Читать книгу Gegen den Wind: Windstärke 1-12 Gesamtausgabe - Jana Seidel - Страница 9
Erstes Buch: Windstärke 1
ОглавлениеWindstärke 1: Ein leiser Zug, Rauch bewegt sich leicht in Windrichtung. Mittlere Windgeschwindigkeit in 10 Meter Höhe: 1–5 km/h.
Beaufortskala
Manche Menschen haben eine Narbe, die zwickt, sobald ein Wetterwechsel ansteht. Ich hingegen habe ein Tattoo auf dem Schulterblatt. Wenn es dort sticht und zwackt, weiß ich, dass ich mich auf eine Temperaturveränderung gefasst machen muss. Ich erzähle niemandem davon. Andere würden es bloß für Einbildung halten und sie darauf schieben, dass ich eine Meteorologin bin, die sich ein Wetterzeichen auf die Schulter tätowiert hat. Wobei die meisten das Bild nicht einmal kapieren. Wer es zu sehen bekommt, lästert gerne über die „missglückte Acht“. Aber wieso hätte ich das Zeichen für Unendlichkeit auf einen vergänglichen Körper gravieren sollen? Das wäre doch absolut unlogisch.
Nein, mein Tattoo zeigt genau das, was es zeigen soll, nämlich zwei Kreise, die aufeinandertreffen. Es ist das Zeichen für trockenen Dunst. Ich habe es mir einen Tag nach dem Abschluss meines Studiums stechen lassen. Nicht nur weil ich es schön fand, sondern auch weil es in meinen Augen zu mir passte: Dunst verliert nie den Bodenkontakt.
An diesem Tag zieht es heftig an meiner geheimen Vorhersagequelle. Fast fühlt es sich an, als würde die Nadel noch einmal über die Konturen gleiten. Das unangenehme Stechen begleitet mich seit dem frühen Morgen, weshalb ich seither immer wieder misstrauisch aus dem Fenster geschaut habe. Doch nicht die kleinste Kumulus-Wolke legte sich über das eisige Himmelsblau eines sonnigen Januartages. Es veränderte sich auch nicht, als mein Chef mir mitgeteilt hat, dass mein Vertrag am Ende der Probezeit nun doch nicht verlängert wird. Das bedeutet, dass ich in vier Wochen arbeitslos bin. Ich habe seinem Murmeln aufmerksam zugehört, aber so ganz glaubte ich ihm nicht, dass eine allgemein schlechte Auftragslage es für das Institut unabdingbar macht, meinen Posten einzusparen. Die Stelle ist schon wieder ausgeschrieben. Das legt den Gedanken doch sehr nahe, dass es etwas Persönliches ist. Und ich wette, meine Fehlzeiten waren der Grund für seine Entscheidung. Hätte ich die Stelle bloß schon im letzten Frühjahr antreten können. Im Winter sind vierjährige Jungen wie mein Sohn Max nun einmal dauernd krank.
Ich schlucke. Ich war so stolz darauf gewesen, in einem Forschungsinstitut zu arbeiten, und das direkt nach meinem Studienabschluss. Mit neunundzwanzig war ich für das Ende eines Studiums nicht gerade jung gewesen, hatte aber immerhin schon seit vier Jahren ein Kind und trotzdem einen Master in der Tasche gehabt.
Aber ob mir das helfen wird, innerhalb von vier Wochen einen neuen Job zu finden?
Meine Google-Recherchen zu dem Thema, die ich ohne allzu schlechtes Gewissen noch in der Arbeitszeit angestellt habe, verrieten mir zwei Dinge: Wer nach so kurzer Zeit arbeitslos wird, steigt direkt ins Hartz-IV-Geschäft ein. Außerdem sind die Jobaussichten für Meteorologen derzeit eher – haha – trüb als heiter.
Trotzdem habe ich es geschafft, nicht direkt auf der Büro-Toilette zu heulen. Die Blöße wollte ich mir echt nicht geben. Das fehlte noch, dass ich zum Objekt eines dieser verbissen geführten Einfühlsamkeitswettbewerbe der wenigen weiblichen Kollegen werde. Auf dem Weg zum Kindergarten habe ich es mir ebenso verkniffen, salzige Pfützen auf den S-Bahn-Polstern zu hinterlassen. Doch nun, auf dem letzten Fußmarsch vom Kindergarten bis nach Hause, merke ich, dass sich so viel Wasser in meinen Tränendrüsen gesammelt hat, dass es vermutlich gleich unkontrolliert hinausschießen wird. Vielleicht kann ich es auf den eisigen Wind schieben.
Ich versuche, mich auf etwas Schönes zu konzentrieren, und schaue deshalb auf die blonden Löckchen im Nacken meines Sohnes, die sich unter seiner Star-Wars-Mütze ringeln. Die Wolle verdeckt die lichte Stelle in seinem Haar. Dort musste ich ihm am Tag zuvor ein Kaugummi rausschneiden. Doch mein Sohn trägt die neue Frisur auch ohne Kopfbedeckung mit Würde – so, wie es sich für einen Maximilian gehört. Den Namen habe ich gewählt, nachdem ich irgendwo gelesen hatte, dass ein Maximilian direkt bei der Einschulung einen Lehrerbonus erhält, während für Marvin und Kevin umgehend Dauerbesuche vom Jugendamt vermerkt werden. Ich wollte ihn schließlich von Anfang an mit den besten Chancen ausstatten. Damit stehe ich wohl nicht alleine da – in seiner Gruppe gibt es insgesamt vier Maximilians und ich nenne ihn ohnehin nur Max, weil mir sein voller Name etwas zu pompös vorkommt.
„Mama, schau mal, wer da ist“, unterbricht er meinen Gedankenfluss, als wir uns unserer Wohnung nähern.
„Nicht der schon wieder“, murmele ich, ohne aufzuschauen.
Ich gehe einfach davon aus, dass er Toby meint. Toby ist sein imaginärer Freund. Und bevor nun jemand etwas sagt: Kinder mit imaginären Freunden sind meistens Einzelkinder und psychisch besonders stabil, sagt Google.
„Kennen wir den?“, fragt Max und zupft heftiger an meinem Arm, der bis zum Ellbogen in meinem überfüllten Rucksack vergraben ist. Meinen steif gefrorenen Fingern gelingt es nicht, in dem Chaos aus Kinderwechselkleidung, Proviant in Form von Keksen und meinen eigenen Utensilien den Haustürschlüssel zu ertasten.
Genervt schaue ich hoch und gebe dann ein peinliches, erschrockenes Quieken von mir. Vor unserer Haustür sitzt auf einem Koffer ein wildfremder Junge mit blauen Lippen. Er sieht genauso erschrocken aus wie ich und ich bin mir fast sicher, dass er mein Quietschen gerade mit einem Bellen beantwortet hat. Aber weil das wohl kaum sein kann, versuche ich, mich zu sammeln und den Jungen ordentlich einzusortieren.
Doch nichts an ihm passt zusammen. Er ist vielleicht zwölf Jahre alt. Sein Haarschnitt ist etwas zu kunstvoll verwuschelt. So, als hätte sich die Stylistin einer Britpop-Band an ihm ausgetobt. Seine Kleidung hingegen könnte sowohl von einer alternativen Gesinnung als auch von echter Armut künden. Allerdings schauen unter der abgewetzten braunen Cordhose mit den Flicken coole, teure Sneakers hervor. Auch der Steppjacke ist nicht anzusehen, ob es sich um Lidl-Polyester oder echte Canada-Goose-Daunen handelt, was ungefähr zwei Nullen Unterschied machen würde. Und dann ist da noch die altmodische Reisetasche aus braunem, antik wirkendem Leder. Vermutlich das Relikt von einer Großtante mit Dutt und Mary-Poppins-Stiefeletten.
„Hallo“, sage ich und überspiele meine Hilflosigkeit mit aufgesetzt fester Stimme. „Können wir etwas für dich tun?“
Der Junge springt so ungelenk auf, dass ich Max in einer Reflexbewegung von ihm wegziehe.
Unserem ungebetenen Gast hängt der Pony jetzt so tief ins Gesicht, dass ich bis auf sein schmales, blasses Kinn kaum etwas erkennen kann. Doch ich sehe, wie sein Mund sich langsam öffnet.
„Yep“, sagt er.
„Okay“, sage ich verdattert. „Du meinst, ich kann etwas für dich tun?“
Der Junge streicht sich das Haar zur Seite und sieht mich fast verzweifelt an. Dann zwinkert er, geht in die Hocke, springt wieder auf und … bellt. Erst zuckt Max zusammen, doch dann fängt er an zu lachen.
„Du willst mich wohl veräppeln?“, fauche ich verärgert. Stünde Max nicht neben mir, hätte ich ein härteres Wort verwandt. Mir ist ein Gedanke gekommen: Gehört er in seinen unmöglich zusammengeklauten Klamotten womöglich zu einer Bande? Vermutlich will er einen dieser Haustür-Abzock-Tricks abziehen, auf den nur naive Großmütter von verschollenen Enkeln reinfallen. Da drücken sie dem vermeintlichen Abkömmling ein paar Scheinchen in die Hand und schon stößt er sie zur Seite und verschafft sich Zugang zur Wohnung und nimmt, was als wertvoll erscheint.
Während ich mich noch in Rage monologisiere, bellt der Junge noch einmal. Empört schaue ich ihn an, bis er seinen Pony zur Seite schiebt, sodass ich den fast verzweifelten Ausdruck in seinem Gesicht erkenne. Und wie ich so in seine blaugrauen Augen schaue, schiebt sich plötzlich ein anderes Gesicht über seines.
„Leon, bist du das?“
Leon ist der Sohn meines Mitbewohners Paul. Ich habe ihn noch nie gesehen, weil er bei seiner Mutter in München lebt, und kenne ihn nur von Fotos. Wenn Paul sich mit ihm treffen möchte, muss er immer in den Süden reisen, weil Tine ihrem Jungen auf keinen Fall den norddeutschen Moloch an der schmutzigen Elbe zumuten möchte, in dem jeder sofort zum Hausbesetzer wird und Drogen vertickt. Ja, das Großstadtelend. In einem biederen Dörfchen wie München bleibt man davon sicher unberührt – vielleicht werden aber auch schlicht alle sofort nach Hamburg ausgewiesen, falls sie in Sexualität, Hautfarbe oder Automarke von der Norm abweichen – also dem „Bullen von Tölz“ nicht im Geringsten ähneln.
Und gerade weil ich die Abneigung von Pauls Ex gegen ihre ehemalige Heimat kenne, hätte ich Leon niemals hier vermutet. Aber der Junge vor mir sieht Paul wirklich ähnlich.
Nun wird er feuerrot und nickt. Der arme Kerl. Ich schäme mich in Grund und Boden. Hätte mir Paul doch mal genauer erklärt, was es mit dem „kleinen Tick“ seines Sohnes auf sich hat. Ich hatte es für die liebevolle väterliche Umschreibung für ein Tourette-Syndrom gehalten, bei dem man die Umgebung beschimpft, ohne es zu wollen. Hätte er mir eine üble Beleidigung an den Kopf geworfen, hätte ich ihn sicher viel freundlicher begrüßt.
„Tut mir leid“, sage ich. „Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst …“ Weil mir nicht einfällt, was ich dann getan hätte, schlage ich schnell eine neue Richtung ein. „Weiß Paul, dass du hier bist?“
Leon schüttelt den Kopf. Er zittert und ich weiß nicht, ob es von der Kälte oder der Anspannung kommt. Dann bellt er wieder und sinkt in die Hocke.
Max lacht und sieht ihn fröhlich an.
„Hallo, Hundi“, sagt er und streckt Leon die flache Hand vor die Nase, als wolle er ihn füttern. Ich merke, dass er einen neuen Spielkameraden wittert und sich darüber freut.
„Max!“, zische ich ihn an, obwohl ich eigentlich wütend auf mich selbst bin. Dann höre ich mich schreien: „Scheiß…nkleister!“ Der Fluch kam schneller als meine bewusste Wahrnehmung. Beinahe überrascht sehe ich, dass meine Einkäufe auf dem Gehweg verteilt liegen. Dafür geht ein erleichtertes Kribbeln durch meinen rechten Arm, da ihn nun die Henkel der überstrapazierten Plastiktüte nicht mehr einschnüren. Sie ist gerissen, weil ich sie viel zu voll gepackt habe. Ich wollte im Supermarkt noch ein letztes Mal alles geben und uns mit Bio-Kiwis (Vitamin C für Max) bis hin zum Filet vom Weiderind (Eisen für mich) eindecken, bevor uns nur noch Äpfel und Kartoffel blieben. Gegen eine Folienverpackung presst sich nacktes rotes Fleisch und direkt daneben sitzt Max, der bei meinem Schrei erschrocken angefangen hat zu weinen.
„Du hast mich erschreckt, Mama“, sagt er vorwurfsvoll. Ein paar herzzerreißende Tränen laufen ihm hinunter. Dabei dachte ich, an diesem Tag würde ich mal die Erste von uns sein, die heult. Leon sieht mittlerweile beinahe ängstlich drein. Sicher glaubt er, er sei in einem Irrenhaus gelandet, das noch mehr Schrecken birgt, als seine Mutter es ihm ausgemalt hatte.
Plötzlich spüre ich einen ganz starken Drang, einfach alles stehen und liegen zu lassen. Nicht umdrehen. In die Wohnung flüchten. Decke über den Kopf ziehen. Dagegen spricht natürlich das Geburtsdatum auf meinem Pass, das behauptet, dass ich hier die Erwachsene sei. Und als Mutter kann ich mich dieser Vorgabe nicht so einfach entziehen. Mir bleibt nur, mich zu bücken – äußerlich ruhig, innerlich bereits kollabiert. Ich sammle die verstreuten Lebensmittel ein und murmle eine Entschuldigung an Max. Im Gegenzug enthebt er mich der Verpflichtung, auch Leon meinen Zustand irgendwie zu erklären. „Mama ist doof“, sagt mein Sohn und wischt sich die Tränen weg.
Das scheint Leon zu genügen. Er zuckt mit den Achseln und wirkt wieder etwas entspannter. So einfach ist das unter Männern. Max braucht mich einfach nur ein bisschen zu beleidigen und schon zieht der Anflug eines Lächelns über das Gesicht von Pauls Sohn. Dass ich nicht mal Minderjährigen auch nur einen Funken Respekt einflöße, macht mich innerlich zur Furie. Mit verkrampftem Grinsen sammele ich noch Joghurt und Kiwis ein. Warum nur hatte ich nicht an meinen ökologisch korrekten Mehrwegbeutel gedacht? Nun hatte ich den viel zu großen Einkauf in eine viel zu kleine Plastiktüte stopfen müssen. Mein schlechtes Gewissen über die miese Klima-Bilanz war so groß, dass ich es nicht gewagt hatte, zwei der bösen Kunststoff-Weltvernichter zu fordern.
„Na kommt, ihr Lieben“, sage ich widerwärtig heiter. „Gehen wir doch erst mal alle rein.“
Die letzten Worte presse ich durch die Zähne, die ich nicht ganz auseinanderbekomme, weil ich mein Kinn als Stabilisator gegen den wackeligen Stapel mit Lebensmitteln in meinen Armen drücken muss. Während ich umständlich einhändig aufschließe, fällt natürlich dennoch alles hinunter. Ich schiebe die Jungs durch die Tür und mache mich wieder ans Einsammeln. Schließlich ist es vollbracht und wir stehen alle drei gemeinsam im Flur.
„Wartet mal kurz, ich muss ganz schnell etwas erledigen, ja?“, säusle ich und habe immer noch diese klebrige Mami-ist-die-Beste-Stimme. Ich lasse die Jungs in ihren dicken Jacken auf dem Flur stehen und flitze in mein Zimmer. Die Tür, die sich hinter mir schließt, macht eines der schönsten Geräusche, die ich an diesem Tag gehört habe. Na, da sind sie ja, die Tränen.
Ich atme langsam ein und aus. Ich atme noch mal langsam ein und aus. Ich atme …
„Miau, miau, ich bin eine Katze.“ Das ist Max’ Stimme im Flur.
Scheiß auf die Achtsamkeit. Ich boxe mehrmals auf das Kopfkissen ein. Wäre es ein Mordopfer, würde der Fachmann von Übertötung sprechen. Paul, warum hast du mir nicht gesagt, dass dein Sohn in den Herbstferien zu uns kommt? Knuff. Wieso bist du nicht zu Hause, wenn dein minderjähriges Kind hier aufschlägt? Knuff, knuff. Wieso bin ich so verdammt unfähig? Knuff, knuff, knuff.
Schon besser. Womöglich ist alles nur halb so wild. Pauls Handy hat seit zwei Tagen eine Macke. Vermutlich wusste er nicht, dass Leon auftauchen würde, sonst hätte er ganz sicher erwähnt, dass wir zumindest vorübergehend zu fünft in einer Viereinhalbzimmerwohnung leben würden. Zwei der Zimmer bewohnen Paul und seine kleine Tochter Sophie. Ja, seine Tochter heißt Sophie. Vermutlich ist Tine bei der Namenswahl so ähnlich vorgegangen wie ich. Sophies sind zumindest oft in der näheren Umgebung von Maximilians anzutreffen – gemeinsam mit Katharina und Alexander dem Großen. Das dritte Zimmer gehört mir und in dem angrenzenden halben hat Max seine kleine Piratenhöhle.
Die Küche und das Wohnzimmer benutzen wir gemeinsam. Tagsüber spielen hier die Kinder und abends nutzen Paul und ich es immer wieder mal, um Sofa-Binge-Watching zu betreiben. Der Extremsport für Menschen wie Paul und mich, die mit neunundzwanzig beziehungsweise mit dreiunddreißig schon viel zu erschöpft sind, um im dunklen Hof an die Tür eines wahnsinnig geheimen und angesagten Klubs zu klopfen, und außerdem schlafende Kinder hüten müssen. Manchmal ersetzen wir einander aber auch den Babysitter, sodass zumindest einer von uns dann etwas Erwachsenes unternehmen kann, das aber nicht länger als bis um 23 Uhr dauern darf – um 6 Uhr ist die Nacht vorbei.
Klar, dass Paul und ich uns nicht etwa beim Ausgehen kennengelernt haben, sondern im Rahmen der musikalischen Frühsterziehung. Das ist eine dieser Veranstaltungen, die nur dafür da sind, Menschen in Elternzeit von der Straße zu holen und ihren Kindern beizubringen, dass es wehtut, wenn man anderen ein Instrument auf den Kopf haut. Dabei konnten Max und Sophie das besonders gut – mit dem Xylofon sogar in C-Dur.
Zu dem Zeitpunkt war Max ein Jahr alt und ich hatte mich gerade endgültig von seinem Vater getrennt, der nichts mit Kindern am Hut und seinen Sohn deshalb die meiste Zeit ignoriert hatte, was er jetzt immer noch tut. Aber ich bedaure nicht, dass er zu doof war, sich ein Kondom richtig überzustülpen – sonst hätte ich Max nicht.
Sophie war zwei Jahre alt und auch Paul hatte sich gerade ganz frisch von Tine getrennt. Und so waren wir zeitgleich mit viel zu hohen Mieten für viel zu kleine Wohnungen konfrontiert. Weil wir uns gut verstanden, beschlossen wir nach mehreren gemeinsamen Spielplatzsitzungen, uns lieber eine größere Wohnung zu teilen, weil dies erheblich günstiger war. Fortan lebten wir glücklich wie ein altes Ehepaar, inklusive des fehlenden Sex, in einer der weniger angesagten und dafür nicht ganz so teuren Gegenden, in Barmbek. Nicht, dass es nicht phasenweise immer mal wieder geknistert hätte, aber wir sind so vernünftig, solche Momente auszublenden. Alles andere würde bloß unser fortschrittliches, urbanes Familienkonzept gefährden, in dem Einzelkinder fast wie auf dem Dorf aufwachsen dürfen, weil der ganze Wohnblock eine große, glückliche Familie ist. Nur dass längst nicht alle Nachbarn uns wohlgesonnen sind und Sophie ja gar kein Einzelkind ist.
Das habe ich zwischendurch fast vergessen, denn wir sprechen selten über Pauls Sohn. Es zermürbt ihn einfach zu sehr, den Jungen so selten zu sehen.
Wieder funkt mein schlechtes Gewissen, diesmal das eindeutige Kommando, mich um die Jungs zu kümmern, die ich wehrlos zurückgelassen habe. Ich gehe wieder in den Flur und sehe, dass sie bereits die warmen Klamotten abgelegt haben. Max hat seine in den Flur geworfen und Leon hält seine Jacke noch fest in der Hand.
„Leg sie einfach auf die Ablage“, sage ich. Unsere Garderobe über der Ablage ist viel zu klein und deshalb häufen sich die Mäntel darunter.
Ich beschließe, ihnen ein Angebot zu machen, das sie nicht ablehnen können. „Wollt ihr vielleicht eine heiße Schokolade?“, frage ich und hoffe, dass Leon noch nicht zu alt für süßen, flüssigen Trost ist. Beide schauen mich irritiert an.
Leon sieht zu Max und der zuckt die Schultern. Am Ende ringen sich beide zu einem Lächeln durch. Na bitte, ich sag’s doch: Ein bisschen Wärme und noch mehr Zucker – mehr braucht es nicht, um Kinder glücklich zu machen.
„Ich gebe auch noch ein bisschen Karamellsirup hinein“, sage ich vor lauter Dankbarkeit über den schwachen Funken der Begeisterung, den ich bei ihnen entfachen konnte.
„Yippie, gib fünf“, ruft Max und hält Leon die Hand zum Einschlagen hin. Ohne einen Mundwinkel zu verziehen, hält Leon ihm eine Hand hin und lässt den hüpfenden Knirps dort hineinhauen.
„Darf ich auch Marshmallows reinmachen?“, fragt Max schnell.
„Nein, Karamellsirup reicht“, sage ich nach kurzem Zögern streng. Er soll schließlich nicht denken, die Gunst der Stunde ausnutzen zu können.
Die Jungs folgen mir in die Küche. Bei einem Blick in die Schränke entweicht mir ein finsterer Fluch – keine sauberen Töpfe da –, mit dem ich meine gerade erworbenen Bonuspunkte gleich wieder verspiele. Ich habe genau gesehen, dass Leon Max einen Vogel gezeigt hat und zu mir deutet. Max kichert. Ach, Kinderherzen sind so treulos, dass es mir verdammt unfair vorkommt, dass wir so viel stärker an ihre gekettet sind als sie an unsere. Bald zieht er aus, ohne zurückzublicken, und ich werde die nervige Frau sein, die ihn einmal pro Woche mit Fragen zu seiner Ausbildung belästigt. Ich seufze sehr schwer, wasche dann aber, ohne noch einmal zu fluchen, einen Topf ab, in dem noch die hartnäckigen Reste der Käsespätzle kleben, die sich Paul gestern Abend gemacht hat. Ich erhitze die Platte und gieße gleich eine ganze Packung Milch in den Topf. Nach und nach bröckele ich Schokolade hinein und sehe zu, wie sie erst zu klebrigen Klumpen wird und dann schmilzt. Noch eine Prise Vanille, eine Messerspitze Zimt und einen Schuss Karamellsirup – das ist das Glück frostiger Tage. Fehlt nur noch eine Kerze. Ich hatte welche mit Tannennadelduft gekauft, in der festen Überzeugung, das würde eine anheimelnde Winterwald-Atmosphäre in unser Heim zaubern. Paul hat sich so sehr darüber lustig gemacht, dass ich nach dem ersten Anzünden unmöglich zugeben konnte, wie künstlich und unerträglich der Geruch war, den das Wachs verströmte. Also zünde ich sie noch immer gelegentlich kurz an, wenn Paul auch in der Nähe ist. Einfach aus Prinzip. „Ich finde, die duftet voll angenehm.“
Max mag sie auch, aber ich glaube einfach nur deshalb, weil er es spannend findet, dass die Kerze noch irgendetwas anderes kann außer brennen.
Weil Paul aber nicht da ist, nehme ich sie ganz vom Tisch und verbanne sie in eine Schublade, damit der Schokoladenduft nicht überdeckt wird. Dann setze ich mich mit den Tassen zu den beiden an unseren kleinen, quadratischen Tisch. Falls Leon länger als nur ein oder zwei Tage bleibt, werden wir wohl einen größeren brauchen und auch noch einen Stuhl mehr, denke ich. Aber darum soll sich Paul kümmern – und mir von Ikea dann auch gleich ein paar duftneutrale Teelichter mitbringen. Wir haben schlechte Erfahrungen damit gemacht, gemeinsam dorthin zu fahren – Frieden herrschte dort bislang nur beim Hotdog danach. Auch das teilen wir mit echten Paaren. Wobei wir auch darüber beim letzten Mal gestritten haben. Er konnte es nicht lassen, darüber zu spotten, dass ich unbedingt den neuen veganen Hotdog probieren wollte. „Ist klar, Lisa. Sollte ich dir nicht vorgestern noch ein halbes Hähnchen vom Grillwagen mitbringen?“
„Umso besser, wenn ich heute mal verzichte“, habe ich trotzig behauptet. Prinzipiell finde ich das nämlich richtig gut – keine Tiere töten, weniger Treibhausgas verursachen, erst mal die hungernden Menschen in der Welt satt machen, statt Schlachtvieh mit Getreide abfüttern – es hapert vorerst nur noch oft an der Umsetzung. Auch weil ich mir nicht sicher bin, ob man Kinder vegan ernähren sollte, ich aber nicht immer zwei Gerichte kochen mag.
Meine Schokoladenmilch hat das Eis gebrochen, zumindest auf einer Seite. Unbefangen quatscht mein Sohn auf den viel älteren Jungen ein und stellt ihm Fragen, die er dann aber selbst beantwortet. Doch ich schreite nicht ein, denn ich habe das Gefühl, dass es Leon so ganz recht ist. Und ich wäre gerade gar nicht in der Lage, ein vernünftiges Gespräch zu führen. Meine Gedanken kreisen nur um ein Thema: Wie lange kann ich es mir überhaupt noch leisten, an diesem Tisch zu sitzen? Wie soll ich die Miete zahlen? Ich möchte nicht umziehen. Ich würde Sophie und Paul fürchterlich vermissen. Mir würden die Spaziergänge am Eilbekkanal fehlen, der gleich um die Ecke liegt. Ach, mir würde sogar die Budni-Drogerie an der Ecke abgehen. Natürlich ist mir klar, dass unser Konstrukt nicht für die Ewigkeit geschaffen ist. Aber solange es ohne große Komplikationen währte, hat es sich so behaglich angefühlt. Als wäre man Teil einer ganz normalen Familie.
„Ich glaube, dein Vater kommt“, sage ich aufmunternd zu Leon, als ich höre, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wird. Doch Leon lächelt nicht erleichtert, wie ich es erwartet hätte, sondern sieht beinahe schuldbewusst aus. Ich kann mir keinen Reim darauf machen, vielleicht auch, weil mich die Frage ablenkt, warum man reimen will, wenn man etwas nicht versteht.
„Leon, was machst du denn hier?“, ruft Paul, als er in die Küche schaut. Er sieht verwirrt aus, fängt sich aber schnell und geht mit ausgestreckten Armen auf seinen Sohn zu. Der hält ihm eine schlaffe Hand hin, noch bevor sein Vater ihn umarmen kann. Die Verwirrung kehrt in Pauls Augen zurück. Er lässt die Arme sinken und schaut auf die ausgestreckte Hand. Schließlich ergreift er sie. „Hallo. Wie kommst du hierher?“
„Ich kann auch wieder gehen“, murmelt Leon mit gesenktem Blick und gefolgt von einem kleinen Bellen.
Gerne würde ich Paul zuflüstern, dass hinter der Zurückweisung eines Teenagers eben doch oft die Hoffnung auf mehr Zuwendung steckt und er ihn jetzt erst mal ordentlich willkommen heißen sollte. Doch ich weiß nicht, wie ich ihn warnen könnte, ohne dass Leon es bemerkt. Von allein kommt Paul da niemals drauf. Er ist klug und einfühlsam, keine Frage. Aber wie die meisten Männer ist auch er von komplexen Subtexten und Zwischentönen schnell überfordert.
Statt mich einzumischen, beschließe ich, den dezenten Rückzug anzutreten. Ich stehe auf und versuche dabei, hektische Bewegungen zu vermeiden. Nur mein Kopf wackelt beharrlich in Richtung Tür, weil ich hoffe, dass mein Sohn es sieht und die anderen nicht, und ich mit ihm jetzt ganz schnell verschwinden möchte.
„Was hast du, Mama?“, fragt er mich interessiert und setzt wieder die Tasse an, um mit lautem Schlürfen auch noch den letzten Rest der süßen Flüssigkeit zu erwischen. Auch er ist kein Meister des Subtextes, möchte ich meinen.
Ich setze mich wieder hin und lasse ihn austrinken.
„Was? Wieso?“ Paul fährt sich hektisch durchs Haar, obwohl er sonst die Ruhe selbst ist. „Ich bin nur überrascht, das ist alles. Weiß deine Mutter, dass du hier bist?“
Kurz überlege ich, ob ich ihn nun doch ins Nebenzimmer zerren muss. Kann er ihn nicht einfach zu einem Baseball-Spiel schleifen und ihm eine Riesentüte Popcorn kaufen?
Leider kenne ich romantische Vater-Sohn-Beziehungen nur aus amerikanischen Filmen. Möglicherweise würde Fußball ja auch gehen. Auf jeden Fall gibt es sicher Dinge, die man unternehmen kann, um eine positive Grundstimmung zu erzeugen, bevor man einen Haufen kritischer Fragen stellt. Ich versuche, Paul mit Leons Augen zu sehen, und entdecke kein Anzeichen, dass er sich freut. Besorgt und unruhig sieht er aus. Dabei hatte er sich doch immer gewünscht, dass beide Kinder bei ihm leben. Bloß hatte Tine sich immer einen Sohn gewünscht und die Kinder nach der Trennung nach ihren Vorlieben aufgeteilt, bevor sie mit Leon nach München gezogen ist. Die Tochter war wie mein Sohn ein Unfall und durfte deshalb bei ihrem Vater bleiben, was den Vater freute und die Kleine erstaunlich gut wegsteckte.
Ich habe Tines Entscheidung nie verstanden, wie sie es bloß aushalten kann, so weit entfernt von einem ihrer Kinder zu leben, wo sie es nicht jederzeit in den Arm nehmen kann.
Meiner Meinung nach gab es keinen guten Grund für den Umzug, außer Paul das Leben schwer zu machen. Wenn er nun Leon sehen wollte oder die kleine Sophie ihre Mama zu sehr vermisste, war es nun an Paul, zwischen München und Hamburg hin- und herzupendeln. Es ist ihm in meinen Augen hoch anzurechnen, dass er nie darüber jammert.
Leon senkt den Blick. „Mama hat …“, ein kurzes Bellen, „… mir selbst das Ticket gekauft.“
Paul sieht jetzt nicht mehr ihn, sondern mich an – so, als wolle er abschätzen, wie ich mit dem Bellen klarkomme. Ich verziehe keine Miene, zumal Leon den wortlosen Austausch mit den peinvollen Blicken verfolgt und garantiert wieder missversteht.
Der Junge zieht einen zerknitterten Umschlag aus seiner Tasche und reicht ihn Paul. „Von Mama.“ Er räuspert sich und fährt mit der Tapferkeit eines müden Kriegers fort, der im Angesicht des Untergangs noch einmal allen Kampfgeist zusammennimmt: „Was soll ich mit meiner Tasche machen?“
„Am besten nimmst du Sophies Zimmer“, sagt Paul. „Wenn du rausgehst, ist es die Tür direkt gegenüber. Sophie kann erst mal bei mir schlafen, wenn sie zurückkommt. Sie ist nicht hier, weil sie für ein paar Tage Oma und Opa besucht.“
„Die Glückliche“, murmelt Leon wenig überzeugend.
Ich schaue ihn an, sehe das Zucken in seinem Augenwinkel und pruste laut los. „Genau, richtig großes Glück.“
Überraschenderweise grinst Leon mir zu, was Paul davon abhält, seine Eltern in Schutz zu nehmen. Sonst erstickt er immer jede Kritik an ihnen im Keim.
„Sie sind meine Eltern und haben mir viel ermöglicht. Zum Beispiel meine Existenz“, sagt er dann immer.
Die Hadenbrincks könnten wirklich stolz auf ihren loyalen Sohn sein, aber ich bin mir fast sicher, dass sie auch das anders sehen als ich. Ob sie wohl mit Leon klarkommen? Wie sie wohl reagieren würden, wenn der Junge beim Scrabble-Spielen oder Schweinebraten-Essen plötzlich losbellen würde?
Ich mag die beiden nicht, weil sie bei ihrem ersten Besuch allzu deutlich gemacht haben, was sie von unserem Arrangement halten. „So findest du nie eine Frau, wenn du hier so einer asozialen Alleinerziehenden Unterschlupf gewährst“, sagte seine Mutter.
„Deine Mutter hat recht“, ergänzte sein Vater.
Der Kommentar war nicht für meine Ohren bestimmt. Da er aber zum Familienabschied auf dem Flur – direkt vor der Tür zur Toilette, auf der ich gerade saß – geäußert wurde, erwischten mich die fiesen Worte mit heruntergelassenen Hosen. In dieser Position wäre ich keine überzeugende Verteidigerin meiner Würde gewesen, deswegen war ich sehr dankbar, dass Paul sich darum kümmerte. Ganz ruhig setzte er ihnen auseinander, dass ich keineswegs asozial sei, nur weil ich mir meine Haare knallrot färbe und mit damals siebenundzwanzig schon seit zwei Jahren alleinerziehende Mutter war. Schließlich sei er ja auch alleinerziehend und hätte im Gegensatz zu mir nicht einmal ein Studium abgeschlossen.
„Was, das kann man studieren, was die macht?“ Seine Mutter hatte entgeistert geklungen. Als ich ihr einmal erklärt habe, was ich mache, dachte sie vermutlich, wir Meteorologen wachen morgens auf und plötzlich überkommt uns eine Eingebung wie: Trägt’s Häschen lang ein Sommerkleid, ist der Winter auch noch weit oder Wirft der Maulwurf im Januar, dauert der Winter bis Mai sogar.
„Sicher“, antwortete Paul und der kaum noch verhohlene Ärger in seiner Stimme freute mich.
„Na, ich kann dir auch ohne Studium aus dem Kaffeesatz lesen. Das ist doch alles Quatsch“, sagte seine Mutter.
Kurz herrschte Stille.
„Mama“, sagte Paul immer noch mühsam beherrscht. „Du weißt, dass Lisa Meteorologin und nicht Astrologin ist? Sie sagt das Wetter vorher und nicht die Zukunft.“
Für eine Weile schwieg sie tatsächlich. Dafür sprang ihr Mann ihr bei. „Als ob das etwas Gescheiteres wäre, sind doch alles versponnene Himmelsgucker. Wenn die Sonne ansagen, nehme ich immer einen Regenschirm mit.“
Weil ihr nichts Schlimmeres einfiel, fügte seine Mutter hinzu: „Kein Wunder, dass die keinen Mann hat.“
Ich schnaubte. Plötzlich trat Stille ein, sodass ich fürchtete, als Lauscherin aufgeflogen zu sein. Man sollte meinen, das wäre ihnen nur recht geschehen. Doch vermutlich hätten sie mir meine unangenehme Lage nur selbst angelastet: Der Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand.
Die anschließenden Abschiedsfloskeln wurden leiser gemurmelt, aber sicher war ich mir nicht, ob sie mich bemerkt hatten.
Paul behauptete hinterher zwar, dass sie es nicht so gemeint hätten. Dennoch wurmt es mich seither, dass alleinerziehende Mütter immer irgendwie als Versagerinnen dastehen und alleinerziehende Männer wie verantwortungsbewusste Traumobjekte von Frauen mit Kinderwunsch – nämlich als Dads-I’d-like-to-fuck. Wenn das mal keine himmelschreiende Ungerechtigkeit ist.
Wenn ich nur an die Begegnung mit den Heidenbrincks denke, möchte ich Leon schon deshalb ganz fest knuddeln, weil die Aussicht besteht, dass er seine Großeltern genauso beknackt findet, wie ich es tue. Seine Gestik und Mimik setzt er allerdings zu sparsam ein, als dass man sie wirklich gut lesen könnte.
Gerade ist er wortlos verschwunden. Erst hören wir das Türenknallen, dann den Schrei. Kurz darauf öffnet sich die Tür zu Sophies Zimmer wieder und im Flur ertönt ein lautes Brüllen: „Nicht euer Ernst, oder?“
„Wenn das nicht Leons zartes Stimmchen ist“, murmele ich und springe zeitgleich mit Paul auf. Bei unserem Versuch, so schnell wie möglich in den Flur zu gelangen, stolpern Paul und ich fast übereinander und verheddern uns in einem albernen „‚Du zuerst‘ – ‚Nein, du‘“-Austausch. Dann endlich einigen wir uns und sehen uns einem echt zornigen Teenager mit dunkelrotem Kopf gegenüber.
„Da ziehe ich nicht ein“, sagt Leon kurzatmig und deutet auf das rosafarbene Schild an der Tür, auf dem „Kleine Prinzessin“ steht.
Ich verkneife mir ein Grinsen. Kein Wunder, dass er im Zimmer einen Schock bekommen hat – das Schild ist eine vergleichsweise harmlose Vorankündigung dessen, was hinter der Tür lauert: ein Paradies aus rosa Samt und Tüll.
„Ich lass mir etwas einfallen“, sagt Paul schwach.
„Dabei soll Rosa doch beruhigend wirken“, murmele ich. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass es in vielen Gefängnissen eine rosa Zelle gibt, in der Gewalttäter angeblich ihre Aggressionen vergessen. Manche sollen sogar darum betteln, noch mehr Zeit in dem Raum verbringen zu dürfen. So gut es auch bei ausgewachsenen Kriminellen wirken mag, versagt es bei weniger schweren Jungs komplett. Leon zumindest betrachtet uns beide mit so viel Abscheu, dass ich das Gefühl habe, gerade vor seinen Augen auf Wurmgröße geschrumpft zu sein. Wieder verschwindet er in dem Zimmer und wieder knallt die Tür. Diesmal folgt allerdings kein Schrei – vielleicht hat Leon ja der anderthalb Meter hohe Papp-Aufsteller von Prinzessin Lillyfee endgültig den Atem geraubt. Und wieso eigentlich war gerade vom Einziehen die Rede? Das klingt so dauerhaft. Wird fortan etwa eine dunkle Pubertätswolke über unserer bislang unschuldigen Kleinkinderwelt in Hellblau und Rosa hängen?
Doch dann stelle ich mir zerknirscht vor, wie Leon sich in dem fremden Zimmer fühlen muss. Ausgeliefert an ein feindliches Universum des Kitsches. Max ist uns mittlerweile aus der Küche gefolgt und stellt sich auf die Zehenspitzen, um die Türklinke von Sophies Zimmer hinunterzudrücken. Sanft halte ich seine Hand fest. „Lieber nicht, ich glaube, Leon muss sich ein bisschen ausruhen.“
„Ich störe ihn aber gar nicht.“ Wieder versucht er, die Tür zu öffnen, und wieder hindere ich ihn daran.
„Max?“ Er schaut mich treuherzig an. „Jetzt nicht.“
„Wann kann ich denn mit ihm spielen?“
„Für dich ist Schlafenszeit, mein Schatz. Du kannst schon einmal ins Badezimmer vorgehen und deine Zähne putzen. Aber gründlich.“ Ich bücke mich und gebe ihm einen Kuss auf die Wange, um die strengen Worte ein wenig abzumildern.
„Okay, okay“, sagt er missmutig und wischt sich kurz mit der Hand über die Backe. Wehmütig sehe ich meinem schon viel zu großen Jungen nach, wie er ins Badezimmer verschwindet. Schwer zu glauben, dass Leon auch mal ein knuffiges Kleinkind gewesen sein soll.
Paul ist schon wieder in der Küche verschwunden und ich folge ihm, um ihm zu raten, auf Leon zuzugehen, auch wenn er abweisend ist. Gedankenverloren faltet Paul den Brief von Tine zusammen. Dann schaut er auf den Tisch, ohne ein Wort zu sagen, die Hände sind zu Fäusten geballt.
„Alles in Ordnung, Paul?“
Zuerst denke ich, er hat mich nicht gehört, doch dann sieht er mit müdem Lächeln zu mir hoch. „Kannst du mir mal sagen, warum ich nicht mehr rauche?“
„Das frage ich mich auch ständig“, gebe ich zu. „Aber was ist denn passiert? Geht es Tine nicht gut?“
Ich sehe ihm an, dass er erschüttert ist. Ich denke an frühen Brustkrebs, ich denke an Depressionen, ich denke an große Lebenskrisen – und fürchte seine Antwort.
Paul blinzelt ein paarmal, dann sieht er zu mir hoch und schüttelt den Kopf.
„Ganz im Gegenteil. Denke ich zumindest.“
Er leiert beim Reden. Das sieht nicht gut aus, womöglich hat er einen Schock erlitten. Ich setze mich auf den Stuhl ihm gegenüber und hoffe, dass Max in der Zwischenzeit kein Chaos im Bad veranstaltet. Aufmunternd schaue ich Paul an. „Willst du erzählen, was los ist?“
„Tine hat einen neuen Partner.“
„Ich hätte nicht gedacht, dass dich das so mitnimmt“, sage ich überrascht.
„Was? Nein! Tut es auch gar nicht.“ Er fährt sich schon wieder wild durch die Haare. „Merkwürdig ist nur, dass sie schreibt, sie hätte nach der Erfahrung mit mir nie gedacht, dass sie noch mal einem Mann vertrauen kann. Sie meint, deshalb sei es nun meine Pflicht, sie darin zu unterstützen.“
„Brrrrrr. Stopp.“ Ich schüttele den Kopf. „Ich dachte, sie hätte dich betrogen?“
„Hat sie ja auch. Und sich felsenfest darauf verlassen, dass ich das hinnehme. Habe ich aber nicht. Deswegen musste sie nach München ziehen, um über meinen Verrat hinwegzukommen. Ich bin ein echtes Schwein.“ Er lächelt müde.
„Und wie du das bist! Aber so ganz verstehe ich noch nicht …“ Warum Leon bei uns einzieht, so wollte ich den Satz eigentlich beenden. In letzter Sekunde schlucke ich den Teil aber noch hinunter, weil er vielleicht zu ablehnend klingen würde.
„Anscheinend tun Leons Eigenarten einer jungen Beziehung nicht gut und es ist nun einmal wichtig, sagt Tine, dass sie sich jetzt mal ein wenig um sich selbst kümmert.“ Paul klingt bitter und ich kann es ihm nicht verdenken. Scheinbar kann Tine nicht mit Leons Tick umgehen. Etwa vor einem Jahr ist diese Angewohnheit bei Leon aufgetaucht, zumindest hat Paul es da zum ersten Mal erwähnt. Sosehr ich auch Tines Mut bewundere, ihre Prioritäten ganz anders zu setzen, als es die Gesellschaft von ihr erwartet, bin ich mir nicht sicher, ob es die richtigen sind. Ihr muss doch klar sein, dass Jungs in dem Alter sensibel sind, egal wie raubeinig sie tun. Und dass es wehtut, abgeschoben zu werden, denn genau so muss es sich doch für Leon anfühlen.
Tine steckt offenbar in der Phase der ersten Verliebtheit. Wie lange mag es dauern, bis eine Beziehung stabil genug ist, um einen pubertierenden Jungen zu verkraften, der einen anbellt? Das hängt vermutlich sehr von der Gelassenheit ihres neuen Partners ab.
„Aber sie kann ihn doch nicht einfach hier abladen wie einen Sack Kartoffeln“, rufe ich empört. „Er ist doch kein Gegenstand, den man einfach weggibt, wenn man ihn nicht mehr braucht!“
Paul hebt abwehrend die Hand. „Ich kann das auch nicht verstehen. Aber ehrlich gesagt freue ich mich, ihn hier zu haben, auch wenn du sicher nicht begeistert davon bist.“
„Darum geht es gar nicht“, bringe ich hervor, obgleich ich das Gefühl habe, in etwa so natürlich zu lächeln wie ein gruseliger Halloween-Kürbis, denn natürlich geht es auch ein Stück weit darum, dass ich mir Sorgen darüber mache, ob das Zusammenleben mit ihm gut funktionieren wird. Ehrlich gesagt sehne ich mich im Moment in meinen vier Wänden nur nach der Sicherheit des Vertrauten, wo sie in meinem Berufsleben gerade wegbröckelt. Doch ist mir vollkommen bewusst, dass es in dieser Situation nur eine akzeptable Reaktion gibt: „Es ist völlig in Ordnung, wenn Leon bei uns bleibt. So lange, wie es sein mu…, ich meine so lange, wie er möchte. So, und vielleicht solltest du jetzt zu ihm gehen und ihm genau das deutlich klarmachen. Ich schaue derweil mal nach Max.“
Er lächelt. „Du bist toll, Lisa, weißt du das?“
„Quatsch“, sage ich und eile aus dem Raum, damit er nicht sieht, wie ich erröte. Bei seinem Lob fühle ich mich wie eine elende Heuchlerin.
Im Badezimmer ist kein Max zu sehen. Ihm muss beim Warten langweilig geworden sein. Doch auch in unseren Zimmern entdecke ich ihn nicht. Ein scharfes Knurren aus Sophies Zimmer lässt mich zusammenschrecken, dann höre ich das unverkennbare Kichern meines Sohnes.
Max ist bei Leon, denke ich. Aber was treiben die dort?
Im Flur habe ich die Türklinke schon in der Hand, als mir einfällt, dass Kinder in Leons Alter sicher schon auf so etwas wie Privatsphäre beharren. Ich entschließe mich, dem Respekt zu zollen und anzuklopfen.
„Ist offen“, ruft Leon.
Auf Sophies Bett sitzen Max und Leon. Der Dreck und die Knochen auf ihrem Boden bilden einen grotesken Kontrast zu all dem Plüsch – es sieht aus, als würde hier eine durchgeknallte Voodoo-Prinzessin hausen.
„Was ist das?“, frage ich entsetzt.
Für eine Sekunde sieht Max schuldbewusst aus. „Die Tür zum Garten war nicht zu.“ Er senkt den Blick. „Ich hab die Knochen für Max geholt.“
Der Garten ist ein Vorzug unserer Erdgeschosswohnung, eine winzige, von Mauern umgebene Grünfläche. Doch für uns ist es eine kleine Oase inmitten der Großstadt, auch wenn andere beim Anblick der fünf Quadratmeter großen Rasenfläche die Nase rümpfen würden. Sogar für einen kleinen Sandkasten, ein paar Blumen und eine Biergartenbank mit zwei Bänken haben wir noch Platz gefunden. Ich starre erneut auf die merkwürdigen Teile auf dem Boden und kann dann in Gedanken das Gerippe der Taube zusammensetzen, die vor ein paar Wochen in unserem Garten verendet ist. Gemeinsam mit den Kindern hatten Paul und ich sie zu Grabe getragen. Was bei dem gefrorenen Boden nicht einfach gewesen war. Max muss wirklich hart gearbeitet haben, um sie wieder auszugraben.
„Max, spinnst du? Warum machst du so etwas?“
Er deutet erschrocken auf Leon. „Ich wollte mit ihm spielen. Ich dachte, dass er vielleicht wieder bellt, wenn ich ihm Knochen bringe.“
Jetzt möchte ich in den Boden versinken. Der arme Leon. Ich schaue zu Paul, der plötzlich hinter mir steht, aber noch kein Wort gesagt hat. Er sieht weder sauer noch erschrocken aus – er wirkt einfach nur überfordert und rauft sich schon wieder die Haare.
„O Gott, Leon, das tut mir so unendlich leid“, sage ich hastig. „Max versteht das noch nicht, er denkt …“
Finster kneift Leon die Augen zusammen. „Na und – besser, als wenn die Leute immer so tun, als würde ihnen gar nichts an mir auffallen. Eigentlich war es sogar ganz lustig, wie er den ganzen Kram hier angeschleppt hat. Aber denkt nicht, dass ich seinen Dreck wegmache.“
Ich schwanke zwischen der Erleichterung darüber, dass Leon die Angelegenheit locker nimmt, und einer Hysterie. Dass der kleine Sohn in der Dunkelheit tote Vögel ausgräbt, würde doch wohl jeden nervös machen. Ach, und hatte ich schon erwähnt, dass ich arbeitslos bin und ein finsterer Zwölfjähriger bei uns einzieht? Ich gehe meinen inneren Regler durch und bin froh, als ich kurz vor dem endgültigen Ausbruch doch noch auf den Pragmatismus-Knopf stoße. „Alles klar“, sage ich ruhig. „Ich hole kurz den Handkehrer, sorge hier für Ordnung und bringe dann Max ins Bett.“
„Ich will nicht“, murrt Max. „Ich bleibe lieber bei Leon. Der ist lustiger als du.“
Leon streckt mir die Zunge raus und dreht mir eine Nase, als Paul gerade nicht hinsieht, und Max lacht sich schlapp.
„Max, ich möchte, dass du jetzt kommst“, sage ich fest.
Max reagiert nicht.
„Max, ich glaube, ich will jetzt ein bisschen meine Ruhe haben“, sagt Leon schließlich. Ich bin mir nicht sicher, ob er mir helfen oder mich provozieren will. Zwar setzt sich Max bereits in Gang, sicherheitshalber rufe ich dennoch ein letztes Mal: „Mäxchen? Marsch!“
Irgendwie habe ich das Gefühl, meine Position als diejenige in Max’ Leben, die die Kommandos gibt, verteidigen zu müssen.
Max wirft seinem neuen Spielkameraden über die Schulter einen letzten beleidigten Blick zu, bewegt sich dann aber doch endlich in Richtung Badezimmer. Als ich mit dem Handkehrer zurück in Sophies Zimmer komme, hat sich Paul zu Leon aufs Bett gesetzt. Vorerst veranstalten die beiden aber eine Kakofonie misstönenden Schweigens.
„Ich gehe mal schnell zu Max und lese ihm noch seine Gutenachtgeschichte vor“, murmele ich beim Rausgehen.
„Soll ich dir vielleicht auch eine Geschichte vorlesen?“, höre ich Paul noch unsicher fragen. Ich verschwinde rasch mit dem vollen Kehrblech, bevor ich noch miterleben muss, wie Leon ein Buch nach seinem Vater wirft. Ich könnte es ihm nicht verdenken.
Du bist toll, Lisa. Ich sage mir den Satz mehrmals vor. Aber es nützt nichts. Wenn andere es sagen, fühle ich mich wie ein Hochstapler, wenn ich selbst es mir zuraune, will ich mir zugleich einen Vogel zeigen. Also verpasse ich meiner inneren Stimme gleich ganz einen Knebel und liege – kaum ist Max friedlich eingeschlafen – nur noch so auf meinem Bett herum und starre die Decke an. Sich das Denken zu verbieten, hilft leider nicht. Das darunterliegende Unbehagen lässt sich nicht so leicht abschütteln. Es sitzt als dumpfes Gefühl in meinem Hals, in meinem Bauch, es wummert hinter der Stirn und sogar mein Kiefer weiß, dass ich ein Problem habe, und presst sich zusammen. Da kann ich die Anstrengung des Nichtdenkens auch wieder aufgeben. Vielleicht löst eine gepflegte Heulerei die Anspannung besser. Und tatsächlich empfinde ich nach meinem Tränenausbruch eine tröstliche Leere. Für einen kurzen Moment sehe ich dem entwürdigenden Gang zum Arbeitsamt gelassener entgegen. In dieser kurzen Zeitspanne belastet mich auch der Gedanke nicht, meinen Eltern auseinanderzusetzen, was ein Hartz-IV-Empfänger eigentlich genau macht. Sie schauen jeden Abend um 20 Uhr die Nachrichten, deswegen müssen sie von solchen Dingen gehört haben. Aber das heißt ja nicht, dass sie sich näher damit befassen wollen. Ich erinnere mich noch lebhaft an ein Gespräch, das mein Vater mal mit einem Freund geführt hat. „Aldi? Da war ich mal. Es hat mir gut gefallen, aber ich habe mir nichts gekauft.“
Ich denke, über Menschen in meiner aktuellen Lage würde er sich ähnlich äußern. „Arbeitslose? Die habe ich schon mal gesehen. Ich fand sie putzig, habe sie aber nicht gefüttert.“
Er ist Naturwissenschaftler und weiß rein theoretisch, wie der Hase läuft, oder besser: wie die Erde sich dreht. Nur der Alltag auf dem Planeten ist immer ein bisschen ohne ihn rotiert. Zudem fehlt ihm eine Frau, die für etwas Bodenhaftung sorgen könnte. Meine Mutter ist eine verkannte Künstlerin, die Schnulzenromane verfasst. Am Ende schwebt sie in genauso fernen Galaxien wie mein Vater – bloß sind ihre pink und frei von schwarzen Löchern.
Eine nervtötende Musik stört mein wohltuendes Selbstmitleid.
Es handelt sich um den Song „It’s raining men“. Den hat mir mein letzter Freund als Klingelton aufgespielt und kam sich dabei wahnsinnig witzig vor. Sie verstehen schon – Meteorologin, Weather Girls, Raining.
Insgeheim fand ich die Idee damals schon doof und habe die Melodie zwar nicht gelöscht, aber dafür der einzigen Person zugewiesen, die mich so sehr nervt wie das Lied. Das war natürlich dumm. Menschen wie meine Schwester Zoe sollte man nur mit den schönsten Melodien verbinden. Sonst wird es zur Qual, nicht ranzugehen, und am Ende hebt man doch den Hörer ab und bereut es fürchterlich. Zoe will nämlich immer nur dreierlei – über unsere Eltern meckern, mich beschimpfen und Geld „leihen“ („Das bekommst du wieder, wenn ich volljährig bin“). Dabei habe ich keine Kohle mehr, dafür aber selbst genug Probleme.
Doch weil der Song so unerträglich ist und Max sich womöglich nie wieder davon erholen würde, von den Weather Girls geweckt zu werden, gehe ich am Ende doch dran. „Ja?“
„Meine Eltern sind verrückt“, quakt es erwartungsgemäß aus dem anderen Ende der Leitung. „Kann ich zu euch kommen?“
„Ganz sicher nicht“, fauche ich. „Übrigens, deine Eltern sind auch meine Eltern.“ Ich lege auf und schalte das Telefon stumm.
Es wirkt nach außen sicher hartherzig, dass ich so mit der sechzehnjährigen Nachzügler-Tochter meiner Eltern umgehe, aber in Wahrheit ist das Mädchen viel abgebrühter als ich. Außerdem höre ich ihr wirklich oft zu und bekomme jede ihrer Launen ungefiltert mit. Da nehme ich mir doch an einem Tag wie diesem einmal die Freiheit heraus, sie abzuwimmeln.
Neuerdings ist Zoe mit einem Faible für alles ausgestattet, was schwarz ist. Nicht ganz so neu ist der damit zusammenhängende, nicht näher definierte Weltschmerz und Hass, den sie an uns allen auslässt. Ein Schrei nach Zuwendung, so viel ist mir auch klar.
Dennoch: An diesem Tag ist mein Bedürfnis gering, jemanden neben mir in meinem Bett schlafen zu lassen, der mir in regelmäßigen Abständen den Tod wünscht. Meine Schwester gibt mir die Schuld an allem, weil ich schon dreizehn Jahre länger als sie auf der Welt weile. Angeblich habe ich in meiner Zeit als alleinige Tochter meiner Eltern so viel Zuneigung abgesaugt, dass Zoe diesen Vorsprung niemals würde aufholen können. Es sei denn, ich stürbe vor meinen Eltern, was ihr in ausgleichender Gerechtigkeit dann den gleichen Status verschaffen würde. Das ist in seiner verqueren Logik so weit ganz nachvollziehbar. Nur taucht unser Bruder in der Rechnung überhaupt nicht auf, der älter als wir beide ist.
Es ist an dieser Stelle wohl überflüssig geworden zu erwähnen, dass unser Nesthäkchen mit seinem Hang zur Dramatik eher nach meiner Mutter kommt, wohingegen ich mich wohl eher an der DNA unseres Naturwissenschaftler-Vaters bedient habe, auch wenn ich natürlich nicht so ein Freak bin. Nein, ich gehöre zu den eher nüchternen Typen. Gut, dass mir das noch einfällt, so gelingt es mir, weiter an die Decke zu schauen, ganz ohne zu heulen. Ich atme tief durch und sage zu mir: Morgen. Morgen ist auch noch ein Tag. Der Tag, an dem ich alles wieder in Ordnung bringe.
Diesen Vorsatz im Kopf fange ich den folgenden Tag eigentlich ganz vernünftig an. Erst bringe ich Max pünktlich wie noch nie in den Kindergarten. Was merkwürdig ist, weil ich an diesem Tag überhaupt nicht hetzen musste und dennoch schneller mit allem fertig geworden bin. Ich lerne daraus, dass die Zeit entweder ein widerspenstiges Luder oder eine überzeugte Buddhistin ist. Wird man selbst schneller, um sie zumindest gefühlt auszudehnen, erhöht sie ihr eigenes Tempo. Und bleibt man einfach ruhig, verläuft sie selbst auch langsamer. Und nun, wo ich das erkannt habe, erschleiche ich mir zusätzliche Lebenszeit. Gemächlich bereite ich mir einen Kaffee zu und schäume erwärmte Milch auf. Es ist niemand in der Wohnung, der sich an den Eiflecken auf meinem irgendwann mal weiß gewesenen Frottee-Bademantel stört. Paul hat sich spontan einen Tag freigenommen, um Leon die Stadt zu zeigen. Es könnte sehr entspannend sein. Den Termin beim Arbeitsamt habe ich erst am frühen Nachmittag und ins Büro muss ich nicht mehr gehen. Mein Chef hat mich freigestellt. So bekomme ich noch einen Monat lang Gehalt, ohne etwas dafür zu tun.
Als es an der Tür klingelt, schlurfe ich in den Flur und linse durch den Spion. Sollte dort jemand stehen, der mich nicht in meinem fleckigen Bademantel sehen darf, werde ich einfach nicht öffnen. Doch vor der Tür steht bloß Zoe.
„Was soll das?“, fahre ich sie an, während ich noch die Tür öffne. Neben Zoe blockiert ein riesiger, altmodischer Koffer das Treppenhaus. Er ist über und über mit den Logos irgendwelcher Death-Metal-Bands beklebt, die munter eine sehr geringe Anzahl an Wörtern wie „Killing“, „Torture“ und „Porn“ immer wieder neu und nicht immer sinnvoll mischen.
„Es ist doch nur für eine Nacht“, sagt Zoe beleidigt.
Woher weiß Zoe, dass ich nicht bei der Arbeit bin? Das Grübeln über diese Frage lenkt mich so weit ab, dass sie blitzschnell in die Wohnung schlüpfen kann. Und schon flutet ein gewaltiger Redeschwall meine Synapsen, der rasant zu einem Jammertsunami ansteigt, in dem ich fast ersaufe. Doch einen klaren Gedanken kann ich noch fassen: Ihr muss einfach entgangen sein, dass ich bisher tagsüber einer ernst zu nehmenden Tätigkeit nachgegangen bin. Deshalb hat sie sich nicht die Frage gestellt, ob sie jemanden antreffen würde. Sie ist noch so jung, dass alle ihr bekannten Menschen ebenso wie das Licht im Kühlschrank nur existieren, wenn sie die Tür öffnet, um sich ihnen zu widmen. Zwischendrin liegen sie im Dämmerschlaf, irgendwo in einem Universum, das allein um Zoe kreist.
An einem Tag wie heute ist dies aber eine willkommene Erkenntnis. Einem Menschen zumindest werde ich überhaupt nichts erklären müssen … weil ihn meine Probleme schlicht nicht interessieren.
„Moment mal“, hake ich ein. Mein gesunder Menschenverstand versucht, den Kopf über Wasser zu halten, und schnappt nach Luft. „Für eine Nacht hast du den riesigen Koffer vor der Tür angeschleppt?“
Das riecht für mich stark nach Mietnomadentum: Ist man einmal in der Wohnung drin …
Zoe hat den Anstand, für einen Moment zu schweigen. Dann setzt sie diesen großäugigen Blick auf, den ich bei ihr nur schwer ertrage. So, als sei sie immer noch das Mädchen in süßen Rüschenkleidern. Die Wimpern, die unschuldig klimpern sollen, sind so schwer unter den unzähligen Schichten klebriger Mascara, dass es nur gebremst vonstattengeht und deshalb eher lasziv als unschuldig rüberkommt. Von dem dreisten Grinsen mal ganz zu schweigen.
„Ich habe Nein gesagt.“ An diesem Tag lernt sie mich von meiner unerbittlichen Seite kennen.
„Du bist so was von egoistisch!“, kreischt Zoe.
„Zoe, hast du einmal daran gedacht, dass ich vielleicht mit eigenen Problemen zu kämpfen habe?“
„Eigene Probleme?“ Sie sieht mich ungläubig an, als hätte ich so ein ultrahippes Wort benutzt, das jemandem in meinem fortgeschrittenen Alter nicht mehr zustand – so etwas wie „Sex“ oder „Alkohol“.
„Was hast du denn für Probleme, bitte schön? Du bist erwachsen. Niemand schreibt dir etwas vor, oder? Du kannst tun und lassen, was du willst. Also sprich du nicht über Probleme.“ Sie bricht in Tränen aus. Zumindest hat es den Anschein, als würde sie weinen. Es taucht aber keine Flüssigkeit in den Augenwinkeln auf, die womöglich das Make-up verschmieren könnte.
Oder ist dieses trockene Schluchzen am Ende Ausdruck echter Verzweiflung? Mein Zögern wird schamlos ausgenutzt. Dieses Mädchen ist am Ende doch immer zu ausgebufft für mich. Mit einem triumphierenden Lächeln öffnet sie die Tür und hievt den Koffer in die Wohnung.
Ich schiebe ihn mit dem Fuß wieder raus. „Halt, meine Süße. Eine Entscheidung treffe ich erst, wenn wir gemeinsam mit Mama gesprochen haben und ich wirklich weiß, was los ist.“
Ein kleines, verschlagenes Lächeln verzieht ihren beneidenswert vollen Mund. Ich habe leider nicht nur den Verstand, sondern auch die eher sparsamen Naturwissenschaftler-Lippen meines Vaters geerbt. Als erwachsene Frau und Mutter sollte ich über allen Oberflächlichkeiten stehen und davon überzeugt sein, die bessere Gen-Ausbeute gemacht zu haben. Insgeheim glaube ich dies aber nur an guten Tagen. An sehr guten.
Die liebe kleine Zoe wittert eindeutig Morgenluft. „Dann kannst du mich ja auch gleich reinlassen, Mama ist froh, dass sie mich los ist.“
„Das werden wir ja sehen.“ Ich tausche meinen Bademantel schnell gegen Jeans und Pullover und schleife ihren Koffer dann zum Auto. Zoe schlurft hinter mir her. Ohne mir beim Tragen ihres Gepäcks zu helfen, das versteht sich ja von selbst. „Du willst ja unbedingt noch auf große Tour gehen, Lisa. Ich würde die Tasche einfach gleich hier bei dir stehen lassen.“
Als wir im Auto sitzen, erkennt Zoe wohl endlich, dass ich Ernst mache. „Du bist meine ältere Schwester“, appelliert sie an mein Mitgefühl. „Du kannst mich nicht ausliefern.“
Ich verdrehe die Augen. „Es besteht wohl kaum eine Gefahr für Leib und Leben, oder? Anschnallen, ich habe heute noch wichtige Termine und keine Zeit zu verlieren.“
„Sie wollte mich umbringen, wirklich. Meine eigene Mutter.“
Sie ist unsere Mutter, Kleine! Ich schaue stumm auf die Straße.
„Seit wann bist du so gemein?“, kreischt Zoe.
Seit mein eigenes Leben ins Wanken geraten ist. „Weshalb wundert dich das überhaupt?“, entgegne ich übellaunig. „Bis du nicht diejenige, die mich erst letzte Woche darauf aufmerksam gemacht hat, dass ich nichts weiter als ein Zombie bin, der nur zufällig mal im gleichen Mutterleib wie du saß?“
Natürlich habe ich ihr für diese Beschimpfung einen Anlass gegeben. Ich war so dreist, ihr abzuschlagen, Max mehrfach alleine zu Hause zu lassen. Ich sollte sie zu einer Party fahren und morgens um fünf wieder abholen – mitten in der Woche. Wobei nicht gewiss war, ob es wirklich so spät würde. Für den Fall, dass die Jungs sich als fade entpuppten, sollte ich auf Abruf bereitstehen.
„Mann, Lisa, darauf willst du mich festnageln, was ich letzte Woche gesagt habe? Ich bin sechzehn Jahre alt.“
„Stimmt. Deswegen kann ich dich ja auch gar nicht für voll nehmen, sondern bespreche die ganze Angelegenheit erst mal mit Mama.“
Danach blickt Zoe schmollend aus dem Fenster, bis wir die Hofauffahrt meiner Eltern erreichen.
„Ich bleibe hier sitzen“, brummt Zoe.
„Ist mir recht“, sage ich, ziehe aber nach einem Blick auf ihren unleserlichen Gesichtsausdruck vorsichtshalber die Autoschlüssel ab.
„Glaubst du echt, ich würde mit dieser Scheißkarre abhauen?“ Sie dreht gelassen ein Nagellackfläschchen auf, stellt es bedenklich nahe an den Rand der Ablage und fängt an, sich die Fingernägel schwarz anzumalen.
Ich umklammere das Lenkrad fest und starre auf meine weißen Fingerknöchel. Die Scheißkarre ist mein braver, uralter Opel Corsa, der mich noch nie im Stich gelassen hat. Ich habe mir das Auto gebraucht von meinem ersten Gehalt gekauft. Ich liebe den betagten Wagen.
Aber wie sollte die kleine Zoe, die allein von dem Geld unserer Eltern lebt, den Stolz verstehen, den ich beim Kauf empfunden habe? Ich beschließe, mich nicht mehr provozieren zu lassen, sondern Größe zu zeigen. Fortan werde ich dieses beschränkte Kind bemitleiden. Aufrecht gehe ich auf unser Elternhaus zu und klingele. Ich warte so lange auf eine Reaktion, dass ich schon Angst habe, dass ich Zoe tatsächlich wieder mit zu mir nehmen muss. Doch endlich öffnet sich die Tür.
„O Gott“, kreische ich, so laut ich kann, und greife mir ans Herz.
Zoe springt hinter mir aus dem Auto und sprintet sofort hinter mir her. Im Eingang steht unsere Mutter und sieht bestenfalls milde interessiert aus, als hätte ich nie martialisch herumgekreischt. Ich habe schon alles gesehen, Schätzchen, verrät ihr Blick. Zoe hingegen ist stocksauer, als sie bemerkt, dass ich sie mit einem uralten Trick reingelegt habe. Ich betrachte mein kindisches Verhalten an der Seite meiner beiden weiblichen Verwandten als Notwehr. Man muss sie mit ihren eigenen Waffen schlagen, sonst ist man geliefert.
„Findest du das lustig, mich so zu verarschen?“, ruft Zoe. „Ich hätte einen Herzinfarkt bekommen können.“
„Mit sechzehn?“, sage ich spitz.
„Mutter hätte einen Infarkt bekommen können“, beharrt Zoe. „Die ist ja wohl alt genug dafür.“
„Danke, Liebling“, sagt Mama trocken zu ihrer jüngsten Tochter. „Schön, dass du wieder da bist. Ich wusste, dass du heute noch zurückkommst.“
Zoe, für die es nichts Schlimmeres gibt, als die Erwartungen ihrer Eltern zu erfüllen, stiert mich wütend an.
„Können wir vielleicht erst mal reingehen?“, frage ich. „Es ist heute ganz schön kühl, oder?“
„Selbstverständlich“, sagt meine Mutter und geht schwungvoll voran. Der Hauch von Drama, der unseren Auftritt umwehte, hat ihr Auftrieb gegeben. Weil sie auf große Effekte steht, ist unser Nesthäkchen – anders, als es behauptet – der eigentliche Liebling unserer Mutter. Gefolgt von meinem Bruder, der attraktiv und schwul ist und deshalb nur gepflegte Schwiegersöhne anschleppt, statt ihr weibliche Konkurrenz ins Haus zu holen, und mit denen meine Mutter nur allzu gerne flirtet.
Mamas schulterlange Locken wippen bei ihrem schwungvollen Gang. Als sie erfahren hat, dass Grau das neue sexy ist, hat sie ihren immer noch naturbraunen Schopf kurzerhand silbern gefärbt, was für mich immer noch etwas gewöhnungsbedürftig ist.
Ohne weitere Zwischenfälle sammeln wir uns schließlich im Wohnzimmer, wo Mama Teetassen mit Rosendekor und dampfendem Inhalt auf dem Mahagoni-Tisch vor uns abstellt. Ich schaue misstrauisch auf die Oberfläche, auf der wie erwartet ominöse Kräuter schwimmen. Mama gefällt sich in ihrer Rolle als kundige Vertreterin des weiblichen Prinzips. Dazu gehören auch Anklänge von Magie und Kräuterkunde in Anlehnung an die weisen Frauen der Vergangenheit. Doch ich bin mir sicher, dass sie die Pflanzen Beinwell von Schierling nicht unterscheiden kann, und in einem düsteren Krimi habe ich gesehen, wie schnell kleine Patzer beim Kräutermischen dazu führen können, dass man mit Schaum vor dem Mund äußerst langsam verreckt. Auch der Duft appelliert eigentlich an alle menschlichen Warnsysteme: Nicht trinken.
Ich folge meiner inneren Stimme. Mama und Zoe nippen mutig an dem Gebräu, doch Zoe sieht mich über den Tassenrand hinweg immer wieder bedeutungsschwer an. Siehst du, ich habe es dir gesagt, dass sie mich vergiften will. Es ist allein deine Schuld, wenn ich mich gleich in spastischen Zuckungen auf dem Boden verrenke.
Gelassen ignoriere ich sie und schnappe mir einen der Schokoladen-Cookies, von denen ich weiß, dass sie gekauft sind, obwohl Mama immer etwas anderes behauptet.
„Frisch aus dem Ofen“, pflegt sie zu ihren Gästen zu sagen. Doch in der Mikrowelle stinkt es dann immer süßlich und wer in den Plastikmüll schaut, findet auch noch die Verpackung. So weiß ich zumindest, dass ich mich nicht in Gefahr begebe, wenn ich darauf herumknabbere. Zoe und Mama betreiben nun lautstark Problembewältigung. Das können sie ohne mich viel besser. Bis sie sich wieder in den Armen liegen, tippe ich entscheidende Fragen in mein Handy – welche Unterlagen ich heute Nachmittag zur Arbeitsagentur mitnehmen muss und ob das neue Hirsegedöns, das ich Max immer mit in den Kindergarten gebe, von Ökotest für brauchbar befunden wurde. Dann beschließe ich noch, meiner Freundin Kessie eine Nachricht zu schicken. Ich drapiere dafür meine Teetasse auf dem Arzt-Roman, der auf dem Tisch liegt – meine Mutter hat ihn geschrieben –, und schicke Kessie ein Foto von dem Arrangement mit den Worten: „Gift zu mischen, ist ein geringeres Verbrechen, als schlechte Prosa zu schreiben.“
Fertig. Ich liebe WhatsApp und den regen Nachrichtenaustausch, den man damit kostenlos betreiben kann. Das gibt mir das Gefühl, immer noch am Leben meiner kinderlosen Freunde teilzuhaben, auch wenn ich sie fast nie sehe.
„Was sagst du dazu, Lisa?“ Meine Mutter sieht mich erwartungsvoll an.
Ich fahre ertappt zusammen, weil ich gar nicht zugehört habe. „Wozu jetzt genau?“, frage ich vorsichtig.
„Mama will mich nicht zu meiner Freundin in die Staaten fahren lassen, ich soll die Winterferien in Hamburg verbringen. Da sterbe ich vor Langeweile. Ungelogen. Ich sterbe wirklich, wenn ich hierbleiben muss.“
„Kind, eine Reise in die USA ist sehr teuer und lohnt sich doch für eine Woche gar nicht so richtig.“
„Du hast eine Freundin in den Staaten?“, frage ich überrascht.
Zoe verdreht die Augen. „Wir haben uns online in der Love-to-Die-Community kennengelernt. Und wir hatten wirklich einen intensiven Austausch. Wir wollen gemeinsam zu einem riesengroßen Gothic-Festival gehen.“
„Love to die?“ Ich pruste los. „Na, wenn du Todessehnsucht hast, dann bleib doch einfach in Hamburg und stirb vor Langeweile.“
„Das war jetzt aber unsensibel von dir, Lisa“, schimpft meine Mutter. Und ich beschließe, nicht weiter zu versuchen, an dem Gespräch teilzuhaben. Genau eine Stunde später bin ich schon froh, dass ich meine Kräfte geschont habe, indem ich nicht versucht habe, meine Mutter und meine Schwester zu verstehen. Mein Aufenthalt bei der Arbeitsagentur entpuppt sich nämlich als wahre Prüfung. Im Kindergottesdienst wurde uns früher immer erzählt, dass Gott nur seine Lieblinge prüft. Die gleiche Erzieherin zwang mich auch dazu, in einer Aufführung der Geschichte von Jona im Bauch des Walfischs den Wal zu spielen, weil ich ein etwas pummeliges Kind war. Die anderen Kinder frohlockten natürlich. Wohlwollend könnte man der bösen Frau natürlich unterstellen, dass sie mich als bevorzugtes Geschöpf gesehen hat und deshalb prüfen wollte, doch damit hätte sie ja die Rolle Gottes eingenommen, die ich ihr beim besten Willen nicht zugestehen wollte. Ganz im Gegenteil: Als ich unter dem Gelächter der anderen in dem granitgrauen Plüschoverall mit dem weißen Buch (Jonas Wal war offensichtlich ein Killerwal) schwitzte, überkam mich die Eingebung, dass sie bloß eine teuflische Sadistin war, die vielleicht auch sonst nur Quatsch verzapfte.
Traumatisiert von dieser Erfahrung kann ich mich auch an diesem Tag nicht durchringen, meine harte Prüfung als irgendwie liebevoll gemeintes göttliches Zeichen zu sehen.
Stattdessen winde ich mich als Nummer 532B zwischen zwei stark schwitzenden Männern auf einem unbequemen orangefarbenen Plastikstuhl. Einer der Männer muss gerade eine große Portion roher Zwiebeln verspeist und der andere ein wenig auf seine Jeans uriniert haben. Pling. Ich habe eine SMS bekommen. Meine Sitznachbarn schauen unauffällig interessiert aus den Augenwinkeln auf mein Display. Von ihrer Neugierde fühle ich mich fast so bedrängt wie von ihren Ellbogen, aber ich sehe mir die Nachricht dennoch an. Es ist die Antwort auf meinen Beitrag mit dem Tee-Foto, das ich bei meiner Mutter gemacht habe. Ich habe nun ebenfalls ein Foto erhalten. Ein sehr unvorteilhaftes. Es zeigt meine Schwester und mich mit glasigen Augen bei einer Familienfeier vor ein paar Monaten. Meine Schwester hatte noch nicht viel Alkoholerfahrung, ich aber leider keine Ausrede. Wir halten mit roten Kaninchenaugen dicke Glashumpen in die Kamera. Darunter wurde nun der Kommentar verfasst: „Ein Haus voller Töchter ist ein Keller voll saures Bier.“
Die Nachricht stammt von meiner Mutter. Offenbar habe ich meine Häme über ihr Handwerk in einer freudschen Fehlleistung direkt an sie selbst geschickt.
Pling. Keine neue Nachricht, diesmal war es die Anzeigetafel. Die Nummer 532B darf an den Tisch 5 herantreten. Meinen familiären Super-GAU muss ich dann wohl später ausbügeln. Meine Beraterin heißt M. Celik, das verrät ihr Schild. Sie ist in etwa so alt wie ich und sehr freundlich, kann aber auch nicht viel für mich tun. Wir gehen zusammen eine Menge Inserate durch – das nennt man wohl betreutes Stellenanzeigen-Lesen. Als wäre ich selbst dazu nicht in der Lage. Am Ende schaut sie mich enttäuscht an. Ich bin weniger überrascht als sie, habe ich doch tags zuvor bereits bei meiner eigenen Recherche festgestellt: Teilzeit-Meteorologinnen mit kleinem Kind sind derzeit nicht die heißeste Ware auf dem Arbeitsmarkt.
„Vermutlich bleibt Ihnen nur eine unserer Trainingsmaßnahmen“, stellt Frau Celik bedrückt fest.
„Eine Trainingsmaßnahme?“ Das klingt nach einer Tätigkeit im Steinbruch für Schwervermittelbare.
„Da sind sehr interessante Angebote darunter“, sagt sie ohne besondere Überzeugungskraft. „Zum Beispiel haben wir einen Theaterkurs im Angebot, bei dem Ihnen sehr viele gerade gefragte Skills vermittelt werden – letztendlich ist es ein Selbstvermarktungs- und Kommunikationstraining. Das zu beherrschen, ist doch in jedem Job nützlich. Könnte das nicht auch für Sie etwas sein?“
Meine Mutter wäre begeistert. „Und das soll dazu beitragen, dass ich bald wieder einen Job habe?“, frage ich misstrauisch. „Nein danke. Ich glaube, das ist nichts für mich. Ich habe überhaupt kein schauspielerisches Talent.“
„Es ist gekoppelt an ein anschließendes Praktikum im kaufmännischen Bereich“, sagt sie.
Ich runzle die Stirn. „Ich sehe da den Zusammenhang nicht richtig.“
Sie sieht vorsichtig zu den Nachbartischen. Dort sitzen mausbraune Frauen mit Pagenkopf und Brille, die mich an die Erzieherin erinnern, die mich in das Walkostüm gesteckt hat. Frau Celik senkt die Stimme, sodass ich mich vorbeugen muss, um sie zu verstehen. „Darum geht es nicht. Sie sollten es sich überlegen, ob Sie nicht doch teilnehmen wollen. Schlafen Sie noch mal darüber. Im Ernst, sonst landen Sie am Ende in dem Sales-Management-Kurs und da …“, ihre Stimme wird noch leiser, „… stehen Sie in Papp-Attrappen von Geschäften und spielen Kaufmannsladen.“
Ungläubig starre ich sie an.
Ihre Stimme wird wieder lauter. „Und hier sind die Formulare, die Sie am besten jetzt gleich ausfüllen. Wir haben viele Anträge zu bearbeiten. Leider sind Sie ja ein wenig spät dran.“ Ihre Lippen formen ein „sorry“.
Vor Schreck stammele ich: „Aber ich habe ja auch jetzt erst erfahren, dass ich nach Ende des Monats nicht wiederkommen soll. In der Probezeit ist die Kündigungsfrist leider nur so kurz. Heißt das, dass ich nicht gleich Geld bekomme?“
Früher hätte ich meine Eltern um eine Leihgabe bitten können, aber seit mein Vater in Rente ist, sieht es bei ihnen auch nicht mehr so rosig aus. Und sie müssen ja noch Zoes Ausbildung bezahlen. Die Beträge, die meine Mutter für ihre Romane, Kräutermischungen und gefilzten Eulen erhält, decken nicht einmal die Ausgaben für ihren exzentrischen Kleidungsstil und ihren erlesenen kulinarischen Geschmack. Ich schlucke. Vielleicht sollte ich meine Eltern doch langsam in das Prinzip Discounter einweihen. Aber auf dem Wochenmarkt ist Mama eine kleine Berühmtheit, die mit jedem über ihre Kräuterkenntnisse spricht und sich mit den Bauern ausgiebig über biodynamische Anbau- und Ernteweisen austauscht.
„Es kann acht Wochen dauern, bevor der Bescheid eintrifft, und ich empfehle, keinen Widerspruch einzulegen, sonst müssen Sie mit noch mehr Wartezeit rechnen.“
Ich sehe ihr an, dass dies keine Drohung ist. Ganz im Gegenteil. Sie ist mir so wohlgesonnen, dass sie mich in die Geheimnisse ihres Behördenalltags einweiht.
Wieder schlucke ich.
„Aber Sie können einen Vorschuss beantragen. Am besten jetzt gleich.“
„Das würde ich dann gerne tun“, sage ich matt.
Danach wechseln wir noch ein paar Worte über unsere Kinder. Sie hat zwei und im Gegensatz zu mir auch noch einen Mann und einen Job. Die Kinder Selim und Azra schauen mit besänftigenden Kulleraugen aus einem gerahmten Foto auf ihrem Schreibtisch. Vielleicht hilft es ja. Vor Zwiebelgeruch schützt es womöglich nicht, aber vielleicht fahren zumindest die aggressiven Kunden im Warteraum ihr Betriebsklima ein wenig herunter, wenn sie die Kleinen anschauen.
Als ich das Behörden-Hochhaus verlasse, rempele ich aus Versehen einen Mann an, der dort neben der silbernen Tonne steht und raucht. Ich entschuldige mich verlegen.
„Du bist neu hier, oder?“, fragt er lächelnd.
„Neu hier?“ Das klingt, als wäre ich jetzt Mitglied in einem exklusiven Klub.
Dann entdecke ich die Kerbe in seinem Kinn und schaue sie gebannt an – ich dachte, so eine hätten nur alte Hollywoodschauspieler. Er sieht auf noble Art runtergekommen aus. Über der Jeans hat er einen karierten Wollmantel an, die Schuhspitzen darunter sind extrem abgestoßen. Er trägt einen Dreitagebart und wuscheliges dunkles Haar.
Er lacht. „Na, im Reich der Verlorenen. Für uns gilt das natürlich nur vorübergehend. Aber ich verrate dir etwas:
So übel ist es hier gar nicht. Der Aufenthalt erweitert den Horizont, weil du hier jeden treffen kannst. Müllmänner, Journalisten, Putzfrauen, Sekretärinnen, Akademiker … und Schauspieler.“
Er deutet eine Theater-Verbeugung an. Schauspieler also. Kein Wunder, mit der Kerbe. Er raucht die roten Gauloises. Das war auch meine Marke, als ich noch geraucht habe. Damals hätte das als Gemeinsamkeit schon ausgereicht. Heute weiß ich natürlich, dass sich darauf keine tiefere Beziehung ausbauen lässt, aber auch noch der kleinste gemeinsame Nenner weckt in mir immerhin so viel Sympathie, dass es für eine oberflächliche Hartz-IV-Freundschaft ausreichen könnte. Und dann sein Job. Es ist unfair, aber es gibt charismatische Berufe, die in anderen Menschen sofort etwas Starkes auslösen. Schauspieler, oh! Maler, ah! Schriftsteller, uh! Die Reaktion auf meinen Job ist stets nur ein neutrales „aha“.
Aber Künstlern haftet immer so eine spezielle Aura an, die Einsichten in eine Welt verspricht, die schillernder ist als die aller anderen Menschen.
Ich versuche, mich davon nicht beeindrucken zu lassen, sondern ganz lässig zu bleiben. „Ups“, sage ich mit einem nicht zu euphorischen, sondern einem gerade angemessenen Lächeln. „Müsste ich dich kennen?“
Ich schaue noch einmal genauer hin. Die Augen sind hellblau und die Wimpern darüber ganz schwarz, das lässt seinen Blick etwas dramatisch wirken, fast, als wäre er von Kajal umrandet.
„In Reichtum wie in Armut“, sagt er. Das ist der Titel einer beliebten Vorabendserie, deren Stars es auf die Titel der Bildzeitung schaffen, und noch bevor die beim Altpapier landet, ist auch die Zeit der Schauspieler rum und sie beißen im Dschungelcamp beherzt in Kakerlaken.
„Ich bin aber gerade den Serien-Tod gestorben.“ Er fasst sich an die Kehle und macht Würg-Geräusche. „Und Container und Kakerlaken sind nicht mein Ding, deswegen bin ich nun erst mal hier“, sagt er lächelnd.
Besorgt schaue ich ihn an, als er mit den Kakerlaken anfängt – kann er etwa Gedanken lesen?
„Und was hast du in deinem vergangenen Leben gemacht?“, fragt er mich und trotz seines ironischen Grinsens läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Es klingt, als gäbe es kein Zurück mehr, sollte man einmal auf diese Insel verbannt sein.
„Ich bin Meteorologin.“ Ich weigere mich, in der Vergangenheit davon zu sprechen.
„Eine Wetterfee?“ Er pfeift kurz. „Beim Fernsehen?“
Ich schüttele energisch den Kopf.
„Hübsch genug wärst du ja“, sagt er mit einer so angenehmen Leichtigkeit, dass der Satz gar nicht wie eine schleimige Floskel wirkt.
Deshalb bin ich so geschmeichelt, dass mir erst viel später durch den Kopf geht, dass er mir damit im Grunde erzählt hat, dass es für ihn nichts Erstrebenswerteres gibt, als im Fernsehen aufzutreten. Eine Meinung, die ich nicht teile. Es gibt Orte, an denen Wissenschaftler meiner Meinung nach mehr bewirken können.
„Hast du schon etwas Neues in Aussicht?“, fragt er.
Ich schüttele bedrückt den Kopf.
„Weißt du was? In zwei Wochen bin ich bei einem Filmdreh in der Speicherstadt. Allerdings nur als Komparse, aber es gibt dafür immerhin 150 Euro, für mich sogar 200, weil ich etwas sagen soll. Es werden noch Leute gesucht.“
Ich pfeife geräuscharm. Ich konnte noch nie gut pfeifen. „Das ist nicht gerade wenig.“
„Meist gibt es nur etwa 50 Euro. Aber dies ist ein amerikanischer Film mit richtig viel Budget. Und sie zahlen eine Zulage, weil die Darsteller nur zerfetzte Unterwäsche tragen. Aber …“
„Alles klar, damit hat es sich für mich erledigt“, unterbreche ich ihn nicht mehr ganz so freundlich. Das klingt nach Porno und für Nacktauftritte würde ich mich auch nicht hergeben, wenn die Außentemperatur über 5 Grad betragen würde.
Er lacht. „Es ist nicht das, was du denkst. Sie drehen einen Zombie-Film und du bekommst noch jede Menge Dreck aufgemalt. Wahrscheinlich bist du am Ende gar nicht zu erkennen. Das wird richtig lustig.“
Ich zögere. Vielleicht wäre es tatsächlich ganz spannend, mal bei einem Dreh dabei zu sein. Vielleicht sehe ich sogar einen berühmten Schauspieler und habe auf Facebook mal etwas Interessanteres zu berichten als: „Yippie, mein Sohn braucht nachts keine Windel mehr.“
Die sozialen Medien sind wirklich ein Teufelszeug. Klebt man erst mal im weltweiten Netz, macht man Entscheidungen plötzlich von deren Außenwirkung und nicht der eigenen Innenwirkung abhängig. Also noch mal: Würde es mir unabhängig davon auch Spaß machen? Ich schaue noch einmal auf die Kerbe am Kinn meines Gegenübers und lasse mir schließlich die Telefonnummer der Komparsen-Agentur geben.
„Das ist Stefan, wir sind Freunde. Grüß ihn einfach von Jonas.“
„Einverstanden“, sage ich. Eine Mischung aus Panik und Aufregung überkommt mich bei dem Gedanken, einen halb nackten Zombie zu geben. Aber vermutlich ist alles besser als die dumpfe Grübelei, die ich sonst in meiner Freizeit betreiben würde. Und ich würde mich mitten am Tag mit einem attraktiven Mann treffen, was bedeutet, dass ich keinen Babysitter organisieren muss. Nicht, dass ich ein ernsthaftes Interesse an einem Mann hätte, den ich noch gar nicht kenne, aber ich bin noch zu jung, um so etwas wie das leichte Pulsieren, das ich zwischen uns wahrgenommen habe, nicht ein klein wenig zu genießen.
Deshalb bin ich auch – dafür, dass ich faktisch am Boden liege – einigermaßen beschwingt, als ich meinen Sohn aus dem Kindergarten abhole. Als er seine Arme um mich schlingt – begeistert darüber, dass ich ihn derzeit früher als sonst abholen kann –, weiß ich aber plötzlich nicht mehr, wie ich auch nur für eine Sekunde glauben konnte, dass mir etwas in meinem Leben fehlen würde.
Hand in Hand gehen wir nach Hause und ich versuche, nicht zu lachen, als Max mich so herrlich empört anschaut, wie es nur von ihren Eltern enttäuschte Kinder tun. „Mama, warum hast du mir gesagt, dass Jedi-Ritter im Weltraum kämpfen?“
„Na, weil du mich danach gefragt hast, was Jedi-Ritter so machen.“ Ein größeres Kind hat vor Kurzem eine Yoda-Figur mit in den Kindergarten gebracht, die Max danach noch lange beschäftigt hat.
„Ja, aber das war Quatsch, was du gesagt hast.“
„Wie kommst du darauf?“, frage ich überrascht.
„Murad hat gesagt, die Jedi-Ritter kämpfen im Universum.“ Murad und Max sind echte Kindergartenkumpels, auch wenn sie sich alle drei Tage gegenseitig die Freundschaft aufkündigen und sich dann für einen Nachmittag spinnefeind sind. Am Ende finden sie immer wieder zusammen, um sich notfalls gegen den Rest der Welt zu stemmen.
„Der Weltraum und das Universum hängen ganz dicht zusammen. Die meisten Menschen sagen mal Weltraum, mal Weltall und mal Universum und meinen immer den Raum dort oben, wo die ganzen Sterne und der Mond sind.“
„Aha“, sagt Max. „Dann ist alles das Gleiche.“
„Nicht ganz, aber die meisten Menschen meinen das Gleiche. Vielleicht kann man sagen, dass der Weltraum eigentlich der Raum zwischen den Sternen und Planeten ist. Und das Universum … das ist eben das große Ganze.“
„Das große Ganze?“
„Die Galaxien …“
Er unterbricht mich sofort. „Galaxien?“
Ich könnte mich ohrfeigen. Mehrfach. Was habe ich da nur losgetreten? „Das ist eine Ansammlung von Sternen, Nebeln und Planeten, die zusammengehören.“ Ich denke, es ist in Ordnung, den Teil mit der Schwerkraft vorerst zu verschweigen. Man sollte meinen, dass eine Galaxie ausreicht, um es Murad mal so richtig zu zeigen. „Und diese Galaxien, die Sterne, die Planeten, der Raum dazwischen – einfach alles, was wir dort draußen sehen und nicht sehen können –, das ist das große Ganze. Das Universum.“
„Und wenn es dunkel ist, gehen da die Sterne an“, sagt er zufrieden.
Ich gehe neben ihm in die Hocke, drücke ihn kurz an mich und gebe ihm einen dicken Kuss auf die Wange. „Ich hab dich sehr lieb, weißt du das?“
„Klar“, sagt er. „Du bist ja meine Mama.“
Für einen Moment schauen wir versonnen in den Himmel. Die Wolken schweben wie große weiße Federn mit ausgefransten Rändern über uns. Es geht doch nichts über einen anständigen Zirrus. Diese Wolken treten so weit in der Höhe auf, dass sie aus feinen Eiskristallen bestehen. Ein heller, ebenso weit entfernter Punkt zieht einen Kondensstreifen über den Himmel, der eigentlich nichts anderes ist als ein menschengemachter Zirrus. Nur der gerade Verlauf verrät ihn – nie wäre die Natur so einfallslos.
„Schön, die Wolken, oder?“
„Ja“, sagt Max ohne echte Begeisterung. Der Moment ist vorbei und er drückt mich entschlossen weg. Ihn beschäftigt Wichtigeres als mütterliche Gefühlsduselei. „Bekomme ich ein Lichtschwert? Ich meine eines, das wirklich leuchten kann?“
„Vielleicht wenn du etwas größer bist“, sage ich ausweichend. Aber dann finde ich die Standard-Antwort auf solche Fragen selbst doof. „Aber du kannst ja dein Glück versuchen und es dir zu Weihnachten wünschen.“
„Das dauert ja noch ganz lange“, murrt Max.
„Nicht einmal mehr ein Jahr“, tröste ich ihn, wohl wissend, dass schon die letzte Woche vor Weihnachten Kindern wie eine Ewigkeit erscheinen kann. Vielleicht setze ich meinen Bruder Roman schon zu Mäxchens Geburtstag im Mai darauf an.
Ich wette, für ihn gibt es nichts Großartigeres, als sich durch das Angebot leuchtender Lichtschwerter zu wühlen. Roman hat von unseren beiden Elternteilen das Beste abbekommen: technisches Interesse und einen kreativen Umgang damit.
„Du hast doch gesagt, Weihnachtsmänner bringen keine Waffen.“ Misstrauisch schaut Max zu mir hoch. Mir fällt ein, dass er recht hat. Bislang habe ich ihm Weihnachten als besonders friedfertiges Fest verkauft. Er sollte noch nichts über das große Kuddelmuddel aus großen Erwartungen, enttäuschten Hoffnungen und Familien-Zwists bei der richtigen Zubereitung von Rotkohl wissen. Hätte ich ihm etwa sagen sollen, dass es sich bei dem Fest um ein Abfallprodukt der Konsumgesellschaft handelt? Ihm mitteilen, dass es durch heidnische Rituale und religiösen Anstrich so aufgewertet wurde, dass alle Erdenbewohner sich völlig überfordert an die Gurgel gehen müssen und der Einsatz von allen erdenklichen Waffen inklusive Laserschwertern sogar angebracht scheint?
Wieso haben Kinder bloß so ein gutes Gedächtnis, sobald es ihnen dabei hilft, Fehler ihrer Eltern aufzuspüren?
„Aber ein Lichtschwert braucht man eben, oder?“, sage ich leichthin.
Max ist zu schlau, um diese Logik lauthals infrage zu stellen. Mir kommt ein Einfall, ihm preiswert und ganz schnell ein weniger fragwürdiges Stück Universum zu präsentieren: „Wollen wir eine Galaxie basteln? Mit Sternenstaub und allem Drum und Dran?“ Das habe ich mal in einem Blog gesehen und es hat mich sofort begeistert.
„Echt?“
„Ja klar. Dann müssen wir nur noch ganz schnell bei Budni etwas einkaufen gehen, einverstanden?“
Er wägt seine Abneigung gegen alle Geschäfte, die seine Mama mag, gegen seine Neugierde auf eine Galaxie ab.
„Also gut“, sagt er schließlich großmütig.
Nachdem wir in besagtem Drogerie-Markt ein hübsches Einmachglas, einen Beutel Wattebäusche und in der Nagellackabteilung noch etwas Glitzerstreu gefunden haben, tragen wir alle Zutaten, die wir brauchen, in der Tasche nach Hause.
Dort angekommen, schälen wir uns aus den warmen Sachen und stoßen danach auf Leon, der ganz allein am Küchentisch sitzt.
„Hallo“, begrüße ich ihn überrascht. „Ist Paul gar nicht bei dir?“
„Der musste noch mal zur Arbeit und holt auf dem Rückweg Sophie ab“, nuschelt Leon gewohnt mürrisch.
„Oh“, sage ich und überlege, wie ich uns die Zeit vertreiben kann. Ich schaue auf die Uhr. „Es ist zwar schon 15 Uhr, aber ich habe noch nichts Vernünftiges zu mir genommen. Hast du schon mit Paul gegessen?“
Leon deutet auf das Telefon auf dem Tisch und einen Flyer. „Paul meinte, ich solle mir bestellen, was ich will.“
Ich finde es seltsam, dass er seinen Vater beim Vornamen nennt, gehe aber nicht darauf ein.
„Wann war das denn?“, frage ich verwirrt.
Er windet sich. „Gegen 12 Uhr vielleicht?“ Ein kurzes Hecheln, das ich noch nicht kenne.
Max kichert nicht. Ich habe ihm auf dem Weg erklärt, dass Leons Hundelaute keine Aufforderung zum Spielen sind.
„Das ist ja schon drei Stunden her. Hattest du denn gar keinen Hunger?“ In seinem Alter hätte ich den ganzen Tag essen können.
Leon sieht aus, als hätte ich ihn in eine finstere Ecke gedrängt. Er schaut von der einen Seite zur anderen, dann bellt er so laut auf, dass Max zusammenzuckt. Da fällt mir ein, dass er vermutlich nicht besonders gern mit Unbekannten telefoniert. Armer Leon. Darauf hätte Paul wirklich kommen und ihm einfach eine der vielen Tiefkühl-Pizzen in unserem Gefrierfach anbieten sollen.
Weil ich mir sicher bin, dass Leon nicht mit mir darüber reden möchte, gebe ich vor, nichts Ungewöhnliches bemerkt zu haben.
„Eigentlich eine gute Idee von Paul“, sage ich nachdenklich. „Komm, ich bestelle für uns alle etwas.“ Dann senke ich die Stimme. „Und wer arbeiten muss, hat Pech gehabt, der bekommt nichts ab“, flüstere ich.
Leon verdreht wieder die Augen, lockert aber augenblicklich seine angespannte Haltung.
„Okay“, sagt er dann. „Wie du meinst.“
Ich versuche, nicht auf die Preise zu schauen, und bestelle dann eine Margherita für mich, die kleinste Größe, sowie eine große und eine kleine Hotdog-Pizza, weil Leon sich eine gewünscht hat und Max dem großen Jungen sofort nacheifern wollte.
„Dreiviertelstunde“, sagt der Mann am anderen Ende der Leitung. Er hat einen ausgeprägten indischen Akzent, mit dem er klingt wie Apu Nahasapeemapetilon von den Simpsons. Aber weil es sich bei der Figur natürlich um eine anachronistisch-rassistisch anmutende Karikatur handelt, verkneife ich mir jedes Kichern, indem ich meine volle Aufmerksamkeit auf den Flyer richte. Die Betreiber des Ladens können wirklich alles. Es gibt neben Pizza und Pasta auch noch Gyros und Thai-Nudeln.
Nachdem ich aufgelegt habe, teile ich den Jungs mit, dass wir uns noch ein wenig mit dem Essen gedulden müssen. Zögernd schaue ich zu Leon. „Max und ich wollten noch etwas basteln.“
„Schon gut, ich verschwinde ja schon.“ Mit gekränkter Miene springt er auf.
„Darauf wollte ich gar nicht hinaus“, sage ich schnell. „Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du mitmachen möchtest.“
Leon beäugt die Dinge, die ich aus meinem Rucksack ziehe, die Tüte mit Wattebäuschen in Rosa, Mint und Weiß sowie den silberfarbenen Glitter in einem Gläschen mit pinkem Deckel.
„Ich soll basteln? Damit?“ Er klingt, als hätte ich ihm gerade ein unsittliches Angebot gemacht, und schaut angewidert auf unsere Zutaten.
„Au ja“, ruft Max. „Das wird eine Galakie“, erklärt er Leon.
„Dort leben die Jedi-Ritter.“
Leon schnaubt. „Ne, ist klar.“ Nach einem kurzen Zögern fährt er fort: „Ich kann mir ja mal angucken, was ihr da macht.“
„In Ordnung“, sage ich. „Ich hole nur kurz noch ein paar Sachen, passt du bis dahin auf Max auf?“
„Okay.“
Obwohl mir nicht ganz wohl dabei ist, Max bei dem fremden, merkwürdigen Jungen zu lassen, halte ich Vertrauen für den Schlüssel zu einem guten Miteinander. Und weil Leon niemandem zu trauen scheint, muss ich wohl oder übel den Anfang machen. Schnell flitze ich in unser Kabuff, das gerade groß genug ist, um die Waschmaschine zu fassen. Darüber haben wir noch ein paar Regalbretter für Vorräte und meine kleine Bastelkiste angebracht. Ich schnappe mir den trockenen Rest an nachtleuchtender Fimo-Knetmasse und nehme ihn mit in die Küche.
„Könnt ihr daraus winzige kleine Kugeln rollen?“, frage ich die beiden Jungs.
„Nein danke, ich lese lieber etwas.“ Leon schnappt sich das Buch, das vor ihm auf dem Tisch liegt. Es heißt wie eine bekannte Fantasy-Spielreihe für den PC.
Max zeigt mehr Interesse und müht sich redlich, mit seinen kleinen Handflächen winzige Kugeln zu rollen.
„Prima“, sage ich und schiebe die schiefen Würste in den Ofen, um sie zu härten.
Leon schnaubt wieder, schaut aber merklich interessiert über den Rand seines Buches hinweg zu, wie ich Wasser in Gläser fülle, das ich in verschiedenen Farben einfärbe – Hellblau, Dunkelblau, Pink und Lila.
Dann stelle ich ein Einmachglas auf den Tisch.
„Magst du ein bisschen von der dunkelblauen Flüssigkeit hineingeben?“
Max folgt der Aufforderung eifrig, verschüttet aber die Hälfte und schaut betrübt auf den bekleckerten Tisch.
„Macht nichts“, sage ich. „Das wische ich später weg. Jetzt kannst du einfach ein paar Wattebäusche hineinwerfen.“
Und so fahren wir fort – geben Farbe, Watte und etwas Glitzerstaub in das Glas und als die Fimo-Kugeln fertig sind, drücke ich noch ein paar von ihnen hinein.
Und auch wenn man es sich vielleicht nicht vorstellen kann: Es sieht wirklich wie eine Galaxie im Glas aus. Ich halte es einen Moment unter die Lampe und schalte sie dann aus.
„Ey“, ruft Leon genervt.
Es hat geklappt, die Kugeln leuchten.
„Das ist toll“, juchzt Max und zieht an Leons Ärmel. „Schau mal, das leuchtet.“
Ich knipse das Licht wieder an und sehe gerade noch, wie Leon ein interessiertes Lächeln in seine übliche gleichmütige Miene bringt.
Es klingelt an der Tür. Ich stehe auf und gehe in den Flur.
„Was meinst du, Leon“, sage ich mit einem Blick über meine Schulter, „willst du nicht auch so ein Glas?“
„Ach, na gut“, entgegnet er. „Nur damit du mich damit nicht mehr nervst.“ Ein kurzes Bellen, dann ein Schnaufen.
Es ist wirklich unfair. Jungs in seinem Alter wollen so cool sein. Und bei den meisten verrät nur ein leichtes Erröten oder Vibrieren ihre Nervosität, nicht gleich ein ganzes Arsenal an auffälligen Geräuschen. Ich möchte mir nicht ausmalen, wie anstrengend sein Schulalltag sein muss.
„Einverstanden“, sage ich, als koste mich das Zugeständnis große Überwindung.
Als ich mit der Pizza zurückkehre, hat Max schon hilfreich zu dem Glimmer-Röhrchen gegriffen.
„Ohne das Glitzerzeug, bitte“, ruft Leon hastig. „Davon habe ich in meinem Zimmer echt genug.“
Zum Glück ist Max ein sonniges Gemüt und nicht schnell beleidigt. Er lässt den Glitter stehen und holt für Leon Wattebäusche aus der Verpackung.
„Kommt, wir essen erst mal“, sage ich und schiebe das Bastelzeug zur Seite.
Die Pizza ist schon geschnitten und der Hunger ist stärker als meine Manieren. Wir essen die Stücke mit den Fingern direkt aus dem Karton, bis unsere Hände mit Fett und Käsefäden überzogen sind.
„Ein Schulwechsel ist immer anstrengend, oder?“, frage ich Leon, um ein bisschen Konversation zu machen. „Meine Eltern sind umgezogen, als ich zehn war. Ich weiß noch, wie sehr ich meine Freundinnen vermisst habe. Welches Fach magst du am liebsten?“ Was für eine einfallslose Frage. Wurde ich während des Studiums auf Partys gefragt, was ich so machte, habe ich immer nur geantwortet: „Och, ich knüpfe gerne mal ein bisschen Makramee.“
„Ich find Musik und Sport nicht so übel“, sagt Leon.
Verdutzt schaue ich ihn an. Ich hatte gar nicht mit einer vernünftigen Antwort gerechnet. Dass er einem Gespräch gar nicht abgeneigt scheint, verleitet mich zu Freimütigkeit.
„Im Sportunterricht wurde ich immer als Letztes in die Mannschaft gewählt. Ich habe ihn gehasst“, erzähle ich. Heute kann ich darüber lachen, doch ich erinnere mich noch gut an die inneren Qualen und das verzweifelte Bemühen, die Demütigung mit schlechten Scherzen zu überdecken.
„Das geht mir genauso“, sagt er und sieht finster auf den Tisch. „Dabei bin ich eigentlich ganz gut.“
„Aber warum …?“
Ein waidwunder Blick lässt mich verstummen. Schweigend essen wir weiter, bis nichts mehr von unserer Pizza übrig ist. Dann nehmen wir uns wieder das Bastelzeug vor.
„Du willst wirklich keinen Glitzer?“, fragt Max unzufrieden. „Der sieht doch so schön aus.“
Leon knurrt.
Als endlich Sophie und Paul nach Hause kommen, hat sich Leon bereits in das Zimmer seiner Schwester verzogen und Max, mit dem ich im Wohnzimmer spiele, ist bereits ganz überdreht vor Müdigkeit.
„Das ist Sophie“, ruft er, als er die Stimme seiner liebsten Spielkameradin hört. Er läuft in den Flur und ich folge ihm.
„Hallo“, ruft er Sophie und Paul strahlend entgegen.
„Hallo, mein Freund“, ruft Sophie. Sie wirft ihre Winterstiefel quer durch den Flur und läuft dann auf Max zu, um ihn zu umarmen. Max drückt sie an sich. Über die Köpfe unserer Kinder hinweg grinsen Paul und ich einander zu. Oft genug balgen sie wie echte Geschwister um jedes Spielzeug, doch kaum waren sie für ein paar Tage getrennt, tun sie so, als seien sie die traurigen Königskinder, die nicht zueinanderkommen konnten.
Sophie hat einen burschikosen Kurzhaarschnitt, den sie sich selbst gewünscht hat, und sie ist anders als ihr Name, nicht übermäßig brav, sondern eher ein lustiger kleiner Kobold, der nur Quatsch im Kopf hat. Rosa liebt sie trotzdem. Kinder haben ja noch kein Problem mit vermeintlichen Widersprüchen.
Sophie reißt die Tür zu ihrem Zimmer auf.
„Leon“, ruft sie begeistert und rennt in den Raum. Ich würde zu gerne sehen, wie ihr Bruder reagiert. Ob er bei ihr auch so mürrisch guckt, wie ich es von ihm kenne, oder ob er seine kleine Schwester herzhaft knuddelt. Kaum jemandem gelingt es, Sophies Überschwänglichkeit zu widerstehen.
„Ich darf jetzt bei Papa schlafen. Bist du traurig, wenn du allein hier bist? Ich lass dir Benji hier.“
Benji ist ihr Plüschpinguin. Von Leon ist nichts zu hören. Vermutlich kommuniziert er mit Kopfbewegungen, denn Sophie fragt nicht weiter nach.
„Oh, was hast du denn da?“, höre ich sie rufen. „Darf ich das haben?“
Ich höre ein Murmeln, dem ich zwei Wörter entnehmen kann – „Galaxie“ und „Nein“. Ich lächele. Irgendwie rührt mich der Gedanke, dass er mit dem Glas in der Hand in seinem Zimmer gesessen hat.
Am folgenden Vormittag sitze ich wieder alleine in meinem Zimmer – Paul ist arbeiten gegangen, Sophie und Max sind im Kindergarten und Leon wurde zu einem Besuch bei seinen Großeltern verdammt. So richtig weiß ich nichts mit mir anzufangen. Es ist viel leichter, freie Zeit zu genießen, wenn sie ein stark begrenztes Gut ist. Als Erstes versuche ich es mit einem umfassenden Beauty-Programm, zu dem ein Ganzkörperpeeling, Wechselduschen mit stimmungsaufhellendem Zitronensorbet-Duschgel und ein endloses Einbalsamieren mit einem Körperöl für glatte Haut gehören. Ich bereite mir eine Kanne grünen Tee zu und versuche, dies als Ritual im Stile einer japanischen Geisha zu zelebrieren – langsam, achtsam und genussvoll. Danach starre ich noch für ein paar Minuten stumpf und bewegungslos auf die Bilder einer Yoga-DVD, die mir Kessie mal in einer stressigen Phase geschenkt hat. Es hilft alles nichts. Ich bin nicht der Zen-Typ, werde es niemals sein.
Hastig fahre ich den Rechner hoch und beschmutze meinen Geist mit dem globalen Müll des Internets. Ich verschlinge die bunt gemischten Meldungen eines Boulevard-Titels, in denen Läster-Beiträge über D-Promis mit schlecht gemachten Brüsten ganz zwanglos neben den Bildern der Folgen eines Chemiewaffeneinsatzes stehen, bis ich mich ganz leer und ekelhaft fühle. Weiter geht es zu Facebook, wo ich wahllos alles like, was mir teilweise unbekannte Menschen gepostet haben – das „Sunset-Chillen“ (Füße mit flamingofarbenem Nagellack vor einem orange leuchtenden Sonnenuntergang) bis zu „Bittersweet Memories“ (Kaffee und Zuckerwürfel vor einem alten Poesiealbum) bis hin zu „Einfach zu sweet“ (Katzenbabys, die Flamenco tanzen) und dem „Beauty Fail“ (ein seltsames Experiment mit blauem Lidschatten).
Freundschaftspflege per Knopfdruck ist eigentlich eine geniale Erfindung für eine viel beschäftigte Mutter. Nur dass ich ja gar nicht mehr so viel beschäftigt bin. Doch weil alle anderen es zu sein scheinen, kann ich meine beste Freundin Kessie erst am Abend anrufen, dabei könnte ich gerade gut eine Aufmunterung von ihr gebrauchen.
Kessie heißt eigentlich Kassandra, möchte aber nicht so genannt werden. Sie hat es mir gleich in unserem ersten Semester erklärt: „Es wäre doch ein schlechtes Omen für eine angehende Wetterfrau, wie eine blinde Seherin zu heißen. Ich meine, unseren Vorhersagen wird ohnehin schon kaum geglaubt, oder?“
Ich mochte sie auf Anhieb und so blieben wir auch Freundinnen, nachdem sie ihr Studium im dritten Semester abbrach. Ihr war vorher nicht klar gewesen, dass die Vorlesungen einen nicht darauf vorbereiteten, mit Wallemähne vor Wetterkarten zu stehen, sondern ziemlich viel Physik beinhalteten – „Und mal ehrlich: Ich muss nicht wissen, wie ein Thermometer funktioniert, ich will einfach nur die Temperatur ablesen“. Derzeit kellnert Kessie in einer angesagten Bar in der Langen Reihe, in der angeblich immer Schauspielergrößen verkehren, wenn sie in Hamburg Filme drehen. Vielleicht sollte ich Jonas beeindrucken, indem ich ihn dorthin mitnehme. Allerdings würde er dort Kessie kennenlernen und sich wie die meisten Männer Hals über Kopf in sie verlieben. Und auch wenn ich nicht wirklich auf Männersuche bin, weil ich genügend andere Probleme habe, ist mein Ego derzeit ein sehr schwaches Pflänzchen. Vielleicht würde ich es nicht ertragen zu sehen, wie das bisschen Interesse, das Jonas an mir gezeigt hat, im Angesicht von Kessies feuriger Mähne verglimmt.
Der einzige Mann, den ich bislang getroffen habe, der kein tiefer gehendes Interesse an meiner Freundin zeigt, ist mein Mitbewohner Paul. Er findet sie „irgendwie ganz drollig“.
Weil ich sie jetzt noch nicht stören kann, besuche ich Kessies Facebook-Seite. Dort prangt ein mit Blumenranken verziertes Schild „Don’t disturb“ – darunter sieht man verschwommen zwei Paar nackte Füße unter einer zerknautschten Bettdecke hervorlugen. Ich tippe mal, das bedeutet, dass es mit ihrem Kollegen geklappt hat. Dann fällt mir ein, dass ich auch noch Bilder habe, die ich einstellen wollte. Ich bin damit nicht ganz so schnell, weil ich sie nicht per Handy einspeise. Ich bevorzuge eine Spiegelreflexkamera, mittlerweile aber immerhin eine digitale.
Ich habe mit dem Makro-Objektiv eine extreme Nahaufnahme von Eiskristallen an unserem Fenster gemacht und finde das Bild wunderschön. Aus Trotz stelle ich noch ein weiteres Foto dazu. Mit den schon etwas verrotteten Kastanien, die wir im Herbst gesammelt haben, hat Max einen Eisbären in den Schnee gezeichnet – genau genommen hat er ein Oval mit einem großen Kreis und vier kleinen Kreisen drangelegt. Max selbst ist nur von hinten bei seiner konzentrierten Arbeit zu sehen, sein Gesicht hat im Internet nichts zu suchen. Er trägt seine geringelte, von meiner Mutter gestrickte Mütze und die hellblaue Thermojacke mit Dinosauriern drauf. Ich habe sein Kunstwerk mit einem Schriftzug aus Eicheln ergänzt: „Schützt das Klima“. Ist doch wahr! Nachher werde ich mich allerdings wieder sehr ungeliebt fühlen, weil niemand diese Aufnahme liken wird. Manchmal habe ich das Gefühl, alle sind mehr an dem Inhalt deiner Kaffeetasse interessiert als an dem deines Kopfes.
Zu guter Letzt schicke ich an Stefan von der Casting-Agentur noch die von ihm geforderten Unterlagen und bekomme umgehend die Antwort, ich solle am 2. Februar um 9 Uhr an einer Location erscheinen, die mir erst kurz vorher mitgeteilt würde. Großes Geheimnis. Großer Film. Große Darsteller. Keine Paparazzi erwünscht. Mit einem zwinkernden Emoji am Ende verrät mir besagter Stefan noch, dass mir das Casting erspart bleibe – wegen meiner guten Connections.
Irgendwann unterbricht mein Bruder meinen orientierungslosen Internet-Surftrip und ich willige sofort ein, als er mich bittet, ihn am Nachmittag zu besuchen.
Direkt nach seinem Mittagsschlaf hole ich Max aus dem Kindergarten ab.
„Wollen wir noch deinen Onkel besuchen?“, frage ich.
Wie erwartet klatscht Max in die Hände und dreht sich einmal im Kreis – sein Indianer-Freudentanz. Er mag Roman sehr. Mein Bruder hat immer Schokolade im Haus, auch wenn er selbst gerade Zucker und Kohlenhydrate meidet und vielleicht auch noch tierische Produkte, aber ich bin mir nicht sicher, ob das nicht die Macke des letzten Monats war. Außerdem kümmert er sich immer sehr liebevoll um seinen kleinen Neffen.
Romans Wohnung ist vollgepfropft mit technischem Schnickschnack, der Traum eines Jungen. Mein hochbegabter älterer Bruder hat nämlich richtig viel Geld verdient, weil er als einer der Ersten ein erfolgreiches Drei-D-Computerspiel entwickelt hat. Es wird mit einer passenden Brille geliefert und ist, anders als andere Verkaufsschlager, nicht einmal blutig. Genau genommen handelt es sich um eine Kitsch-Saga zum Überleben einer friedlichen Zivilisation. Hier kommt nicht voran, wer der Stärkste ist, sondern wer sich am überzeugendsten für die fantastische Gemeinschaft einsetzt – notfalls dann eben doch mit Waffengewalt. Auch das Eingehen von Liebesbeziehungen wird mit Punkten belohnt, das Ränkeschmieden hingegen nicht. Am besten schneidet ab, wer eine böse Figur spielt und alles daransetzt, diese zu läutern. Der Erfolg war eine Überraschung, weil das Spiel eher eine Utopie darstellt, statt die beliebte Baller-Action zu liefern. Doch irgendwie muss er den Nerv der Zeit getroffen haben, vielleicht weil es mit der realen Welt so sehr bergab geht, dass die Menschen mal etwas anderes sehen wollten.
Niemand würde meinen Bruder für einen Informatiker halten. Es war auch nicht sein Berufswunsch Nummer eins – er hat einen weiteren Abschluss an einer Filmhochschule gemacht. Ein Drehbuch sollte ihm den Durchbruch bringen, doch es wurde immer wieder abgelehnt, sodass er es am Ende als Idee für ein Spiel nahm. Doch er behauptet immer noch, dass seine Idee irgendwie in Hollywood gelandet sein muss und der Film „Avatar“ darauf basiert. Allzu viel Frust muss er aber nicht schieben, die Spiele seiner Firma genießen Kultstatus und das Hamburger Abendblatt brachte schon einen Artikel über den „unbekannten Superstar aus Barmbek“. Und die meiste Zeit ist Roman auch ganz zufrieden mit seinem Schicksal: „Jetzt bin ich Regisseur, Drehbuchautor und Vorbild für die Figuren.“
Es gibt sogar eine Figur, die er angeblich mir nachempfunden hat. Thora ist eine rothaarige Wetterhexe, die über sehr komplexe Fähigkeiten verfügen soll. Bislang hat sie aber keiner ganz ergründet, weil Thora so wenig Lebenspunkte hat, dass sie immer als Erstes stirbt.
„Ich wünschte, ich wäre eine Lesbe“, sagt Roman, nachdem er seinen Neffen geknuddelt und gekitzelt hat. Ich schaue ihn entgeistert an und blicke dann nervös zu Max.
„Ach, Entschuldigung“, murmelt Roman. Er fummelt an seinem Rechner herum und holt ein Paar dicke Kopfhörer hervor, die so hässlich und unförmig sind, dass sie ein Vermögen gekostet haben müssen. Er setzt sie Max auf den Kopf und wendet sich wieder mir zu. „Damit ist er von der Außenwelt völlig abgeschottet, er hört nichts von dem, was wir sagen.“
„Was hört er denn dann?“, frage ich ihn misstrauisch.
„Die Abenteuer vom kleinen Fuchs.“
Das klingt harmlos. Ich lasse mich tiefer ins Polster sinken. „Du willst also eine Lesbe sein. Du weißt aber schon, dass Mama weder mit Töchtern noch mit Schwiegertöchtern besonders gut umgehen kann? Und dass deine Aussage absolut diskriminierend ist, muss ich dir auch nicht erklären, oder?“
„Wieso, ich habe doch gerade gesagt, dass ich eine von ihnen sein möchte.“
Ich stöhne genervt. „Verrätst du mir auch, warum du gerne eine Lesbe wärst? Das Einzige an dir, was man mit viel Wohlwollen als weiblich auslegen könnte, ist deine Vorliebe für Männer.“
„Ich will ja auch nur ihre Gebärmutter.“
Ich verziehe angewidert das Gesicht. „Spinnst du? Das ist jetzt aber so etwas von unkorrekt. Was soll denn der Quatsch?“
„Martin und ich wollen ein Kind.“
„Oh“, hauche ich. Und als ich beginne, darüber nachzudenken, überrascht es mich eigentlich nicht. Ich sehe ja, wie vernarrt die beiden in Max sind. Auch Martins kleine Nichte ist begeisterter Dauergast bei den beiden. Allerdings hätte ich nie damit gerechnet, dass sie sich nach der Vollzeit-Verantwortung sehnen. Romans Mann Martin ist Reisejournalist und oft nicht zu Hause, aber natürlich ist bei vielen Familien ein Partner öfter mal beruflich unterwegs. Und ein ausschweifendes Partyleben ist nie ihre Sache gewesen. Im Gegenteil, Netflix und Amazon sind wie bei Paul und mir die besten Freunde. Im Gegensatz zu uns haben sie aber wahrscheinlich darüber hinaus noch Sex.
„Wären wir Lesben, könnte sich mindestens einer von uns einfach künstlich befruchten lassen oder notfalls die Zähne zusammenbeißen und ausnahmsweise mit einem Mann schlafen.“
„Moment, aber ich dachte, ihr dürft jetzt nicht nur heiraten, sondern auch adoptieren.“
„Mir scheint, davon haben die entscheidenden Stellen bislang eher theoretisch Kenntnis genommen. Man wollte uns keine große Hoffnung machen. Offensichtlich warten schon die meisten heterosexuellen Paare lange vergeblich, was bedeutet ... aber natürlich wurde das nur angedeutet. Keiner sagt direkt, dass unsere Chancen noch schlechter stehen, weil wir zwei Männer sind. Ich fürchte langsam um unsere Beziehung, weil Kinder unser Dauerthema sind.“
Ich ignoriere seine der Verzweiflung geschuldeten dreisten Kommentare über Lesben.
„Was ist mit einer Regenbogenfamilie?“ Darüber habe ich mal etwas in einer Zeitschrift gelesen. Schwule und lesbische Paare teilen sich Kinder, sodass die gleich zwei Mütter sowie zwei Väter haben und sich über jede Menge Weihnachtsgeschenke und emotionale Zuwendung freuen dürfen, weil sie definitiv Wunschkinder sind. Das hatte viel Schönes.
„Spinnst du?“, fragt Roman.
„Kleinbürger.“
„Klappe.“
„Du CSU-Wähler.“ Das ist jetzt nicht ganz fair von mir. Schlimmstenfalls trägt er dazu bei, dass unsere Kinder mit Merkel aufwachsen. Aber er ist zehn Jahre älter als ich und hat deshalb auch nie etwas anderes als Kohl kennengelernt. Vielleicht ist er deshalb – vorsichtig ausgedrückt – eher „wertkonservativ“. Er hält nicht viel von Scheidungen und besitzt ein vollständiges Tee-Service. Nur seine Biologie macht ihm gelegentlich einen Strich durch die Rechnung, weil sie ihm die Anerkennung vieler anderer Spießer verweigert.
Roman haut mit einem Buch nach mir. Es tut weh und wird einen blauen Fleck hinterlassen.
„Aua“, jammere ich.
„Sagst du heterosexuellen Paaren, die gerne ein Kind haben würden, es aber nicht bekommen können, etwa auch, dass sie sich doch bitte einfach eines mit einem anderen Paar teilen sollen?“
Darüber muss ich erst mal nachdenken und erkenne am Ende, dass ich tatsächlich mit zweierlei Maß messe.
„Wohl nicht“, gebe ich ehrlich zu.
Er nickt. „Siehst du! Wir wollen einfach eine ganz normale Familie sein. Vater, Vater, Kind. Wir wollen nicht umständlich Aufenthalte und Besuchszeiten zwischen vier Elternteilen ausknobeln. Wir wünschen uns … na, eben Normalität.“
„Das verstehe ich.“ Tue ich wirklich.
„Im Ernst?“ Aufgeregt klopft er mit den Fingern auf seinem Oberschenkel herum.
„Ja.“
„Wir hatten uns nämlich überlegt …“
„Was denn?“ Nun werde ich langsam nervös.
„Ob du nicht eventuell Lust hättest, eine Leihmutter zu sein. Dann bleibt das Kind in der Familie.“
Er hat so schnell geredet, dass ich die wirre Anhäufung von Silben erst mal wieder zusammensetzen muss. „Wie bitte?“, rufe ich empört, als mir klar wird, was er gerade von mir verlangt hat.
„Du bist meine Schwester und dies ist mein Lebenswunsch, Lisa. Könntest du also bitte so fair sein, ihm fünf Minuten Bedenkzeit zu widmen.“
Er greift nach einer Zeitung auf seinem Couchtisch und hält sie mir hin. „Die Geschichte hat mich darauf gebracht.“
Ich überfliege den Text. Es ist die rührselige Story einer Frau, die nach einer Krebserkrankung keine Kinder mehr bekommen kann, weshalb ihre Zwillingsschwester als Leihmutter einspringt. Da perlt tatsächlich eine Träne an meiner Wange herunter. Als ich Romans selbstzufriedenen Blick sehe, wische ich sie schnell weg.
„Du hast aber keinen Krebs“, weise ich ihn zurecht.
„Darum geht es nicht. Die Frau ist mittlerweile wieder genauso gesund wie ich. Sie hat bloß keine Gebärmutter – genau wie ich. Also, wo ist der Unterschied?“
Für mein Gefühl ist es etwas anderes, auch wenn mir keine Argumente einfallen. Ich schaue auf die Wanduhr, die 16 Uhr anzeigt – ja, er hat tatsächlich noch eine Wanduhr, die ganz friedlich neben all dem technischen Schnickschnack existiert. Er hat ja auch einen Couchtisch.
Ich denke an die Zeit meiner Schwangerschaft. Der Gedanke, bald einen neuen Menschen im Arm zu halten, kam mir fast bis zum Ende der neun Monate so unwahrscheinlich vor, dass ich wohl irgendwie davon ausgegangen bin, dass dieses ganze Mutterding mit der Geburt ausgestanden sei.
Max war ungeplant. Aber nach dem ersten Blick auf das Ultraschallbild hätte ich es nicht mehr übers Herz gebracht, ein Leben zu verhindern, das womöglich irgendwann die Weltformel entdeckt … oder aber natürlich versucht, die Weltherrschaft an sich zu reißen, aber ich bin Optimistin.
Und dann ist dieses merkwürdige Wesen tatsächlich aus meinem Körper gekommen – ein unheimlicher, alienmäßiger Gedanke, wenn man sich länger damit beschäftigt – und plötzlich war es so, als hätte es nie eine Zeit ohne diesen Jungen gegeben. Ja wirklich, er schummelt sich an den Rand jeder wichtigen Erinnerung in meinem Leben, als wäre in mir schon immer ein Platz für ihn gewesen, auch als ich ihn noch gar nicht kannte. Nein, tut mir wirklich leid, Bruderherz. Ich bin nicht cool genug, ein Kind auszutragen und es dann wegzugeben.
Es ist 16.05 Uhr. Die fünf Minuten, um die mein Bruder mich bat, sind um. „Nein, Roman“, sage ich ärgerlich und imitiere den Tonfall Heidi Klums: „Heute habe ich leider kein Kind für dich. Komm, Max, wir gehen.“
„Wir würden dir 50 000 Euro zahlen“, ruft Roman. „Brauchst du nicht gerade Geld?“ Meine Mutter hat ihm also von meinem Jobverlust erzählt.
„Wenn du dir durch Erpressung ein Kind verschaffen willst, ist es einfacher, eines zu entführen“, fahre ich ihn an.
Dann schleife ich Max in Richtung Flur. Doch als ich mich umdrehe, ist mein Ärger verflogen. Mein Bruder starrt zusammengesunken aus dem Fenster und sieht sehr verloren aus. Ich würde gerne auf ihn zugehen, ihm meine Hand auf die Schulter legen und ihn trösten, wie er es so oft bei mir getan hat, wenn ich heulend mit zerrissenen Strumpfhosen nach Hause kam, weil andere Kinder mich wegen der eigenwilligen Kleidung, die Mama uns kaufte, geärgert haben.
Doch ich will in ihm keine falsche Hoffnung wecken. Deswegen verlasse ich mit Max seine Wohnung, ohne noch einmal „Auf Wiedersehen“ zu sagen.
Während der Heimfahrt kann ich an nichts anderes denken als an seinen Wunsch. Sein Vorschlag ist absurd, oder nicht? Es ist absolut nachvollziehbar, wie ihn die Hürden auf seinem Weg zu einem Kind dazu gebracht haben, mich zur Mutter seiner Kinder machen zu wollen. Die Biologie ist eine ungerechte Tyrannin. Roman wäre ein toller Vater.
Nach dem Gespräch mit Roman bin ich nicht in Stimmung für weitere komplizierte Gespräche, deswegen will ich, zu Hause angekommen, auch schnell wieder mit Max aus der Küche verschwinden, als ich Paul dort mit verzweifeltem Gesichtsausdruck Unterlagen wälzen sehe. Doch er hat mich schon bemerkt.
Stöhnend blickt er zu mir auf. „Gar nicht so unkompliziert, so ein Schulwechsel.“
„Dann bleibt Leon hier?“ Ich versuche, ein neutrales Gesicht zu machen, als wäre mir jede Antwort gleichermaßen recht.
„Wenn du einverstanden bist, würde ich mich darüber freuen, ja.“ Er sieht mich nicht an. Ihm ist klar, dass ein weiterer Mitbewohner unser Leben ganz schön auf den Kopf stellen wird. Aber es handelt sich dabei nun einmal um seinen Sohn.
„Warum nicht“, sage ich deshalb schicksalsergeben.
Warum nicht, es gibt Schlimmeres. Da wären zunächst einmal meine Arbeitslosigkeit und ein Bruder mit Inzestgedanken –wobei, das hatte Roman nicht direkt von mir gefordert. Selbstverständlich würde meine Eizelle mit Martins Samen befruchtet werden.
„Wo sind die Kinder überhaupt?“, frage ich.
„Sophie schläft schon auf einer Matratze in meinem Zimmer und Leon brauchte etwas Zeit für sich. Ich glaube, unsere Hamburg-Tour hat ihm einen kleinen Kulturschock versetzt.“
„Oje, aber so klein ist München doch auch nicht?“
„Wenn man aus dem Bezirk Trudering-Riem kommt, schon.“
„Der Arme.“
Nicht, dass ich Trudering-Riem kennen würde, aber es gibt einfach Bezeichnungen, die sofort sehr klare Bilder im Kopf erzeugen – wie zum Beispiel Zimmerspringbrunnen, Häkelgardine oder Trudering-Riem.
Nun, da ich weiß, dass dies Leons Vergangenheit ist, übermannt mich wieder das schlechte Gewissen darüber, wie ich ihn empfangen habe. Wahrscheinlich war er schon fix und fertig, als er auf dem Weg zum Bus die Rückseite des Hamburger Hauptbahnhofs entdeckt hat.
„Hallo, Max“, sagt Paul zu meinem ungewohnt stillen Sohn. „Dich habe ich ja noch gar nicht begrüßt. Hattest du einen schönen Tag?“
Max drängt sich wortlos an mein Bein. Seine Augen sind glasig, deswegen verzichte ich heute darauf, ihn zu ermahnen, immer schön zu antworten, wenn er etwas gefragt wird.
„Ich glaube, hier muss jemand dringend ins Bett“, sage ich und hebe Max hoch, sodass er sein Köpfchen auf meiner Schulter ablegen kann.
„Ich bin gar nicht müde“, murmelt er.
„Na dann“, sage ich und kitzele sanft seinen Bauch, bis er ein wenig quietscht.
„Lass das, Mama. Das kitzelt.“
„Gute Nacht, Mäxchen“, sagt Paul lachend.
Als ich schon mit einem Fuß die Küche verlassen habe, hält er mich auf. „Lisa?“
„Ja, Paul?“
„Sobald Max schläft, hättest du dann vielleicht Lust, noch auf ein Glas Wein in die Küche zu kommen? Das war ein blöder Tag und ich würde gerne in ein freundliches Gesicht schauen.“
„Gerne“, sage ich, obwohl das gelogen ist. Wir müssen über lauter Dinge reden, die dazu führen werden, dass ich mich wie ein trauriger Versager fühle. Darüber, dass ich bald vielleicht nicht mehr genügend Geld habe, um die Miete zu zahlen, und ich dann ausziehen muss.
„Ist Leon immer noch in seinem Zimmer?“, frage ich, als ich mich gut eine halbe Stunde später auf den Platz gegenüber von Paul fallen lasse.
„Er liegt mit dem Handy auf dem Bett und spielt irgendein Netzwerk-Amok-Spiel. Ich würde es ihm ja gerne verbieten, aber ich frage mich, ob das im Endeffekt nur eine Aufforderung zur Heimlichtuerei wäre.“
Ich zucke mit den Achseln. „Wahrscheinlich wäre es das.“
Insgeheim nehme ich mir aber vor, Max schnell in einem Sportverein oder bei der Musikschule anzumelden … bei einfach allem, was ihn davon abhält, später den ganzen Tag auf technischen Geräten herumzudaddeln. Auch wenn das Heuchelei ist, weil ich das Internet zwar ausgiebig, aber nicht in erster Linie für intellektuelle Glanzleistungen nutze. Und für Leon ist es sicher ein angenehmer Ausweg, über Text-Eingabe-Fenster mit anderen zu kommunizieren.
„Ich habe keinen Job mehr“, sage ich hastig, weil ich Angst habe, dass ich sonst nicht mehr rausbringe. „Mein Vertrag wird nicht verlängert.“
„Mist“, sagt Paul und schenkt mir geistesabwesend mit einer Hand Wein in mein Glas. Er schaut auf sein Handy und müsste ich wetten, würde ich tippen, dass er bei Google gerade „Zusammenhang Gewaltspiele Amoklauf“ eingegeben hat.
„Entschuldigung“, sagt er dann und legt sein Handy weg. „Ich musste nur ganz schnell noch etwas nachsehen. Was machst du denn jetzt?“
Ich fange an zu schniefen, was mir vor Paul peinlich ist.
„Sorry“, sage ich.
„Schon in Ordnung“, sagt er lächelnd. „Das muss ein echter Schock für dich gewesen sein.“
„Es ist nicht nur das … ich weiß nur nicht, ob ich mir die Miete weiterhin leisten kann.“
Er schaut nachdenklich drein. „Also eine Weile könnte ich dir die Miete sicher vorschießen …“
Ich rechne ihm dieses Angebot hoch an, denn ich weiß genau, dass er sich das nicht leisten kann. Er ist Kunstschreiner und hat sich vor ein paar Jahren mit einem kleinen Unternehmen, den „Schanzentischlern“, selbstständig gemacht. Gerade haben sie einen Konzeptwettbewerb gewonnen und dürfen eine ganze Kindergartenkette mit organischen und schlau designten Möbeln bestücken. Das bringt ordentlich Geld, das sie aber sicher nicht gleich wieder verpulvern sollten.
Habe ich erwähnt, dass er ein Genie ist? Max’ Zimmer ist klein, aber ein echter Blickfang dank des Piratenschiffs, das Paul ihm gebaut hat – darauf befindet sich ein Bett, es gibt noch eine kleine Höhle mit Tisch und am Bug war sogar noch Platz für eine kleine Spielecke, die ich mit einer aufblasbaren Palme und exotischen Tieren aus Plüsch geschmückt habe. Ich musste nur für das Material bezahlen.
„Ich finde sicher eine andere Möglichkeit“, murmele ich.
„Wenn du meinst … Aber im Notfall komm gerne darauf zurück. Ohne Max und dich wäre es hier einfach nicht das Gleiche.“
Das Gefühl in meinem Bauch ist so wärmend wie eine Hühnersuppe an Schnupfentagen. „Schön, dass du das sagst.“
„Schade, dass ich keinen Job für dich habe, ich würde dich sonst sofort einstellen.“
O ja, gib mir mehr, Baby. Das ist genau das, was mein Ego gerade braucht. „Warum?“, frage ich gierig.
Er lacht. „Du bist schlau, zupackend und wirklich witzig.“
„Witzig?“, frage ich fast ein wenig beleidigt. Er hat gerade eine Frau beschrieben, mit der man Pferde stehlen kann. Männer wollen nicht über Frauen lachen, sie wollen, dass Frauen über ihre Witze lachen. Da können unsere Mütter noch so viele BHs verbrannt haben, die Emanzipation hat für das männliche Humorverhalten nichts getan. Lustige Frauen sind gnadenlos unsexy. Ich seufze ergeben. Dass Paul mich so sieht, ist für unser fragiles Familienkonstrukt sicher nur von Vorteil. Denn es ist ja nicht so, dass ich noch nie daran gedacht hätte, mit ihm zu schlafen. Es wäre schon komisch, wenn einem Mann und einer Frau, die sich mögen und auf engstem Raum miteinander leben, noch nie dieser Gedanke gekommen wäre. Deswegen hat es all das gerade am Anfang gegeben – die tiefen Blicke, die Andeutungen beim dritten Glas Wein und eine Spannung, die wir am nächsten Morgen zwischen maulenden Kindern, verschwundenen Socken und Leberwurststullen einfach weggelacht haben.
„Ja, witzig“, sagt er.
Ich runzele die Stirn.
„Witzig ist gut, finde ich.“
Verlegen senke ich den Blick. Warum heische ich überhaupt nach Komplimenten, wenn ich sie dann so wenig aushalte, dass ich sofort ein Ablenkungsmanöver starten muss? „Und bei dir so?“, frage ich.
Er lacht wieder. „Du hast genug an der Backe. Willst du dir jetzt echt meine Probleme anhören?“
„Unbedingt“, sage ich eilig. In schwierigen Lebenslagen gibt es nichts Besseres, als sich mit den Sorgen anderer abzulenken.
„Ich mache mir Sorgen um Leon“, berichtet er nach kurzem Zögern. „Tine hat mich gewarnt, dass er ein ganz besonderes Kind ist mit besonderen Bedürfnissen. Sie fürchtet, ich sei nicht sensibel genug, um mit … seinem Tick umzugehen.“
„Du meinst nicht so sensibel wie sie, die ihren Sohn einfach abschiebt, sobald sie jemand Neues kennenlernt?“ Ich kann mir den bissigen Kommentar nicht verkneifen. Die Frau nimmt sich ja echt etwas heraus, finde ich.
„Du hast ja recht, es steht ihr wohl kaum zu, mich unsensibel zu nennen. Aber … es ist schrecklich, das zu sagen, aber … ich kenne ihn ja kaum. Ich will nicht alles falsch machen.“
„Du willst aber nicht hören, wie man es richtig macht, oder? Erstens ist Max erst vier Jahre alt und zweitens mache ich selbst alles falsch. Bei allem, was ihm gelingt, breche ich in laute Begeisterung aus, weil mir bis vor Kurzem niemand gesagt hat, dass ich ihn damit total verkorkse. Man darf nämlich immer nur den Weg loben und nicht das Erreichen des Ziels, wusstest du das? Und ich erpresse ihn immer mit Süßigkeiten- und Fernseh-Entzug, wenn mir keines dieser unglaublich erwachsenen und vernünftigen Argumente einfällt, die andere so draufhaben, und …“
Er wischt alle meine Einwände mit einer Handbewegung weg, dabei meinte ich sie ernst, es schwang diesmal keinerlei Koketterie in meinen Selbstbezichtigungen mit.
„Max ist glücklich, das sieht doch jeder“, beharrt er. „Aber findest du, dass Leon wie ein glücklicher Junge voller Selbstvertrauen wirkt?“
„Ich hatte doch noch gar keine Gelegenheit, ihn wirklich kennenzulernen“, sage ich ausweichend.
„Okay, aber ein Junge in der Pubertät, der sich kaum traut, den Mund aufzumachen, weil er nicht weiß, ob ein cooler Spruch rauskommt oder ein Hundebellen – wie zufrieden kann er sein? Und mich hält er für ein Mega-Arschloch, weil Tine ihm erzählt hat, dass ich sie damals rausgeschmissen hätte.“
„Zumindest diese Geschichte kannst du ja nun ausräumen.“
„Und ihn in einen Konflikt stürzen, weil ich seine Mutter schlechtmache?“
Ich sehe das Problem. Nur fällt mir keine Lösung ein, die auf etwas anderem basiert als hohlen Floskeln.
„Gebt euch Zeit, euch kennenzulernen“, stammele ich schließlich und bedauere, dass mein Trost-Generator auf die Schnelle nichts Besseres hergibt.
Paul verdreht ganz zu Recht die Augen. Er haut auf den Tisch. „Genau, es gibt keine Probleme, sondern nur Herausforderungen.“ Offenbar hat er seinen Humor wiedergefunden.
„Kopf hoch, wenn man bis zum Hals im Wasser steht“, füge ich noch hinzu.
„Die Herausforderung bin ich, oder?“ Leon steht in der Tür und schaut uns voller Verachtung an.
„Leon“, sagt Paul erschrocken. „Ich dachte, du ruhst dich ein wenig aus.“
Leon bellt wütend. „Und jetzt bin ich damit fertig und wollte eigentlich etwas essen. Aber lasst euch bloß nicht von mir stören.“
„Du störst nicht. Aber müsstest du nicht langsam schlafen? Soll ich dir noch schnell ein Brot schmieren und dich dann ins Bett bringen?“ Paul schaut zweifelnd zur Uhr und dann zu mir. Es ist 9 Uhr.
„Ich bin dreizehn, alles klar? Nur weil du meine Geburtstage immer verpasst, heißt es nicht, dass ich ein Baby geblieben bin. Ich bringe mich selbst ins Bett und kann mir auch selbst etwas auf mein Brot packen, okay?“ Wieder bellt er. Sein Gesicht ist dunkelrot.
Auch Pauls Gesicht hat sich verfärbt. Ich koche vor Wut über Tine, die ihren Sohn in dem Glauben erzogen hat, sein Vater würde sich nicht sonderlich um ihn scheren. Und weil Paul leider auch Idioten gegenüber loyal ist, zieht er an dieser Stelle den Kürzeren, denn er hat sich selbst dazu verdammt, zu den Vorwürfen zu schweigen.
„Wie wäre es mit einem Toast Hawaii?“, sage ich. Viel lieber würde ich mich verdrücken, aber ich möchte Paul zuliebe versuchen, die Stimmung etwas aufzulockern.
„Mit Kirsche?“, fragt Leon missmutig.
„Mit Kirsche“, sage ich triumphierend.
Wie gut, dass Max auch eine Schwäche für dieses schnelle Gericht samt klebrig-süßer Kirsche hat – so habe ich immer alle Zutaten im Haus für Tage, an denen ich zu schwach bin, um ihm etwas Vernünftiges wie Brokkoli schmackhaft zu machen.
„Also gut“, sagt Leon. Er setzt sich mit verschränkten Armen zu uns an den Tisch und schaut uns an, als wollte er sagen: „Du kannst mir gar nichts, Digger.“ Aber so viel Hamburger Slang beherrscht er vermutlich noch gar nicht.
„Leon, ich …“ Paul tut mir leid. Jeder könnte in seinen Augen die Liebe und Sorge ablesen, die er empfindet. Aber Leon ist anerzogen blind dafür. Umständlich öffne ich die Ananas-Dose und belege dann die Toastscheiben.
„Lass mal“, sagt Leon zu Paul. „Machst du noch ein bisschen mehr Mayo drauf?“ Ich glaube, die Aufforderung galt mir, deshalb gebe ich noch einen Esslöffel voll Mayonnaise auf den Toast.
Paul räuspert sich und versucht es anders. „Soll ich versuchen, einen Klarinettenlehrer für dich zu finden?“
„Hä?“, entfährt es mir, obwohl ich ja vorgeblich mit anderen Dingen beschäftigt bin. Schnell widme ich mich den Schinkenscheiben.
Aber Leon scheint es nicht anders zu gehen als mir. „Warum sollte ich Klarinette spielen?“
Paul wirkt nun beinahe panisch. „Wolltest du das nicht immer?“
„Das ist Jahre her.“
„Aber …“
Du meine Güte, das ist ja nicht auszuhalten. „Dein Vater möchte dir damit sagen, dass er glaubt, dass du länger bleibst, und er sich darüber freut – denn sonst würde es keinen Sinn machen, sich um einen Klarinettenlehrer zu kümmern. Alles klar?“ Ich habe sehr schnell gesprochen und klang dabei eventuell ein klein wenig gereizt.
Leon sieht mich mit offenem Mund an.
„Ich glaube, das wollte ich tatsächlich sagen, danke“, sagt Paul.
Ich lächele. „Gern geschehen.“
Paul lächelt zurück.
„Mann, seid ihr dämlich“, sagt Leon so genervt, dass ich mir nicht sicher bin, ob Hunde, die bellen, nicht am Ende doch beißen.
„Vorsicht“, sage ich mit einem schlangenhaften Lächeln. Meine Augen sind Schlitze. „Sonst ist die Kirsche weg.“
Ich nehme eine der Cocktailkirschen aus dem Glas, werfe sie lässig in die Luft und versuche, sie mit dem Mund zu fangen.
Ich bin echt cool, denke ich für die drei Sekunden, bevor mir die Kirsche aufs rechte Auge fliegt. Der Schließreflex versagt leider, sodass die Zuckerlösung sich auf der ganzen Netzhaut verteilt und höllisch brennt.
Ich kreische auf. Paul gibt seltsame Geräusche von sich, doch als Leon laut auflacht, kann er auch nicht mehr an sich halten. Ihr gemeinschaftliches Gewieher klingt so befreiend, dass ich ihnen nicht einmal böse sein kann. Stattdessen werfe ich die Cocktailkirsche nach Paul, die Leon blitzschnell mit einer Hand fängt, bevor sie seinem Vater auch noch ein gereiztes Auge verpasst.
„Wow“, sage ich.
„Respekt“, entfährt es Paul.
„Klarinette muss echt nicht sein“, sagt Leon. „Aber ich würde gerne mal Krav Maga ausprobieren.“
Leider zeigt er mit den Worten mehr Coolness, als er selbst verkraftet. Er keucht bei dem Versuch, ein Bellen zu unterdrücken, und schaut schließlich feuerrot auf den Toast, den ich ihm hinstelle.
„Na klar“, sagt Paul. Er hüstelt ein paarmal. „Was war das noch gleich?“
„Kampfsport. Geheimdienst. Israel“, spuckt Leon aus. Nach jedem gierigen Bissen und schnellem Kauen eines der Wörter.
„Ein bisschen Karate tut es wohl nicht mehr, oder?“ Paul schaut zu mir. „Muss es unbedingt ein Kampfsport sein? Wie wäre es mit Fußball?“
Vermutlich sorgt er sich wegen der Amokspiele auf Leons Handy. Aber ich würde anstelle des Jungen auch lieber einen krassen Sport erlernen. Tics, komische Klamotten und dann noch eine Klarinette – so etwas überlebt niemand auf dem Schulhof. Außerdem kann ich nicht zulassen, dass Paul seine gerade erworbenen Bonuspunkte wieder verspielt.
„Kämpfen nicht gut, aber wenn kämpfen, dann gewinnen“, sage ich mit einem Akzent, von dem ich hoffe, dass er als japanisch durchgeht.
„Karate-Kid“, sagt Leon mit einer Kennermiene. „Guter Film.“ Paul und ich grinsen uns wegen des altklugen Tonfalls zu, als Leon gerade nicht hinschaut. Doch ich sehe, dass Paul genauso verblüfft ist wie ich. Das Zusammenleben mit unserem neuen Mitbewohner verspricht, interessanter zu werden als gedacht.
„Also gut“, sagt Paul schließlich. „Ich werde mal schauen, wo es in der Stadt solche israelischen Kampfkurse gibt, einverstanden?“
„Ehrlich gesagt …“ Leon zögert. „Könnt ihr mir nicht einfach eine DVD besorgen? Dann kann ich zu Hause trainieren.“
Es ist wohl mittlerweile sonnenklar, dass etwas passieren muss. Es kann einfach nicht gut sein, wenn Leon sich derartig von anderen abschottet.
„Na gut“, sagt Paul, sieht aber ebenfalls etwas enttäuscht aus. Dann fasst er sich an die Stirn. „Lisa, ich habe ganz vergessen, dass eine Karte für dich im Briefkasten lag. Sie liegt im Flur.“
Ich bekomme nur selten Post, seit die meisten Firmen ihre Werbung per E-Mail verschicken. Deswegen springe ich neugierig auf, um zu erfahren, wer der Absender sein könnte. Es ist aber nur die Benachrichtigung eines Paketdienstes.
„Bei Frau Holle liegt ein Päckchen für mich“, sage ich zu Paul. „Meinst du, ich kann jetzt noch bei ihr klingeln?“
„Klar“, sagt Paul. „Ich höre in meinem Zimmer oft noch gegen 11 Uhr ihre Musik. Immerhin kein Schlager, sondern schmissige Chansons.“
„Dann flitze ich noch mal kurz zu ihr“, sage ich.
Was mag das wohl für ein Päckchen sein?
Frau Holle wohnt ein Stockwerk über uns und heißt eigentlich Frau Kolle. Als wir uns einander vorstellten, habe ich ihren Namen falsch verstanden und fand, mein Verhörer passt so gut zu ihr, dass ich ihn beibehalten habe. Sie wirkt so verschmitzt und freundlich und ich kann mir gar nicht vorstellen, dass sie nicht schon immer eine niedliche alte Dame gewesen ist. Sie muss einfach schon als Prototyp der gütigen Großmutter aus dem Bauch ihrer Mutter geschlüpft sein.
Mit der Karte in der einen Hand drücke ich mit der anderen auf den mittlerweile matten goldenen Knopf – ganz sanft, als würde ein weniger aufdringlicher Ton dabei herauskommen, als wenn ich ihn mit aller Kraft betätigen würde. Es dauert so lange, bis sie die Tür öffnet, dass ich bereits beschlossen habe, umzudrehen und es morgen noch einmal zu versuchen.
Doch da steht sie schließlich im Türrahmen. „Hallo“, sagt sie fröhlich. „Sie wollen bestimmt Ihr Päckchen abholen, oder? Was macht denn der kleine Max?“
Die erste Frage beantworte ich mit einem Nicken. „Er schläft ganz brav“, entgegne ich auf die zweite. „Tut mir leid wegen der Umstände.“
„Aber das macht doch nichts. Heutzutage müsst ihr Mädels ja immer so hart arbeiten. Ich weiß nicht, ob wir Frauen das wirklich alles so schlau eingefädelt haben mit der Selbstverwirklichung.“
Ich widerspreche ihr nicht, sie ist schließlich eine alte Dame. Und es ist ja nicht so, als ob sie gerade behauptet hätte, dass die jungen Männer früher alle so fesch in ihren Hakenkreuzuniformen ausgesehen hätten. Wobei – ich schätze sie auf höchstens Mitte siebzig.
„Würden Sie mir kurz folgen, Kindchen? Mein Bein will heute nicht so richtig.“
Zögerlich betrete ich ihre Wohnung und fühle mich wie ein Eindringling. Drinnen erlebe ich eine Überraschung. Ich hätte Eiche rustikal, den Geruch von Mottenkugeln, goldumrahmte Porzellanteller und Ölschinken voller röhrender Hirsche erwartet. Stattdessen fällt die Einrichtung vor den strahlend weißen Wänden so spärlich aus, dass es an japanische Puristik erinnert. Nur sehr vereinzelt ziehen nostalgisch anmutende Gegenstände den Blick auf sich. Ihre strenge Auswahl lässt vermuten, dass jeder von ihnen eine tiefere Bedeutung birgt. An einer Wand hängt eine nostalgische Weltkarte mit vielen kleinen Fähnchen darauf.
Als wir in das Wohnzimmer gelangen, nehme ich einen leichten Duft nach Anis wahr. Auf dem Beistelltisch sehe ich – fast ein wenig enttäuscht – die Plastiktüte einer schwedischen Textilkette liegen – sie passt so gar nicht in diese Wohnung. Doch bei ihrem Anblick fällt mir ein, dass ich eine neue blaue Winterjacke für Max bestellt habe. Ich habe es vergessen und war dementsprechend gespannt auf mein Paket.
Das Etikett auf der geöffneten Flasche verrät, woher der Anis-Duft kommt. „Ouzo“, sagt Frau Holle, deren Augen meinem Blick gefolgt sind. „Ich schaue mir gerade Fotos meiner letzten Griechenlandreise an. Wollen Sie auch ein Schlückchen trinken?“
„Nein danke“, sage ich lächelnd.
„Na kommen Sie. Sie brauchen sich auch kein einziges Foto anschauen, versprochen.“
Ich zögere und suche nach einem Ausweg. Älteren Damen etwas abzuschlagen, gehört nicht zu meinen Kernkompetenzen. Falls sie weiter in mich dringt, werde ich den ganzen Abend hier verbringen.
„Na los“, sagt sie und besiegelt damit mein Schicksal. „Ich schenke Ihnen ein Gläschen ein. Sie sehen aus, als könnten Sie eines gebrauchen.“
Womit sie nicht ganz unrecht hat. Ich setze mich neben sie auf das oxfordgrüne Chesterfield-Sofa aus Leder und nippe an meinem Getränk. Das Brennen in der Kehle, die folgende Wärme in der Speiseröhre und im Bauch tun überraschend gut. Doch nach dem zweiten Glas ruiniert Frau Holle die Behaglichkeit, indem sie mich nach meinem Beruf fragt.
„Ich bin Meteorologin“, sage ich und spüre bei diesen Worten bedrückt die Anspannung zurückkehren.
„Eine Wetterfröschin? Das ist ja großartig.“
Ich lache, erfreut über ihre Begeisterung. Bislang ist mir nur der Ausdruck „Wetterfee“ für die Frauen meiner Zunft untergekommen, aber Fröschin gefällt mir viel besser.
„Ich hatte einen Wetterfrosch, als ich klein war“, sagt Frau Holle. „Natürlich war es nur ein Laubfrosch. Ich habe ihn in einem kleinen Glas mit Löchern im Deckel gehalten und eine kleine Leiter reingesetzt.“
„Und dann hat er Ihnen das Wetter vorausgesagt?“, frage ich ungläubig.
„Mein Vater hat mir erzählt, dass das Wetter gut wird, wenn der Frosch die Leiter nach oben klettert. Leider ist der Frosch bald darauf eingegangen.“ Sie lächelt bedauernd und ich lache laut.
Sie ist wirklich zauberhaft. Habe ich das wirklich gerade gedacht? Bis zu meinem Besuch hier gehörten Adjektive wie „zauberhaft“ sicher nicht zu meinem aktiven Wortschatz.
„Ich habe ein Sturmglas von meinem Vater bekommen“, sage ich versonnen. „Ich war fasziniert davon. Vielleicht bin ich deswegen sogar Meteorologin geworden.“
„Ein Sturmglas, so wie in ‚Ein Sturm im Wasserglas‘?“ Jetzt kann sie sich ein Lachen nicht verkneifen. „Was ist das – so etwas wie eine Kristallkugel?“
„Im Prinzip schon.“ Ich beschreibe ihr ausschweifend die schmale Glasröhre, die mein Vater auf einer hübschen geschnitzten Holzscheibe befestigte. Darin waberte eine besondere Lösung, die Kristalle ausbildete. „Und die konnte man dann lesen. Schnee bei kleinen Sternchen, kleine Flöckchen für Nebel …“
„Und – hat es wirklich funktioniert?“
„Nein“, gebe ich zu. „Mein Vater hat mir später gestanden, dass die Flüssigkeit ausschließlich auf die gerade vorhandene Umgebungstemperatur reagiert und nichts vorhersagen kann.“
„Väter“, sagt meine Nachbarin und seufzt. Aber es ist kein wirklich vorwurfsvolles, eher ein liebevoll-nachsichtiges Seufzen, dem ich aus ganzem Herzen zustimme.
Sie schenkt uns noch einmal nach. „Wie kommt es, dass Töchter ihre Väter immer mehr lieben, aber zu den Müttern mehr Nähe empfinden – im Guten wie im Schlechten?“
Darauf weiß ich keine Antwort, glaube aber, dass ihre Erkenntnis auf viele Töchter wirklich zutrifft. Auch bei mir ist das wohl der Fall.
„Sie wollen sicher schnell wieder in Ihre Wohnung mit Ihrem Jungen. Trinken Sie dennoch das letzte Gläschen mit mir auf dem Balkon?“
Jetzt, wo sie es ist, die mich hinauskomplimentiert, empfinde ich fast etwas wie Wehmut, ihre angenehm karge und doch so gemütliche Wohnung zu verlassen – oder vielleicht möchte ich auch nur nicht gleich wieder auf ihre Gegenwart verzichten, denn die ist überraschend wohltuend. Sie nimmt sich eine Wolldecke und legt mir eine zweite über die Schultern. „Nehmen Sie die Flasche und die Gläser?“
Mit den gewünschten Gegenständen in den Händen folge ich ihr auf ihren Balkon, obwohl ich mich angetrunken sonst nie zu Rauchern geselle, aus Angst, rückfällig zu werden. Ich hätte nie gedacht, dass sie raucht – sie umgibt nie dieser verräterische Geruch nach kalter Asche.
„Ich habe gerade meinen Job verloren“, gestehe ich ihr, als wir uns draußen auf die verschnörkelten weißen Metallstühle mit den Auflagen aus lilafarbenem Samt setzen.
Sie füllt noch zwei Gläser ein. „So ein Mist“, sagt sie. Und dann stoßen wir wieder an.
„Ihr Balkon ist toll“, sage ich. „Sie haben wirklich ein Händchen für Dekoratives.“
Neben dem ansehnlichen Set aus zwei Stühlen und einem Tisch, die dem Garten eines jeden englischen Herrenhaus-Krimis Ehre gemacht hätten, sind dort noch hölzerne Kästen, in denen bunte Gräser wachsen, mitten im Januar. Und sie kann von hier über die Mauer schauen, die unseren kleinen Garten eingrenzt. Sie sieht auf die Straße und das immer gut besuchte Café auf der anderen Seite.
„Ja, der Balkon ist mein ein und alles. Mein Fenster zur Welt, wenn Sie so wollen.“ Sie deutet lächelnd auf das Café. „Derzeit bin ich ja leider nicht so gut zu Fuß und seit ich meinen Garten aufgeben musste, bleibt mir nur noch wenig, aber auf das gebe ich acht, und irgendwie ist es sogar eine Erleichterung. Sie sollten im Frühling wiederkommen, dann blühen hier sogar Tulpen.“
„Das schaue ich mir gerne an“, verspreche ich und meine es auch so. Irgendetwas an dieser Frau fasziniert mich.
Am Abend darauf sind Max und ich bei unseren Eltern verabredet. Ich habe mit ihnen vereinbart, dass Max bei ihnen schläft und ich mich nach dem Essen noch einmal davonstehle und irgendwann nachts zurückkomme, damit ich morgens gleich wieder bei ihm bin. Doch vorher werde ich endlich mal wieder mit Kessie ausgehen. Wir haben uns im Kaiserkeller zur „Come as you’re“-Grunge-Party verabredet – ganz wie damals vor zehn Jahren, im ersten Semester.
Da waren wir neunzehn Jahre alt und genauso fühle ich mich, als ich am frühen Abend mit Max am Tisch meiner Eltern sitze.
„Und du hast nicht mal einen Mann, der Geld verdient“, sagt meine Mutter. „Sicher, Geld ist nicht alles. Aber als alleinerziehende Mutter hättest du den Job vielleicht behalten sollen.“
Sie hebt die Hand, als ich sie unterbrechen möchte, um sie darauf hinzuweisen, dass man mir keine Wahl gelassen hatte, und fährt dreist fort: „Du weißt, ich bin ein Freigeist und werde sicher kein Loblied auf den schnöden Mammon singen – aber die Grenze zur Verantwortungslosigkeit ist schmal und die habe ich nie überschritten.“
„Wirklich, Lisa. VERANTWORTUNGSLOS. Es ist wirklich jammerschade, dass Mütter keinen speziellen Führerschein machen müssen, bevor sie ein Kind bedienen dürfen“, sagt Zoe und schaut mit einem diabolischen Lächeln erst mich und dann meine Mutter an. Ich drücke die Gabel in meiner Hand noch fester.
„Ich würde sogar sagen, das ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit“, ergänzt Roman ohne auch nur den Anflug eines ironischen Lächelns.
„Was redet ihr?“, fragt Max, den Mund voller Kartoffeln.
„Darüber, wie schön es ist, Kinder zu haben.“ Meine Mutter lächelt ihrem vorerst einzigen Enkel verliebt zu.
„Du hast aber keine Kinder“, sagt Mäxchen zu Zoe.
„Na, dem Himmel sei Dank“, murmelt sie. „Nichts gegen dich, Lieblingsneffe.“
„Und du hast auch keine Kinder“, stellt Mäxchen zu Roman gewandt fest.
Der sieht aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen.
„Aber Roman möchte ein Kind“, erklärt er dann meinen Eltern. „Mit Mama.“
Und schon ist es, als hätte der wahnsinnige Nordkoreaner eine Wasserstoffbombe direkt in unser Wohnzimmer geschickt. Mein Vater sieht leichenblass aus und seine Hände zittern. Meiner Mutter fällt die Gabel aus der Hand. Und Zoe lacht so laut, dass es ihr wehtun muss. „Meine Familie ist ja so bescheuert.“ Sie legt eine Hand auf ihren zitternden Bauch und lacht immer lauter. „Macht ihr jetzt einen auf ‚Game of Thrones‘, oder was? Aber denkt nicht, dass ich am Ende euren Joffrey heirate.“
Nun sieht Roman fast so blass aus wie mein Vater. Im Gegensatz zu mir scheint er die Anspielung zu verstehen und offenbar war sie nicht nett. Ich konnte noch nie Blut sehen, habe die Serie also wohlweislich gemieden und war deshalb auch ziemlich aufgeschmissen, als meine Freunde den ganzen Herbst Anspielungen posteten, bei denen es immer irgendwie darum ging, dass „der Winter naht“.
„Ich dachte, die Kopfhörer wären dicht“, zische ich Roman an.
Meine Mutter ist ähnlich wie Zoe viel zu abgebrüht für Nervositätsgefühle, aber nun schaut sie unruhig von einem zum anderen. „Ich bin mir sicher, dass Max etwas falsch verstanden hat. Roman wünscht sich sicher ein Kind, wie deine Mutter es hat, nicht wahr?“
Sie fixiert Roman, der den Anstand hat, verlegen auszusehen, was sie aber nur in ihren schlimmsten Befürchtungen bestätigt. „Nicht wahr?“, wiederholt sie energisch.
„Nun ja …“, sagt Roman. „Eigentlich habe ich Lisa gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, für Martin und mich als Leihmutter zu fungieren.“
„Roman, was macht eigentlich dein Job?“ Wenn mein Vater diese Frage in die Runde wirft, muss er verzweifelt sein. Er weiß doch, dass sie ein Garant für gähnende Lageweile ist. Und tatsächlich stochern wir bald alle mit glasigen Augen im Essen herum. Roman schätzt seine Arbeit zu sehr, als dass er sie in weniger als einer Million Wörter abhandeln möchte.
Ich ertappe mich dabei, wie ich die Leere in meinem Kopf mit Fantasien über einen Mann mit einer auffallenden Kerbe im Kinn anfülle. Und als schließlich Max vor Müdigkeit der Kopf auf die Tischplatte fällt, bin ich dankbar für die Ausrede, um zu verschwinden. „Ich muss den Kleinen ins Bett bringen“, sage ich entschuldigend und verschwinde mit Max in mein ehemaliges Kinderzimmer.
Als ich etwas später das Haus verlasse, bin ich hin- und hergerissen. Als ich Max verlasse habe, lag er so niedlich zusammengerollt in seinem Bett, dass ich mir sicher war, nichts zu verpassen, wenn ich mich einfach zu ihm legen würde. Gleichzeitig zog es mich an die erfrischend eisige Luft unter die vertrauten Neonlichter des guten alten Kiezes, in dem ich einfach eine junge Frau in der Menge bin, die alles Mögliche sein könnte, was ich nicht bin. Unabhängig, frei, mit einem Anrecht auf alle Abenteuer und Möglichkeiten, die das Leben zu bieten hat. Das erste Mal hatte ich dieses Gefühl genau hier mit sechzehn Jahren, als ich das magische Portal, die Leuchtreklame der Großen Freiheit über meinem Kopf, das erste Mal durchquert habe. Nur ein paar Minuten später blamierten meine Freundinnen und ich uns allerdings bei dem Versuch, tatsächlich in einen der Klubs zu kommen. Es hieß, man könne das Geburtsdatum auf dem Personalausweis ganz einfach fälschen. Einfach nur die passende Zahl aus der Steuermarke einer Zigarette ausschneiden und damit die letzte Ziffer des Geburtsjahres abdecken. Einfach die 87 in eine 83 verwandeln. Das merkt kein Mensch. Tatsächlich waren die Schriftart und das Muster unter der Zahl auf beiden Dokumenten in etwa gleich – leider fiel an der Kasse sofort der Tesafilmstreifen auf, der das neue Datum fixieren sollte. Am Ende saßen wir mit an der Tankstelle gekauften Bierflaschen an den Landungsbrücken und kamen uns auch so herrlich erwachsen und ein bisschen verrucht vor. Und dann bekamen wir doch jedes Mal ein bisschen Schiss und hinterher hysterische Lachkrämpfe, wenn uns jemand ansprach. Wir waren extrem albern und sehr glücklich und ganz in jenem Moment, von dem keine Selfies mit Entenschnuten existieren, weil die noch nicht erfunden waren. So konnten wir uns in die Augenblicke fallen lassen, ohne schon dessen Außenwirkung zu konstruieren.
Heute sieht es schon etwas anders aus. Es macht mehr Arbeit auszugehen, weil man sich seiner selbst später im Leben immer so bewusst ist, auch wenn man keine Bilder davon knippst. Es ist aufwendiger, sich auf das Ausgehen vorzubereiten. Zum Glück hat man Schwangerschaftsstreifen nicht im Gesicht, aber der Schlafmangel hat durchaus die ersten Krähenfüße hinterlassen. Ich habe weniger Wimperntusche, Kajal und Lidstrich für einen geheimnisvollen Katzenaugenaufschlag als früher verwendet. Statt um das Zeigen geht es jetzt eher um das Kaschieren. Doch als die Augenschatten passabel abgedeckt waren, habe ich mir doch noch einen kleinen Eyeliner-Schwalbenschwanz gegönnt, schließlich habe ich lange dafür geübt. Ich habe mir einen hohen Pferdeschwanz gebunden und trage locker sitzende schwarze Jeans mit Löchern in den Knien und darunter eine Netzstrumpfhose. Dazu ein enges schwarzes T-Shirt, halbhohe Stiefeletten und eine goldene Panzerkette. Ein wenig verwegen und – so hoffe ich – auch ein wenig sexy.
So betrete ich den Keller der Großen Freiheit 36. Hier haben schon die Beatles und meine Eltern gefeiert. Und weil es sich anfühlt, als sei es genauso lange her, dass ich hier eine Nacht verbracht habe, packt mich am Ende die gleiche ausgelassene Erregung wie damals. Vor mir liegt ein Abend, an dem ich tanzen, lachen, flirten werde, ohne dass vernünftige Gedanken an das Morgen, der vorweggenommene Kater, mich von alldem abhalten.
Ich entdecke Kessie sofort am Tresen und wir umarmen uns fest. Mein Juchzen ist lauter als ihres. Vielleicht weil sie immer noch fast jede Woche hier abhängt und sie deshalb noch keine Gelegenheit hatte zu vergessen, dass am Ende doch nie etwas Aufregendes geschieht. Sie trägt ein schwarzes Trägertop und darüber offen ein rotes Holzfällerhemd, das sie locker in einen Leder-Mini gesteckt hat. Sie sieht in dieser Aufmachung kein bisschen billig, sondern beinahe elegant aus. Sie trägt ihr langes, glattes rotes Haar offen und hat nur die blauen Augen mit einem Hauch schwarzer Wimperntusche betont. Sie sieht umwerfend aus, stelle ich beinahe neidlos fest.
„Tequila?“, fragt sie routiniert.
„Na klar.“ Kurz bremst mich doch der Gedanke an Mäxchen, der sich morgens um 6 Uhr an mich und meine Fahne schmiegt, doch ich drücke das Bild gleich wieder weg.
Ich beobachte die anderen Mädchen im Raum. Ich hatte ganz vergessen, wie Gespräche unter diesen Umständen geführt werden. Alle tun so, als hörten sie ihren Freundinnen zu, lachen aber in Wahrheit nur deswegen immer wieder mit Ganzkörpereinsatz, während sie die langen Haare nach hinten streichen, weil jemand es sehen könnte. In Wahrheit checken sie die ganze Zeit die Umgebung.
Doch mit Kessie ist das anders. Wir hatten uns immer schon so viel zu erzählen, dass ich unser Umfeld gar nicht mehr wahrnehme. Anfangs tut mir der Typ hinterm Tresen ein wenig leid, aber vermutlich schnappt er täglich Gesprächsfetzen wie „Zwergenschwanz“ und „Killerzunge“ auf und ist am Ende einfach nur gelangweilt. Ich aber kann dem Vokabular entnehmen, dass sich Kessies Kollege keine allzu großen Hoffnungen auf eine tiefer gehende Beziehung machen sollte. Kessie mag optisch der Inbegriff von Weiblichkeit sein, drückt sich aber aus wie der handelsübliche Durchschnittskerl. Subtilität ist nicht ihr Ding. Ist sie aber wirklich mal verliebt, spricht sie zurückhaltender. Ihr zuzuhören, ist wie ein Ausflug in eine andere Welt, eine, die wir mal geteilt haben, in die ich nun aber nur noch nostalgische Ausflüge unternehmen kann. Beim Tanzen drehen wir noch mal richtig auf, bis uns die jüngeren Mädchen missbilligend anschauen und miteinander tuscheln. Doch irgendwann bin ich mir nicht mehr ganz sicher, was ich hier mache, und frage Kessie, ob wir uns an der Kiez-Tanke nicht zwei Bierflaschen holen wollen. Sie erinnert mich daran, dass es die Tanke schon lange nicht mehr gibt, ist aber einverstanden, einen 24-Stunden-Shop aufzusuchen. Am Anfang ist die kalte Nachtluft noch erfrischend. Doch schon bald kriecht sie unter unsere Mäntel, bis ich das Gefühl habe, mein Brustkorb explodiert. Da bezweifle ich, dass wir es schaffen, die Flaschen heil zu den Landungsbrücken zu tragen, ohne dass ihr Inhalt gefriert. Trotzdem macht keine von uns einen Rückzieher. Schweigend und dicht aneinandergeschmiegt ziehen wir weiter und prosten uns zu, als wir auf die Lichter am Hafen blicken. Das Wasser schwappt gegen die Kaimauer, aber sonst ist es still in dieser Nacht. Ich schaue in den Himmel und sage: „Letzte Chance für die Quadrantiden.“
„Sie spricht mal wieder in fremden Zungen“, sagt Kessie und lacht.
„Ein Sternschnuppenschwarm“, sage ich. „Den gibt es nur bis Mitte Januar zu sehen.“ Mich interessiert nicht nur das Wetter. Mich faszinieren sämtliche Phänomene zwischen Erde und der Unendlichkeit über uns.
„Mist, ich habe alle Wünsche zu Silvester verbraten.“
„Da ist die Wunscherfüllungszentrale doch völlig überfordert. Probier’s jetzt noch mal“, sage ich.
Sie lacht. „Warum bist du kein Mann und warum ist es so arschkalt? Ich habe mir immer gewünscht, dass ein Typ mit mir in den Sommerhimmel schaut und irgendeinen Unsinn über Sternbilder erfindet.“
„Da ist nichts erfunden“, rufe ich empört.
„Tja, aber du bist ja auch kein heißer Typ und die Temperaturen liegen nicht bei über 30 Grad. Man kann nicht alles haben.“
„Du Arme.“ Ich boxe ihr in die Seite und rufe an ihrer statt einen Wunsch in den Himmel. „Gleich morgen soll für meine Freundin Kessie der Sommer beginnen.“
„Danke“, sagt sie trocken. „Ich friere hier langsam fest. Wollen wir einfach nach Hause gehen? Ich habe morgen die Frühschicht.“
Ich verkneife mir ein Lächeln, denn ihre „Frühschicht“ beginnt um 11 Uhr.
„Du hast zumindest einen Job“, sage ich.
„Stimmt, dafür hast du deinen bezaubernden Jungen.“
„Ich hätte nicht gedacht, dass du dir ein Kind wünschst.“
„Doch, ich will unbedingt eines. Ich glaube, ich wäre eine Supermutter für ein Mädchen. Frauenpower, du weißt schon.“
Sie spannt mit angewinkeltem Arm ihren Bizeps an und umfasst ihn mit der Hand des anderen Arms. Ich weiß, dass sie die Frau mit dem Overall und dem weiß gepunkteten roten Kopftuch von der „We can do it!“-Reklametafel imitiert. Die Karte hing in jeder Studenten-WG, die ich kannte, was mir immer merkwürdig vorkam, weil sie ursprünglich die Rüstungsindustrie bewarb und ich immer fand, Frauen könnten ihre Power sinnvoller einsetzen. Ich kann mir so richtig vorstellen, wie die Jungs in der Werbeagentur wieherten. „Komm, lassen wir das schwache Geschlecht doch einmal stark wirken, wenn es uns dafür die Kanonen poliert.“ Darauf noch einen Zug an der Zigarre.
„Aber ich will das Kind frühestens in zehn Jahren“, sagt Kessie munter. „Bis dahin reicht es, wenn ich die Verantwortung für mich selbst tragen muss.“
Wir bibbern beide und verabschieden uns schließlich an der S-Bahn.
„Das müssen wir bald mal wieder machen“, behaupte ich.
„Unbedingt“, entgegnet Kessie genauso überzeugend. „Vielleicht komme ich aber auch einfach mal wieder auf einen Kaffee vorbei.“
Es ist also offiziell, ich bin für die Unterhaltungsindustrie gestorben, fortan stehen mir nur noch Damenkränzchen offen.
Am nächsten Morgen klingelt kein Wecker. Wozu auch? Mein Chef hat mich freigestellt. Schon schockierend, wie entbehrlich ich bin. Ich werde erst wach, als Max aus seinem Kinderbett in mein Bett krabbelt und mir ein Buch hinhält. „Vorlesen, Mama.“
Es ist „Jim Knopf“, sein Lieblingsbuch. Mittlerweile können wir es beide auswendig. Das macht aber nichts, so kann ich es sogar geistesabwesend mit den richtig verstellten Stimmen vorlesen, während ich mich drauf konzentriere, wie schön es ist, dass sich ein großartiger kleiner Junge an mich schmiegt. Wir lesen und lesen, bis Max und ich Hunger bekommen. „Ich möchte zu Hause frühstücken“, sagt Max. „Mit Sophie und Leon.“
„Einverstanden“, sage ich. Denn viel hält mich auch nicht im Haus meiner Eltern.
Als wir zu Hause ankommen, ist aber überhaupt niemand dort. Ich tröste Max mit der Idee, draußen zu frühstücken. Es ist nämlich ein kleines Wunder geschehen: Die Sonne scheint und es sind klimawandelverdächtige 14 Grad. Oder vielleicht hat ja auch jemand den Wunsch gehört, den ich in der vergangenen Nacht in den Himmel gebrüllt habe.
Mit dicken Fleecejacken bekleidet, futtern wir Marmeladen-Toast. Max ist glücklich, weil er meistens nur zuckerfreie Mandelbutter oder Bio-Frischkäse bekommt.
„Lecker“, sagt er zufrieden. Und kuschelt sich enger an mich.
„Lecker“, stimme ich ihm versonnen zu und genieße diesen friedlichen Moment allein mit meinem Sohn.
Deswegen kommt sein plötzlicher Schrei ganz unvermittelt. Für einen Moment fürchte ich, mein Trommelfell ist geplatzt. Dann sehe ich in das schmerzverzerrte Gesicht meines Sohnes und bin sofort in voller Alarmbereitschaft.
„Was ist denn?“, rufe ich entsetzt.
Doch Max kann mir nicht antworten, weil er hysterisch weint.
„Max, was ist los?“ Langsam werde ich auch hysterisch.
„Das tut so weh. Mich hat etwas gestochen“, bringt Max schließlich hervor.
Und dann geht alles ganz schnell. Mein Sohn sieht plötzlich ganz geschwollen aus, er übergibt sich und atmet schwer. An seinem Kragen krabbelt eine Wespe, die ich mit der Hand wegschnippe. Obwohl mir klar ist, dass ich schon seinetwegen die Ruhe bewahren sollte, laufen mir die Tränen herunter, als ich per Handy den Krankenwagen rufe. Während wir warten, sitzt Max ganz eng an mich gekuschelt. Er weint nicht mehr, sondern sieht apathisch aus, was viel schlimmer ist. Endlich kommt der Wagen mit einem jungen Sanitäter, der sich offenbar mit Kindern auskennt. Durch einen Teddy spricht er zu Max.
Alles, was danach passiert, erlebe ich wie durch einen Nebel, die Fahrt ins Krankenhaus, mein beschwörendes Murmeln, mit dem ich meinen Sohn beschwichtigen möchte, das geschwollene Gesicht meines Sohnes, das aussieht, als hätte ihn jemand geschlagen, der Arzt, der es ganz und gar ungewöhnlich findet, in dieser Jahreszeit eine allergische Reaktion auf einen Wespenstich behandeln zu müssen. „Vermutlich hat sie die plötzliche Wärme aufgeweckt.“
„Er wurde im letzten Jahr schon einmal gestochen, aber da ist gar nichts passiert“, sage ich.
Der Arzt gibt meinem Sohn ganz ruhig eine Spritze in den Oberschenkel – „Wenn jemand das erste Mal gestochen wird, ist es ungefährlich, denn erst dann wird die Allergie ausgelöst“.
Am Ende erhalte ich zwei Sets mit Adrenalinspritzen, Tropfen und Cortison, die ihm das nächste Mal sofort helfen sollen.
Doch es wird kein nächstes Mal geben, beschließe ich. Keine Wespe wird sich mehr in seine Nähe wagen, solange ich bei ihm bin. Nur wie soll es mir gelingen, immer in der Nähe zu sein?
Mein Bruder holt uns aus dem Krankenhaus ab und schaut während der Fahrt immer wieder besorgt in den Rückspiegel. Hinten sitzt Max sehr erschöpft neben mir und ich merke, dass ich immer noch Tränen in den Augen habe. Nach einer wortlosen Fahrt verabschieden wir uns mit einer Umarmung.
„Kopf hoch“, sagt er wie früher immer und unsere Meinungsverschiedenheit ist vergessen.
„Danke“, murmele ich und trage Max dicht an mich gedrückt ins Haus. Ich lege ihn direkt ins Bett, damit er noch ein wenig schlafen kann, dann gehe ich nach draußen und schaue mich suchend um. Tatsächlich. Unter dem Balkon von Frau Holle befindet sich ein Wespennest. Es muss weg, und zwar sofort. Der Arzt hat schon gesagt, dass sicher nur ein einzelnes Tier aufgewacht ist, deswegen hoffe ich, dass sie es gar nicht merken, wenn ich sie ausräuchere. Sicher fühle ich mich schuldig dabei, Lebewesen zu töten, die nur ihrem biologischen Plan folgen. Aber sie haben meinen Sohn angegriffen und den liebe ich noch viel mehr als all meine Prinzipien. Ich schnappe mir eine Gartenfackel, die wir noch in unserem Kabuff haben, zünde sie an und halte sie vorsichtig an das Nest. Es fängt sofort Feuer und die Flammen bahnen sich ihren Weg schneller, als ich es erwartet hatte. Aus irgendeinem Grund ging ich davon aus, sie würden von alleine erlöschen, sobald das Nest vernichtet ist. Niemals hätte ich gedacht, dass das umliegende Material überhaupt entflammbar ist. Es handelt sich schließlich um Beton und Stahl. Doch bevor ich eine Chance habe, das Feuer zu stoppen, macht es sich über Frau Holles Balkon her. Es ist so mächtig, dass mir klar ist, dass ein Eimer voller Wasser nichts bewirken wird. Ich muss die Feuerwehr alarmieren.
„Es brennt bei uns“, rufe ich ins Telefon und nenne die Adresse. Auf die Frage nach der Ursache sage ich aber nur schwach: „Ich bin mir nicht ganz sicher.“
Ich bringe es nicht über mich, ihnen die Wahrheit zu sagen, auch wenn mir klar ist, dass ich am Ende keine andere Wahl haben werde.
„Es ist sofort ein Wagen bei Ihnen“, versichert mir die Frau in der Einsatzzentrale mit gefasster Stimme.
„Danke“, sage ich und lege auf. Nun will ich erst mal sicherstellen, dass Mäxchen und Frau Holle nicht in Gefahr schweben.
„Du bist ja hier“, sage ich überrascht, als in diesem Moment Leon aus seinem Zimmer kommt.
„Paul musste noch arbeiten“, murrt er, aber ich habe jetzt nicht den Kopf, um auf ihn einzugehen.
„Ist das Feuer?“, fragt Leon erschrocken und gleichzeitig interessiert und schaut über meine Schulter durch die Terrassentür nach draußen.
„Ja, genau. Da war ein Wespennest. Ich habe versucht … egal, am besten verschwindest du schnell raus auf den Flur. Ich hole schnell Max und schaue dann, ob oben jemand zu Hause ist.“
„Krass“, sagt Leon. „Du warst das?“
Ich nicke und schiebe ihn aus der Wohnung. Dann hole ich Max und lege ihn vor der Haustür dem verdutzten Leon in die Arme. Ich laufe an den beiden Jungs vorbei die Treppen hinauf und klopfe, so laut ich kann, an die Tür von Frau Holle.
Schließlich höre ich ihre sanfte Stimme. „Wer ist denn da?“
Fast zeitgleich geht die Tür auf, offenbar hat sie mittlerweile durch den Türspion geschaut und mich erkannt.
„Ihr Balkon brennt“, rufe ich.
„Oh?“, sagt sie verwirrt. „Mögen Sie vielleicht reinkommen? Ich habe gerade einen Kaffee aufgebrüht. Sie sollten sich erst mal beruhigen.“
„Aber es brennt. Bei Ihnen.“
„Haben Sie die Feuerwehr gerufen?“
„Ja.“
„Sind Sie haftpflichtversichert?“
Und in diesem Moment weiß ich endgültig, dass ich gerade eine Katastrophe ausgelöst habe, die mir das Genick brechen wird.
„Ja“, lüge ich, um sie nicht zu beunruhigen.
„Na bitte, dann gibt es doch jetzt nichts weiter
zu tun und wir können uns das Spektakel genauso gut ansehen.“
Zu verwirrt, um mich zu wehren, stehe ich auf einmal neben ihr im Wohnzimmer und beobachte abwechselnd den brennenden Balkon und die alte Frau neben mir. Insgeheim warte ich darauf, dass sie doch noch ausrastet. So viel Gelassenheit ist unnormal.
„Hauptsache, Sie sind versichert, Kindchen. Ich hänge an meinem Balkon. Sie wissen ja, er ist derzeit mein einziger Zugang zur frischen Luft.“
„Machen Sie sich keine Sorgen“, sage ich schwach und schaue wieder aus dem Fenster. Das ist doch verrückt. Ich warte nur noch darauf, dass aus irgendeinem Lautsprecher das Lied „It’s such a perfect day“ angestimmt wird. Das wäre dann von so schrecklicher Vollkommenheit, dass ich mein Leben wie in einem skurrilen Film betrachten könnte – und Filme haben ja bekanntlich den Vorteil, dass das Leben der Figuren nach einem verlässlichen Skript verläuft.
„Ich glaube, ich schenke uns jetzt erst mal einen Schnaps ein“, sagt Frau Holle.
Als Paul am Abend nach Hause kommt und die schwarze Außenwand sowie den Balkon, von dem nur noch ein Stück Gerüst schief aus dem Mauerwerk hängt, begutachtet, ist er fassungslos. Doch am Ende fängt er an zu lachen. „Weißt du denn nicht, dass man Wespennester nicht selbst entfernt, sondern jemanden beauftragt?“
„Das ist aber bestimmt richtig teuer, oder?“
„Nein“, sagt er nüchtern. „Im Vergleich zu einem neuen Balkon ist es ein echtes Schnäppchen. Und vermutlich war das Nest ohnehin verlassen. Weiß der Himmel, wo die einzelne Wespe hervorgekrochen ist.“
„Tut mir leid“, bringe ich kleinlaut hervor. Dann breche ich in haltloses Schluchzen aus. „Ich war so durcheinander und in Panik wegen Max.“
„Du bist doch versichert, oder?“, fragt Paul.
„Ja“, lüge ich wieder. Langsam bekomme ich darin Routine. So teuer wird es schon nicht werden. Am Ende waren es ja nur Beton und Ziegelsteine.
Wie sich nur eine Woche später herausstellt, können Beton und Ziegelsteine sogar so teuer werden, dass mir nur noch eine Möglichkeit bleibt. Ich muss meinen Bruder anrufen und ihm sagen, dass ich es tue. Ich habe alle Möglichkeiten abgewogen. Ich kann nicht zulassen, dass die arme Frau Holle allein auf dem Schaden sitzen bleibt und ihr kleines Tor zur Welt verliert. Mit zitternden Händen greife ich zum Hörer.
„Ich bin einverstanden“, raune ich in den Hörer, als Roman abnimmt. „Ich bekomme euer Kind.“
Mein Bruder ist ganz offensichtlich sprachlos vor Freude, während mein Leben in Scherben zerfällt. Und bald schon, denke ich, bald schon spiele ich dann in einem Zombie-Film mit, wie passend. Der Gedanke an den Mann mit der Kerbe am Kinn ist für einen Moment tröstlich, bis mir einfällt, dass ich bald von einem anderen Mann schwanger sein werde, wenn nicht noch ein Wunder geschieht …