Читать книгу Das Zeichen für Regen - Jana Volkmann - Страница 11

7. Kyōto. Heute.

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Irenes Schritte waren hastig und weit. Sie lief, als habe sie ein Ziel, dabei wusste sie nicht einmal, was sie hier sollte, hier auf der Straße, hier in dieser Stadt, in diesem Leben, das nur durch Zufall ihres geworden war. Während ihre Füße weiter und weiter liefen, dachte Irene an Timo. Er hatte ihr ein paar Mal geschrieben. Nicht immer hatte sie geantwortet. Sein letzter Brief war ein paar Wochen her, aber es fiel ihr schwer, sich an seine Worte zu erinnern. Nichts von Belang schien ihm passiert zu sein, jedenfalls nichts, das er Irene hätte mitteilen wollen. Er hatte ihr einmal ein Buch geschickt, die Japan-Essays von Claude Lévi-Strauss. »Die andere Seite des Mondes« hieß es, und Timo hatte wenig später noch eine Nachricht hinterhergeschickt, um zu fragen, ob es ihr gefiele. Aber das konnte auch schon im vorletzten Brief gewesen sein, oder davor irgendwann. Irene versuchte, sich an seine Hände auf ihren Schultern zu erinnern oder an das Gefühl, wenn sie ihn im Bett umarmte, von hinten, so dass ihre Brüste an seinem harten, glatten Rücken ein wenig plattgedrückt wurden. Sie konnte sich an sein Gesicht nicht mehr erinnern. Es wurde in ihrer Vorstellung zu dem Gesicht des Mannes aus Zimmer 1009, an das sie sich auch nicht erinnerte. Sie zog die Schuhe aus und lief barfuß weiter. Der Asphalt war glatt und schmutzig, die Sonne untergegangen, und plötzlich stand sie mitten in Gion, so wie alle Touristen, egal ob sie aus Hokkaido oder Malmö angereist waren, irgendwann in Gion landen, und die Stadt glitzerte und duftete nach altem Holz.

Gion, versprachen die Reiseführer, solle einem das alte Japan zeigen, ein authentisches Vergnügungsviertel, alt und neu, tot und lebendig zugleich, vielleicht weder das eine noch das andere. Hier konnte man Geishas beobachten, die aus Taxis stiegen, zu einem Termin liefen, mit kleinen, vornehmen Schritten und auf hölzernen Sohlen. Frauen liefen in traditionellen, kunstvoll gefertigten Gewändern umher. Der schwere Brokat war von Ornamenten geziert, die Irene Angst einjagten, weil sie fürchtete, sich in den Mustern zu verlieren, wenn sie zu lange hinsah. Touristen hatten sich ihre Kameras ums Handgelenk gehängt, um keine Gelegenheit zu verpassen; jeder wollte einen solchen Blick festhalten, auf einen Kimono, auf den obi, auf die kunstvollen Frisuren der maiko, auf das Japan, das sie in Filmen von Akira Kurosawa und in Büchern über Geishas und Samurai vorgefunden hatten und das von Downtown Kyōto genauso weit entfernt war wie von Köln, wenn man nicht genügend Zeit hatte, um gründlich genug danach zu suchen.

Sie war ein paar Mal in Gion gewesen und hatte geglaubt, schon alles gesehen zu haben. Den Schrein, der dem Distrikt ein Ende setzte und ihn von der profanen restlichen Stadt abgrenzte, hatte sie sich angesehen, und sie hatte sich in den schmalen Sträßchen von einer Begeisterung fortreißen lassen, die ihr eigentlich fremd war – einer Begeisterung für das Erhabene, für stillgestandene Zeit, für einen Ort, an dem die Geschichte aufgehört zu haben schien, weil Vergangenheit und Gegenwart hier eins waren. Zu ihrer eigenen Verwunderung spürte sie diese Begeisterung nun erneut. Von der Hauptstraße bog sie südwärts in eine Gasse ein. Links und rechts standen Holzhäuser. Das Licht war anders hier als in der restlichen Stadt, wärmer und weicher, und über den Dächern hing der Mond in einer schmalen Sichel. Irene vergaß beinahe, wo sie war. Das Hotel Kikka, ihre Wohnung, die Geschäfte und Cafés schienen zu einer anderen Wirklichkeit zu gehören. Die Menschen gingen langsam, und so drosselte auch Irenes Körper die Geschwindigkeit, passte sich an die Gehenden und Staunenden um ihn herum an. Sie blieb ein paar Mal stehen, sah sich um.

Neben ihr wurde eine Holztür aufgeschoben. Ein Mann trat auf die Gasse heraus. Er sah unvorstellbar alt aus. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, und mit einem wässrigen Blick sah er Irene an, musterte sie, flüsterte etwas, ging wieder hinein. Die Tür wurde zugeschoben. Sie fröstelte. Der Asphalt war noch von der Sonne aufgeheizt gewesen, als sie in die Straße eingebogen war, und nun fühlte sie vor lauter Kälte kaum mehr ihre Füße. Ihr Zittern kroch bis zu den Schultern hinauf und setzte sich dort fest. Sie blieb stehen, unentschlossen, unfähig, weiterzugehen oder umzukehren. Nun also hatte Irenes Körper wieder alle Entscheidungsgewalt ihr selbst überlassen. Erschöpft stand sie im Licht der Laternen. Sie schloss die Augen, und als sie sie wieder öffnete, huschte eine Gestalt über die Straße, in einiger Entfernung, aber nah genug, um jeden Zweifel auszuschließen. Der Mann aus 1009.

Irene lief los, in seine Richtung. Sie streifte sich die Schuhe wieder über. Er war schon außer Sichtweite, aber es gab nicht viele Möglichkeiten, wo er sein könnte, keine Abzweigungen mehr in der Richtung, in die er nun lief. Am Ende der Straße, gleich hinter dem Kabuki-Theater, war eine Tempelanlage, die bei dem großen Angebot an Attraktionen kaum Beachtung fand. Je näher sie dem Tempel kam, desto weniger Menschen waren auf der Straße. Als sie schließlich am Ende der Straße und damit am Eingang des Tempels angekommen war, war sie ganz allein.

Es war ruhig hier, ruhig und finster. Nur wenige Laternen beleuchteten den Weg, und der Mond, der den Himmel immer weiter hinaufkroch. Sie überquerte einen Parkplatz, lief weiter zum Tempel hinab, und als sie vor dem Gebäude stand, fühlte sie ihre Müdigkeit. Es war ganz unmöglich, noch weiterzugehen. Sie setzte sich auf eine Bank neben dem Tempelgraben und schaute ins schwarze Wasser. Die Oberfläche war glatt und reglos. Seerosen schwammen darauf. Der Mond spiegelte sich zwischen ihren Blättern. Es war nichts mehr wichtig. Nicht wichtig, ob der Mann dort gewesen oder nur ein Trugbild war. Nicht wichtig, ob sie heute noch nach Hause käme. Oder morgen früh zur Arbeit. Oder ob sie noch in diesem Jahr nach Deutschland fliegen und ihre Mutter besuchen würde. Oder Timo. Oder ihren Vater. Der würde von allen die größten Augen machen und einen gehörigen Schreck kriegen, wenn Irene vor ihm stünde, vor seiner Haustür, hinter der eine ganze Familie wohnte, mit der seine Tochter ganz und gar nichts zu tun hatte.

Diese Bank am Wasser schien der einzig richtige Ort für Irene zu sein. Ihre Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit. Durch das Wasser huschten Schatten. Immer deutlicher konnte sie die Fische sehen, es waren Karpfen, große, träge Kois. Einer von ihnen war besonders hell. Seine weißen und orangen Schuppen waren nun ganz klar zu erkennen. Sie glänzten in dem spärlichen Licht, als der Fisch seinen Kopf aus dem Wasser streckte und Irene ansah, als wolle er ihr etwas erzählen, wenn er nicht stumm wäre. Sie musste sehr konzentriert gewesen sein auf diesen Fisch, denn sie bemerkte den Mann erst, als er bereits neben ihr auf der Bank saß, und sie erkannte ihn, noch ehe sie aufblickte, an seinem Räuspern, das gleiche Räuspern, das sie auch in Zimmer 1009 bereits aus ihrer Versunkenheit gerissen hatte.

»Er hat ein Gesicht wie ein Mensch, findest du nicht?«

Der Mann zeigte auf den Fisch, und der Fisch drehte sich zu ihnen herum. Irene war, als habe sie noch nie eine so schöne Stimme gehört wie die des Mannes. Sie lächelte, lauschte und sah hin. Ein Menschengesicht. Kaum hatte der Mann es ausgesprochen, sah sie es auch. Es blickte sie noch ein letztes Mal an, dann kehrte der Karpfen um und schwamm davon.

»Weshalb bist du hier?«, fragte Irene.

»Hier in Japan, meinst du? Oder hier in Gion?«

»Ich weiß nicht – weshalb bist du hier in Japan?«

»Ich habe zu tun, hier. Nichts von Belang, fürchte ich. Und du?«

»Ich auch. Nichts von Belang.«

Sie schwiegen eine Weile, und Irene fragte sich, ob er recht hatte, ob er wirklich nichts tat, das von Belang war. Mit ihrer eigenen Antwort war sie einverstanden, sie schien das, was sie machte, sehr treffend zu beschreiben.

»Ich glaube, was ich eigentlich fragen wollte, ist, weshalb wir beide hier sind. Du weißt schon – weshalb wir uns hier treffen und weshalb du dich zu mir gesetzt hast.«

»Woher soll ich das wissen? Ich habe ganz kurz gedacht, du seist mir vielleicht gefolgt, aber das scheint mir nicht gerade wahrscheinlich. Es ist jedenfalls schön, dich wiederzusehen. Du siehst erschöpft aus. Ist mein Zimmer hergerichtet?«

Die Frage erschien Irene unangemessen, fast ein wenig unverschämt. Aber etwas lag in seiner Stimme, das ihr gefiel. Etwas Verbindliches, eine Forderung, so, als sei sie ihm verpflichtet, ihm ganz persönlich. Er wartete ihre Antwort nicht ab.

»Ich möchte, dass du morgen dorthin gehst. Du wirst genau dieses Zimmer wieder schön machen, und ich möchte, dass du es ganz sorgfältig machst. Konzentrier dich darauf. Die anderen Räume kannst du routiniert und notdürftig herrichten, lass dich dabei ruhig ablenken, aber wenn du in mein Zimmer kommst, dann denk an nichts anderes mehr. Und wenn du damit fertig bist, und nicht eher, dann sieh hinter dem Spiegel nach. Nicht dem im Bad, sondern hinter dem großen, der im Zimmer gegenüber dem Bett hängt. Wir werden uns wiedersehen, da bin ich sicher. Ich versprech’s dir. Geh jetzt nach Hause, schlaf dich aus. Pass auf dich auf.«

Er stand auf und ging, ließ Irene zurück in ihrer Ratlosigkeit. Als er irgendwo in der Dunkelheit verschwunden war und seine Schritte nicht mehr zu hören waren, hielt sie noch mal Ausschau nach dem Fisch, dem mit dem Menschengesicht, aber das Wasser war ganz undurchsichtig, die Fische untergetaucht. Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben. Irene machte sich auf den Weg.

Das Zeichen für Regen

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