Читать книгу Verkennung - Jane D. Kenting - Страница 4
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ОглавлениеZuvor wurde es aber Dienstag. Lajosné kam früher als vereinbart, fast zwanzig Minuten nach neun, was für mich nach einer unruhigen Nacht und dem hektischen Aufräumen (ich konnte mich nicht überwinden, es auf den Vorabend zu verlegen) ein weiteres Ärgernis war. Auch Verfrühung war Unpünktlichkeit. Ich überlegte, ob ich etwas sagen sollte, ließ es aber sein.
Als kurz darauf Jander läutete, hantierte sie schon im Bad. Hinter der Milchglasscheibe der Badezimmertür bewegte sie sich als amorphe Gestalt. Lajosné schloss jede Tür hinter sich. Sogar die Schiebetür zwischen Praxis und Schlafzimmerflur, die ich nie anrührte, drückte sie zu. Am liebsten würde sie wohl abschließen, dachte ich.
Jander begrüßte mich mit einem kühlen Handschlag und schlüpfte aus der Lederjacke. Bevor er den Hut auf die Ablage warf, hielt er in der Bewegung inne und betrachtete den roten Mantel, der an einem der Garderobenbügel hing. Es fiel mir nicht so sehr wegen der Dauer des Blicks auf, obwohl dieser sich schon in die Länge zog. Es war die Art, wie er seine Augen auf den roten Stoff richtete. Kein neugieriger Blick, auch kein abschätziger. Nein, er betrachtete den Mantel so, wie man etwas ansah, das man lange vermisst hatte.
Als Jander Platz nahm, war es zwei Minuten vor zehn. Ich knipste die Stehlampe zwischen den Sesseln an. Denn über dem Tal hingen schwere Wolken, und die oberen Hänge waren nicht zu erkennen. Villa Tann war im Nebel verschwunden. Selbst wenn dort Licht gebrannt hätte: Es wäre von hier aus unsichtbar gewesen. Der Tag war so dunkel, als ginge er soeben vorbei, und der Raum, in dem wir saßen, war schummrig wie ein vergessenes Hinterzimmer.
»Warum kommen Sie eigentlich morgens?«, fragte ich. »Sie sind doch Lehrer.«
»Es passt am besten zum Plan.«
Ich betrachtete sein nervöses Gesicht, in dem nun die Mundwinkel zuckten.
»Zum Stundenplan«, fügte er hinzu.
Zögernd sprach er weiter. »Meine Kollegen haben lieber nachmittags frei. Die sind froh, wenn jemand mehr spätere Stunden nimmt.«
Ich nickte dazu und wusste, dass es nicht die Wahrheit war. Seine Stimme verriet es, auch die Bewegung der Lippen, die er nach dem Sprechen kurz aufeinanderpresste. Und seit wann stimmten Lehrer den Stundenplan aufeinander ab?
Um mit der Arbeit beginnen zu können, lächelte ich ihm verständnisvoll zu. Mich selbst beschwichtigte ich mit der Aussicht auf einen ungewöhnlichen Fall.
Ich musste Jander bei Laune halten. Menschen wie er waren Perfektionisten. Fehler und Unvollkommenheiten des Lebens ertrugen sie schwer. Noch mehr aber fürchteten sie, selbst nicht makellos zu sein. Einen Therapeuten aufzusuchen bedeutete für sie eine seelische Bankrotterklärung. Oft dauerte es Wochen, bis sie verstanden, was ich ihnen von Anfang an erklärte: Fast jeder zehnte Mensch litt an irgendeinem Punkt seines Lebens an Ängsten. Unter Druck standen alle von ihnen, aber wenige waren so fordernd wie Jander.
»Ich habe mich informiert.«
Sein triumphierender Tonfall ärgerte mich.
»Worüber?«
Er lachte kurz auf. »Sie weichen von der üblichen Vorgehensweise ab.«
»Sie haben im Netz gelesen. Das ist nicht empfehlenswert.«
»Was soll das mit den Träumen?«
Ich wühlte nach überzeugenden Worten. »Wenn …«
»Der Albtraum ist eine Panikattacke im Schlaf«, raunte er. »Mehr nicht.« Er stemmte die Hände auf die Oberschenkel. »Hören Sie, ich will keine Traumdeutung. Ich will die Attacken loswerden. Und zwar die im Wachzustand.«
Seine großen Augen verschwammen für einen Moment, um gleich darauf fast zu erstarren. Sekundenlang fixierte er mich. Dann löste sich auch das auf, und er schmunzelte, als wollte er den strengen Eindruck relativieren, den er auf mich gemacht zu haben hoffte. Doch alles, was er hinterließ, war das Bild eines mit den Fingern trommelnden Mannes, der eine Dienstleistung in Anspruch nahm und die sofortige Lösung erwartete.
»Wie ging es Ihnen mit der Broschüre?« Meine Methode baute durchaus auf klassischen Maßnahmen auf. Da ich aber Wert darauf legte, auch unter der Oberfläche zu operieren, fügte ich individuelle Komponenten wie Träume und Begebenheiten hinzu.
»Das meiste wusste ich schon.« Er mied meinen Blick.
»Und was noch nicht?«
»Warum ist das wichtig?«
»Genau. Lassen Sie uns keine Zeit verlieren.«
Er verschränkte die Arme vor der Brust. Ich rechnete mit einer neuen Provokation. Aber seine Gesichtszüge entspannten sich. Er sah aus dem Fenster und murmelte einen Satz, den ich nicht verstand.
Ich bat ihn um Wiederholung.
»Der Traum ist wie mein Nachbar.« Er zog eine Augenbraue hoch.
»Möchten Sie das erläutern?«
Er schlug die Beine übereinander und legte die Hände auf den Armlehnen ab. Sein Blick wurde stechend.
»Sie haben ja Schweigepflicht«, sagte er leise, beinahe drohend.
Ich nickte mechanisch. Alle Patienten waren von der Schweigepflicht fasziniert. Manchmal hatte ich den Eindruck, sie hielten sie für eine Art Magie.
Der Nebel draußen schien gegen die Scheiben zu drücken.
»Das war ein Witz. Über meinen Nachbarn gibt es nichts zu berichten.« Er sah nicht aus, als sei er zu Scherzen aufgelegt.
»Genau wie über Ihren Traum.«
»Exakt.«
Eine Pause entstand, in der nur das Knacken der Heizung zu hören war.
»Sie haben mir noch nicht erzählt, wann die Attacken im Wachzustand kommen.«
Er runzelte die Stirn. Seine Augen verkleinerten sich.
»Die Uhrzeit?«
»Die Situationen.«
Im Flur brummte der Staubsauger.
Mit schmalen Lippen sah Jander mich an und rückte den Sessel zurecht.
Ich wartete eine halbe Minute, bevor ich sprach. »Die konkreten Umstände. Oder kommt es aus heiterem Himmel?«
Andere Patienten überschlugen sich mit ihren Schilderungen. Jander war keiner von ihnen.
Er machte eine Geste in den Raum hinein. »Ich frage Sie auch nicht nach ihren Situationen.« Situationen betonte er auf ironische Art. »Man kann alles unter Verdacht stellen, jeden einzelnen Augenblick. Vielleicht ist jeder Tag ein Betrug und die Nacht das einzig Wahre.« Seine Stimme war immer lauter geworden.
»Ich denke, Sie wissen, worauf ich hinauswill.«
»Sagen Sie mir, was ich gegen die Panikattacken tun kann. Darum bin ich hier.« Er verschränkte die Arme.
»Wir sind schon dabei.«
»Dass es von Gerede besser wird, ist mir neu.«
»Sie haben recht. Nicht von Gerede. Aber vom Verstehen der Zusammenhänge. Von da aus können Sie etwas verändern.«
»Und was haben Träume damit zu tun?«
Die Kostprobe. Vor lauter Provokation hatte ich sie aus den Augen verloren. Doch es war ohnehin deutlich, dass er auf die Kostprobe pfiff.
»Träume sind Teil des Zusammenhangs.«
»Und vom Verstehen verschwinden die Panikanfälle.« Er schüttelte den Kopf und lachte bitter.
»Nein. Aber die Bedingungen für ihr Verschwinden verbessern sich.«
»Dann ist ja alles gut.«
Es waren diese Momente, die zwischen uns standen. Nicht meine Herangehensweise und nicht der Leidensdruck, unter dem Jander sich befand. Es war seine Ironie. Zusammen mit dem erzwungenen Lächeln, dem raschen Hervorschimmern seiner Zähne, ragte sie zwischen uns hervor wie eine Mauer aus Glas.
»Am Anfang steht ein Erklärungsmodell. Dafür brauchen wir die genauen Umstände Ihres Problems.«
»Und dann?«
»Gehen wir an die Lösung. Schritt für Schritt.«
Es überzeugte ihn nicht. Er war niemand, der anderen Glauben schenkte. Vermutlich nicht einmal sich selbst. Aber er schien bereit, die Spur aufzunehmen. Denn er räusperte sich und begann mit klarer Stimme:
»Sie kommen immer um drei Uhr nachts.«
Sein Bericht dauerte die ganze Sitzung. Ich lauschte und unterbrach ihn nur einmal, um ihn ein paar geflüsterte Sätze wiederholen zu lassen.
Als ich die Haustür hinter ihm schloss, kämpfte ich gegen die Unruhe, die in mir aufzusteigen begann.
Mittags – Lajosné war schon gegangen – fand ich Janders Telefonnummer unter ein paar Formularen auf meinem Schreibtisch. Ich stutzte, denn ich war mir sicher, den Zettel wieder unter die Lampe geklemmt zu haben, nachdem ich die Mail geschrieben hatte. Die Lampe stand jetzt weiter links. Lajosné hat Staub gewischt, sagte ich mir. Dass sie sensible Daten zu Gesicht bekam, war unvermeidbar, auch wenn ich das meiste in einem verschlossenen Schrank aufbewahrte. Auf dem Zettel stand nur die Nummer, kein Name dazu. Manchmal konnte Nachlässigkeit auch von Vorteil sein.
Um gegen die Müdigkeit anzukämpfen, die mich immer mehr quälte, ging ich noch vor dem Essen nach draußen. Der Nebel dauerte an, und von den Hängen war nichts mehr zu sehen, so sehr hatte sich der Dunst im Tal verdichtet. Ich überlegte, ob ich nach unten in die Stadt gehen sollte oder nach oben, dorthin, wo man wohl kaum noch die eigene Hand vor Augen sah. Ich entschied mich für den Nebel und machte mich auf den Weg.
Zuerst lief ich die Hangstraße bis zum Ende hoch, wo der Wald begann. Dort machte ich ein paar Makroaufnahmen von tropfenden Tannenzweigen. Anschließend stieg ich die nasse Treppe zur Kaltenseestraße hinauf.
Der Zaun und die Bambussträucher waren das Einzige, was ich erkennen konnte, als ich die Kreuzung betrat. Nicht einmal Konturen der Villa waren zu sehen. Man ahnte nur eine dunkle Masse alter Steine, deren Form rätselhaft blieb. Die Fenster der umgebenden Häuser leuchteten matt durch die Nebelwände wie Schiffslichter auf hoher See.
Ich machte mehrere Fotos und wollte gerade umkehren, als ich erstarrte.
Hinter dem Zaun, irgendwo zwischen Bambus und Haus, bewegte sich in der grauen Nebelmasse ein glühender Punkt. Erst schien er sich immer weiter zu entfernen, änderte dann die Richtung, tanzte auf mich zu und verschwand so unvermittelt, wie er aufgetaucht war. Schritte waren dabei nicht zu hören gewesen, aber der Boden jenseits des Zauns war weich.
Ich starrte noch eine Weile in den dunstigen Garten, wo sich die Umrisse großer und kleiner Pflanzen zu formlosen Gebilden vereinigten. Alles blieb reglos; kein Blatt bewegte sich.
Zwanzig Minuten später saß ich am Schreibtisch und ertappte mich dabei, wie ich immer wieder den Blick aus dem Fenster richtete, auf die Stelle des Hangs, wo die Kaltenseestraße begann. Dort, wo sich sonst Villa Tann über die Umgebung erhob, war ein graues Meer aus winzigsten Wassertropfen. Atmosphärische Bedingungen, sagte ich mir. Ich musste es mehrmals sagen, bis der Drang, in jene Leere hinüberzusehen, nachließ.
Am nächsten Morgen betrat ich am anderen Ende der Stadt einen Parkplatz und zog die Mütze vom Kopf. Die Steigung war größer als die der Hangstraße gewesen. Mein Atem ging schnell, und ich schwitzte. Ich, der unpraktischste aller Menschen, wollte hier freiwillig helfen? Bei meinem Anruf hatte man mich nicht nach Referenzen gefragt. Die einzige Frage hatte gelautet: »Können Sie gleich anfangen?«
Das Ostbergstift lag am Stadtrand auf einer Anhöhe, umgeben von Villen, einem öffentlichen Park mit Teich und waldigen Hügeln. Es erinnerte an einen Landsitz, hinter dessen Sandsteinmauern ein privilegiertes Leben stattfand. Aber ich wusste: Was hier drinnen vorging, war davon weit entfernt.
Vor dem Gebäude war ich der einzige Mensch. Im beginnenden Regen näherte ich mich dem Portal und drückte den Klingelknopf. Legte die Hand auf den Türknauf. Wartete. Läutete noch einmal. Stellte mich dicht vor die Tür. Hörte den Wind über die Sträucher am Parkplatz streichen.
Ich zuckte zusammen, als die Tür aufging. Ein Briefträger kam heraus.
»Ist offen«, murmelte er und eilte weiter.
Ich brauchte die Tür nur aufzudrücken.
Im Korridor hing der Rest eines dumpfen Parfums. Die Rezeption war leer und ringsum niemand zu sehen. Dennoch schien jemand da zu sein, dessen Anwesenheit so diffus war, dass ich sie unbedenklich zur Kenntnis nahm. Eine Weile betrachtete ich die Papierlaternen, die an der Decke hingen, und wunderte mich über die Stille.
Die Frau im hellgrünen Kittel, die einen Küchenwagen um die Ecke schob, grüßte mit flüchtigem Nicken. Ich ging ein paar Schritte hinter ihr her.
»Wo finde ich Frau Blohm?«
Als sie stehenblieb und mich ansah, tat es mir leid, sie aufzuhalten. Sie hatte Schatten unter den Augen und ein müdes, farbloses Gesicht. Ihr Blick schwankte zwischen Güte und Ungeduld. Das Namensschild an ihrem Kittel verriet Ariana Delic.
»Oben. Pflegestation.« Sie deutete auf den Aufzug, wartete, bis ich in der Kabine stand, und drückte von außen die Taste 3. Mit einem Schleifen schloss sich die Tür. Ich starrte auf den zerkratzten Klappsitz an der Fahrstuhlwand.
In der dritten Etage schob ein schlurfender Mann seinen Rollator über den Gang. Eine Frau im Rollstuhl schimpfte, weil ihr der Mann nicht auswich. Aus einem Zimmer drangen Stimmen. Schwesternzimmer stand auf der angelehnten Tür. Im selben Moment, in dem ich anklopfen wollte, kam eine Frau mit blondierter Hochsteckfrisur heraus. Sie war fast einen Kopf größer als ich.
»Ich suche Frau Blohm.«
»Das bin ich.«
Beatrice Blohm. Jeder trug hier ein Namensschild. Das Blut stieg mir in die Wangen.
Sie bot mir das Du an und gab mir die Hand. Mit kräftigen Schritten ging sie voraus und führte mich an Wäschewagen und Zimmertüren vorbei ans Ende des Korridors. Es war der achtzehnte Oktober um neun Uhr, eine Stunde, bevor die Verwirrungen begannen, ohne die ein besseres Ende vielleicht noch möglich gewesen wäre.
Wir erreichten einen Raum mit Dachschrägen und einem schiefen Blumenbild an der Wand. Hier saßen zehn demente Senioren, neun Frauen und ein Mann, an einem langen Tisch. Vom Frühstück bis zum Mittagessen, vom Kaffeetrinken bis zum Abendessen. Jeden Tag.
Langsam ging ich um den Tisch herum und begrüßte alle nacheinander. Warme Handflächen, kalte, raue, zittrige, schweißige, schwache, zugreifende – alles spürte ich da. Müde, traurige, fragende, freundliche, resignierte Augen richteten sich auf mich. Die Namen würde ich rasch lernen. Bei den Rollstuhlfahrern waren sie unterhalb der Armlehne notiert, und die einzige Person ohne Rollstuhl war eine Frau, die von ihrer Tischnachbarin »die junge Alte« genannt wurde, wohl wegen ihrer kecken Lockenfrisur.
Die ersten Arbeitsabläufe, die Beatrice mir erklärte, ergaben sich aus der Situation. Ich desinfizierte meine Hände. Räumte leere Teller und Tassen ab. Füllte Wasserbecher nach. Lernte, dass nicht jeder einen Teller, auf dem nur noch ein Klacks Marmelade klebte, als leer ansah. Lehnte dankend ab, als man mir ein angebissenes Brötchen anbot. Suchte eine Antwort auf Frau von Bercks Frage: »Was ist denn die Telefonnummer meiner Mutter?« und fand sie nicht.
Ich kratzte Essensreste von Tellern. Ließ benutztes Besteck in einen Eimer mit Wasser fallen. Schenkte Frau Bronner, die zuletzt dazukam, den Kaffee ein. Putzte Herrn Carow Honig vom Kinn. Hob seinen Löffel vom Boden auf und holte einen neuen. Wischte die Plastiktischdecke ab.
»Bald zehn, gell?« Viele Male am Tag rief Frau Ehmann die Uhrzeit aus, und sie irrte sich nie. Bis heute höre ich ihre heisere Stimme. Vielleicht wird der Zeitpunkt
Mittwoch, zehn Uhr für mich immer damit verbunden sein, mit Frau Ehmanns Ausrufen und meinen eigenen verstohlenen Blicken zum Zifferblatt über der Tür.
Die Uhrzeiger im Ostbergstift bewegten sich langsam. Sie schlichen von Zahl zu Zahl, als wäre es etwas Verbotenes oder etwas, das ein Geheimnis bleiben sollte. Dabei erwarteten viele Bewohner voller Sehnsucht das Ende des Tages, manche auch das des Lebens. Es war ein tragischer Widerspruch, den es nur selten aufzulösen gelang.
Am Ende des Korridors gab es noch mehr. Ich mochte die Schranktüren an der linken Wand, weil sie bei jedem Öffnen und Schließen knarrten und quietschten. Beatrice zeigte mir alles Notwendige. Als sie die dritte Schranktür schloss, war es fast zehn Uhr.
Von der Mitte des Flurs kam ein Poltern. Ich drehte mich um.
Eine Frau mit Clownsnase stand am Treppenabsatz. Mittelgroß, Mittvierzigerin. Schwarzer Filzhut, dunkler Zopf. Kräftige Augenbrauen. Arztkittel, mit bunten Motiven bemalt. Rotweiß gestreiftes Shirt. Zu weite schwarze Hose mit Trägern. Ein grüner Schuh, ein blauer. Großer altmodischer Lederkoffer.
Ein surreales Gefühl erfasste mich, ein innerer Aufruhr wie nach zu starkem Kaffee. Meine Erinnerung an diese Sekunden gibt nur Fragmente preis: den knappen Wortwechsel zwischen ihr und Beatrice, die ernste Miene unter dem Hut und einen Blick, der meinem auswich – auch dann noch, als Beatrice in ihrem Büro den Laufzettel für die Clownin suchte und mich mit ihr allein ließ, die zu Boden blickte, obwohl wir einander gegenüberstanden.
Ich ging einen Schritt auf sie zu und gab ihr die Hand.
Da erkannte ich sie.
Die Frau aus dem Fachwerkhaus.
»Arnd Weyden. Ich glaube, wir kennen uns schon?«
Versteckte Resignation sprach aus ihrem Blick. Vor allem aber: Ernst. Nichts Plauderndes, Nettes, Gefälliges. Ich wunderte mich über die Anspannung, die von ihr ausging und die sie mit gespielter Souveränität zu kaschieren versuchte.
»Ehrenamtlich hier?« Sie deutete auf meine Alltagskleidung. Ein Hauch Zigarettenrauch streifte mich.
»Nur aus Egoismus. Zum Ausgleich für meine Arbeit.«
Ihre Mimik blieb unverändert. »Was arbeiten Sie?«
»Ich berate Menschen in kritischen Lebenslagen. Oder in Situationen, die ihnen so vorkommen.«
»Sind Sie aus Tiefenwald?«
Ich bejahte, ohne ihren Gedankensprung zu verstehen. Offenbar hatte sie mich nicht erkannt. »Eigentlich bin ich aus Norddeutschland.«
»Aha, ein Muschelschubser.«
Ich lachte. »Woher kommen Sie?«
»Von zu Hause.«
Wie auch immer ich sie jetzt ansah – etwas veränderte sich.
»Entschuldigen Sie. Als Clownin muss ich so sein. Das dürfen Sie nicht so ernst nehmen.«
Sie richtete sich wieder auf, etwas gerader als vorher. »Ich komme aus dem Finanzbereich«, sagte sie leise mit rollendem R.
Zum Nachfragen war keine Gelegenheit, denn Beatrice kam zurück. Sie gab der Frau einen Laufzettel mit Zimmernummern und den Namen der Bewohner, denen sie Einzelbesuche abstatten sollte.
Ich ging zu den zehn Senioren zurück. Doch meine Aufmerksamkeit blieb im Flur, auch dann noch, als niemand mehr dort war. Sie folgte den Schritten der Clownin, begleitete sie über die Treppe zu den unteren Etagen und in die Bewohnerzimmer hinein. Erst nach einer Weile schaffte ich es, mich wieder auf die Runde am Tisch zu konzentrieren.
Um elf Uhr klang eine Frauenstimme durch den Flur. »Ja, hallooo …« Die Clownin erschien in der Tür. Sie kratzte sich am Kopf und betrat mit übertrieben tollpatschigen Schritten und gebeugter Haltung den Raum, wo sie den Koffer in eine Ecke stellte.
Bei Herrn Carow machte sie Halt, hockte sich neben ihn und wartete ab. Er war ein ruhiger, freundlicher Herr von fast hundert Jahren, der jeden für ihn getätigten Handgriff mit dem Ausruf »Danke« quittierte. Sein trüber, müder Blick glitt über die Clownin hinweg. »So schöne Augen. So eine schöne Frau«, murmelte er.
Mit gereckter Brust richtete sie sich wieder auf. »Heute Morgen war ich die schönste Frau in meinem Bad.«
Sie ging zum Koffer und öffnete ihn. Der Inhalt war mit einem dunklen Tuch bedeckt. Den geöffneten Koffer hob sie hoch, so, dass nichts herausfallen konnte. Das Tuch ließ sie, wo es war.
Sie ging von einem zum anderen. Viele schafften es nicht, die Augen, wie gefordert, geschlossen zu halten, als sie unter das Tuch griffen und einen Gegenstand herausnahmen. Einige konnten die Sache trotzdem nicht benennen. Ein riesiger Kamm mit breiten Zinken. Ein Kochlöffel aus Holz. Ein altmodischer Wecker.
Ein Ball.
»Welche Form?«, fragte sie Frau von Berck, deren hoheitsvolles Gesicht einen unwirschen Ausdruck annahm. Ihr silberner Haarreif war auf die Stirn gerutscht, wo er wie ein extravagantes Schmuckstück anmutete.
»Blau«, bellte sie in einem Ton, der zu sagen schien: Siehst du doch.
Die Clownin legte die Stirn in Falten. »Die Form ist blau. Wunderbar.«
Jetzt kam sie auf mich zu und hielt mir den Koffer hin.
Ich genierte mich. »Ich muss auch …?«
Ihr Gesicht spielte Empörung. Sie ließ mir keine Wahl. Ich griff unter das Tuch, wo meine Finger etwas Weiches berührten, das ich mit geschlossenen Lidern hervorzog. Das kleine Stück Stoff fühlte sich glatt an und ein wenig kühl, und es war an einem schmalen Band befestigt. So lange ich aber auch tastete – kein Bild stellte sich ein.
Erst blinzelte ich, dann wagte ich einen Blick.
Eine Schlafmaske, eine recht abgenutzte. Wer die wohl getragen hatte? Ich schob den Gedanken fort.
»Und?« Die Brauen der Clownin wölbten sich. Sie zwang mich, obwohl ich mit geöffneten Lidern vor ihr saß und den Gegenstand in meinen Händen betrachtete, der mich irritierte, ohne dass ich hätte sagen können, warum.
»Eine Schlafmaske.« Ich wartete darauf, dass ich mir bescheuert vorkam. Doch vor das Gefühl schob sich ein anderes, eines, dessen obskure Präsenz ich nicht verstand.
Die Frau mit der roten Nase trug ihren Koffer weiter, von einer Person zur anderen, einmal herum. Am Ende ging sie ohne Abschied aus dem Zimmer, und ich wusste nicht, ob das, was ich fühlte, Erleichterung oder Bedauern war.
»Was ist das?« Beatrice nahm ein großes Tuch von einer Stuhllehne und sah mich fragend an.
»Oh, das hat die Clownin vergessen.«
»War das Tuch nicht blau?« Aus ihrer Stimme klang leises Entsetzen.
»Nein …«
Das Tuch war schwarz.
»Wie heißt die Frau?«, fragte ich eine Minute später.
Sie nannte nur den Nachnamen.
De Luca.
In der dritten Oktoberwoche war die Praxis noch lange nicht auf dem Level, wo ich sie haben wollte, aber es ging voran. Nach und nach hatten sich weitere Patienten eingefunden, die meisten von Ängsten geplagt. So auch ein junger hellblonder Mann namens Nick. Er litt an einer sozialen Phobie, die es ihm unmöglich machte, im Beisein anderer zu essen. Es war erschreckend, wie das ein Leben beeinträchtigte.
Am neunzehnten Oktober um achtzehn Uhr stand er keuchend auf der Türschwelle und stürzte in meinen Flur, kaum dass ich die Tür geöffnet hatte.
»Sowas Unheimliches!« Seine aufgerissenen Augen sahen mich an.
»Guten Abend, Nick.«
Er zog den Reißverschluss seiner Jacke auf.
»Im Dunkeln komme ich nicht mehr zu Fuß hierher.«
»Sie sind ziemlich aufgebracht.«
»Bis vor zehn Minuten ging es mir gut. Da unten, am Anfang der Hangstraße …« Er starrte in die entsprechende Richtung, obwohl die Haustür geschlossen war.
Ich nahm ihm die Jacke aus der Hand, hängte sie an die Garderobe und machte eine einladende Armbewegung zum Praxisraum.
Drinnen stellte er sich an das Fenster, das Gesicht von mir weggewandt.
»Wollen Sie sich nicht setzen?«
Nicks Atem ging immer noch rasch.
»Folgende Szene: In einer Garageneinfahrt liegt eine Frau, vor ihren Füßen eine Reisetasche. Ich will hinlaufen. Da sehe ich, dass dicht neben mir jemand am Rand des Fußwegs hockt, vor einem Gebüsch.«
Von meinem Sessel aus lauschte ich Nicks Schilderung. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, stellte mir aber die Angst in den wasserblauen Augen vor.
»Ich gehe weiter geradeaus. Da leuchten Scheinwerfer auf, und ein Auto kommt.« Er musterte mich, als wollte er wissen, ob ich noch zuhörte.
Ich hob die Augenbrauen.
»Das Auto fährt vorbei, die Frau steht auf. Ich gehe an dem kauernden Mann vorüber, ohne ihm ins Gesicht zu sehen. Dann fange ich an zu rennen.«
Nick drehte sich um und sah mich an.
»Hört sich tatsächlich ungewöhnlich an. Was hat Ihnen am meisten Angst gemacht?«
Er ließ sich in den Ledersessel fallen. Seine linke Hand umklammerte das Gelenk der rechten.
»Sie bringen das einfach so in die Sitzung ein? Wie hätten Sie denn reagiert?«
Die Frage war berechtigt.
»Es hätte mich auch verunsichert. Aber gerannt wäre ich wahrscheinlich nicht.«
»Nachher nehme ich ein Taxi.« Nick verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Atem hatte sich beruhigt, und wir konnten beginnen.
Als eine knappe Stunde später die Rücklichter des Taxis in der Dunkelheit verschwanden, ging ich zum Telefon und wählte die Amtsnummer der Polizei. Der Vorfall beschäftigte mich, sogar sehr. Aber einen Angstpatienten durfte ich nicht beim Überbewerten unterstützen. Alles kam darauf an, den Ball flach zu halten.
Der Polizist ließ mich kaum ausreden. »Sind die Wegelagerer wieder da«, war alles, was er in seinem kennerhaften Tonfall sagte. »Können Sie sie genauer beschreiben?«
»Ich habe es nicht selbst gesehen.«
So könne man leider nichts machen, sagte er und bedankte sich für den Hinweis.
Immerhin gab es jetzt einen Namen dafür. Wegelagerer. Ein Trick, um wohlhabende Passanten in Villengegenden zu überfallen. Perfektes Erklärungsmodell. Und doch …
Es war neunzehn Uhr dreißig, und ich beschloss, einen Abendspaziergang zu machen. Nick hätte mich für verrückt erklärt. Vermutlich war das der Grund, weshalb ich genau seinen Weg nahm, die Hangstraße bergab. Auf der Höhe der Garageneinfahrt, wo nach seiner Schilderung die Frau gelegen hatte, blieb ich stehen und sah mich um.
Ich war der einzige Mensch weit und breit.
Ich lauschte.
Unten auf der Kreuzung rauschte der Abendverkehr.
Ich hielt meine Nase in den Wind. Jemand heizte mit feuchtem Buchenholz.
Aus den Zweigen über mir fiel ein Wassertropfen auf meinen Kopf und rann über das rechte Ohr in den Kragen.
Ich horchte in mich hinein. War ich enttäuscht, die Wegelagerer nicht anzutreffen? Hatte ich mich vergewissern wollen?
Einen Teil von mir, den Aufklärer, hätte es vielleicht beruhigt. Er wäre später nicht ganz so hungrig gewesen.
Am folgenden Dienstag klingelte es um neun Uhr zwanzig an der Tür. Ich war noch damit beschäftigt, das Bad freizuräumen, und überlegte, ob ich Lajosné draußen warten lassen sollte. Schließlich ging ich doch in den Flur, um die Haustür zu öffnen.
Draußen stand ein Junge, acht oder neun Jahre alt. Obwohl er eine dicke Jacke trug, schien er zu frieren, mit hochgezogenen Schultern und angespanntem Gesicht. Sein braunes Stoppelhaar sah feucht aus, und seine Augenlider waren verquollen, als wäre er gerade erst aufgewacht.
»Meine Mutter hat hier in der Nähe noch etwas zu erledigen. Sie kommt gleich nach.«
Ich versuchte, mich an letzte Woche zu erinnern. Lajosné hatte nichts von Milo gesagt. Seit dem ersten Tag hatte sie ihn nicht mehr erwähnt.
»Keine Schule?«
Ich war von mir selbst genervt. Erwachsene fragten immer nach der Schule.
»Herbstferien.« Er zog die Nase hoch und trat von einem Fuß auf den anderen.
Eine Mischung aus Ärger und Betroffenheit stieg in mir auf. Ich hielt nach Lajosné Ausschau, sie kam aber nicht. So bat ich Milo herein. Befangen stand er im Flur und betrachtete seine Stiefel. Seine Kleidung strömte einen starken Geruch nach Waschmittel aus.
»Du kannst die Jacke ausziehen und dich hier in die Küche setzen. Sie wird ja gleich kommen.«
Milo nickte. Der Blick, mit dem er zu mir aufsah, schien zu sagen: Hauptsache, ich bin jetzt hier. Es war ein betrübter, hellgrau verschleierter Blick. Als er die Jacke abstreifte, kam ein eingegipster Arm zum Vorschein, übersät mit bunten Namen und Kinderzeichnungen. Der Junge setzte sich an den Küchentisch und sah still vor sich hin. Ich hatte noch zu viel aufzuräumen, um auf ihn einzugehen.
Lajosné erschien um neun Uhr fünfundzwanzig und betrat mit ihrem traurigen Lächeln und einer Selbstverständlichkeit das Haus, als ginge sie hier seit Jahren ein und aus. Wegen Milo verlor sie kein Wort. Als sie ihren Mantel an den Haken hängte, wollte ich etwas sagen. Aber dann sah ich den Jungen, wie er mit gesenkten Lidern am Küchentisch saß, und ich schwieg.
Jetzt war nicht nur eine fremde Person im Haus, sondern es waren zwei, doch seltsamerweise machte es mir weniger aus. Obwohl es bis zu Janders Termin noch eine halbe Stunde dauerte, sah ich mir selbst dabei zu, wie ich seelenruhig und mit einer Leichtigkeit, die mir sonst abging, Stück für Stück die noch übrigen Winkel für Lajosnés Arbeit vorbereitete. Ich legte sogar Wäschestücke zusammen, die ich normalerweise so, wie sie waren, in die Kommode gestopft hätte. Und während ich all diese sonst so leidigen Handgriffe tat, fragte ich mich, was Milo zwei Stunden lang in meiner Küche tun sollte. Denn wie es aussah, hatte er nichts mitgebracht.
Mit einem Packen Zeitungen ging ich zu ihm.
»Langweilig?«
»Es geht.« Seine Kieselaugen, unter denen sich Schatten zeigten, betrachteten den Papierstapel in meinem Arm.
»Malstifte habe ich nicht. Aber hast du Lust, Bilder auszuschneiden und sie hier aufzukleben? Oder bist du Linkshänder?« Ich deutete auf den Gips an seinem linken Arm.
Er schüttelte den Kopf.
Aus einer Schublade nahm ich eine Schere, Kleber und einen Bogen Packpapier.
Milo beobachtete meine Bewegungen. Skeptisch sah er mich an.
»Darf ich das zerschneiden?« Als er das sagte, zeigten sich zwei Zahnlücken in seinem Mund. Eine oben, die andere unten.
Mein Lachen verunsicherte ihn. Er zog die Schultern zusammen und wich mit dem ganzen Körper zurück.
»Die Zeitungen sind alt. Du kannst damit machen, was du willst.«
»Alte Sachen sind wertvoll«, wisperte er.
»Diese nicht.« Ich zog eine Wochenendbeilage über Gewässer hervor und legte sie obenauf. Dann ließ ich ihn allein und betrat die Praxis, wo Lajosné die Regale abstaubte.
»Das ist nicht nötig. Nicht heute.« Ich wollte den Raum für mich allein.
»Er konnte nicht zu Hause bleiben. Da ist niemand«, sagte sie rasch, ohne mich anzusehen.
Ich merkte, dass sie noch etwas sagen wollte.
»Sein Vater ist tot.« Schnell wandte sie mir den Rücken zu, nahm die Putzsachen und verließ den Raum.
»Tut mir leid«, murmelte ich.
Sie war schon am Ende des Flurs.
Es blieb keine Zeit, weiter mit ihr zu sprechen. Jander kam. Mit dickem Schal und gefüttertem Wintermantel stand er vor der Tür. Seine Nase lief, und er hustete unentwegt. Er sei kurz davor gewesen, den Termin abzusagen. Doch dann habe er sich entschlossen, die Sache durchzuziehen und »Klartext zu reden«, wie er es nannte.
»Um es gleich zu sagen: Nichts hat sich verändert«, war das Erste, was er sagte, als er die Stiefel auf der Fußmatte abtrat. »Und ich hoffe, das Thema Traum ist damit erledigt.« Er schenkte mir einen triumphierenden Blick, während er Hut und Mantel aufhängte. Den Schal behielt er an. Bevor er sich setzte, ließ er eine Packung Taschentücher auf den Beistelltisch fallen.
»Hoffentlich stecke ich Sie nicht an«, sagte er. Sein Ton ließ eher das Gegenteil vermuten.
Ich nahm Platz, überprüfte die Zeit und wollte Jander nach dem für heute wichtigsten Anliegen fragen, als plötzlich der Satz, den er eingangs gesagt hatte, in meinen Ohren hallte. Das Thema Traum ist damit erledigt.
Der Traum war der Schlüssel zu Janders Fall. Ohne ihn würden wir nicht weit kommen. Wir brauchten ein Erklärungsmodell. Nicht irgendeines, wie manche Kollegen es aus dem Handbuch kopierten. Wir brauchten alle Faktoren und Elemente seiner persönlichen Situation. Was nützte uns alles andere, solange wir nicht die verstörende Szene verstanden, die Jander jede Nacht um drei Uhr erlebte. Und vor allem: Warum geschah das?
»Sie sagen, es habe sich nichts verändert.«
»Genau.« So einen zufriedenen Gesichtsausdruck hatte ich an ihm zuvor noch nicht entdeckt. Es fehlte nur noch, dass er zum Beweis eine Panikattacke bekam.
»Und Sie sind sich sicher?«
»Ganz sicher.« Er lehnte sich zurück und betrachtete seine Fingernägel.
»Dann haben wir unser erstes Ziel erreicht.« Ich beugte mich zu ihm vor. »Sicherheit.«
»Unheimlich witzig.«
»Ungewissheit füttert die Angst.«
Janders Finger pochten auf die Armlehne. »Dann hätte jeder Panikanfälle.«
»Ich meine die Ungewissheiten, die Sie beeinflussen können. Alles, worin Sie freie Entscheidungen treffen können, wenn sie es nur mit ihrer ganzen Kraft wollen. Vielleicht passt es nicht ganz zu dem, was Sie nachts erleben …«
Er schloss die Augen und atmete ein.
»Doch eines ist deutlich: Wir müssen herausfinden, was hinter dem Wiederholungstraum steckt. Und warum Sie jede Nacht um drei Uhr diese Dinge erleben.« Bei der Erinnerung an seinen Bericht überkam mich ein leichtes Frösteln.
Noch während ich sprach, spürte ich, wie absurd meine eigenen Aussagen klangen. Ich redete von Dingen, für die es kein therapeutisches Werkzeug gab. Das, worauf sonst Verlass war – die Erklärung –, geriet in Janders Fall zum zentralen Problem. Schon der erste Schritt, das Verstehen, fiel weg. Ohne Verstehen fehlte es an Vertrauen, und ohne Vertrauen gab es keine Therapie.
Aber ich machte weiter. Etwas nicht Greifbares trieb mich an. Ohne Verstand sah ich mir dabei zu, wie ich jede Chance verspielte.
Ich rückte meinen Sessel ein Stück vor.
»Wenn wir begreifen, was Sie in diese Lage gebracht hat, reduziert sich die Angst, und Sie erkennen: Sie sind freier, als Sie dachten.« Selten war ich mir so lachhaft vorgekommen.
Die Falten in Janders Augenwinkeln vertieften sich nicht, als er die Lippen zu zwei blassroten Bögen nach oben spannte, geschlossen, so dass die Zähne verborgen blieben. Es war ein verlogenes Lächeln, eine Grimasse der Unehrlichkeit.
Was war die Unbekannte in seiner Gleichung? Welches Puzzleteil versteckte er? Denn für das Unerklärliche seines Falles sah ich nur eine Erklärung: Er behielt etwas für sich.
Nachmittags kamen zwei neue Patienten, deren Schilderungen ich mit Mühe folgte. Die Sonne, an diesem Tag ohnehin ein Phantom, ging scheinbar Stunden früher unter. Als ich die letzte Akte zuklappte, meldete sich mein Magen, denn ich hatte das Mittagessen ausfallen lassen. Ich ging in die Küche, um Pasta zu kochen. Auf dem Tisch lag Milos Bild. Eine Collage, ein Nebeneinander bunter Motive und Buchstaben. Die Zeitungen waren durchwühlt, Papierschnipsel lagen herum. Dafür war keine Zeit mehr, sagte ich mir.
Ich setzte Wasser auf und beugte mich über Milos Werk.
In mir zog sich etwas zusammen. Um zu verstehen, warum, konzentrierte ich mich. Aber so lange ich die wirren Formen auch betrachtete, ich kam nicht darauf.
Die Mitte des Packpapierbogens, im Maßstab größer als die anderen Bestandteile, füllte die Zeichnung einer Schnecke aus, mit kegelförmigem Gehäuse und kurzen Fühlern, die Stacheln glichen. Ähnliche Tiere hatte ich in Aquarien gesehen, wo sie ihre glitschigen Körper über Glaswände oder algenbewachsene Steine schoben.
Um die Schnecke herum waren Strahlen geklebt, ein Dutzend schmaler gelber Streifen, wie Sonnenstrahlen. Dazwischen befanden sich schwarze Sterne, deren feine Zacken mich so erstaunten, dass ich einen Weile in ihrem Anblick versank.
Mein Blick wanderte zur unteren Hälfte der Collage. Hier sah man verschiedene Variationen von Wasser, grünes Seewasser, eine sich brechende Welle, eine Regenwand, Luftblasen in einem Wasserglas, einen plätschernden Bach, einen Tümpel mit Entengrütze und schimmerndem Schilf. Alle Wasserelemente waren zu einem Kreislauf zusammengesetzt, der mit dem Regen begann und mit dem Meer endete, um wieder in Regen überzugehen. Im Zentrum befand sich die schwarze Schnecke mit dem spitzen Haus und den Stachelfühlern.
Der obere Teil der Collage passte nicht zu dem Rest. Hier klebten Männerköpfe, alle schwarzweiß, alle mit ernsten, fast grimmigen Gesichtern, die dem Blick des Betrachters auswichen und an Fahndungsfotos erinnerten. Dazwischen waren Zeichnungen von Flaschen gekritzelt.
Mein Nudelwasser begann zu kochen. Als der Deckel klapperte und Spritzer auf der Platte zischten, ging ich zum Herd und ließ die Spaghetti in den Topf gleiten.
Ich rollte den Papierbogen zusammen und legte ihn in eine Schublade. Die ganze Zeit, während ich aß, gingen mir die Bilder nicht aus dem Kopf. Erst, als das Telefon klingelte und ich beschloss, an diesem Abend mit niemandem mehr zu sprechen, schwammen sie fort.
Nach dem Essen saß ich lange am Schreibtisch und durchblätterte meine Fachbücher auf der Suche nach einem Hinweis zu Janders Fall. Vergeblich. So ein Problem war nicht vorgesehen.
Hatte ich mich in eine Sackgasse manövriert? Sollte ich Janders beklemmenden Bericht ignorieren und standardisiert nach Handbuch arbeiten?
Hätte ich es doch getan.