Читать книгу Verkennung - Jane D. Kenting - Страница 3
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ОглавлениеEinen rotierenden Planeten darf man nicht anhalten. Das war mein Fehler, als Jander nicht mehr zu den Sitzungen kam. Ich hätte die Sache auf sich beruhen lassen sollen. Nein: Es war schon ein Irrtum, vor der ersten Begegnung weiter seine Nummer zu wählen, obwohl ich ihn nicht erreichte. Denn ohne den Fall Jander in meinen Akten wäre es niemals so weit gekommen. Wenn alles zu spät ist, liegen die Lösungen auf der Hand.
Schon seine erste Nachricht hatte jenen knappen, kühlen Ton, in dem er später dann auch mit mir sprach.
Guten Tag, Herr Weyden,
brauche dringend einen Termin.
Damit stach die Mail aus den anderen hervor. Was mich aber noch vor dem Öffnen irritierte, war der fehlende Absender im Posteingang. Dort, wo sonst der Name einer Person oder Firma stand, war – nichts.
Dass ich sie überhaupt öffnete, hatte einen einfachen Grund: meine Schwäche für Geheimnisvolles. Meine Leidenschaft für alles, was rätselhaft war. Das Unheimliche bezauberte mich. Diese Liebe hatte mich schon viele skeptische Blicke gekostet, auch ein, zwei Freundschaften mit Menschen, denen das Leben ohne Rätsel besser gefiel. Das ist umso schmerzhafter, als es mir jetzt, nach allem, was geschehen ist, genauso geht.
Zum ersten Mal drang etwas Dunkles in meine Praxis ein, und ich wusste, das war gefährlich. Darum überwog die Erleichterung meine Enttäuschung, als ich den Text darunter las und feststellte, dass es sich um die automatisch generierte Nachricht eines Therapeutenverzeichnisses handelte. Im September hatte ich mich dort eingetragen, kurz vor dem Umzug nach Tiefenwald. Und auf eines wies mein Eintrag deutlich hin: Termine nur nach telefonischer Vereinbarung.
Bevor ich die Mail löschte, fiel mein Blick auf den Rest:
Benutzerdaten des Absenders:
nobody@mymail.de
Name: Max Jander
Straße: Kaltenseestraße 3
Ort: Tiefenwald
Telefon: 0199 77299107
Noch heute spüre ich die Beklemmung. Kaltenseestraße. Wie diese Adresse mich frösteln ließ. Wie ich versuchte, mit einem Lächeln das zu verscheuchen, was meinen Schreibtisch streifte.
Ich verschob die Nachricht in den Papierkorb.
In den ersten Tagen nach dem Umzug schenkte ich der westlichen Anhöhe gegenüber der Praxis noch wenig Beachtung. Zu beschäftigt war ich damit, Kisten auszupacken, Bücher in deckenhohe Regale zu räumen und provisorische Lichter anzubringen, um die von Tag zu Tag früher einsetzende Dämmerung auszugleichen. Für die Umgebung hatte ich keine Zeit. Nur manchmal stand ich am Fenster und hing für Minuten meinen Gedanken nach. Als die letzte Kiste zusammengefaltet war, sah ich schon öfter hinaus. Nicht lange, nicht aufmerksamer als vorher, aber oft genug, um ein genaueres Bild zu bekommen.
Weit oben am Westhang, über den Gärten und Häusern, thronte ein hohes Gebäude mit seitlichem Turm. Ich hielt es für eine Kirche oder Kapelle. Darum wunderte es mich nicht, dass das asymmetrische Bauwerk jeden Abend mit dem letzten Tageslicht verschwamm.
Den ersten Spaziergang zu der Anhöhe machte ich im Zwielicht des dritten Oktober. Ahornblätter klebten wie nasse Papiersterne auf den Straßen, und das feuchte Halbdunkel verdeckte die waldigen Hänge auf der anderen Seite des Tals. Ich ging vorbei an den schweigenden Villen, Schritt für Schritt bergauf. Die schimmernden Moose auf den Grundstücksmauern schienen mich abzuweisen, auch die undurchdringlichen Gärten, von denen manche aussahen, als hätte seit einem halben Jahrhundert niemand einen Fuß hineingesetzt. Noch fremder waren mir die Nachbarn, die mich, wenn sie sich überhaupt zeigten, nur zögernd grüßten (manche gar nicht) und dabei keine Miene verzogen. Hätte ich nicht das Haus meines Onkels geerbt, wäre ich nach der Trennung von Helen zwar auch aus der gemeinsamen Praxis weggegangen, aber wohl kaum an diesen Ort.
Nach zehn Minuten erreichte ich eine Kreuzung. Aus den Fenstern eines Fachwerkhauses fiel warmes Licht. Trotzdem strahlte das Haus Einsamkeit aus. Einsam waren die Häuser hier alle, aber dieses übertraf die anderen in einem Punkt: Es war nicht nur einsam, es war auch allein, obwohl der Abstand zu den Nachbarhäusern gering war. Ich suchte nach einer Erklärung und fand keine. Zuerst schob ich es auf den anderen Baustil. An den niedrigen Wänden und dem gedrungenen Dach war aber noch mehr, was ich nicht einordnen konnte.
Ich überquerte die Kreuzung und ging die letzten Meter bis zu dem grauen Gebäude mit dem Turm. Es war keine Kirche, auch keine Kapelle. Trotzig stand es im hinteren Teil des Grundstücks auf einem Hügel. Soweit ich es in der starken Dämmerung sehen konnte, waren vor allen Fenstern Rollläden heruntergelassen. Ich trat dicht an das Eingangstor heran. Das Messingschild am Pfeiler trug den Schriftzug Villa Tann und die Hausnummer 5.
Die Sonne war jetzt ganz untergegangen. Eine Straßenlaterne am Platz warf gerade genug Licht, um die Umrisse eines Fahrzeugs in der Einfahrt erkennen zu lassen. Dahinter verlor sich der Garten in der beginnenden Nacht.
Ich näherte mein Gesicht der Klingeltaste unter dem Schild.
D. H.
Initialen kamen in diesem Winkel der Stadt häufiger vor. Tiefenwald war als Dorado für VIPs und Prominente bekannt. Dass aber ein so gewaltiges Haus wie dieses nur einen einzigen Bewohner haben sollte, wunderte mich. Ich hielt nach weiteren Schildern und Briefkästen Ausschau.
Es gab keine.
Am fünften Oktober leuchtete die Nachmittagssonne in den Staub, den ich seit einer Woche zu ignorieren versuchte. Auf dem Küchenfußboden lagen Krümel, das Spülbecken hatte Kalkflecken angesetzt, und im Bad war es besser, nur eine schwache Lichtquelle zu benutzen.
Im Terminkalender war noch viel Platz, und mein Haus war das kleinste weit und breit, aber mit Putzen wollte ich keine Zeit verbringen. Ich war zuversichtlich, dass sich die Privatpraxis bald füllen würde. Mit einem Zeitungsinserat suchte ich nach einer Putzhilfe: einmal wöchentlich zwei Stunden am Vormittag.
Schon Ende Juli, als ich diese Räume zum ersten Mal betreten hatte, waren die Bilder in meinem Kopf stärker gewesen als ich. In Gedanken hatte ich gleich die Einbauregale gefüllt, eine Wand mit Fachbüchern, die andere mit Romanen, dazwischen Therapiegespräche. Mehr glaubte ich für die erste Zeit nach der Trennung nicht zu brauchen. Dass ich mich irrte, hätte ich ahnen können, als ich den schmalen Korridor sah, der die Praxis mit dem Schlafzimmer verband und in dem es keine Lampe gab, auch keinen Anschluss dafür. Das Thema Schlaf war nah, bedrohlich nah. Aber ich sah nur die Bücher in den Regalen und die Sessel auf dem Parkett. Der Nachlassverwalterin stellte ich eine einzige Frage: »Wann kann ich hier rein?«
Sie zögerte. Ihr Blick glitt über Böden und Wände, suchend, abwägend, als versuchte sie selbst, sich vorzustellen, wie es wäre, hier Leben und Arbeit aufeinander loszulassen. Ihre Körperhaltung war geschlossen, mit abgewandtem Oberkörper und verschränkten Armen. Hätte sie Bedenken geäußert – ich wäre ich nicht verwundert gewesen: Überlegen Sie, worauf Sie sich einlassen. Meinen Sie nicht. Haben Sie daran gedacht.
Sie öffnete nur ihre Mappe, ließ mich ein Formular unterschreiben und sagte: »Wir rufen Sie an.«
Den zweiten Spaziergang zum Westhang machte ich samstags bei Nieselregen und Tageslicht. Es war neun Uhr morgens, und fast wäre ich an der glitschigen Stiege vorbeigelaufen, welche die Straßenbiegung für Fußgänger abkürzte. Beim ersten Mal hatte ich sie offenbar übersehen. Ich stellte mich unten an den Fuß der Treppe und fotografierte sie, um sie meiner Sammlung unheimlicher Bilder hinzuzufügen. Ich staunte über die ausgetretenen Stufen, den hohler werdenden Stein, denn die Anwohner dieser Straßen bewegten sich nur mit dem Auto fort. Lange musste es her sein, dass die Sohlen auf- und abwärts laufender Menschen die Treppe geformt hatten.
Achtundfünfzig Stufen zählte ich, während sich meine Füße über den feuchten Stein nach oben tasteten. Links und rechts wucherte Efeu um verwitterte Zäune.
Oben grenzte die Treppe seitlich an das Fachwerkhaus mit dem gedrungenen Dach. Schräg gegenüber, am anderen Ende der Kreuzung, lag Villa Tann auf ihrem Hügel, der hinten – anders, als ich es im Dunkeln gesehen hatte – in einen Park überging. Rasch lief ich auf das Anwesen zu. Im Vorgarten streckten hohe Bambussträucher ihre Säbelblätter durch den Zaun. Dahinter glitzerte eine schwarze Wasserfläche.
Ich machte noch ein Foto.
Als ich die Kamera sinken ließ, sah ich am Rand der Kreuzung das Schild. Kaltenseestraße.
Langsam wandte ich mich ab und ging wieder auf die Stiege zu. Als ich meinen Fuß auf die oberste Stufe setzte, bemerkte ich vor dem Fachwerkhaus eine Gestalt. Ein langer Rock oder Mantel umspielte die Beine, der Kopf war in eine Kapuze gehüllt. Die Gestalt saß auf der Türschwelle, sog an einer Zigarette und sah in meine Richtung. Ihre Augen mussten schon auf mir geruht haben, als ich zur Stiege kam, und sie lösten in mir eine Beunruhigung aus, die ich mir nicht erklären konnte – so wenig, dass ich sofort dagegen ansteuerte. Eine Frau an einem Oktobermorgen, rauchend vor ihrem Haus, bedachte mich mit einem Blick, der für eine Fremde vielleicht Sekundenbruchteile zu lang, doch keineswegs auffällig war.
»Sie haben recht«, rief ich. »Man sollte jeden Regentropfen nutzen.«
Still saß sie auf der Türschwelle und blies Rauchwolken in die Luft. Ich überlegte, ob sie es überhört haben konnte. Bevor ich zu einem Ergebnis kam, stand sie auf und ging auf mich zu. Den Zigarettenstummel warf sie ins Gras. Sicher war es nicht der erste, der dort seine letzte Ruhe fand. Dicht vor den schmiedeeisernen Schnörkeln des Zauns blieb sie stehen. Auch ich trat so nah wie möglich heran. Das Gesicht in der Kapuze war matt. Die Frau sah aus, als wäre sie gerade erst aufgestanden, hätte sich das Nötigste übergezogen und sofort zu Zigarette und Feuerzeug gegriffen.
Sie stand einfach da und betrachtete mich. Nicht neugierig, nicht verwundert, eher so, wie man ein ausgestelltes Kunstobjekt ansieht, mit einer Mischung aus Langeweile und Aufmerksamkeit. Durch ihr schwarzes Haar zogen sich ein paar weiße Fäden. Sie war vielleicht Mitte vierzig, nur wenig jünger als ich.
»Habe ich Sie gestört?« Ich versuchte das Grinsen zu verhindern, das sich auf meinem Gesicht ausbreitete, schaffte es aber nicht.
In der Körpersprache ist unsere Mimik angeblich das, was wir am leichtesten kontrollieren können. Alle Lehrbücher stimmen darin überein. Seit jener Begegnung gebe ich nichts mehr darauf.
»Falsche Frage«, sagte sie, ohne ihren Gesichtsausdruck zu verändern. »Störungen gibt es hier nicht. Nur Ablenkungen.« Sie forschte weiter in meinem Blick.
»Wovon lenke ich Sie ab?«
Sie lächelte. Und sie schwieg.
»Vielleicht ist es genau anders herum, denn …«, begann ich und ärgerte mich, da ich selbst nicht wusste, was ich damit bezweckte.
Dann fiel es mir ein. »Sie lenken mich vom Ziel meines Spaziergangs ab.«
»Passiert Ihnen so etwas oft?«
»Nein. Ich frage mich nur, was es mit dem Geisterschloss dort drüben auf sich hat.« Ich deutete mit dem Daumen hinter mich und beobachtete gespannt ihre Reaktion.
Nichts an der Frau veränderte sich. Kein Erstaunen war sichtbar, nicht einmal Desinteresse.
Ich war darin geübt, mich vom Schweigen meines Gegenübers nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, ganz gleich, ob es um ein provokatives Schweigen, ein ratloses oder ein gleichgültiges ging. Das hier war aber anders. Hier war ich der Patient – derjenige, der mit einem Anliegen kam. Jemand mit einem Anliegen war meistens in der schwächeren Position.
»Die Villa ist doch bewohnt?«, fragte ich.
Die Frau zog ihre schmalen schwarzen Augenbrauen hoch, und ich dachte, sie würde weiter schweigen, als sie plötzlich flüsterte: »Haben Sie hier oben schon ein Haus leerstehen sehen?«
Es stimmte. Leeren Wohnraum gab es in solchen Vierteln nicht. Umzüge vollzogen sich in fliegendem Wechsel, diskret und von den Nachbarn hinter vorgehaltener Hand diskutiert.
»Nein. Aber normalerweise brennt in einem bewohnten Haus nach Sonnenuntergang Licht.«
Jetzt wandte sie den Blick ab, wenn auch nur für einen Moment. Als sie mich wieder ansah, erschrak ich über den Ausdruck in ihren Augen: eine Mischung aus Trauer und Angriffslust.
»Was ist normal?«, fragte sie. »Sagen Sie es mir. Was ist normal?«
Ausgerechnet mich fragte sie das.
»Normal ist es, sich ab und zu diese Frage zu stellen.«
»Ich stelle sie aber Ihnen.«
Ich war der Patient.
Bevor ich etwas erwidern konnte, drehte sie sich um und eilte zum Haus zurück, als hätte sie etwas vergessen. Auf der Schwelle rief sie mir über die Schulter zu: »Ein anderes Mal.«
Mit einer festen Bewegung schloss sie die Tür hinter sich.
Zu Hause ging ich in meinem Kalender die Termine der kommenden Woche durch. Ein neu angemeldetes Paar mit den bewährten Eheproblemen und ein Mann namens Lank, der mir schon zweimal seine dubiose Liebesgeschichte geschildert hatte und sich von der Aussicht auf eine dritte Sitzung ohne das von ihm erhoffte Ergebnis nicht abschrecken ließ. Das war alles. Privatpatienten fielen nicht vom Himmel, auch nicht für Spezialisten. Ich erwog verschiedene Möglichkeiten. Branchenverzeichnisse, Netzportale …
Portale.
In meiner Vorstellung tauchte das Schild Kaltenseestraße auf. Ein paar Augenblicke dachte ich nach, bevor ich mich an den Laptop setzte. Nach einigem Suchen fand ich die Nachricht im Papierkorb des Mailprogramms.
Ich wählte Janders Nummer und wartete acht Freizeichen ab. Kein Mensch und keine Maschine meldete sich. Ich notierte die Ziffern auf einem Zettel, den ich mit der Schreibtischlampe beschwerte. Dann zog ich die Jacke an und ging noch einmal nach draußen, um für das Wochenende einige Sachen in der Stadt zu besorgen. Wann immer ich konnte, erledigte ich solche Dinge zu Fuß, und entsprechend häufig lief ich an den benachbarten Häusern vorbei.
In einer Nachbarschaft wie dieser war es schwer, mit den Menschen Bekanntschaft zu machen. Jeder wohnte in seinem Haus, jeder kümmerte sich um seine Belange und allenfalls noch um jene derer, mit denen er seit Jahrzehnten bekannt oder verwandt war. Auch in Großstädten blieben die meisten Leute einander fremd, aber das hier war anders. Es war eine Anonymität auf hohem Niveau, eine Fremdheit, die mehr von den Überlegenheitsgefühlen jedes Einzelnen herrührte als von der natürlichen Scheu eines Städters vor anderen, deren Leben vom eigenen vielleicht weniger abwich, als ihm lieb war.
Von der eisigen Aura der Nachbarn ließ ich mich nicht beirren. Jeden Tag ging ich an ihren Hecken und Zäunen vorbei, während meine Gedanken zu Villa Tann schweiften. Denn mehr als die Leute in meiner direkten Umgebung, die zwar reserviert, nicht aber rätselhaft waren, beschäftigte mich die Frage, wer so ein riesiges lichtloses Haus bewohnte – und vor allem, warum er es tat. Wie sollte ich das ohne die Nachbarn erfahren? Irgendjemand musste doch bereit sein, sein Wissen und seine Gedanken über die Menschen in diesen seltsamen Straßen mitzuteilen. Jemand, der solche Dinge mit einer ähnlichen Art von Interesse betrachtete. Auf meinen verstorbenen Onkel konnte ich mich nicht berufen, da er meistens auf Reisen gewesen war und keine Kontakte zur Umgebung gepflegt hatte.
Der Mann mit den roten Haaren war der erste, der mich ohne sichtbare Skepsis grüßte. Ich traf ihn in der unteren Hangstraße vor seinem Haus, wo er damit beschäftigt war, die Einfahrt vom feuchten Laub zu befreien. Er grüßte sogar zuerst, wobei er ein echtes, offenes Lächeln zeigte und in der Bewegung innehielt, um eine Strähne aus seiner Stirn zu streichen.
Er sah mich an, als wüsste er mehr über mich als ich selbst. Etwas blitzte hinter seinen Brillengläsern, und es sah aus, als wollte er etwas sagen. Aber er fixierte mich nur, mit einem Blick, dem auszuweichen ich keine Eile hatte. So vielen Fremden hatte ich schon gegenüber gesessen, hatte ihrem mal mehr, mal weniger bohrenden Augenausdruck standgehalten. Viele fürchteten, selbst durchbohrt zu werden, und sie verlangten von mir den Beweis, dass das, was ihnen bei mir bevorstand, nichts mit Durchschauen zu tun hatte.
»Sie sind neu hier?« Seine Stimme war freundlich, und die Frage klang wie eine Feststellung.
Entgegen meiner Gewohnheit antwortete ich spontan, ohne auf seine Körpersprache zu achten. Das Einzige, was ich zur Kenntnis nahm, waren die Schuhe, schwarze, glattpolierte Schnürschuhe, wie sie wohl wenige Leute zum Laubkehren trugen.
»Vorsicht, wachsamer Nachbar?« Ich bemühte mich um ein Augenzwinkern.
Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. »Die meisten Menschen sind unaufmerksam.«
Einen Moment stand ich unschlüssig da, bis ich zur gespielten Unbefangenheit zurückfand. Ich streckte einen Arm zur westlichen Anhöhe aus. »Aber dass in der Riesenvilla dort oben nie Licht brennt, müsste doch jedem auffallen?«
Er lehnte den Rechen gegen den Zaun und griff nach einer kleinen Schaufel. »In der Fabrikhalle mit dem Spitzturm?«
»Wenn Sie es so nennen wollen«, sagte ich rasch, um ihn nicht erneut zu verstimmen. Insgeheim spürte ich der leisen Kränkung nach, die seine Wortwahl in mir hinterließ. Villa Tann war ein Rätsel, und niemand hatte das Recht, ein Rätsel ins Lächerliche zu ziehen.
»Da wohnt doch gar keiner mehr«, murmelte er, während er das Laub auf die Schaufel schob und es in eine große Papiertüte füllte. Er sagte es auf eine Art, die mich verstörte und mich daran hinderte, nachzuhaken. Schon war ich einige Schritte weitergegangen, wobei ich immer noch den Kopf zu ihm wandte, in dem Gefühl, dass noch etwas kommen sollte.
Und es kam.
»Jedenfalls keiner von uns.«
Er machte eine wegwerfende Handbewegung, kehrte mir den Rücken zu und zog die Papiertüte hinter die Hausecke, von wo er nicht wieder zurückkam.
Während des restlichen Samstags, bei den Besorgungen in der Stadt und später bei meinen Aufräumversuchen zu Hause, merkte ich, wie Villa Tann in meinen Gedanken immer größeren Raum einnahm, wie sie immer mehr Flächen mit einem Grauschleier bedeckte. Als würde ein Farbfilm von einer Sepiaschicht verhüllt. Und das Schlimme war: Ich fand Gefallen daran.
Am Montag nach dem Frühstück setzte ich mich an den Schreibtisch und zog Janders Nummer unter der Schreibtischlampe hervor. Diesmal wartete ich länger. Nach zehn Freizeichen brach die Verbindung ab. Nur Stille war in der Leitung. Kein einziger Laut.
Ich öffnete den Laptop und tippte.
Sehr geehrter Herr Jander,
danke für Ihre Anfrage. Leider erreiche ich Sie telefonisch nicht. Ich biete Ihnen folgende Termine für ein erstes Gespräch an: Dienstag, 10.10. um 10 Uhr oder Donnerstag, 12.10. um 17 Uhr. Bitte benachrichtigen Sie mich umgehend, da ich die Termine maximal bis zum Abend freihalten kann.
Freundliche Grüße
A. Weyden
P. S.: Entschuldigen Sie die späte Reaktion.
Viele Leute reagierten auf Mails erst Tage später. So ließen sich in einer laufenden Praxis keine Sitzungen organisieren. Da es aber aktuell kaum Anfragen gab, erlaubte ich mir diese Ausnahme.
Nachdem ich die Nachricht abgeschickt hatte, wagte ich einen Blick auf den Zustand meiner Zimmer. Die Lage war noch nicht so dramatisch wie befürchtet, aber sie war ernst. Bevor hier jemand saubermachte, musste ich das Gröbste aufräumen. Morgen früh würde die Putzfrau kommen. Da ich sie dringend brauchte und ihre Stimme mir auf Anhieb sympathisch gewesen war, hatte ich ihr schon am Telefon zugesagt. Helen hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Dass dies der eigentliche Grund meiner Spontaneität sein konnte, kam mir nicht in den Sinn. Trotzreaktionen unterstellte ich lieber meinen Patienten.
Nach einem langen Blick auf das Chaos verschob ich noch einmal den Aufräumversuch und kehrte an den Schreibtisch zurück, um den Laptop zuzuklappen. Im selben Moment blinkte auf dem Bildschirm ein Fenster auf.
1 Nachricht von: nobody@mymail.de
Der hat nur auf meine Antwort gewartet, dachte ich und versuchte, es witzig zu finden. Ich öffnete die Mail.
Hallo Herr Weyden,
ich komme am Dienstag um 10.
Gruß
M. Jander
Sogar in seinem eigenen Absender blieb der Name verborgen. Ich unterdrückte diesen Gedanken wie auch meinen Ärger (die meisten Leute waren höflicher, als sie schrieben), blätterte im Kalender und notierte für den zehnten Oktober: 10 Uhr Jander.
Am Dienstagmorgen holte ich die Putzfrau von der Bushaltestelle ab. Der Weg von dort bis zu mir war nicht weit, aber etwas kompliziert, weshalb ich ihr bei der ersten Ankunft entgegenkam. Zuerst verstand ich nicht, dass sie es war, die aus der Menge der Fahrgäste ausscherte und sich suchend umsah. Ich erwartete eine unauffällige Frau mittleren Alters mit zweckmäßiger Kleidung und kräftiger Figur. Umso erstaunter war ich, als eine zierliche Dame im roten Trenchcoat, kaum dreißig, meinen Blick auffing, die Augenbrauen hob und direkt auf mich zuging. Offenbar entsprach ich ihren Erwartungen mehr als sie meinen.
Ohne sich über mich zu vergewissern, stellte sie sich mit den gleichen Sätzen vor, die sie schon im Telefonat verwendet hatte. Sie heiße Lajosné Szalai, sie sei froh, die Stelle zu bekommen, und sie sei in Deutschland aufgewachsen, wo sie ihr Studium aus verschiedenen Gründen habe abbrechen müssen. Mein Bedauern darüber spielte sie herunter.
»Um Viertel nach zwölf kommt Milo aus der Schule.« Sie sah mich streng von der Seite an. »Dann muss ich zu Hause sein.« Muss betonte sie so, dass ich nicht wagte, etwas zu entgegnen.
»Wie alt ist er?«, fragte ich nur.
»Neun.« Sie zog ein Gummiband aus der Manteltasche und band mit raschen Handgriffen ihr kastanienbraunes Haar im Nacken zusammen. Der hochrutschende Ärmel gab eine kleine runde Narbe und ein paar blaue Flecken frei.
Eigentlich kein Alter, in dem man ein Kind lückenlos beaufsichtigen muss, dachte ich.
Am Ende der engen Gasse, die den oberen Teil der Hangsiedlung mit der zentralen Straße verband, erschien der rothaarige Mann. Ich wunderte mich über seine starre Haltung. Mit der Strenge, die er ausstrahlte, erinnerte er an einen militärischen Befehlshaber. Seine Bewegungen bestanden aus strammen Schritten und knappem Armschwingen.
Seit der ersten Begegnung mit ihm war ich mehrmals an seinem Haus vorbeigekommen. Oft war er im Garten beschäftigt gewesen, den er winterfest machte. Jeden Gruß von mir hatte er ignoriert. Stets erwiderte er meinen Blick, schwieg jedoch eisern dabei. Die ersten Male wünschte ich ihm noch einen guten Tag oder einen guten Morgen, bevor ich zum wortlosen Nicken überging. Jetzt, nach fast einem Monat, gab ich mich genauso regungslos wie er.
Er blieb in etwa zehn Metern Entfernung stehen und betrachtete Lajosné und mich mit einer Geringschätzung, die an Größenwahn grenzte. Was vermutete er? Hatte er mittlerweile mein Praxisschild entdeckt? Manche Leute hielten Psychologen ja für verrückt.
Ich blickte an ihm vorbei und zeigte Lajosné mit der Hand die Richtung. Je weniger ich zu ihr sagen musste, desto besser. Ich war müde, denn ich war früh aufgestanden, um die Flächen im Haus freizuräumen. Kleiderhaufen, Bücherstapel und ungespültes Geschirr hatte ich beseitigt. Nicht alles auf die vorgesehene Weise, aber wenigstens so, dass ich mich nicht vor Lajosné schämte, als sie später mit traurigem Lächeln die gelben Handschuhe überzog. Ich bat sie, mit der Praxis anzufangen und anschließend Bad und Küche zu putzen, das Schlafzimmer zuletzt, damit sie während der Sitzung nicht durch den Raum gehen musste. Das schien mir die beste Lösung zu sein. Personen in meiner Wohnung ertrug ich nur, wenn ich arbeitete. Nur so hielt ich die Anwesenheit ihrer unberechenbaren Gedanken, Schritte und Handgriffe aus. Eine zweifelhafte Bilanz für einen Therapeuten.
Ich las in der Küche die Zeitung, bis Lajosné mit dem Putzeimer aus dem Praxisraum kam. Dort sog ich ein wenig schuldbewusst den Seifenduft ein und schlich auf Zehenspitzen über das feuchte Parkett zum Schreibtisch, um die Sitzung vorzubereiten.
Schon immer hatten mich überdurchschnittlich viele Patienten mit Ängsten aufgesucht. Zum Zeitpunkt des Umzugs galt ich seit Jahren als Experte. Warum sie aber von Anfang an ausgerechnet zu mir kamen, war mir nicht klar. Ich stellte lediglich eines Tages fest, dass ich – statistisch gesehen – mehr Menschen mit Ängsten betreute als meine Kollegen, auch mehr als meine Ex-Partnerin. Laut Helen strahlte ich eine besondere Sicherheit aus – womit sie wohl die gleiche Eigenschaft meinte, die sie mir am Ende als Abgeklärtheit vorwarf.
Um zehn Uhr stand Jander vor mir, mit großen Augen, tief in den Jackentaschen vergrabenen Händen und Nikotingeruch. Der breitkrempige Hut, der etwas schief saß, verlieh ihm eine gekünstelte Lässigkeit. Kein typischer Lehrer mittleren Alters.
Fünfzig Minuten lang war er ein Patient wie jeder andere. Einer von vielen, einer mit Panikattacken, die dem Leben den scheinbar sicheren Boden wegrissen. Herzrasen, Schweißausbrüche, Zittern, das ganze Programm. Dazu noch jemand, der zum Frühstück nur eine Zigarette rauchte und Kaffee trank. Ein klassischer Fall.
Bis ich ihn nach seinen Träumen fragte.
Die meisten beantworteten diese Frage wie eine von vielen. Bereitwillig dachten sie nach und berichteten alles, was ihnen einfiel. »Ich erinnere mich nie« kam genauso oft vor wie »Nur banales Zeug«. Fragte ich nach Details, zeigten sich komplexe Bilder und Zusammenhänge, worüber die Patienten selbst staunten.
Als ich Jander nach seinen Träumen fragte, runzelte er nur die Stirn und schlug die Beine übereinander. Da ich annahm, dass er in seinen Erinnerungen suchte, wartete ich.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich nach einer Weile.
Er kniff die Augen zusammen und musterte mich.
»Es gibt einen. Aber was wollen Sie damit?«
»Träume sind aufschlussreich.«
Weil es lächerlich klang, fügte ich hinzu: »Nicht so, wie viele es sich vorstellen, mit Symbolen und festen Bedeutungen. So arbeite ich nicht.« Jetzt klang es noch alberner.
»Sondern?« Seine Stimme war lauter geworden.
»Ich betrachte Träume individuell, aus dem persönlichen Leben heraus. Dann können sie ein Schlüssel sein.«
Sein Misstrauen forderte mich heraus.
»Schildern Sie mir Ihren Traum. Dann bekommen Sie eine Kostprobe.«
Janders blasse Lippen gaben den Blick auf die Zähne
frei. Genüsslich lehnte er sich im Sessel zurück und
betrachtete seine Fingernägel.
»Er kommt öfter.«
Erwartungsvoll sah ich ihn an.
»Zuerst ist da ein nächtlicher Teich. Nicht groß, aber sehr tief. Das ist in dem Traum irgendwie klar.«
Ich nickte. In Träumen war meistens alles irgendwie klar.
Er machte eine Pause, während der er mich mit einem skeptischen Blick fixierte. Ich unterdrückte den Impuls, mit meinen Fingern auf die Sessellehne zu trommeln.
»Um den Teich herum wächst Gras. Abseits sind dunkle Büsche, hinter denen es unübersichtlich wird.« Er verzog das Gesicht. »Davor wachsen weiße Blumen, die trotz der Nacht weit geöffnet sind und einen schweren Duft verströmen. Außerdem steht dort eine weiße Bank. Ich gehe um den Teich herum und setze mich auf die Bank. Plötzlich spiegelt sich im Wasser ein erleuchtetes Fenster. Ich drehe mich um, um die Lichtquelle zu finden, und sehe hinter mir – irgendwo hinter den dichten Büschen – ein großes Haus.«
Ich lehnte mich vor.
»In diesem Moment geht das Licht im Haus aus.«
Jander wirkte seltsam unbeteiligt. Er sah aus dem Praxisfenster, wo ein Passant an einer Hundeleine zerrte.
»Als ich mich zurückdrehe, schwimmt in dem Teich ein toter Körper.«
Wir waren schon zehn Minuten über der Zeit.
»Ich renne zu dem Haus und hämmere an die Tür, die sich einen Spalt breit öffnet. Eine Hand reicht mir einen halben Brief und schließt die Tür wieder.« Er starrte mir fest in die Augen.
»Einen halben Brief?«
»In der Mitte durchgerissen. Die obere Hälfte.«
»Was steht darin?«
»Ich kann nur die Anrede entziffern: Lieber D. …«
Er seufzte. Sein Blick, der jetzt nachdenklich auf mir ruhte, fing an, mich nervös zu machen.
»Erzählen Sie weiter.«
»Ist fast zu Ende. Mit dem Brief laufe ich zum Teich. Der Körper ist nicht mehr zu sehen, und ich weiß, dass er jetzt am Grund liegt. Ich spüre einen starken Druck im Hals, dann wache ich auf.«
»Macht Ihnen der Albtraum nichts aus? Sie erzählen ihn wie etwas, das Sie nichts angeht.«
Jander zuckte die Achseln.
Es klopfte an der Tür, und Lajosnés schmales Gesicht erschien. »Kann ich ins Schlafzimmer? Sie haben gesagt, elf Uhr.«
Zwischen ihr und Jander stand der Gummibaum, den ich, obwohl er Helen gehörte, aus der gemeinsamen Praxis mitgenommen hatte. Während Lajosné sprach, spannte Jander seine Gesichtszüge an und richtete sich im Sessel auf. Sicher konnte man Lajosnés Frage missverstehen. Aber das setzte schon einige Phantasie voraus.
Mit einer Handbewegung bat ich sie, die Tür wieder zu schließen.
»Nur die Putzfrau. Erinnern Sie sich an weitere Details?«
»Nein.«
Jander betrachtete seine Finger. Seine Hände waren blass mit deutlich hervortretenden Venen.
Das leise Gefühl der Überforderung, das an mir nagte, hätte mich warnen können. Aber ich machte daraus eine Herausforderung an meine Fähigkeiten. War ich nun Spezialist oder nicht? So schlug ich einen zuversichtlichen Ton an. »Weiter in einer Woche, die gleiche Zeit?«
Er räusperte sich, wobei seine heisere Stimme für einen Moment tiefer klang. »Bekomme ich dann die Kostprobe?«
Gerne hätte ich mit einem Scherz reagiert, aber sein Tonfall hielt mich davon ab.
»Wir machen dort weiter, wo wir heute aufgehört haben.«
Er verdrehte die Augen. »Was schulde ich Ihnen?«
Da ich es für einen ironischen Scherz hielt, lächelte ich ihm kurz zu und ging zum Schreibtisch, um den neuen Termin einzutragen.
Als ich vom Kalender aufblickte, stand Jander mit der Geldbörse vor mir.
»Ich zahle bar.«
»Eigentlich ist das … «
»Gegen quittierte Rechnung«.
Es war schon Viertel nach elf. Ich suchte nach einem Rechnungsformular. Selten bestand jemand darauf, sein Geld sofort loszuwerden. Und waren Lehrer nicht meistens privat versichert? Ich fand kein Formular.
»Das regeln wir später.« Den Blick in Janders Augen mied ich. Stattdessen reichte ich ihm eine Broschüre über Angst und bat ihn, sie bis zum nächsten Mal zu lesen, was er mit einem knappen Nicken zur Kenntnis nahm, genau wie meine Empfehlung, nicht auf nüchternen Magen zu rauchen, wenn er schon rauchen musste.
»Übrigens, Sie wohnen doch in der Nähe der Villa Tann?« Ich hatte es mir nicht vorgenommen. Es kam von allein, wie etwas, das schon auf seinen Auftritt wartete.
Er wandte mir den Rücken zu, während er etwas Zerknülltes aus seiner Hosentasche zog. Schulterzuckend schnäuzte er sich.
»Ein unheimliches Haus, nicht wahr?« Ich ärgerte mich über die Unsicherheit in meiner Stimme. Was löste dieser Mann in mir aus?
»Nicht unheimlicher als Ihres.«
Ich brachte ein betretenes Lachen hervor.
Als ich die Tür öffnete, um ihn zur Garderobe zu begleiten, hörte ich Lajosné in der Küche mit Geschirr hantieren. Es hätte mich wundern sollen, denn ich hatte sie gebeten, nur die Flächen zu reinigen. Aber in diesem Moment sagte Jander:
»Nehmen Sie sich vor ihr in Acht.«
Ich lächelte, obwohl mir nicht danach zumute war.
»Wie meinen Sie das?«
»Warten Sie nur ab.«
In den folgenden Tagen riefen zwei neue Patienten an, von denen einer gleich wieder absagte. Irgendwann kehrt auch hier das gewohnte Leben ein, dachte ich, mit ausgefüllten Tagen, unerfreulichen Aufgaben und solchen, für die sich das Aufstehen lohnt. Ich versuchte, es mir selbst zu glauben. Bis es soweit war, wollte ich die verbleibende Freiheit genießen. Mit Gummistiefeln und Regenmantel rüstete ich mich gegen das Tief Matilde, das seit Tagen den Ton angab, lief durch alle Arten von Pfützen in die Stadt und trat die Sohlen am Eingang der Buchhandlung ab. Nachdem ich eine Weile an den Regalen entlanggestreift war, fiel mir bei den Thrillern Die Verwicklung ins Auge. Der Name des Autors sagte mir nichts. Ich überflog den Klappentext.
Ein Psychologiestudent verfällt seiner unerreichbaren Professorin. Mehr und mehr verliert er den Bezug zur Realität. Als er sich selbst in eine psychiatrische Klinik einweist, ahnt er nicht, in wessen Hände er sich begibt …
Ich las die erste Seite, die zweite. Beinahe vergaß ich die Zeit. Erst der Hustenanfall einer rotgesichtigen Kundin holte mich in die Situation zurück. Ich bezahlte das Buch und ging nach Hause, wo ich die verderblichen Einkäufe in den Kühlschrank stopfte. Den Rest ließ ich in der Tasche, um sofort weiterlesen zu können.
Aus den Seiten starrte mich etwas Unfassbares an. Die ahnungslosen, obgleich eindrucksvollen Anfänge des Gefühls. Absurde Suchen im Netz. Trügerische Interpretationen von Details. Abgleiche mit der Realität. Entgleisung des Alltags. Und das alles, ohne dass der verstrickte Student dem Objekt seiner Hoffnung auch nur einen Schritt näher gekommen wäre. Das war das Erschreckende daran. Und das, was mich in den Bann zog.
Die Woche nahm ihren Lauf, indem ich das Buch zu Ende las (die unglaubwürdige Schilderung der Klinik im letzten Drittel des Thrillers ärgerte mich, aber mein weiterer Lesehunger war geweckt), Filme ansah und Spaziergänge zum Westhang oder in die Stadt unternahm. Villa Tann blieb rund um die Uhr dunkel, und unten im Ort fand ich ein beschauliches Lebenstempo vor, in das ich ohne Widerstand eintauchte. Kaum noch vermisste ich die Großstadt. Verwandte und Bekannte waren weit genug entfernt, um nichts Spontanes von mir zu erwarten, und wenn zu viele Regenschirme durch die feuchten Gassen schwebten, zog ich mich in das nächste Café zurück. Fast hätte ich zufrieden sein können. Doch je mehr Grund ich dazu bekam, desto unruhiger wurde mein Schlaf.
Es fing damit an, dass ich zwar ohne Probleme einschlief, aber nach zehn oder fünfzehn Minuten noch einmal aufwachte, bevor ich in eine weitere Schlafphase glitt, die auch nur eine halbe bis dreiviertel Stunde dauerte. Dann wachte ich wieder auf und lag eine Weile da, bis die nächste Phase begann. Erst in der zweiten Hälfte der Nacht fand ich kontinuierlichen Schlaf.
Ich schenkte der Sache zunächst keine Aufmerksamkeit. Die Woche endete mit einer anonymen Nummer in der Liste verpasster Anrufe, zwei neuen Patiententerminen und einem zerbrochenen Glasrahmen, der die Fotografie eines Leuchtturms enthielt und von der Wand fiel, als ich beim Griff ins Aktenregal mit der Schulter dagegen stieß. Statt mich darüber zu ärgern, warf ich die Scherben weg und stopfte das Bild in den Schrank.
Als mir am Montagnachmittag Lank mit lauerndem Blick und gefalteten Händen gegenübersaß, hatte ich Mühe, meine Gedanken an Ort und Stelle zu lassen. Zum dritten Mal verging eine ganze Stunde, ohne dass er auch nur einen Schritt von seiner Fixierung abrückte. Sein Leben kreiste um die Frau seines ›besten‹ Freundes, mit der er eine Affäre hatte und ein übles Versteckspiel spielte. Sein Problem war aber ein anderes; nicht, dass ihn Gewissensbisse zu mir geführt hätten. Er litt an der Launenhaftigkeit, mit der ihm die Dame zur Verfügung stand. Er war ein Geliebter auf Abruf, immer ein Auge auf das Telefon gerichtet, jede Minute bereit, aufzuspringen, gefangen zwischen Wellen der Hoffnung, Wogen der Enttäuschung und wenigen Tropfen Glück, während er im Haus des Freundes ein und aus ging, dort mit den Kindern spielte, Feste organisierte oder die Buchsbaumhecke schnitt. In seinem Leben gab es ansonsten nur die Bankfiliale, in der er arbeitete. Und die Zeit, die verging.
Er lauerte auf jedes Wort von mir, stürzte sich auf alles, was ich zu seiner Lage äußerte. Nichts konnte seinen Hunger auf Hoffnung stillen. Das hatte er mit allen unheilvoll Verliebten gemeinsam. Doch eines unterschied ihn von den anderen: Er ließ an seiner Geliebten kein gutes Haar. Er nannte sie egoistisch, eitel und verwöhnt.
Viermal zwang ich mich, meine Arme voneinander zu trennen, die sich immer wieder vor meiner Brust verschränkten. Fünfmal erdete ich meine Füße, bevor das linke Bein erneut unter dem rechten verschwand.
Es gibt auch andere Patienten, sagte ich mir. Da, wo nun Lank saß, würde morgen Jander die Lippen zusammenpressen, und wer wusste, was noch alles kam. Aber das änderte weder die Unruhe, die ich empfand, noch den Umstand, dass mir bis auf weiteres eine Menge Zeit zur Verfügung blieb – zu viel, um sie allein mit Spaziergängen und dem Lesen von Psychothrillern zu füllen. Und während sich Lank über die mangelnde Empathie seiner Geliebten beklagte, beschloss ich, ab jetzt jeden halben Mittwoch für etwas anderes zu reservieren: die Wirklichkeit.