Читать книгу Das Mädchen mit dem Flammenhaar - Janet Borgward - Страница 4
Wahlkampf
ОглавлениеSkyler behielt Wort, was die Feierlichkeiten der Hochzeit betraf. Nur wenige Gäste nahmen an der Zeremonie mit anschließendem Festmahl teil. Orinon, der Dorfälteste Gullorways, vollzog unsere Trauung. Trotz des Freudentages bedrückte mich der Umstand, dass mein Vater nicht an unserer Tafel saß. Einst war er Gullorways Dorfältester und Berater. Doch sein Geständnis, dass ich einer Liaison mit einer dunklen Magierin entstammte, trieb einen unversöhnlichen Keil zwischen uns, der mit seinem Freitod ein unrühmliches Ende fand. Der unermessliche Schmerz darüber und die Schuld ihm nicht vergeben zu haben, wogen schwer in meinem Herzen.
Jodee, die ein Gespür für Stimmungen im Allgemeinen und meine im Besonderen besaß, drückte mir aufmunternd die Hand. Dennoch blieben mir die letzten Worte meines Vaters im Gedächtnis haften, dass Skyler nicht gut für mich sei, wenn er auch diese im Zorn ausgesprochen hatte.
„Du solltest an unserem besonderen Tag strahlen vor Glück, Montai“, raunte er mir ins Ohr und riss mich damit aus den trüben Gedanken. „Warum so nachdenklich? Bereust du es schon, meine Frau zu sein?“
Zärtlich hauchte er einen Kuss auf meine eiskalten Fingerspitzen. Ertappt schlug ich die Augen nieder vor dem intensiven Grün, dass mir stets bis in die Tiefen meiner Seele zu schauen schien. Ich versuchte mich an einem Lächeln.
„Stelle mir diese Frage in ein paar Jahren“, entgegnete ich selbstsicher.
Er schwenkte ein Kristallglas in den Händen und sah mich dabei über den Rand hinweg an. In einer sinnlichen Geste führte Skyler das Glas an die Lippen, nahm einen kräftigen Schluck, wobei er mich nicht aus den Augen ließ. Geschickt platzierte er den Kelch auf das festliche Tischtuch zwischen den Rosenblüten, ohne auch nur eine von ihnen zu zerdrücken. Er beugte sich vor, strich sanft über die Stelle auf meinem Arm, auf der sich noch vor wenigen Tagen das Brandzeichen der Bowmen abzeichnete. Mit seiner Erlaubnis durfte Jodee das Mal entfernen – sein Hochzeitsgeschenk an mich. Die Wundränder verschwanden allmählich und mit ihnen die unsichtbaren Fesseln, die mich einst an die Bowmen banden. Stattdessen schmückte jetzt ein kunstvoll gefertigter Armreif meinen Oberarm, den Skyler beim besten Goldschmied Kandalars anfertigen ließ. Zwei ineinander verschlungene, geflügelte Schlangen aus Rotgold, deren Augen aus den Splittern des Mondsteins bestanden.
„Man sagt, der Stein sei mit dem Mond verbunden.“ Seine Augen fixierten den Armreif. „Wie der Mond, so übt auch dieser Edelstein eine geheimnisvolle Faszination aus. Genau wie du, Mem-Leschar. Der Stein verstärkt, so winzig er auch sein mag, die Intuition seines Besitzers.“
„Und was bedeuten die geflügelten Schlangen?“ Fasziniert betrachtete ich die feinziselierte Schmiedekunst.
„Es heißt, dass die geflügelten Schlangen einst als Gottheiten der Nebelwälder von Sesslowarnes in den Kronen der Lebensbäume hausten. Sie beherrschten den Wind, die Luft und das Leben in den Wäldern.“
In einer ausladenden Geste breitete er die Arme aus, schloss seine rechte Hand zur Faust und versiegelte sie mit der linken, öffnete sie wieder und hauchte mir galant eine Kusshand zu. Ich musste unwillkürlich schmunzeln über diese zauberhafte Geste. So romantisch kannte ich ihn gar nicht. Er zog mich in seine Arme und bedeckte mich mit leidenschaftlichen Küssen.
„Also hoffst du darauf, dass ich den täglich wütenden Sturm Kandalars herabsetze?“, fragte ich leicht atemlos, mir peinlich bewusst, dass wir uns noch in Gesellschaft befanden. Skyler hingegen schien das Umfeld völlig auszublenden. Seine Hände wanderten über meinen Körper auf der Suche nach den verspielten Schnüren des keuschen Hochzeitskleides, um sie gekonnt zu öffnen, bis ein Räuspern ihn lächelnd innehalten ließ.
„Wohl dem, der diese Gabe beherrscht“, erwiderte er mit einem Lächeln.
„Die Schlangen symbolisieren eure ewige Liebe zueinander und das Leben, das daraus entstehen wird“, führte Jodee Skylers Auslegungen mit einem Augenzwinkern fort. Mit wedelnden Händen komplimentierte sie die wenigen Gäste aus dem Haus hinaus. „So, genug für heute. Wollen wir dem Paar die Gelegenheit geben, der Symbolik Rechnung zu tragen und die Ehe vor den Augen der Götter zu vollziehen, anstatt vor den unsrigen.“
Lachend, mit deftigen Ratschlägen für die Hochzeitsnacht, verließen die Gäste unser Heim. Bis auf das Klappern der Fensterläden im Wind wurde es still im Raum.
„Was siehst du mich so seltsam an?“, fragte ich, in Vorfreude auf unsere Hochzeitsnacht.
Ungezügelte Gier lag in seinen Augen. „Ich habe noch nie mit einer verheirateten Frau geschlafen, stelle es mir aber sehr aufregend vor.“
Dunkle Augenbrauen schossen in freudiger Erwartung nach oben. Er hob mich auf die Arme und trug mich ins Schlafgemach.
„Dann will ich dafür sorgen, dass es dir gut im Gedächtnis haften bleibt und dich nicht dazu verleitet, es anderswo zu erkunden.“
In der Nacht liebten wir uns, als gebe es kein Morgen. Die zerwühlten Laken des Bettes trugen nicht allein die Spuren unserer Leidenschaft. Verstohlen betrachtete ich Skylers vom Schlaf entspannte Gesichtszüge. Die mir zugewandte Schulter wies rote Kratzspuren auf, wo meine Finger sich im Zustand ungezügelter Ekstase in seine Schulterblätter hineingruben. Ich wollte ihn berühren, die Haut wieder unversehrt werden lassen, weil ich mich dafür schämte, ihm diese Male beigebracht zu haben.
„Vergeude nicht deine Kräfte“, nuschelte er hinter einem feinen Vorhang aus Haaren, die beim Sprechen leicht zu flattern begannen. Mit einer fahrigen Geste schob er die störende Strähne hinters Ohr, fuhr mit der Zunge über die von unseren Küssen noch geschwollenen Lippen.
„Hebe dir deine magischen Fähigkeiten für Sinnvolleres auf.“
Er zog mich in seine Arme und seufzte zufrieden, als ich mich unter seiner Berührung wohlig zu winden begann.
„Versprich mir, dass es immer so sein wird zwischen uns, wie in diesem Moment“, stieß ich atemlos hervor, als seine Lippen an meinem Rippenbogen entlangfuhren, wohlige Schauder hinterlassend.
„Ich verspreche es dir, Montai. Bei den Göttern, dich gebe ich nicht mehr her.“
Ich ertappte mich dabei, wie ich mich im Spiegel kritisch betrachtete, auf der Suche nach Veränderungen. Sah man es mir an, dass ich verheiratet war?
Läge die Entscheidung bei mir, verließen wir das Bett nur, um gelegentlich etwas zu essen oder die Fensterläden zu öffnen, damit der Wind frische Luft in unsere Schlafkammer wehte. Aber es ging nicht nach meinem Willen. Stattdessen belagerten Skylers Berater schon seit dem Morgen die Küche, die sie kurzfristig zu einem Gemeindesaal umfunktionierten. Die Anzahl der Personen ließ mich kaum zu ihm durchdringen. Überall lagen Schriftstücke verteilt, mit Vermerken darauf. In hitzige Diskussionen verstrickt, legten die Männer Strategien für die bevorstehende Wahl des Eschs fest, die in einem halben Jahr stattfinden sollte. Die erste Wahl dieser Art, die darüber entschied, wer zukünftig über Kandalar herrschte. Gewählt auf Lebenszeit.
Ich verstand Skylers innere Zerrissenheit nur zu gut. Inoffiziell galt er nach dem Tod seines Halbbruders Amarott als der legitime Nachfolger Mahilo-Eschs. Wenn er sich jedoch auf dieses Recht berief, verriet er ein ganzes Volk, das unter der Knechtschaft seines Stiefvaters unsägliches Leid erfuhr. Daher ließ er zunächst seine Berater zu Wort kommen.
„Was hast du herausgefunden, Relak?“
Skyler hielt die langen, muskulösen Arme auf die einzig freie Stelle unseres Küchentisches abgestützt, die Finger voller Tatendrang gespreizt. Als er mich wahrnahm, schenkte er mir ein aufmunterndes Lächeln.
„Gesell dich zu uns, Avery. Was Relak zu sagen hat, betrifft uns alle.“
Auf nüchternem Magen, inmitten ausdünstender Männerkörper, fühlte ich mich unbehaglich. Außerdem hielt ich mich nicht für die Politik berufen. Doch Skylers Arm umfing meine Taille bereits, um mich näher zu sich heranzuziehen. Sein flüchtiger Blick in meine Richtung drückte so viel Stolz und Wärme aus, dass ich mich nicht zu widersetzen vermochte. In den Gesichtern der anderen las ich hingegen Missbilligung, doch wagte niemand ihm die Stirn zu bieten.
„Nun, Relak?“, drängte er den jungen Mann.
Etwa fünfundzwanzig von Skyler ausgewählte Männer stellten den Stadtrat. Ehemalige Bowmen, Männern aus den umliegenden Clans sowie der zehn größten Städte Kandalars.
Relak fuhr sich über das stoppelige Kinn, als müsse er seine Antwort jetzt, wo ich mit im Raum saß, besonders abwägen.
„Nun ja, es wird berichtet, dass Banden übers Land ziehen, die …“, er räusperte sich, sein Blick huschte zu Skyler, als habe er Angst vor dessen Reaktion. „Die Frauen rauben und sie zwingen, sich ihnen anzuschließen. Im Namen der Bowmen, auf Befehl Skylers.“
In der zum Bersten gefüllten Küche trat betroffene Stille ein. Alle Augen hefteten sich auf Skylers angespannten Körper, der wie zum Sprung bereit dastand. Doch er nickte nur mit unergründlicher Miene. Ein kalter Schauder durchfuhr mich, als ich die Tragweite begriff, die diese Information nach sich zog.
„Was Relak damit sagen will, ist“, erklärte Skyler, und sah dabei jeden Einzelnen in der Runde an. „Das dies der einstigen Vorgehensweise der Herren von Kandalar und der Bowmen entsprach.“
Ausrufe der Empörung wurden laut, gefolgt von deftigen Flüchen. Skyler hob gebieterisch die Hand. Es dauerte einen Moment, bis sich die Gemüter wieder beruhigten.
„Ich blicke nicht mit Stolz auf die jüngste Geschichte zurück, zu der die Bowmen, deren Anführer ich war, ihren Teil beitrugen. Doch ich versichere euch, dass niemand, ich wiederhole, niemand, in meinem Auftrag derartiges durchführt.“
„Das ist ja ungeheuerlich.“
„Man sollte meinen, dass diese Zeiten vorbei sind.“
„Gibt es Beweise für diese Anschuldigungen?“
Alle redeten durcheinander. Skylers Arm, der eben noch meine Taille umfasste, glitt ein Stück höher und strich mir wie nebenbei über den nackten Oberarm, bevor er mit der flachen Hand auf die Tischplatte schlug, um sie zur Räson zu bringen. Erschrocken zuckte ich zusammen.
„Es steht euch frei, diese an den Haaren herbeigezogenen Anschuldigungen zu glauben oder sie als das zu erkennen, was sie in Wahrheit sind: Eine verleumderische Hetzkampagne, um mich in Misskredit zu bringen. Ich muss euch nicht daran erinnern, dass wir uns mitten im Wahlkampf befinden. Jeder wird versuchen, die Konkurrenten aus dem Spiel zu stoßen. Freie Wahlen sind für Kandalar eine völlig neue Situation, nach einer über sechshundertjährigen Zeit der Tyrannei.“
Er löste sich von der Tischplatte und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Eine imposante Erscheinung von knapp zwei Metern.
„Daher habe ich euch mit Bedacht in den Kreis meiner Vertrauten gewählt. Ihr wisst, wie die Menschen in Ludimnis, Scarles oder der Goldenen Stadt Timno Theben denken, um nur einige zu nennen. Ich will ein einheitliches Kandalar schaffen, in dem jeder Bürger, bis hinunter zum Knecht und Bettler, das Recht auf ein friedliches Leben hat. Und auch wenn es in den meisten Köpfen noch nicht verankert ist schließt dies mit ein, dass Frauen keine willenlose Handelsware mehr darstellen.“
Zur Bekräftigung seiner Worte griff er nach meinem Arm und schob den Armreif mit dem Daumen hinunter.
„Keine Frau wird mehr als das Eigentum eines Mannes gebrandmarkt. Dafür verbürge ich mich.“
Er küsste die blasse Narbe auf meinem Arm und schob den Reif wieder darüber.
„Was ich damit sagen will, ist, dass es nicht leicht sein wird, über Jahrhunderte gepflegte Strukturen von heute auf morgen aufzubrechen. Doch ein Anfang ist gemacht.“
Verhaltene Lacher folgten. Allmählich nahm die Anspannung im Raum ab.
„Aber zurück zum Wahlkampf. Jeder Statthalter wird in den nächsten Wochen und Monaten darauf bedacht sein, sich selbst ins beste Licht zu rücken und Rivalen auszustechen. Ein Kampf ohne Regeln, um daraus als Esch hervorzugehen. Ihr habt euch in diesem Kampf bereits für mich entschieden. Nun gilt es, ungeachtet der Intrigen, die bereits gestreut wurden oder noch gesät werden, vereint aufzutreten. Denn was ich bin oder sein werde, bin ich nur durch euch, die ihr die Stimmen der Menschen von Kandalar vertretet.“
Ehrfürchtig verneigte er den Kopf vor den hier Anwesenden. Ein Jubel entbrannte.
„Ta-Sedem, Skyler“, stieß einer nach dem anderen aus, die Faust dabei zweimal auf die Seite des Herzens schlagend.
Ta-Sedem – für oder mit dem Herrscher. Ein Wort aus der alten Zeit.
„Ta-Sedem, Skyler“, ließ auch ich mich von der Woge der Begeisterten mitreißen. Wie selbstverständlich schlug ich meine Faust ebenso auf die Seite des Herzens.
„Ich danke dir, Montai“, berührte mich Skylers Stimme in Gedanken und an seine Männer gewandt: „Habt Dank.“ „So, ich könnte jetzt was zu Essen vertragen. Wie steht es mit euch?“, fragte ich in die Runde. Wie als Antwort auf meine Frage knurrte mir der Magen. „Eine gute Gelegenheit, die Räumlichkeiten unseres neuen Hauses in Augenschein zu nehmen. Ich schlage vor, wir setzen unsere Besprechung dort fort. Treffen wir uns in einer halben Stunde am Bauplatz zu einem improvisierten Mahl und jeder bringt etwas zu essen mit. Somit können wir gleich feststellen, ob ich die Küche groß genug eingeplant habe oder die Baumeister Änderungen vornehmen müssen.“ Lachend verließen sie nacheinander zügig den Raum. „Was habe ich doch für eine bezaubernde Frau“, umschmeichelte mich seine sanfte Stimme, kaum, dass die Männer aus dem Haus waren. Seine Hände ruhten auf meiner Schulter und schoben sich unter die Träger meines Leinenkleides. Ich spürte seinen erhitzten Körper hinter mir wie einen glühenden Ofen. „Wie schön du bist.“ Spielerisch wickelte er eine kupferfarbene Locke um den Finger, küsste die freigewordene Stelle auf meinem Nacken. Genießerisch bog ich ihm meinen Hals entgegen. „Wenn die Zeit nicht zu knapp wäre, wüsste ich, was ich jetzt lieber täte“, knurrte er. „Stattdessen muss ich mit einer Bande störrischer Männer ein Picknick in einem halb fertigen Haus abhalten.“ Seufzend rückte er die Träger meines Kleides wieder an ihren Platz zurück. „Nun denn.“ Wehmut stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Lass uns ein paar Lebensmittel für ein ordentliches Mahl einpacken.“ Obwohl ich ursprünglich andere Pläne verfolgte, gab ich nach. Ich griff nach einer Tonschale mit Brombeermarmelade, packte Butter und ein dunkles Krustenbrot in einen Korb, dazu Schinken, Räucherwürste und zwei Sorten Käse, nebst ein paar Pfannkuchen vom Vortag. Ich füllte Wasser in einen Krug, den ich mit einem Deckel verschloss, um nichts zu verschütten, und packte kurzentschlossen noch ein paar eingelegte Gurken dazu. „Was?“, ich sah ihn fragend an. „Wie viel Personen hast du eingeplant?“ Skyler hob belustigt eine Braue in die Höhe. „Zwei. Die anderen mögen sich selbst etwas mitbringen.“ Ich drückte ihm den Korb in die Hand, der unter der Last knarrte wie ein Handkarren. „Können wir los? Ich habe einen Bärenhunger.“ Als wir an der Baustelle eintrafen, waren die meisten Ratsmitglieder bereits vor Ort. Augenblicklich legten die Handwerker ihre Arbeit nieder. Unser Eintreffen bot ihnen eine willkommene Pause. Für den Bau des neuen Hauses waren sowohl Bambuselemente aus Greenerdoor als auch Steine aus den Ellar Hills verbaut worden. Ein geräumiger Keller mit gekalkten Wänden sowie das Erdgeschoss, waren bereits fertiggestellt, die erste Etage zur Hälfte errichtet. Ich wusste, dass Skyler den Rohbau nicht nur aufsuchte, weil er wissen wollte, ob die Küche groß genug war. Es bereitete ihm einfach Freude, das Gebäude wachsen zu sehen, dass sowohl die eigensinnige Bauweise Greenerdoors als auch Gullorways harmonisch miteinander verband. Auch ohne bauliches Verständnis waren die großzügig bemessenen Räume bereits jetzt deutlich auszumachen. Skyler verschwand aus meinem Blickfeld und kam kurz darauf mit einem Fass Bier zurück, das er unter den sehnsuchtsvollen Blicken seiner Ratsherren an die Handwerker weiterreichte. Der Baumeister dankte und lud sich das Fass pfeifend auf die Schulter. Dann folgte er seinen Männern nach draußen. Rasch waren ein paar umstehende Bretter und Holzblöcke als Tafel hergerichtet, der mitgebrachte Proviant für ein prächtiges Mahl darauf verteilt. Verstohlen wanderten die Blicke der Männer durch den unfertigen Raum. „Wird künftig noch ein Gemeindehaus von Nöten sein oder tagt der Rat der Stadt in diesen bescheidenen Räumlichkeiten?“, fragte Dannis, ein Scout aus Timno Theben, spöttisch. Unermüdlich kauend, mit prall gefüllten Backen wie ein Hamster vor dem Winterschlaf, bediente er sich großzügig von unseren Gaben. Von der Goldenen Stadt mochte er übermäßigen Prunk zwar gewöhnt sein, diesen jedoch mit unserem künftigen Zuhause gleichzusetzen, kam einer Beleidigung nach. Nur ich wusste von Skylers Traum, seine verlorene Heimat mit der meinen zu verbinden, was sich in dem Baustil manifestierte. Sein oftmals unruhiger Geist sehnte sich nach einem Rückzugsort, der ihn nicht einengte. Deshalb wählte er diesen Platz am Rande der Stadt, umgeben von altem Baumbestand, der das Grundstück wie einen Schutzwall umgab. Nur mit Mühe hatte ich ihn vorerst davon abbringen können, ein Baumhaus zu errichten. Skyler kaute genüsslich zu Ende, ließ sich mit der Antwort Zeit. „Selbstverständlich wird es auch künftig ein Gemeindehaus geben. Doch für ein Mahl unter Freunden richte ich es gerne ein, dieses in meinen Räumlichkeiten abzuhalten.“ Das saß. Dannis verschluckte sich, wurde abwechselnd puterrot und kreidebleich. „Wie sollten wir also vorgehen?“, setzte Skyler das Gespräch fort. Während ich meine Mahlzeit mit Heißhunger verzehrte, gab ich mich als stille Beobachterin. Irgendwie verdächtigte ich Skyler ja, dass dies der Grund für meine Anwesenheit war. Er traute kaum jemandem. Meines Wissens genossen derzeit nur Ethan, ein Clanführer des Nordens, der eine Herberge zweifelhaften Rufs führte, Jodee und ich diesen Vorzug – und mich band er zusätzlich mit einer Kapsel an sich. Mit einem Mal befiel mich eine unendliche Traurigkeit. Was bewog einen Menschen dazu, nichts und niemandem zu trauen? War das Ziel, Esch von Kandalar zu werden, diesen Preis wirklich wert? Dabei konnte ich mich genausogut an die eigene Nase packen. Wen zählte ich denn zu meinen Freunden, neben Jodee? Jodee. Irgendwie liefen alle Fäden bei ihr zusammen. Sie bildete das Bindeglied zwischen Skyler und mir, dem einzigen Menschen, dem wir beide blind vertrauten. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder den Männern zu. Dabei begann ich ihre Gesten zu analysieren, statt ihren Worten Bedeutung beizumessen. Das überließ ich Skyler. Bereits nach wenigen Augenblicken beobachtete ich bei einigen von ihnen, dass ihr Körper eine andere Sprache vermittelte als die Worte, die aus ihren Mündern flossen. Bei Jared, einem Scout aus Ludmins beispielsweise. Wortgewaltig sicherte er Skyler die Gefolgschaft seiner Männer zu, anstatt dem Statthalter von Ludimnis zu folgen. Dabei wedelte er hektisch mit den Armen, fasste sich von Zeit zu Zeit ans rechte Ohrläppchen, eine Geste, die seine Worte Lügen strafte. Auch sah er meist an Skyler vorbei, als stünde da noch jemand hinter ihm, den er davon überzeugen wollte. Oder Dannis. Äußerte er sich eben noch abfällig über unsere großzügig bemessenen Räumlichkeiten, drehte er sich nun wie ein Fähnchen im Wind. So wusste er aus erster Hand, wie er betonte, von Neuigkeiten aus Timno Theben die besagten, dass der derzeitige Statthalter die Gunst der Bürger zusehends verlor. Der Grund hierfür sei eine Beziehung, die er neben seiner Angetrauten zu einer Geliebten und ihren neunzehn- und siebzehnjährigen Töchtern gleichermaßen unterhielt. Während er diesen Klatsch blumig ausschmückte, lehnte er sich auf dem Schemel zurück, die Fingerspitzen aufeinandergepresst, dass man die Knochen knacken hörte. Ethan hingegen wirkte völlig entspannt. Seine Augen ruhten auf Skyler, ohne ihn anzustarren. Er klagte nicht an und stellte dessen Worte niemals infrage. Für ihn galt es in Zeiten wie diesen, nicht böswilligen Äußerungen zweifelhaftem Wahrheitsgehaltes Glauben zu schenken. Die wortreichen Schilderungen der Ratskollegen entlockten ihm nur ein müdes Lächeln. Seine Gestik drückte aus, dass ihn das Gesagte nicht überzeugte. „Das Geschwätz von Waschweibern gehört wohl kaum in diese Runde“, tat er Dannis‘ Bericht ab. Hitzige Debatten entbrannten. Nur mit Mühe verschaffte sich Koray Gehör. „In diesen Zeiten ist es nicht leicht, an wahre Informationen zu gelangen“, echauffierte er sich, die schweißnasse Stirn mit einem fleckigen Tuch betupfend. Ein abgenagtes Hühnerbein flog in die Mitte des Tisches. Seine wurstigen Finger griffen bereits nach einem weiteren. „Die Götter allein wissen, was mir noch alles blüht, wenn man mich dabei zu fassen bekommt, wie ich hier am Tisch mit euch sitze, um treuherzig über die Geschehnisse in Faronbendras zu berichten.“ „Machen wir uns nichts vor: Wir alle sind hier, weil wir uns erhoffen, nach den Jahren der Tyrannei in Skyler endlich einen würdigen Anführer zu finden“, räumte Ethan ein. „Einem Esch, der mit Avery an seiner Seite und uns als sein Sprachrohr, für Kandalar eine starke Allianz hinter sich weiß. Daher verstehe ich eure Ängste ehrlich gesagt nicht. Warum sich bei der Berichterstattung vor der Wahrheit verschließen? Die Stadtväter sind nicht befugt, euch den Kopf vom Rumpf zu trennen, nur weil ihr eine andere Meinung vertretet.“ „Ach nein? Wie nennst du es dann, wenn sie meinen Hof anzünden, Frau und Kinder in der brennenden Scheune festhalten, weil ich es gewagt habe mich gegen den Statthalter Faronbendras zu stellen?“ Vor Schreck über das soeben Gehörte glitt mir das Besteck aus der Hand, ein Geräusch wie ein Donnerschlag in der nun entstandenen Stille. Skyler und Ethan wechselten rasch Blicke miteinander. „Verzeih, davon wusste ich nichts“, gab Ethan entschuldigend zur Antwort. „Wer hat das getan, Koray?“, ergriff Skyler das Wort. „Ich habe sie nicht gesehen, Skyler, weil sie mir mit dem Knüppel eins übergebraten haben“, erklärte er mit bebender Stimme, im Begriff, die Beherrschung zu verlieren. Zitternd schob er seine verschwitzen Haare, die ihm wie ein Helm am Kopf hafteten, beiseite und ließ eine blutverkrustete Beule erkennen. „Doch sie hatten dafür gesorgt, dass ich rechtzeitig mein Bewusstsein erlangte, um das verzweifelte Hämmern der vom Feuer Eingeschlossenen zu hören, bis ihre Schreie mir fast den Verstand raubten.“ Die letzten Worte waren nur noch geflüstert. Seine Hand, die das angenagte Hühnerbein hielt, hämmerte wie Trommelschläge auf die Tischplatte ein, teilnahmslos in die Ferne blickend. Bei seinen ergreifenden Worten spulten sich Bilder in meinem Kopf ab, wie ich sie selbst vor wenigen Jahren erlebte. Nur zu gut verstand ich, was Koray gerade durchmachte. Von Gefühlen überwältigt, erhob ich mich, um ihn tröstend in die Arme zu schließen. Dies brachte ihn gänzlich aus der Fassung. Er vergrub den Kopf an meiner Brust und begann hemmungslos zu schluchzen. Ich hörte Stühle rücken. Einer nach dem anderen verließ diskret den Raum, doch nicht ohne vorher Korays Schulter stärkend zu klopfen oder einfach nur Trost spendende Worte zu murmeln. Ein jeder von ihnen griff in seine Geldkatze, brachte ein paar Münzen hervor, die er auf dem leeren Teller neben ihn fallen ließ, bis nur noch Skyler, Ethen und ich zurückblieben. Als Koray allmählich die Fassung zurückerlangte, wagte er nicht, Skyler in die Augen zu sehen. Ergriffen nahm ich meinen Platz neben Skyler wieder ein. Eine Entschuldigung murmelnd verließ schließlich auch Ethan den Raum. „Es tut mir leid, was dir widerfahren ist, Koray. Ich weiß, dass keiner meiner Worte deinen Verlust je zu lindern vermag. Aber sei versichert, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.“ Koray saß in sich zusammengesunken da. Als einziges Zeichen seines inneren Aufruhrs war das stetige Zittern seiner Hände wahrzunehmen. Skyler erhob sich und legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter, woraufhin er sich versteifte, die Hände zu Fäusten geballt. „Was kannst du denn schon tun?“, stieß er aufgebracht hervor. „Ich kenne weder ihre Namen noch ihre Gesichter.“ Die fleischigen Finger verhakten sich ineinander, als müsse er sie davor bewahren, etwas Unkontrolliertes damit anzustellen. Skyler brachte wieder etwas Abstand zwischen sie beide. „Ich will dich nicht bedrängen, Koray. Aber solltest du darüber reden wollen, lass es mich wissen, hm?“ Koray sah ihn flüchtig an, als wolle er noch etwas sagen, dann stand er wortlos auf und verließ den Raum. Skyler wartete, bis er außer Hörweite war, bevor mir sein Zorn entgegenschlug. „Wie konntest du ihn derart kompromittieren, Avery?“ „Ich? Was habe ich denn getan?“ „Ihn vor allen Ratsmitgliedern wie eine Amme an deine Brust zu nehmen, so dass er die Fassung verlor. Jetzt werden sie ihn für verweichlicht halten.“ „Bist du sicher, dass die anderen ihn so sehen, oder ist es eher die Eifersucht, die an dir nagt?“ Nur mühsam hielt ich meine Wut zurück. Uns gegenseitig anzuschreien machte keinen Sinn. „Du solltest mich inzwischen besser kennen, Avery.“ Seine peridotgrünen Augen sprühten Funken. Ich fragte mich, wem von uns beiden hier die Hormone durchgingen. „Offensichtlich nicht. Denn ich hätte dir mehr Mitgefühl für das Leid deiner Mitmenschen zugestanden.“ Schwungvoll erhob ich mich, wobei ich den Holzklotz unter mir umstieß, der mir als Schemel diente. „Selbstverständlich liegen mir ihre Ängste und Nöte am Herzen.“ Seine Stimme klang wieder milder. „Was erwartest du dann von mir? Dass ich wie ein einfältiges Schaf an deiner Seite sitze, brav meinen Mund halte und dich anhimmele?“ „Ganz sicher nicht. Du weisst, weswegen ich dich dabeihaben wollte. Weil du eine ausgezeichnete Beobachterin bist. Weil du in den Gesten der Menschen liest, so wie ich in deinem Gesicht jede Gefühlsregung ablesen kann.“ „Wenn du so gut darin bist, dann weißt du ja auch, was ich gerade empfinde.“ Ich presste meine Lippen aufeinander und funkelte ihn zornig an. „Ach, Avery.“ Er zog mich in seine Arme und strich mir sanft übers Haar. „Ich möchte ja nur, dass du nicht die Mutter aller bist. Sie sind gestandene Männer, deswegen habe ich sie ja ausgewählt. Wenn du sie jedoch wie kleine Jungen behandelst …“ „Auch ein erwachsener Mann sollte hin und wieder seinen Schmerz zeigen dürfen.“ Ich wand mich aus seiner Umarmung. „Was haben dir ihre Gesten überhaupt verraten?“, fragte er beiläufig. „Du bist ein erwachsener Mann und besitzt sicherlich mehr Menschenkenntnis als ich. Daher werde ich mich künftig wieder meinen Aufgaben widmen, statt die Gefühle gestandener Männer mit Füßen zu treten.“ Ich drängte mich an ihm vorbei. „Und was glaubst du, ist deine Aufgabe?“, rief er mir nach. „Heilerin zu sein, Skyler!“
„Ich will hoffen, dass du nicht nur hier vorbeischaust, wenn ihr beide euch streitet, Avery.“
Jodee maß mich streng, die Hände energisch in die Seiten gestemmt.
„Nein, es ist alles geklärt zwischen uns. Wie kann ich dir behilflich sein?“ Es lag mir fern, unseren Konflikt vor ihr offenzulegen.
Ihre dunklen Augen ruhten skeptisch auf mir. Doch kräuselten sich ihre vollen Lippen bereits zu einem angedeuteten Lächeln.
„Schön. Fangen wir also an, aus dir eine respektable Heilerin zu machen, wenn du denkst, dass dies deine wahre Bestimmung ist.“
Sie nickte mir aufmunternd zu, nahm ihre Tasche vom Haken, in der sie allerlei Heilkräuter und sonderbare Instrumente aufbewahrte und forderte mich auf, ihr zu folgen.
„Wohin gehen wir?“, fragte ich sie, als sie mich durch die staubigen Straßen Gullorways aus der Stadt hinaus zu den Feldern führte.
„Hm“, brummte sie nur.
„Was, hm?“
„Ich will dir etwas zeigen.“
Sie hielt an einem abgelegenen Feld.
„Warum hast du mir nicht gesagt, dass du einen Gewaltmarsch durch die Mittagssonne planst, dann hätte ich mir Wasser und vor allem einen Sonnenhut mitgenommen“, murrte ich.
„Entschuldige. Wasser habe ich dabei, aber an den Hut habe ich nicht gedacht.“
Sie kramte in ihrer Tasche herum und reichte mir stattdessen einen Seidenschal.
„Lege dir den einstweilen um Kopf und Schultern, ja?“
Ich griff nach dem angenehm kühlen Stoff und befolgte ihren Rat.
„Also, was tun wir hier draußen? Ich sehe keine Menschenseele, die unserer Hilfe bedarf. Wer vernünftig ist, zieht sich während der Mittagshitze in den Schatten zurück.“
Statt einer Antwort richtete sie ihren Blick stur geradeaus, die Augen gegen das gleißende Licht zusammengekniffen, als suche sie nach etwas. Ihre Schritte waren inzwischen nicht mehr so energisch. Schließlich blieb sie vor einer Ansammlung Disteln stehen, deren violette Blüten aus dem dornigen Gestrüpp hervorbrachen, als buhlten sie um unsere Aufmerksamkeit.
„Ringdisteln“, erklärte sie, sich dabei mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn wischend. Sie reichte mir auffordernd den Wasserschlauch, bevor sie selbst einen Schluck nahm.
„Sie helfen bei Schädigung der Leber und hemmen die Aufnahme von Toxiden in der Leberzelle. Und sie fangen hoch aktive und zellschädigende freie Radikale ab.“
„Was denn für Radikale? Meinst du Schläger?“ Ich lachte über diese seltsame Formulierung.
Jodee fiel donnernd in mein Lachen ein und schlug sich dabei auf die kräftigen Schenkel.
„Nein, Liebes. So nennt man aggressive Sauerstoff-Verbindungen, die die Körperzellen schädigen können. Durch die lange Dürre in unserem schönen Gullorway treten bereits Mangelerscheinungen bei der Bevölkerung auf. Uns fehlt frisches Obst und Gemüse, da es meist nur kümmerlich wächst, oder schon vor der Ernte verwelkt.“
Mit einer kleinen Harke grub sie die Ringdisteln aus dem steinharten Erdreich aus.
„Die Früchte im Mörser zerstoßen und mit sechzig prozentigem Kumbrael oder anderem reinem Alkohol versetzt ergibt eine Tinktur, die vier Wochen in einem Glas aufbewahrt werden muss. Hilf mir mal.“
Sie bat mich, eine Leinentasche offenzuhalten, um die Disteln darin zu füllen. Inzwischen glühten mir Gesicht und Arme wie Feuer. Schweiß rann aus sämtlichen Poren. Mein dünnes Leinenkleid klebte mir am Körper. Doch Jodee blieb unermüdlich in ihrem Handeln, als könne ihr die Hitze nichts anhaben.
„Der sich bildende Satz muss täglich geschüttelt werden“, klärte sie mich auf. „Nach vier Wochen entsteht eine Art Öl, welches man durch einen Filter gießen muss, damit die Rückstände im Sieb verbleiben.“ Sie erhob sich schwerfällig und gefährlich wankend, hatte sich aber sofort wieder in der Gewalt. Jodee trank gierig aus dem Wasserschlauch und hielt mir den Rest entgegen.
„Was ich damit sagen will, ist, wir haben hier die Möglichkeit eine Pflanze anzubauen, die uns Heilmittel und vitaminreiches Nahrungsergänzungsmittel zugleich ist. Verstehst du?“
Ich nickte lahm.
„Gut. Dann sammeln wir die Gewächse ein. Einige davon halten wir für Neupflanzungen zurück.“
Ich half ihr bei dieser Arbeit, bis mir Blitze vor den Augen zu zucken begannen.
„Jodee, können wir wohl mal eine Pause einlegen oder Schatten aufsuchen? Ich fühle mich nicht gut.“
„Oh. Entschuldige. Wie unaufmerksam von mir. Du hast ja einen feuerroten Kopf. Lass uns zurückgehen, dann gebe ich dir etwas gegen deinen Sonnenbrand. Du siehst tatsächlich wie eine überreife Tomate aus.“
Als wir Jodees Haus erreichten, war mir so übel, dass ich mich vor der Eingangstür erbrach. Mein Kopf fühlte sich an, als wäre er in einen Schraubstock gespannt. Mir schmerzte der Nacken. Erschöpft ließ ich mich auf einen Stuhl sinken.“
„Hier, trink das.“
Schuldbewusst sah sie mich an, goss mir einen Becher Wasser ein, den ich zitternd ergriff und in einem Zug leertrank. Als ich nach dem zweiten greifen wollte, wurde mir schwarz vor Augen und ich verlor das Bewusstsein.
„Was hast du mit ihr angestellt?“, hörte ich Skylers besorgte Stimme wie durch Watte.
„Ich hatte nicht darüber nachgedacht, dass sie keinen Sonnenschutz dabeihat“, antwortete Jodee kleinlaut.
„Musstest du mit ihr unbedingt in der Mittagshitze dieses Unkraut ausgraben?“, fuhr er sie an.
Ich spürte zwei angenehm kühle Hände an meiner Wange und kurz darauf ein nasses Tuch auf der Stirn. Blinzelnd öffnete ich die Augen.
„Was ist denn los?“, fragte ich benommen.
„Einen Sonnenstich hast du, und zwar einen ordentlichen. Wenn das deine Vorstellung einer Heilerin entspricht …“ Kopfschüttelnd winkte er ab.
„Ich habe da so gewisse Kräfte“, setzte ich zu einem lahmen Scherz an.
„Die wirst du auch benötigen, falls du dein Hirn nicht bereits verkocht hast.“
„Skyler“, bemühte sich Jodee, ihn zu beschwichtigen.
„Und gerade von dir hätte ich mehr Vernunft erwartet“, fuhr er sie ungewohnt schroff an. „Meine Frau ist schwanger, du erinnerst dich?“
Plötzlich flog die Tür auf und Mattwill stürmte herein.
„Jodee! Avery! Wir brauchen eure Hilfe! Schnell! Es geht um Koray.“ Sein jugendliches Gesicht war aschfahl.
„Geh nur, Jodee. Ich komme gleich nach.“
Während Jodee mit Mattwill nach draußen hasteten, setzte ich mich auf und konzentrierte mich auf meine Heilung. Mit Bedacht, da ich wusste, dass dieser Prozess auch genau das Gegenteil bewirken konnte. Es gelang mir nur schwer, mich darauf zu konzentrieren, da ich Skylers Ungeduld in den Augen las. Allmählich ließ der Kopfdruck nach. Die Übelkeit blieb. Ich fühlte mich soweit wiederhergestellt, dass ich mich erheben konnte, ohne wie eine Betrunkene zu torkeln.
„Wollen wir?“, fragte ich ihn und erhielt ein Kopfschütteln zur Antwort. „Frauen.“
Da Mattwill bei seinem Eintreffen nicht davon sprach, wo Koray zu finden sei, sandte ich meine Sinne nach ihm aus. Ich spürte eine Mischung aus Chaos und Resignation. Schließlich lieferte uns die Ansammlung neugieriger Gaffer den Fundort.
„Zurück! Tretet zurück, verdammt! Lasst die Heilerinnen ihre Arbeit verrichten!“, fuhr Skyler die Schaulustigen an, die gerade soweit zurückwichen, dass wir uns zu dem am Boden liegenden hindurchzwängen konnten. Aber wir trafen zu spät ein. Jodee kniete neben Koray, der mit verrenkten Gliedern in einer Blutlache lag, sein Körper von zahlreichen Messerstichen durchbohrt.
„Wer tut so etwas?“, stammelte ich.
Skyler warf mir einen scharfen Blick zu, der mich zu Besonnenheit mahnen sollte. In einer schlichten Geste fuhr er über Korays starre Augen, um die Lider zu schließen.
„Ungeheuerlich, wenn man sich nicht mehr auf die Straße wagen kann!“
„… am helllichten Tag!“
„Wo soll das noch hinführen?“
Die Menge geriet in Aufruhr, bis Skylers donnernde Stimme sie übertönte.
„Hat jemand gesehen, wer das getan hat?“ Er sah in die Runde. Verhaltenes Murmeln, doch wusste niemand etwas. „Keiner von euch will etwas gesehen haben, am helllichten Tag? Dann seid ihr sicher alle zur Hilfe geeilt, um dem Sterbenden beizustehen?“ Betretenes Schweigen und ausweichende Blicke.
„Ich kam gerade aus meinem Haus, als ich Koray aus einem Seitenweg taumeln sah“, meldete sich Mattwill betroffen zu Wort. „Ich habe zwar ein paar dunkelgekleidete Gestalten in unterschiedliche Richtungen davonrennen sehen, aber ich könnte nicht beschwören, dass sie was damit zu tun hatten.“
Jodee richtete sich resigniert auf. Stattdessen kniete ich mich widerwillig zu der Leiche nieder.
„Nein! Berühr ihn nicht!“ Energisch hielt Skyler mich zurück.
„Keine Angst, das werde ich nicht.“
Ich schloss die Augen, fuhr mit meinen Händen über Korays sterbliche Hülle, ohne ihn anzufassen. Befangen spürte ich die entweichende Wärme seines leblosen Körpers. Konzentriert lauschte ich auf die schwindenden Botschaften, die wie das rasche Flattern zahlreicher Flügelschläge zu mir drangen, begleitet von einem penetranten Summen in einer Frequenz, dass ich glaubte, mir platze das Trommelfell.
„Strafe … Verräter … aber ich habe doch nichts … dafür bezahlen.“Ich schnappte nur Wortfetzen auf. Als sie endeten, fühlte ich mich so erschöpft, als hätte ich einen Lauf von einem Ende zum anderen der Stadt hinter mich gebracht. Langsam begann sich mein Blick zu klären. Erwartungsvoll half mir Skyler wieder auf die Beine. Die Menge wich widerwillig zurück, eine Gasse bildend, durch die wir Korays Leiche fortschaffen konnten. „Sollte sich doch noch jemand erinnern, egal an was, bitte ich dies dem Rat oder mir mitzuteilen!“ Skyler gab noch einige Anweisungen, woraufhin sich ein paar der Männer rasch entfernten, um kurz darauf mit Harken und Reisigbesen zurückzukehren. Sie bearbeiteten den vom Blut dunkel gefärbten Lehmboden, bis nichts mehr auf die schändliche Tat hindeutete. Dann winkte er Mattwill zu sich, raunte ihm etwas ins Ohr. Er nickte und eilte davon. Allmählich begann sich die Menge aufzulösen. Das Schauspiel war zu Ende. „Ich konnte nichts für ihn tun, Skyler.“ Nervös legte Jodee sich ihre sorgsam geflochtenen Zöpfe wie einen Schal um den Hals. „Ich weiß, du hast dein Bestes gegeben. Lasst uns gehen.“ Schweigend begaben wir uns auf den Heimweg. Der Schrecken saß tief. „Was hast du gehört?“, fragte Skyler mich, kaum dass wir unser Haus betraten. Ich schilderte ihm die wenigen Worte, aus meiner Vision. „Konntest du in Erfahrung bringen, wer gesprochen hat?“ „Drei unterschiedliche Stimmen, wobei ich eine Koray selbst zuordnen würde. Sicher bin ich mir nicht. Ich habe so etwas noch nie vorher getan, Skyler. Den Geist eines Verstorbenen befragt.“ Mir sträubten sich noch jetzt die Nackenhaare, wenn ich nur daran dachte. Bei den Javeérs lernte ich diese Fähigkeit, doch niemand bereitete mich darauf vor, wie es sein würde, die Stimme eines Toten zu hören. Ich wusste nur, dass es innerhalb weniger Minuten geschehen musste, bevor die Informationen für immer verloren gingen. Dennoch empfand ich es als großes Unrecht, dies zu tun. „Und was hast du in ihm lesen können, Jodee?“ Es war das erste Mal, dass Skyler Jodee in ihrer Funktion als Seherin in meiner Gegenwart befragte und nicht als Heilerin. Unwillkürlich sah ich zu dem tätowierten Auge auf ihrem Oberarm. Und als hätte Skylers Frage einen Hebel umgelegt, warf sie ihren Kopf in den Nacken. Die langen Rastalocken flogen klackend nach hinten. Die Augäpfel rollten nach oben, bis praktisch nur noch das Weiße darin zu sehen war. „Ich habe dich gewarnt“, sprach sie mit einer Stimme, die nicht die ihre war. Tief und bedrohlich, wie die eines Mannes, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen. Es mutete erschreckend an, die Worte aus ihrem Mund fließen zu hören, als bediene sich jemand anderes ihres Körpers. „Wer sich gegen mich stellt, stirbt.“ „Sagt wer?“, wandte Skyler sich an die Geisterstimme aus Jodees Mund. Ihr Kopf ruckte mit einem unangenehmen Knacken in seine Richtung. Ein boshaftes Lachen erklang, dann floss der Haarschopf wieder ihren Rücken hinab. „Finde es selbst heraus – wenn du noch lange genug lebst.“ Scheppernd stolperte ich gegen einen Stuhl. Jodee erwachte daraufhin aus ihrer Trance, massierte sich den Nacken, als sei er verspannt. Skyler wirkte ungehalten, da mein Missgeschick den gruseligen Wortwechsel vorzeitig beendete. „Wessen Stimme haben wir soeben gehört? Und wie hast du das angestellt, Jodee?“, sprudelte es aus mir hervor. Sie sah kurz zu Skyler auf, als müsse sie sich erst seine Erlaubnis holen. Er nickte kaum merklich und in dem Moment wurde ich gewahr, wie wenig ich von den beiden wusste. Von Jodee, meiner einzigen Freundin und Skyler, meinem Mann. Ich fühlte mich plötzlich ausgeschlossen. Angriffslustig reckte ich das Kinn nach vorn und verschränkte die Arme vor der Brust. „Jodee, ich höre!“, forderte ich sie auf. „Nun, ähnlich wie du, vermag ich es, Dinge zu sehen. Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit.“ Sie fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die vollen Lippen. „Ich weiß nicht, woher ich diese Gabe besitze.“ Versonnen strich sie über ihr Tattoo, ein Auge, dass sie als Seherin auswies. „Mein Zugesprochener erkannte dieses Potential in mir. Und später war es Skyler. Niemand außer euch weiß davon.“ „Und so soll es auch bleiben.“ Er sah mich eindringlich an. „Wie du am eigenen Leibe erfahren hast, Avery, bedeuten solche Gaben oftmals einen Fluch für den, der sie besitzt. Wie der tragische Vorfall mit Koray zeigt, schrecken unsere Widersacher vor nichts zurück, um nach der Macht zu greifen.“ Wie ein Heerführer schritt er durchs Zimmer, verharrte einen Moment vor dem Fenster, als suche er die Antworten in der Ferne. Mit undurchdringlicher Miene wandte er sich wieder um. „Koray wird nicht das letzte Opfer im Kampf um die Herrschaft Kandalars bleiben. Vielen ist es ein Dorn im Auge, dass ich mich um das Amt des Eschs bewerbe. In den Augen der Stadtväter bin ich bloß ein Emporkömmling, ein Wilder, nicht würdig ein Land zu regieren. Bestenfalls gut genug, ihnen Pöbel und Unruhestifter vom Leib zu halten.“ Er trat energisch aus dem Schatten hervor. „Euch hingegen wissen sie nicht einzuschätzen, kennen euch nur als Heilerinnen und“, sein durchdringender Blick ruhte auf mir, „die Sage von dem Mädchen mit dem Flammenhaar scheint ihren Mythos verloren zu haben, jetzt, wo es die Herren von Kandalar nicht mehr gibt.“ Zärtlich strich er mir über die Wange. „Die Menschen vergessen schnell, wem sie ihr Leben verdanken, wenn es ihnen wieder besser geht. Nutzen wir also diesen Vorsprung, bevor sie beginnen, ihr Gehirn wieder einzusetzen. Sei also meinetwegen Heilerin, wenn du willst, Avery.“ Seine Kiefer mahlten aufeinander. „Ich interpretiere die letzten Gedanken, die ihr aus Korays schwindendem Geist eingefangen habt dahingehend, dass er getötet wurde, weil er sich auf meine Seite schlug. Da er aus Faronbendras stammte, könnte es sein, dass der oder die Auftragsmörder ebenfalls von dort kamen.“ „Was ist mit deinem Rivalen Woodrow oder jedem anderen aus den zehn wahlberechtigten Stadtbezirken Kandalars?“, gab ich zu bedenken. „Dann müssen wir Gullorway ebenfalls in Betracht ziehen.“ Spöttisch schnellte eine Augenbraue in die Höhe. Ich zuckte mit den Schultern. „Gut. Sehen wir zu, dass wir Koray wenigstens ein angemessenes Begräbnis verschaffen.“
Das Bestattungsritual verlief am nächsten Tag ohne weitere Zwischenfälle.
„Du bist mir noch eine Antwort schuldig, Avery“, wandte sich Skyler an mich, als wir wieder daheim waren.
„Zu welcher Frage?“ Ich lehnte mit verschränkten Armen am Türrahmen und beobachtete ihn verzückt dabei, wie er sich aus seiner festlichen Kleidung schälte.
„Gestern Morgen, als du die Ratsmitglieder beobachtet hast. Was hast du in ihren Gesten gelesen?“
Ich dachte kurz nach. „Jared, das ist der Scout aus Ludimnis, richtig?“
Skyler nickte, ließ sich aufs Bett sinken und klopfte auffordernd neben sich. Nur zu gern schlüpfte ich unter die Bettdecke, um mich an ihn zu schmiegen.
„Auch wenn er dir versicherte, dass seine Männer ergeben hinter ihm stehen, statt hinter dem Statthalter von Ludimnis, verrieten mir seine Gesten das Gegenteil. Bei Dannis war es ähnlich. Er neidet dir unser neues, großzügiges Haus und fällt im gleichen Moment über den in Ungnade gefallenen Statthalter Timno Thebens und seine Weibergeschichten her, um dir zu schmeicheln. Ethan dagegen schätze ich hundertprozentig loyal ein.“
„Ich wusste, dass ich auf deine Fähigkeiten bauen kann.“
Seine Fingerspitzen fuhren nachdenklich an meinem Kinn entlang, zeichneten die Konturen meiner Lippen nach.
„Du siehst den Menschen hinter seinen Worten.“
„Außer bei dir. Da muss ich mich in deinem Kopf aufhalten, wenn ich aus dir schlau werden will.“
Er stützte sich auf seine Ellenbogen und betrachtete mich versonnen. „Was könnte ich dann jetzt wollen? Ohne – dass du meine Gedanken liest.“
„Eine einfache Aufgabe. Diesmal stehen dir deine Gedanken ins Gesicht geschrieben.“
Mein Herz pochte in freudiger Erwartung.
„Ist das so?“
„Eindeutig.“