehl daraus gemacht, dass ich in ihren Augen nur eine bescheuerte Erwachsene mehr in ihrem harten Dasein bin. Trotzdem ist dies nun das zweite Mal innerhalb von vier Wochen, dass sie versucht, bei mir einen Fuß in die Wohnung zu bekommen.

„Ich habe meine Gründe“, sagt sie geheimnisvoll. Erhaben sitzt sie da – wie eine Katze, denke ich. Fehlt nicht mehr viel, dass sie sich gelangweilt die Pfoten leckt.

„Ich habe einen kleinen Sohn, um den ich mich kümmern muss. Ich meine, nichts lieber als das, aber derzeit steht mir der Sinn nicht nach noch einem Kind. Also: Sind Mama und Papa wirklich nicht da?“

Sie schüttelt den Kopf. Auch wie sie sich so auf dem Bett zusammenrollt, erinnert mich an eine Katze. Eine räudige, zufriedene Katze, ergänze ich mit Blick auf den Schmutz, den sie auf meinem Überwurf verteilt.

„Wann kommen sie wieder?“, frage ich bang.

„Am Montag“, entgegnet sie lächelnd. Sie weiß, sie hat gewonnen. So knallhart ich sein kann, meine kleine Schwester muss ich doch aufnehmen.

Doch wir haben gerade einmal Mittwoch, wie soll ich das nur durchstehen?

„Aber am Montagmorgen verschwindest du ohne eine weitere Aufforderung“, sage ich, um einen letzten Rest Autorität bemüht.

„Sicher doch“, antwortet sie. Dann haut sie sich mit der Hand vor die Stirn. „Ach Mist, ich habe auch gar kein Geld dabei. Leihst du mir deine Kreditkarte?“

Fassungslos starre ich sie an.

„Bitte“, schiebt sie höflich hinterher.

Mein Blick wandert ängstlich zu der Schublade, in der ich die Karte aufhebe. Wie immer entgeht Zoe nichts. Schon springt sie auf und nähert sich meinem kleinen Rollcontainer.

„Finger weg, sonst Finger ab“, sage ich schnell, als Zoe die Hand am Griff hat. „Du lässt meine Kreditkarte schön da, wo sie ist.“

Derzeit wird sie nicht einmal von mir genutzt. Schließlich muss ich den Überblick über meine angespannten Finanzen wahren.

„Dann frage ich halt Roman“, sagt sie.

„Tu das“, antworte ich knapp.

Ein merkwürdiges Gefühl übermannt mich.

„Ich muss mal kurz weg“, sage ich.

„Darf ich deinen Rechner benutzen?“, fragt Zoe, bevor ich den Raum verlasse. Ich nicke geistesabwesend, gedanklich bin ich schon auf der Flucht.

Im Badezimmer, auf dem runtergeklappten Klo-Deckel sitzend, wird mir klar, dass dies für einige Tage mein einziger Rückzugsraum sein wird. Ich kann nicht mehr verhindern, dass die Tränen kullern, die schon in meinem Zimmer, das bis dahin mein kleines Refugium war, fließen wollten.

Es ist so unfair. Egal wie kompliziert die Lage sein mag, mein Bett ist meine Burg. Niemand darf sich darauf wälzen, den ich nicht freiwillig dorthin einlade. Und gerade in unserer völlig überfüllten Wohnung brauche ich besonders dringend zwei gemütliche Quadratmeter, die nach beruhigendem Lavendelspray duften. Nun sind wir also sechs Leute in einer Fünfzimmerwohnung, wobei eines der Gemeinschaftsraum ist. Paul teilt deshalb sein Zimmer derzeit mit der bezaubernden Sophie, weil deren Refugium wiederum von Leon besetzt ist. Und ich teile nun also meines mit der weniger bezaubernden Zoe. Ich schnappe ein paar Mal nach der miefigen Luft, bis ich mich so weit gesammelt habe, dass ich vor Zoe keine Blöße zeigen muss.

Entschlossen, mir nichts von ihr bieten zu lassen, drücke ich den Griff zu meiner Tür hinunter. Meine Schwester zuckt zusammen, als ich den Raum betrete. Schnell klickt sie ein paar Fenster weg – als ob es mich interessieren würde, auf welchen Seiten für unverstandene Teenager sie sich bewegt.

„Also gut, Zoe“, sage ich fest. „Hier sind meine Regeln. Erstens: Du frisst nicht den Kühlschrank leer, ohne zu fragen. Manches darin gehört nämlich Paul. Und auch wenn wir zusammenwohnen, gehört er nicht zu deiner Familie, mit der du machen kannst, was du willst. Zweitens: Ich werde dich nicht spätabends rumkutschieren, damit du dich mit deinen Freunden treffen kannst. Drittens: Wenn du etwas kaufen willst, nutzt du dein üppiges Taschengeld. Falls das aufgebraucht ist, musst du eben bis Montag darben oder essen, was hier auf den Tisch kommt.“

Sie schaut mich an. „Aber ich vertrage …“

Ich ahne, was nun kommt. „Veräppel mich nicht. Du hast keine Laktose-Intoleranz, die nur deine liebste, teuerste Käsesorte zulässt, du hast auch keine Gluten-Unverträglichkeit, die wie durch ein Wunder ausschließlich bei Brioche nicht auftritt, und auch keine Fruktose-Intoleranz, die erstaunlicherweise vor überteuerten Flugmangos haltmacht.“

Ich kenne meine kleine Schwester zu gut. Sie liebt es, sich kapriziös zu geben. Diese ganze Gothic-Gewandung, das lange, schwarz gefärbte Haar und die blutroten Lippen trägt sie nur, weil sie das alles wie Schneewittchen aussehen lässt. In Wahrheit verweigert sie die Annehmlichkeiten des schnöden Diesseits nämlich kein Stück.

„Und das Wichtigste habe ich vergessen zu erwähnen. Du gehst zu Leon und entschuldigst dich und du reißt dich ihm gegenüber während deines Aufenthalts zusammen, einverstanden?“

„Aber der Typ ist so peinlich. Und ich habe nichts Falsches gesagt. Er bellt und hechelt doch wirklich“, murrt sie.

„Mensch, Zoe, der Junge hat einen Tick, den er nicht steuern kann. Als ob bei euch Teenagern der Körper nicht ohnehin schon verrückt genug spielen würde. Stell dir vor, du müsstest nicht nur mit dem ganzen Hormonmist klarkommen, sondern auch noch seltsame Laute von dir geben.“

Für einen Moment sieht sie tatsächlich nachdenklich aus.

„In Ordnung, Lisa.“ Sie seufzt. „Ich entschuldige mich bei ihm und werde hier in der Wohnung friedlich mit ihm koexistieren. Du erwartest aber nicht, dass ich mich ins soziale Abseits schieße, indem ich auf dem Schulhof mit ihm demonstrativ Händchen halte?“

Hat sie gerade in einem Online-Fremdwörterbuch geblättert?

„Nein, Zoe.“ Ich überbetone ihren Namen so, wie sie es mit meinem getan hat. Eine nervige Angewohnheit, die andeutet, man halte den anderen für zu beschränkt, um den eigenen Namen zu kennen. „Es reicht mir vollkommen, wenn du ihm jetzt deine Hand hinhältst, dich mit deinem Namen vorstellst und anständig entschuldigst.“

Sie schaut mich fragend an, als hätte sie noch nie etwas von dieser Art des zwischenmenschlichen Umgangs gehört.

Also formuliere ich es auf die einzige Weise, die sie versteht, und ärgere mich gleichzeitig über meine Inkonsequenz: „Hinterher bestelle ich uns einen fetten Burger samt Pommes.“

Endlich macht sie Anstalten, mein Bett zu verlassen. Weil man ihr keinen Meter weit trauen darf, folge ich ihr. Max und Leon spielen nicht wie erwartet Wii in Leons Zimmer, sondern sind offensichtlich in der Küche geblieben.

Als ich Leon fragend anblicke, schaut er nur kurz von seinem Buch hoch. „Max wollte dann doch lieber kochen – und ich dachte, ich lasse ihn besser nicht alleine.“

Sofort vertieft er sich wieder in einen düsteren Roman namens „Fahr zur Hölle, Mister B.“. Das Cover schmückt eine blutverschmierte Hand.

Nervös schaue ich mich nach Mäxchen um. Doch mein Sohn sitzt tatsächlich friedlich unter dem Tisch und backt einen Kuchen mit den Utensilien aus dem vollständig leer geräumten Küchenschrank.

Zu erleichtert, um wütend zu werden, wandern meine Augen wieder zu der bizarren Szenerie oberhalb des Tisches. Denn dort hat meine Schwester gerade angefangen, das volle Programm, samt Lispeln und Haarsträhnendrehen. Würde ich sie nicht kennen, würde ich sie glatt mit einem liebenswerten, schüchternen Mädchen verwechseln.

„Ich wette, wir werden uns blendend verstehen“, sagt sie und nickt in Richtung Cover. „Ich liebe Clive Barker. Und tut mir leid, Leon, wegen eben.“ Plinker, plinker. Sie ergreift seine Hand. „Es gab wohl ein kleines, dummes Missverständnis zwischen uns. Ich bin Zoe, Lisas kleine Schwester.“

Sie entzieht ihm die Hand wieder, bevor er auch nur weiß, wie ihm geschieht, und deutet auf das Buch in seiner Hand. Gerade beugt sich meine Schwester auf eine Art vor, die einen geradezu nötigt, ihr in den tiefen Ausschnitt zu starren, den eine ideale Kombination aus Push-up-BH und schwarzer Spitzenumrandung eindringlich zur Geltung bringt.

Leons Gesicht nimmt die Farbe des Blutes auf dem Buchcover an. Zoe richtet sich mit einem selbstzufriedenen Blick wieder auf. „Ach, Lisa, und wenn du gleich Burger bestellst, bestell mir doch noch eine große Packung Ben & Jerry’s, und zwar die Sorte Chunky Monkey, falls möglich.“

Bisher war es nur eine gelegentliche Wunschvorstellung, sie zu erwürgen, doch nun kann ich nicht mehr dafür garantieren, dass ich irgendwann aus einem Blackout erwache und erschrocken feststelle, dass meine Hände tatsächlich ihren Hals umklammern.

„Leon, hast du auch Hunger?“, frage ich schnell, bevor der Junge zu lange nachdenken und dahinterkommen kann, dass es eine Absprache zwischen Zoe und mir gegeben hat. Denn es spricht alles dafür, dass er zwar missmutig, aber keinesfalls doof ist.

Zum Glück scheint er noch zu verwirrt von Zoes peinlichem Auftritt zu sein, um dazu Hintergedanken zu spinnen. Er räuspert sich und bellt einmal ganz kurz, bevor er antwortet.

„Nein. Ja. Ich meine … ich nehme das Gleiche.“

Bald darauf gesellen sich Paul und Sophie zu uns und wir spielen ein Weilchen miteinander im Wohnzimmer Räuber Hotzenplotz. Paul und mir werden natürlich die weniger coolen Rollen zugewiesen, sodass ich wie so oft als Seppel Kartoffeln schäle und Paul als Großmutter die verlorene Kaffeemühle beweint. Seltsamerweise wollen unsere Kinder immer in die Rollen der Bad Guys schlüpfen – Sophie ist der finstere Zauberer Petrosilius Zwackelmann und Max ist der fieseste Räuber Hotzenplotz, den jemals eine Wohnzimmerbühne gesehen hat. Das Ende haben Mäxchen und Sophie deshalb auch ein wenig umgedichtet, sodass nicht etwa Zwackelmann ein böses Ende in einem Tümpel findet, sondern Seppel und die Großmutter im Unkenpfuhl untergehen. Diese ohnehin schon recht brutale Angelegenheit wird von viel Brüllen und Zappeln begleitet und verlangt mehrere Wiederholungen, sodass die Kinder am Ende so müde sind, dass sie ganz ohne zu meckern ins Bett gehen.

Nachdem Mäxchen versorgt ist, liege ich unbehelligt auf dem Sofa im Wohnzimmer herum. Zoe schaut am Rechner in meinem Zimmer Tiervideos und Schmink-Tutorials. Und Paul führt mit seinem älteren Kind in der Küche eine Art Männergespräch. Herrlich.

Zufrieden schaue ich die erste Folge von „Berlin Station“. Garantiert ist Richard Armitage im echten Leben schwul, auf meinem Bildschirm aber so heiß, dass die Handlung für mich ein wenig in den Hintergrund gerät. Gerade als ich anfange mir einzubilden, dass Jonas ihm ein wenig ähnlich sieht, und Kopfkino und Filmgeschehen eine aufregende Symbiose eingehen, ertönt das Piepsen, das eine SMS ankündigt.

Widerwillig schaue ich auf mein Handy. Es ist Jonas. Zum Glück glaube ich nicht an Gedankenübertragung, sonst müsste ich nun erröten angesichts all der Dinge, die ich dann möglicherweise übermittelt hätte.

„Du willst mich sicher wiedersehen. Aber wann?“

Das ist so dreist, dass ich lachen muss. Er verwendet keinerlei Emojis, nicht einmal den obligatorischen Zwinkersmiley, was ich wohlwollend zur Kenntnis nehme. In meinen Augen zeigt es Selbstvertrauen, auf Erklärungen zu verzichten und sich nicht hinter Relativierungen zu verstecken.

Na gut, ich werde noch mindestens eine weitere Folge schauen und ihm dann eine Antwort senden. Und falls Paul bereit ist, noch einmal den Babysitter zu spielen, sage ich Jonas, wann ich ihn wiedersehen möchte. Und dann werde ich ihm erzählen, dass ich einen Sohn habe. Oder ich verkneife es mir und sehe ihn danach einfach nie wieder, weil unsere Geschichte ohnehin keine Zukunft hat. Klar, ein Happy End ist auf dem Papier umso schöner, wenn sich dem Paar unterwegs ein paar Hürden in den Weg gestellt haben – ob nun in Form feindlicher Aliens oder eifersüchtiger Schwiegermütter. Aber nie sieht man die Szene, in der die Frau mitteilt, dass sie nur noch mal ganz schnell das Kind eines anderen austragen muss.

Außerdem beschleicht mich der Verdacht, dass ich die

Idee einer romantischen Beziehung verlockender finde als das verworrene Spiel aus Anbahnung und der späteren Anpassung der jeweiligen Bedürfnisse an den kleinsten gemeinsamen Nenner. Meine kuschelige Fleece-Decke und meine Tagträume wärmen mich doch eigentlich ganz gut, ohne dass ich Risiken eingehen müsste, die mittlerweile ja nicht mehr nur mich, sondern auch noch einen kleinen Jungen betreffen.

„Und, wie ist es?“, sagt eine vertraute Stimme.

Ich schrecke hoch, weil ich nicht gehört habe, wie Paul das Zimmer betritt.

„Ganz in Ordnung so weit“, sage ich. „Was macht Leon?“

„Der wollte noch ein wenig in Ruhe lesen.“

Er lässt sich auf den Freischwinger-Sessel neben mir fallen und legt die Beine auf den dazugehörigen Hocker.

„Stört es dich, wenn ich mich dazusetze? Ich könnte sonst bloß im Dunklen in meinem Zimmer liegen, weil Sophie schon schläft.“

„Willkommen im Klub“, sage ich trocken. Wobei Zoe ganz sicher noch nicht schläft.

„Oder wolltest du gerade einmal deine Ruhe haben? Ich könnte es dir wirklich nicht verdenken“, sagt Paul.

Wenn ich erzähle, wie toll unser Zusammenleben läuft, vergesse ich möglicherweise den Eiertanz der gegenseitigen Rücksichtnahme, den wir gelegentlich vollführen. Wie sollte ich ihm einen Platz in der gemeinsamen, gemütlichen Stube verwehren?

„Ach Quatsch“, sage ich eilig. „Es scheint nur so, als wäre das Wohnzimmer derzeit unser einziger Zufluchtsort“, sage ich achselzuckend. „Entschuldigung“, schiebe ich schnell hinterher. „Damit meinte ich natürlich nur mich und meine Schwester. Ich denke keinesfalls, dass du vor Sophie und Leon fliehen möchtest. Dafür gibt es ja auch gar keinen Grund …“

„Schon in Ordnung“, unterbricht er mich lachend. „Es ist doch nicht verwerflich, sich ab und zu auch von den Menschen zurückziehen zu wollen, die man am meisten liebt.“

„Na gut, gewähren wir uns also gegenseitig Obhut vor den Menschen, die wir am meisten lieben. Prost“, sage ich und halte ihm meinen Becher mit Zimt-Tee entgegen.

Nachdenklich schaut er mich an, doch dann verzieht er angewidert das Gesicht, als ihm der süßliche Dampf in die Nasenlöcher kriecht.

„Prost“, sagt er. „Aber ich würde mir doch lieber ein Bier holen.“

„Mir persönlich ist das vollkommen egal, aber ich weiß nicht, was das Jugendamt dazu sagt.“

Er lacht, bevor er für einen Moment verschwindet.

„Tut mir echt leid, dass meine Schwester hier nun auch noch rumhängt“, sage ich, als er mit einer Flasche Astra zurückkehrt. „Aber am Montag werfe ich sie raus, versprochen.“

„Das musst du nicht“, entgegnet Paul schnell.

Ich sage einfach mal nichts dazu, sondern schaue ihn nur bedeutsam an.

„Na gut“, gibt er lachend zu. „Sie ist eine echte Nervensäge. Als ich sie gerade im Flur getroffen habe, wollte sie von mir wissen, wie erwachsene Männer zu halterlosen Strümpfen stünden … Wusstest du übrigens, dass gleichaltrige Klassenkameraden im echten Leben einen Heidenschiss vor ihnen haben? Wenn sie so was außerhalb von Zeitschriften oder Bildschirmen sehen, sind sie total überfordert.“

Entsetzt schaue ich ihn an. „O Gott, woher kennt sie das überhaupt und wieso fragt sie dich das? Sie ist sechzehn.“

Steht sie etwa auf ältere Männer? Und auf welchem Weg hat sie erfahren, dass Jungs in ihrem Alter mit sexy Wäsche eher nur theoretisch klarkommen?

Er lacht schon wieder. „Falls es dich beruhigt: Ich habe ihr mitgeteilt, dass ich für meinen Teil auch einen Heidenschiss davor hätte.“

„Hast du wirklich?“, frage ich und wackle anzüglich mit den Brauen.

„Willst du es vielleicht testen?“, fragt er mit verrucht dunkler Stimme.

Ich muss lachen. „Wollen wir einfach noch eine Folge ‚Big Bang Theory‘ schauen?“, frage ich ihn dann gut gelaunt. Mein sexy Moment mit Richard und Jonas ist nun ohnehin gelaufen.

„Gerne.“ Er seufzt erleichtert. „Was meinst du, soll ich uns eine Portion Popcorn machen? Dann kann ich Leon auch gleich eine anbieten.“

„Au ja. Mit Salz, Rosmarin und Tabasco für mich.“

„Uärgs“, ächzt Paul. „Kommt sofort.“

Vor Kurzem hat er eine Popcornmaschine gekauft, weil die Kinder einfach verrückt nach dem Zeug sind. So können wir zumindest die Zuckermenge ein wenig regulieren – sie würden die gepufften Teile auch ganz ohne Gewürze verschlingen. Aber Paul und ich machen uns einen Spaß daraus, sämtliche Kombinationen zu testen, die das Gewürzregal hergibt.

Kurz darauf kommt er mit zwei Schüsseln wieder. „Zucker und Butter für Leon, perverse Mischung für dich und für mich die Sorte Butterbier.“

„Oha?“

„Butter, ganz viel Zucker und ein gehöriger Schuss Bier.“

Ich verziehe mein Gesicht. „Aber deinen Zauberstab lässt du stecken, Herr Potter, dass das nur klar ist.“

Wieder lacht er schallend. Ich nutze seine gute Stimmung, um ihn als Babysitter einzuspannen. Eigentlich bin ich mir sicher, dass er es mir nicht abschlägt. Es gab eine Zeit, in der ich mehrmals die Woche die schlafende Sophie gehütet habe, weil er jemanden kennengelernt hatte.

„Aber klar mache ich das“, sagt er nach kurzem Zögern. „Was macht er denn so, dein Mr Nur-so-ein-Bekannter?“

„Schauspieler“, murmele ich.

„Oh“, sagt Paul. Sein besorgtes Stirnrunzeln verrät, dass ihm nun ungefähr eine Million Klischees durch den Kopf gehen, die sich höchstwahrscheinlich um eitle Schönlinge drehen, die alles flachlegen, was bei drei nicht auf den Bäumen ist. Doch davon lasse ich mich nicht irritieren.

„Danke für deinen Einsatz“, sage ich schlicht und greife nach meinem Handy.

„Freitag Abend um 20 Uhr stehen deine Chancen gut, mich dort zu treffen, wo unsere Kanzlerin am lautesten schrie“, schreibe ich und hoffe, dass er sich die Mühe macht herauszufinden, dass Angela Merkel als Baby bei ihrer Oma in der Isestraße 95 lebte. Dann können wir ein wenig am Isekai entlangbummeln, was kein Geld kostet und trotzdem schön ist.

Am nächsten Tag bin ich zum Mittagessen mit meinem Bruder und Martin in der Innenstadt verabredet, um über unser „Projekt“ zu sprechen, was sich ein wenig nach Geschäftsessen anfühlt. In der Stadt hat mal wieder ein neuer Vietnamese eröffnet und wie immer müssen wir dorthin pilgern, um zu testen, ob die Pho-Bo-Suppe dort die zuletzt gehypte übertrifft. Fast ein wenig gelangweilt gebe ich meine Bestellung auf.

Beim ersten Mal war es noch ein echter Aufreger für meinen Bruder, als ich „Fooh“ gesagt habe. Beinahe hätte er sich bei der mandeläugigen Kellnerin für seine peinlich rückständige Schwester entschuldigt. Doch weil er kein Vietnamesisch spricht und alles andere in seinen Augen nicht stilecht gewesen wäre, milderte er meinen Fauxpas ab, indem er eine formvollendete „Füör“ verlangte, was angeblich die korrekte Aussprache des „Pho“ in der Suppe ist. Ein bisschen lustig wurde es allerdings, als die Kellnerin fast ein wenig verzweifelt mehrmals nachfragte, was er genau haben wollte. Es stellte sich heraus, dass die junge Frau in Bremerhaven geboren wurde und auch ihre Eltern nicht aus Vietnam, sondern aus Südkorea stammten.

Es wurde am Ende so kompliziert, dass ich mir wünschte, in der Provinz zu wohnen, wo es einen ganz einfach noch wahlweise nach Schweinefleisch süßsauer oder Nr. 57 auf der Speisekarte gelüstete und man sich mit der gleichen Zubereitung zufriedengab, die einem schon beim letzten Mal gut geschmeckt hatte.

„Du bist eben ein Satisficer und ich ein Maximizer“, hatte mein Bruder achselzuckend erklärt.

Aus seinem Mund klang es wie ein Schimpfwort, dabei hatte er ja recht. Ein „gut genug“ reicht mir immer noch aus. Optimieren können sich von mir aus die anderen. Deswegen habe ich mich auch geweigert, die Suppe mit Stäbchen zu essen. Ich wäre beinahe mal verhungert, als Roman mich in einen total authentischen Laden geschleppt hat, in dem Suppe mit glibberiger Einlage und echten Hühnerfüßen ausschließlich mit Stäbchen gegessen wurde. Bei dem Preis konnte man nur hoffen, dass die Krallen auch aus Guangdong importiert worden waren und nicht etwa aus Dülmenhorst stammten. Jedenfalls schleppe ich seither immer meine Survival-Ausrüstung mit mir herum, wenn ich mit Roman essen gehe. Dazu gehört ein Stück neongrünes Plastik, das auf einer Seite mit Zinken und auf der anderen Seite mit einem Löffel versehen ist, sowie ein Müsliriegel.

Die Pho mag ich allerdings gerne – mit ihrem süßlichen Hauch von Sternanis. Ich finde bloß, dass ein großer Schuss Tabasco sie gewaltig aufwertet. Und bloß um meinen Bruder zu ärgern, bestelle ich auch noch das Idioten-Dessert, für diejenigen, die Guangdong, oder besser An Giang, wir reden schließlich über Vietnam, ohnehin nicht von Dülmenhorst unterscheiden können: die gebackenen Bananen mit Honig. Soll er doch mit voller Überzeugung die veganen Gurkensaft-Paletas lutschen – ein Eis am Stiel, von dem ich auch nicht weiß, warum es vietnamesischer sein sollte als eine Banane.

Wären die Umstände andere, könnte ich über die Versuche meines Bruders lachen, mit einem Haufen Small Talk über die Suppenqualität eine behagliche und ganz natürliche Atmosphäre schaffen zu wollen. Na klar, so lässt es sich viel besser über meine anstehende Befruchtung reden. Und weil ihm irgendwann auch auffällt, dass es keine unverfängliche Überleitung zum Eingemachten gibt, platzt es schließlich doch aus ihm heraus: „Hast du schon angefangen, Folsäure zu nehmen?“

Ich starre ihn an, während Martin verlegen in seiner Suppe rührt. „Lass sie doch“, murmelt er.

„Möchtest du vielleicht ein Kind mit Neuralrohrdefekt?“, ruft Roman so laut, dass sich alle umdrehen.

„Ich möchte gerne ein Kind und natürlich wäre es mir am liebsten, wenn es gesund zur Welt kommt. Aber ich nehme es, wie es kommt“, sagt Martin ruhig.

„Ich meine nur, wenn es sich so leicht vermeiden lässt …“ Mittlerweile hat auch Roman seine Stimme wieder gesenkt.

„Ist schon in Ordnung, Martin“, sage ich mit gleichmütigem Trotz, als beträfe mich das alles nicht. „Ein bisschen Folsäure wird schon nicht schaden.“

Ich lecke den Honig vom Löffel. „Ab wann darf ich keinen Zucker mehr essen?“

Roman zuckt mit den Achseln. „Eigentlich hättest du doch jetzt ausreichend Zeit, ein wenig Sport zu treiben.“

„Roman“, sagt Martin genervt.

„Ich denke dabei nur an Lisa“, beharrt Roman. „Mit einem Schwangerschafts-Diabetes ist nicht zu spaßen. Aber natürlich ist es auch für das Kind von Vorteil, wenn du dich bewegst.“

„Danke für den Hinweis“, entgegne ich spöttisch, auch wenn ich innerlich vor Wut tobe und gleich aufstehen und verschwinden werde.

Martin unterbricht meinen Bruder, indem er sanft seine Hand auf dessen Unterarm legt. „Ich glaube nicht, dass das zielführend ist. Einigen wir uns doch zunächst auf einen Termin, um überhaupt erst mal irgendwie zu beginnen. Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber für mich ist das aufregend und großartig genug.“ Er strahlt uns beide an.

Ich schlucke und sage dann fest: „Ich rufe gleich morgen in der Klinik an, in Ordnung?“

Möge der Tanz der Hormone beginnen.

„Du bist ein Schatz“, sagt Martin sanft und schaut auffordernd Roman an.

Der blickt für eine Sekunde überrascht drein und dann spielt sich in seinen Gesichtszügen etwas ab, was an die Filme erinnert, in denen der böse Geist den Besessenen verlässt. „Ja wirklich“, sagt er schließlich inbrünstig und senkt für einen Moment betreten den Blick. „Entschuldigung, Lisa, ich habe mich wohl ein wenig in die Sache reingesteigert.“

„Hast du wohl“, sage ich mit etwas leichterem Herzen und widme mich mit entsprechend größerem Appetit meiner Suppe. Der Kloß in meiner Kehle ist so weit geschrumpft, dass Flüssiges vorbeischlüpfen kann.

Mir ist wieder eingefallen, dass Roman bis vor Kurzem der beste große Bruder der Welt war, und die Familienplanung hat ja wie gesagt schon viele gute Menschen in den Wahnsinn getrieben, gerade dann, wenn sie nicht funktioniert.

Trotz des versöhnlichen Endes bin ich nach unserem Treffen so erschöpft und verwirrt, dass ich mir noch ein wenig Zeit für mich selbst wünsche, bevor ich Max aus dem Kindergarten abhole. Ich mag es nämlich nicht, an seiner Seite abwesend zu sein, finde aber noch nicht den Aus-Schalter für das Gedankenkarussell. Deswegen gehe ich erst mal nach Hause. Erst als ich bei uns im Hausflur die laute Musik höre, fällt mir ein, dass meine Schwester mein Zimmer besetzt hält. Irritiert schaue ich auf die Uhr und muss dann davon ausgehen, dass sie die Schule geschwänzt hat. Es ist zwar bereits 14 Uhr, aber soweit ich weiß, kommt sie sonst nie vor 16 Uhr nach Hause. Weil meine Eltern nicht vor Ort sind, wäre es nun wohl an mir, in das Zimmer zu stürzen, um sie mit dieser Erkenntnis zu konfrontieren, aber mir steht nicht der Sinn nach einem weiteren Familienzwist. Besser, ich schaue bei Frau Holle im Stockwerk über mir vorbei. Seit ich weiß, dass ich das Unternehmen wirklich bezahlen kann, das ihren Balkon neu errichtet, kann ich ihr auch wieder ins Gesicht schauen. Den Spitznamen Frau Holle habe ich ihr gegeben, weil sie mir immer wie die gütige alte Dame aus dem Märchenbuch vorkam. Nur dass sie ihre Betten in letzter Zeit nicht mehr über dem Geländer ihres Balkons ausschütteln konnte, weil ich den ja abgefackelt hatte. Außerdem weiß ich mittlerweile, dass sie es auf eine verschmitzte Weise faustdick hinter den Ohren hat. Deswegen hat sie die Panne sportlicher genommen als gedacht – allerdings in dem festen Glauben, eine Frau meines Alters verfüge über eine Haftpflichtversicherung.

Als sie mich erkennt, strahlt sie über das ganze Gesicht. Und ich bewundere sie dafür, dass sie auch dann passabel aussieht, wenn sie gar nicht mit Besuch rechnet. Ihr silbernes Haar liegt in gleichmäßigen Wellen und sie trägt zu einer weiten, karierten Hose eine adrette weiße Bluse. Mich würde man in dieser Situation in einer Jogginghose mit lieblos zusammengebundenem Haar antreffen.

„Wie nett, dass Sie mal wieder reinschauen“, sagt sie und hält mir die Tür weit auf. „Kommen Sie, ich habe gerade einen Tee aufgesetzt – oder mögen Sie lieber einen Kaffee?“

„Eine Tasse Tee wäre jetzt perfekt“, sage ich und meine es auch so. „Ich bleibe auch nicht lange, weil ich gleich meinen Sohn aus der Krippe abholen möchte, aber ich brauchte einen Moment …“

„… Ruhe?“, beendet sie meinen Satz und deutet auf den Fußboden, den Zoes Bässe vibrieren lassen. Auch darüber werde ich später mit ihr sprechen, denn bei dem Lärm kann es sich nur um ein Symptom des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms handeln – schließlich lag sie unseren Eltern ewig in den Ohren, dass sie ihr ein paar sauteure, mega angesagte und akustisch brillante Kopfhörer kaufen sollten, was sie schließlich auch taten.

„Es tut mir so leid“, sage ich ehrlich. „Ich werde das bei nächster Gelegenheit abstellen.“

„Sie wirken so angespannt“, sagt Frau Holle. „Setzen Sie sich doch erst mal hin.“

Ich folge ihr in das spartanisch eingerichtete und dennoch gemütliche Wohnzimmer. Ein bisschen wirkt es, als hätte sie es nach Feng-Shui-Regeln gestaltet. Der puristische Eindruck wird nur von einem wunderschönen braunen Chesterfield-Sofa gebrochen, das auch im Bibliothekszimmer von Downton Abbey stehen könnte, und einer Globus-Bar. Doch darüber hinaus gibt es keinen überflüssigen Schnickschnack. Keine Kerzenhalter, keine Vasen, keine Zimmerpflanzen. Nur noch eine schlichte Kommode, auf der drei geheimnisvolle goldfarbene Objekte stehen, die man eher an Bord der Nautilus vermuten würde. Oder auf irgendeinem anderen Schiff, das seine Flagge in einer Zeit hisste, in der am Rande der Landkarten noch Drachen hausten.

„Wenn Sie etwas Stärkeres brauchen, bedienen Sie sich.“ Frau Holle deutet auf die Globus-Bar.

Bedauernd lehne ich ab. „Die Erzieher im Kindergarten stehen nicht so auf Mütter mit Fahne. Ich bleibe bei dem Tee.“

Ich möchte ihr beim Einschenken helfen, weil ich sehe, dass sie immer noch ein wenig hinkt, doch sie winkt ab. „Wenn ich mal keine Gastgeberin mehr sein kann, empfange ich auch keine Gäste mehr.“

Aus dem Augenwinkel bemerke ich, dass sie eine goldene Flüssigkeit aus einem karierten Flachmann in ihre Porzellantasse gibt, bevor sie den Tee aus einer geblümten Kanne darübergießt. Sie ist die Tante, die ich mir für Max erhofft hätte. Um meine Mutter nicht zu kränken, sage ich an dieser Stelle nicht: die Großmutter, die ich mir für ihn gewünscht hätte. Meine Mutter schlägt sich wacker. Doch leider kann er nicht mal den Zeigefinger ausstrecken, ohne dass meine Mutter mit geradezu hysterischem Eifer eine künstlerische Begabung auszumachen versucht. Wachsmaler darf man ihm in ihrer Gegenwart schon gar nicht in die Hand drücken. „Eine schwarze Sonne – ja! Du hast es erkannt, die Dinge sind nie so, wie sie scheinen. Hell ist dunkel und dunkel ist hell!“, skandiert sie dann, als wäre sie eine der wilden Hexen aus Macbeth.

Diese Eigenschaft hat mich dazu gebracht, ihr zu verheimlichen, dass ich gerne fotografiere, denn ich bin mir sicher, sie hätte dieses Interesse mit so übertriebener Begeisterung vereinnahmt, dass es mir schließlich abhandengekommen wäre.

„Haben Sie Kinder?“, frage ich neugierig.

Wie gerne würde ich meine Frage zurückziehen, als ich ihre betroffene Miene sehe.

„Ich habe einen Sohn“, antwortet sie schließlich. Ich frage vorsichtshalber nicht weiter, dennoch scheint ihr dieser Umstand erklärungsbedürftig zu sein. Sie deutet auf den alten goldenen Kompass auf der Anrichte. „Wenn Sie den Deckel aufklappen, können Sie ihn sehen.“

Ich kann nicht widerstehen und nehme den Gegenstand, der in jedem Kratzer eine Geschichte andeutet, in die Hand. Im Deckel erkenne ich ein rundes Foto von einer wunderschönen Frau, die Frau Holle in jungen Jahren sein muss, und einen Buben in Max’ Alter. Er sitzt auf ihrem Schoß und sie lächeln einander verschwörerisch zu. Fast überkommt mich angesichts dieser Innigkeit so etwas wie Wehmut. Werde ich irgendwann auf ein altes Foto von Max und mir starren und dabei meinen erwachsenen Sohn vermissen, der mittlerweile Schafe in Neuseeland züchtet? Oder was immer ihr Sohn so treibt. Reflexartig schaue ich mich um. Doch ich entdecke keine Bilder des Jungen aus späteren Jahren. Ich hoffe, dass er am Leben ist, denn schließlich hat sie gesagt „habe“ und nicht „hatte“. Möglicherweise sind in den anderen geheimnisvollen Objekten noch mehr Fotos verborgen?

„Das ist ein sehr schönes Bild“, sage ich ehrlich.

Danach sitzen wir beieinander und trinken unseren Tee. Erst als der Boden wieder zu vibrieren beginnt, wird mir klar, dass für ein paar Minuten Stille herrschte. Ich stöhne auf wie die Hauptfigur im dritten Akt einer italienischen Oper, die nun eine Stunde lang den Dolch in ihrer Brust besingen muss.

„Das Leben kann ein ganz schöner Schlamassel sein, nicht wahr?“, fragt sie mich mitleidig.

„Das können Sie laut sagen“, stimme ich ihr zu.

Dann bricht es aus mir so schlagartig heraus, dass ich mich frage, ob sie ein Wahrheitskraut in den Tee gemischt hat.

„Ich habe gerade einen tollen Mann kennengelernt, mein Bruder verlangt einen unmöglichen Gefallen von mir, meine Schwester ist bei mir eingezogen, mein Job ist weg …“ Und ich habe einen Haufen Schulden, weil ich Ihren Balkon angezündet habe. Ich schlucke den letzten Teil runter, weil ich nicht will, dass sie mir am Ende aus Mitleid anbietet, die Schulden zu erlassen. Sie hat mir ihren Balkon einmal wehmütig als ihr Fenster zur weiten Welt geschildert, deshalb weiß ich, wie sehr sie ihn liebt, vor allem seit sie nicht mehr so gut zu Fuß ist. Sie hat immer draußen gesessen, sogar im Winter, dann natürlich mit Wolldecke. Es war, als hielte sie Ausschau nach irgendetwas, das ihr entgehen könnte, wenn sie ihre Plattform zu lange verließe. Entsetzt höre ich mich selbst schniefen.

„Ach, Kindchen. Meine ehrliche Meinung? Genießen Sie den Wahnsinn, solange er noch stattfindet. Aber das hilft Ihnen wohl kaum weiter, oder?“ Aufmunternd blickt sie mich an.

Ich schüttele den Kopf, lächele aber. „Nicht wirklich.“

„Na gut, dann überlegen Sie gründlich, die Lösung welcher Probleme in Ihrer Hand liegt. Nur die gehen Sie an und die anderen sitzen Sie einfach aus. Seien Sie beim Sondieren nicht zimperlich. Keine falsche Rücksicht auf andere. Was weg kann, kann weg. Man braucht schließlich Platz für die Dinge, die man wirklich will.“

„Haben Sie das immer beherzigt?“

„Nein“, sagt sie. „Aber wie sagt man so schön: Das Beste, was man mit guten Ratschlägen anfangen kann, ist, sie weiterzugeben.“

Sie hält ihre Tasse hoch, sodass ich den Schnaps darin nicht nur vermuten, sondern auch riechen kann.

Wider Willen muss ich lachen. „Na gut“, sage ich. „Her mit dem Gesöff, aber nur ein winziges Schlückchen.“

Sie gießt einen Schluck aus ihrem Flachmann in meine Tasse.

„Prost“, sagt sie.

„Prost“, erwidere ich und tippe mit meinem Glas an die rosengeblümte Tasse. Ich keuche. Das Zeug brennt wie Hölle. „Was ist das?“

Doch es ist, als hätte sie mich gar nicht gehört. Versonnen schaut sie auf das Baugerüst vor ihrem Fenster. Dann nimmt sie den Kompass in eine Hand, als wolle sie ihn wiegen.

„Wissen Sie was?“ Nachdenklich betrachtet sie den Gegenstand. „Manchmal muss man vielleicht wirklich loslassen.“

Sie nimmt das Bild heraus und für eine Sekunde fürchte ich, sie wirft es weg. Stattdessen lässt sie es liebevoll in ihre Hosentasche gleiten.

„Den schenke ich Ihnen.“ Sie hält mir den Kompass entgegen. „Der sollte mir in einem wichtigen Moment meines Lebens den Weg weisen, aber vielleicht hatte ich ihn nicht verdient. Womöglich leistet er Ihnen bessere Dienste.“

Mit rudernden Händen wehre ich das Geschenk ab. „Nein, das geht nicht. Er ist schön, wirklich. Er gefällt mir sehr. Aber für Sie ist der Kompass ganz offensichtlich mehr als nur ein schönes Schmuckstück. Mich verbindet keine Geschichte mit ihm. Niemals könnte ich ihn so schätzen, wie Sie es tun.“

„Dann machen Sie daraus ein Geschenk mit Bedeutung. Finden Sie Ihren Weg aus dem Dickicht und halten Sie auf Ihr Ziel zu. Steuern Sie in Ihre Zukunft. Mir bleibt ohnehin nur noch das Hier und Jetzt.“

Im Hier und Jetzt leben – ist das nicht genau das, was immer propagiert wird? Doch zugleich wäre es idiotisch, nicht zumindest gelegentlich zu berücksichtigen, dass die Entscheidungen im Hier und Jetzt die Zukunft festlegen. Ihrer Beharrlichkeit kann ich mich nicht widersetzen und ich strecke meine Hand nach dem Kompass aus. Und tatsächlich: Sobald er warm in meiner Hand liegt, scheint er mehr zu sein als ein gewöhnlicher Gegenstand. Jetzt beginnt meine Geschichte mit ihm, die ich vielleicht einmal erzählen werde, indem ich anfange mit „Es war einmal eine gütige alte Frau …“.

Es ist ein merkwürdiges Gefühl, das mich dazu bringt, ihn in meinen Händen zu bergen wie ein lebendes Wesen, einen kleinen Spatz vielleicht. Und Frau Holle verleiht der Übergabe so viel Ernsthaftigkeit, dass ich mich dabei keine Sekunde albern fühle.

Ich denke an einen Slogan, den ich mal gehört habe: den Tagen mehr Leben geben. Plötzlich habe ich das Bedürfnis, genau dies für das Hier und Jetzt von Frau Holle zu tun. Leider fällt mir gleich darauf wieder ein, dass es das Motto eines Sterbehospizes ist.

Ich versuche, den Gedanken abzuschütteln. Frau Holle wirkt absolut nicht so, als würde sie in den nächsten zehn Jahren Anstalten machen, von uns zu gehen. Dennoch hat sich ihr Geschenk nicht wie ein Loslassen angefühlt, das Platz für Neues schafft. Es fühlte sich an wie ein Zurücklassen in dem Glauben, es komme nichts mehr.

„Danke. Ich werde ihn in Ehren halten“, sage ich.

„Da bin ich mir sicher“, entgegnet sie.

„Bis bald“, sage ich schnell, bevor ich gehe. „Vielleicht bringe ich das nächste Mal Mäxchen mit, wenn Sie mögen?“

„Das würde mir gefallen“, sagt sie nun wieder putzmunter, als wäre nichts gewesen. Als sie die Tür hinter sich schließt, geht es mir dennoch nicht aus dem Kopf: Den Tagen mehr Leben geben, genau das sollte ich tun. Und ich werde alles daransetzen, dass dabei auch noch einiges Leben für meine betagte Freundin abfällt.

Und so gönne ich mir bereits am nächsten Abend schon mal ein ganz gewaltiges Stück vom Kuchen und lungere vor einem schmucken Häuschen in der Isestraße herum, vor dem ich womöglich gleich Jonas begegne. Und nach dem Kuss, egal wie flüchtig er war, käme es mir nahezu unnatürlich vor, wenn der kein Nachspiel haben sollte. In banger Vorfreude auf die Ereignisse, die ich möglicherweise gerade in Gang setze, schaue ich mir den Eingang genauer an. Seltsam, dass dort gar keine Plakette angebracht wurde, die darauf hinweist, dass hier einmal Säugling Angela zu Hause war. Bei Dichtern und Musikern genügt es ja, wenn sie einmal über die Türschwelle gestolpert sind, um direkt darüber eine Gedenktafel anzubringen.

„Hast du vielleicht noch etwas vor?“, ruft eine fröhliche Stimme hinter mir. „Oder warum treffen wir uns gegenüber von einem Romantik-Hotel?“

„Jonas, du hast mich also gefunden.“

„Ja“, sagt er munter. „Und es hat mich einen ganzen Google-Eintrag gekostet. Hab kein schlechtes Gewissen, sondern schau mir in die Augen, Kleines. Ein Treffen mit dir ist mir die Mühe doch allemal wert.“

Manchmal vergesse ich doch glatt, dass im Google-Zeitalter jedes Geheimnis mit nur einem Klick gelüftet werden kann.

„Sehr charmant, danke schön.“

„Du hast dir natürlich nichts dabei gedacht, dass auf der anderen Straßenseite ein Romantik-Hotel nur darauf wartet, für ein Schäferstündchen genutzt zu werden.“

„Nein, dein Dispo sollte wohl bald ausgereizt sein, andernfalls müsste ich ein Wörtchen mit deiner Bank sprechen, und ich als vernunftbegabtes Wesen habe mir gar nicht erst einen einrichten lassen.“

„Du bist aber streng. Und was wollen wir stattdessen tun?“

„Wir unternehmen einen Spaziergang am Wasser und vertiefen uns in ein interessantes Gespräch über den nicht vorhandenen, aber oft behaupteten Zusammenhang zwischen Vollmond und unvorhergesehenen Wetterumschwüngen.“

„Wunderbar, genau das habe ich mir während der ganzen Fahrt hierher ausgemalt“, behauptet er, untermalt von einem dramatischen Seufzen.

Ich halte ihm übermütig meinen angewinkelten Arm hin, sodass er sich bei mir unterhaken kann, und spaziere mit ihm Richtung Isekai.

Für eine Weile sagt keiner von uns etwas und ich beschließe, die Spannung zwischen uns nicht etwa damit zu ruinieren, indem ich die Stille mit nervösem Geplapper fülle. Man muss sich den Abenteuern stellen, das war es doch, was mir Frau Holle vermitteln wollte.

Gegen den Wind: Windstärke 1-12 Gesamtausgabe

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