Читать книгу Das Mädchen mit dem Flammenhaar - Janet Borgward - Страница 5
Verrat
ОглавлениеDie folgenden Wochen und Monate verliefen ereignislos. Korays Meuchelmörder blieben unentdeckt. Selbst in meinen Visionen gelang es mir nicht, ihren Auftraggeber zu bestimmen. Ob aus Timno Theben oder anderen Städten, sie mochten genauso gut aus den umliegenden Dörfern oder Clans angeworben worden sein. Bei guter Bezahlung waren die Menschen zu fast allem bereit, erschienen wie dunkle Schatten und verschwanden ebenso unerkannt.
Während Skyler sich weiterhin auf seine Wahl als Esch vorbereitete, dazwischen die Bauarbeiten unseres Hauses beaufsichtigte, damit wir bald dort einziehen konnten, spannte Jodee mich ein. Endlich schien ich am Ziel meiner Träume, auch wenn noch Welten davon entfernt, eine Heilerin von ihrem Format zu sein. So saugte ich das Wissen, dass sie mich lehrte, auf wie ein Schwamm. Zusätzlich bildete sie weitere Frauen als Helferinnen aus, da wir unmöglich zu zweit eine ausreichende Versorgung für eine Stadt dieser Größenordnung abdecken konnten. Selbst diese Zahl war lächerlich gering, doch deutlich höher als in anderen Provinzen. Sobald die Frauen und Mädchen über die grundlegenden Dinge der Heilkunst verfügten, sollten sie wiederum weiteren helfenden Kräften ihr Wissen vermitteln.
Wenn ich keine Kräuter ansetzte, Hausbesuche absolvierte oder mich mit theoretischen Fragen der Heilkunst beschäftigte, begab ich mich auf die Felder, um den Anbau von Jodees Disteln zu überwachen. Ich pflanzte neue Gemüsesorten an, perfektionierte die Bewässerungsanlagen. Mein Leben war ausgefüllt.
Skyler sah ich meist erst am Abend, da ihn sein Amt als Statthalter Gullorways stark beanspruchte. Nur noch selten begleitete ich ihn zu Ratssitzungen, sehr zu seinem Unmut, da ihm mein Urteil im ‚Menschenlesen‘, wie er es nannte, fehlte.
„Heute hätte ich dich gern an meiner Seite gesehen, Avery.“
Sein nachlässig über die Stuhllehne geworfener Ratsherrenumhang glitt zu Boden. Als ich ihn aufheben wollte, durchfuhr mich ein stechender Schmerz. Pulsierendes Ziehen in der Leistengegend zwang mich in die Knie.
„Was ist mit dir, Avery?“
Skyler eilte zu Hilfe. Wirkte sein Gesicht eben noch angespannt von dem langen Tag, las ich jetzt Sorge darin.
„Ich … weiß es nicht.“ Unwillkürlich legte ich die Hände schützend auf die inzwischen nicht zu übersehende Wölbung meines Bauches. Das Ziehen wurde intensiver.
„Ich hole Jodee!“ Skyler lief bereits zur Tür.
„Warte, es geht sicherlich gleich vorüber.“
„Keine Widerrede!“
Er hastete nach draußen. Schwindel erfasste mich, kaum, dass ich mich in Krämpfen windend erhob. Haltsuchend packte ich nach der Stuhllehne. Mit zitternden Händen goss ich mir einen Becher voll Wasser ein. Die kühle Flüssigkeit belebte meine Sinne und der Schwindel ging vorüber. Als Skyler mit Jodee hereinstürmte, hatte ich mich wieder einigermaßen in der Gewalt.
„Beschreib mir die Anzeichen!“, verlangte Jodee, indes ihre Hände über meinem Bauch schwebten. Sie wirkte entspannt, also schien es nichts Dramatisches zu sein. Skyler hingegen gab das reinste Nervenbündel ab. So kannte ich ihn gar nicht.
„Setz dich hin oder bereite das Geflügel vor, dass ich draußen zum Abhängen gesehen habe, aber stehe mir hier nicht im Weg rum, Skyler!“
„Wie schlimm ist es?“, fragte ich sie, kaum dass Skyler den Raum verließ.
Jodee tätschelte mir beruhigend die Hand.
„Alles gut, würde ich sagen.“ Sie strahlte übers ganze Gesicht.
Skyler kam zurück. In der einen Hand zwei schlaffe Hühner, in der anderen einen Holzeimer, sah er mit unruhigem Blick zu uns herüber.
„Wäre gut, wenn du die Federn von den dürren Dingern rupfst. Vielleicht bleibt dann noch was zu essen übrig“, wies Jodee ihn an und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.
Es war offensichtlich, dass sie ihn beschäftigen wollte, weil er sie nervös machte. Ich bewunderte sie für ihre Courage, binnen Sekunden das Zepter in die Hand zu nehmen, uns beide dabei im Auge behaltend wie eine Glucke. Skyler schob missmutig einen Topf mit Wasser auf die Kochstelle, uns weiterhin beobachtend.
„Es ist nichts, worüber ihr euch sorgen müsstet.“
Sie warf einen knappen Blick über die Schulter zu Skyler hin. Dann richtete sie ihre kugelrunden, fröhlichen Augen wieder auf mich.
„Nach meinen Berechnungen bist du jetzt Anfang des fünften Monats, schätze siebzehnte oder achtzehnte Schwangerschaftswoche. Was du eben empfunden haben dürftest, waren die ersten Wehen. Dein Körper trainiert sozusagen schon für den Ernstfall.“
Wie sie es sagte, klang es unspektakulär. Beruhigend.
„Das wird sich in den nächsten Wochen noch einige Male wiederholen. Kein Grund, sich zu fürchten. Eure Mädchen müssten jetzt in etwa so groß sein“, sie maß mit ihren kleinen Händen eine Handspanne. „Dein Bauch wird nun immer runder werden, wobei ich mich frage, wie du es anstellst, weiterhin so schlank zu bleiben. Isst du überhaupt genug?“
Ihr kritischer Blick glitt über meine Statur.
„Nun“, setzte ich an.
„Skyler?“
Er zuckte wortlos mit den Achseln und schwenkte das Huhn im siedend heißen Wasser, damit sich die Federn später leichter abrupfen ließen.
„Isst sie genug?“, fragte sie mit Nachdruck.
Skyler schüttelte den Kopf, als frage er sich, was er hier überhaupt tat, blieb ihr aber die Antwort schuldig. Ungehalten zog er das Geflügel aus dem Wasser, rückte sich einen Schemel zurecht und begann es zu rupfen.
„Hm“, brummte Jodee und wieder an mich gewandt: „Es ist wichtig, dass du dich ausgewogen ernährst. Da du kein Fleisch isst, musst du mehr als sonst Fisch, Geflügel, Linsen und grünes Blattgemüse zu dir nehmen, um den Eisenhaushalt aufrechtzuerhalten. Kriegst du das hin, Avery?“
Ich nickte ergeben, obgleich sich eine neue Welle im Unterleib einstellte, stärker diesmal. Allmählich bekam ich eine Vorstellung von dem Ernstfall, den mein Körper trainierte.
„Hast du Blutungen?“, fragte Jodee unumwunden.
Ich sah sie erschrocken an.
„Was? Nein.“
„Gut. Aber du solltest dir weniger Arbeit zumuten, mehr Pausen einlegen und vor allem die Beine von Zeit zu Zeit hochlegen.“
Sie zwinkerte mir aufmunternd zu, wobei sie mir einen Teil der Sorgen abnahm. Zum Abschied nahm sie mich kurz in den Arm.
„Bald wirst du deine Mädchen spüren können“, raunte sie mir zu und verließ mit schwingenden Hüften das Haus.
Ich nahm mir das andere Huhn aus dem Wasser und gesellte mich schweigend zu Skyler. Die Küche sah aus, als wären die Viecher in unseren Händen explodiert. Überall flogen Federn herum. Plötzlich musste ich lachen über dieses groteske Bild.
„Hoffentlich werden unsere Mädchen nicht solch hässliche Glucken wie die hier.“
Ich hob den nackten Hals des Huhns in meiner Hand und wackelte spielerisch damit. Skylers Mundwinkel entspannten sich ein wenig.
„Du hast mir einen mächtigen Schrecken eingejagt, Avery.“
„Das tut mir leid. Es ist alles so neu für mich.“
„Wie fühlst du dich sonst?“
Ich horchte auf. In dieser Frage lag mehr als bloße Sorge um meine körperliche Verfassung.
„Gut, soweit. Warum fragst du?“
Er zupfte sich eine lästige Haarsträhne von der Stirn, um sie sich hinters Ohr zu klemmen. Die zahlreichen Piercings darin reflektierten das Licht der untergehenden Sonne und ließen ihn verwegen aussehen.
„Ich muss morgen nach Timno Theben aufbrechen.“ Er sagte das so beiläufig, als rede er vom Wetter. „Die Wahlen stehen kurz bevor und werden in der Golden Stadt abgehalten. Ich lasse dich nur ungern in einem kritischen Zustand zurück.“
„Schon morgen? Warum Timno Theben?“ Ging es nicht noch weiter weg? Ärger überkam mich. Ich wollte ihn in meiner Nähe wissen. „Außerdem kann ich dich doch begleiten.“
„Ich brauche dich hier, Gen-Dom!“
„Gen-Dom?“, hakte ich nach.
„Heilerin. Wie gesagt, bei der heutigen Ratssitzung hätte ich dich gerne dabeigehabt.“
Gewissenhaft rupfte er das Huhn zu Ende, ohne mich dabei anzuschauen. Die Arbeit ging ihm flink von der Hand.
„Das ist nicht der wahre Grund, richtig?“ All meine Sinne standen auf Alarm. „Ist etwas vorgefallen?“
„Leart ist tot. Man hat ihn auf dem Speicher seines Hauses gefunden. Erhängt.“
Ich schlug mir vor Schreck die Hand vor den Mund und ließ das Huhn zu Boden gleiten. Leart war mit seiner jungen Familie vor einem knappen Jahr nach Gullorway gezogen. Er hinterließ ein nicht mal einjähriges Mädchen und seine schwangere Frau.
„Und Annie?“
Skyler schüttelte kaum merklich den Kopf.
„Sie hat das Kind verloren, kurz nachdem sie Leart fand. Es geht ihr nicht gut.“
Er sah mich an, Smaragd Augen, dunkel und bedrohlich, bevor sie wieder das klare Grün eines Peridots annahmen. Jetzt verstand ich seine übertriebene Sorge von soeben. Ich wischte mir die Hände an einem Küchentuch ab und schloss ihn in meine Arme.
„Oh Fra-Leschart. Sag mir, ist es das wert?“
„Noch vor Wochen hätte ich gesagt, ja. Für ein freies Kandalar, für dich, für mich, für unsere Kinder.“
Leidenschaftlich presste er mich an seine stählerne Brust, dass mir die Luft wegblieb.
„Er hat sich nicht selbst getötet, musst du wissen.“
Verständnislos sah ich ihn an.
„Jemand hatte ihm mit einem spitzen Gegenstand ‚Verräter‘ in den Arm geritzt.“
Ein Schauder durchfuhr mich. Ich hatte es in Korays letzten Gedanken gelesen. Von wem mochten sie stammen?
„Verstehst du?“ Er hob mein Kinn an. „Irgendjemand versucht meine Anhänger zu dezimieren, Angst und Schrecken zu verbreiten, um sie gegen mich aufzuwiegeln.“ Er fasste mich grob bei den Schultern. „Ich bin umgeben von Feinden, von denen ein jeder der Mörder sein könnte.“
„Woher willst du wissen, dass es einer von den Ratsmitgliedern ist?“
Er lockert den Griff wieder, strich mit dem Daumen entschuldigend über die Druckstellen, als könne er sie auf diese Weise fortwischen.
„Ich weiß es natürlich nicht mit Bestimmtheit. Deshalb wollte ich dich heute dabeihaben, weil du in ihren Gesten und Gedanken liest.“
In meinem Kopf herrschte Aufruhr.
„Es wäre viel zu gefährlich, das zu tun. Früher oder später würden sie es bemerken.“
„Ich weiß, dass du es kannst, ohne dass dein Gegenüber davon etwas mitbekommt.“
Sein Vertrauen in meine Fähigkeiten ehrte mich, doch wollte ich den Bogen nicht überspannen. Es behagte mir schlichtweg nicht, dass er sich ohne mich auf den Weg begeben wollte.
„Wer begleitet dich nach Timno Theben?“, fragte ich daher.
„Zwei Männer aus dem Rat und eine Hand voll Wachen. Ich will keine zu große Aufmerksamkeit erregen. Aber dich allein hier zu wissen …“
„Ich kann selbst auf mich aufpassen, Skyler, wenn es das ist was dir Sorgen bereitet“, gab ich mich zuversichtlich.
„Ist das so? Du gibst ja noch nicht einmal auf deinen eigenen Körper acht!“
In seiner Stimme schwang eine Mischung aus unterdrückter Wut und Angst mit.
„Ich gelobe Besserung, versprochen. Schließlich werde ich die künftige Guhlant sein oder etwa nicht?“, bemühte ich mich, die angespannte Situation zu entschärfen.
„Das wirst du, bei den Göttern, das wirst du.“
Seine Lippen pressten sich verzweifelt auf die meinen. Ich erwiderte seine Küsse, sanfter, beruhigend. Wir taumelten zum Küchentisch hinüber, wie betrunkene. Hände, die wie Schlingpflanzen umeinander griffen, Haut, die aneinander rieb. Ich spürte die unnachgiebige Tischplatte in meinem Rücken, einen Holzteller, der mir ins Rückgrat bohrte.
„Entschuldige“, nuschelte Skyler in mein Haar hinein, brachte den Teller hinter meinem Rücken hervor, fegte ihn scheppernd vom Tisch.
Wie ein Orkan fegte er über mich hinweg. Ließ mich erbeben, eins ums andere Mal. Sein erlösender Schrei drang mir durch Mark und Bein, wie die Urgewalten einer vergangenen Zeit. Als sich der innere Sturm legte, richtete er sich wieder auf und sah mich entschuldigend an.
„Verzeih mir Montai, ich …“
Ich ließ die Beine hinabgleiten und kam umständlich wieder zum Stehen.
„Da ist nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest, Fra-Leschart.“
Sanft küsste ich ihn auf die Nasenspitze. Jede Faser seines Körpers wollte ich mir einprägen. Wäre es heute das letzte Mal, dass ich ihn sah, wollte ich mich so an ihn erinnern: stark, unerschütterlich. Mein Mann, der Vater unserer Kinder.
Da ich wusste, dass Skyler Abschied hasste, war ich nicht verwundert, seinen Platz neben mir im Bett leer vorzufinden. Er brach irgendwann in den frühen Morgenstunden auf. Nur ein flüchtig gehauchter Kuss, zärtlich gemurmelte Worte, Sekunden eines süßen Traums.
„Du stiehlst dich also einfach davon“, unternahm ich einen Versuch, ihn mittels meiner Gedanken zu erreichen. Es dauerte Ewigkeiten, wie mir schien, bis er antwortete. „Es ist nicht leicht für mich, ohne dich zu sein, Montai, das weißt du, oder?“Wie ein warmer Strom durchflossen seine Worte meine Synapsen. „Aber ich freue mich, wenn du mich in Gedanken aufsuchst.“Unwillkürlich musste ich lächeln. Es war, als stünde er direkt vor mir, so deutlich vernahm ich seine Stimme in meinem Kopf. „Sei vorsichtig, ja? Ich behalte dich im Auge.“„Ich dich auch.“Tatsächlich konnte ich seinen intensiven Blick beinahe spüren. Ich fühlte mich geborgen, obwohl er nicht bei mir war. Ich schwang die Beine aus dem Bett und schlüpfte in ein einfaches Leinenkleid mit einem Kittel darüber. Auf Jodees Anraten hin, ließ ich mir einige Kleidungsstücke anfertigen, die mir im Hinblick auf meine bevorstehende Leibesfülle in den folgenden Monaten genügend Bewegungsfreiheit versprachen. Dennoch sehnte ich schon jetzt den Tag herbei, in Hosen bekleidet umherzulaufen, die mir wie eine zweite Haut waren. Ich bereitete mir rasch ein Frühstück zu. Im Anschluss daran überprüfte ich die Vorräte und begab mich zu Jodee, um mit ihr die offenen Aufgaben zu besprechen. „Du kannst gern während Skylers Abwesenheit bei mir wohnen, wenn du magst. Dann musst du nicht alleine speisen. Außerdem erfreue ich mich daran, jemandem zum Reden zu haben“, bestürmte Jodee mich, kaum dass ich ihr Haus betrat. „Gern. Und wenn du mal einen Wohnungswechsel benötigst …“ Sie lachte herzhaft. „Danke, aber ich lebe am liebsten in meinen eigenen vier Wänden. Apropos eigene vier Wände. Sollte euer neues Heim jetzt nicht bald fertig sein?“ Sie bündelte Kräuter und hing sie an einem Gestell unter der Decke zum Trocknen auf. Zwischenzeitlich rührte sie mit einer hölzernen Zange in einem Bottich herum, in dem Leinenstreifen kochten, die sie als Verbandmaterial benutzte. Ich kannte Jodee nur in Bewegung. Selten gönnte sie sich Ruhe. „Ja. Ich werde später vorbeischauen, damit die Handwerker keine Pause bis zu Skylers Rückkehr einlegen.“ „Gut. Aber nimm dir einen der Herren aus dem Rat mit, besser zwei. Sie müssen sehen, dass die Geschäfte weiterlaufen, auch wenn Skyler nicht in der Stadt ist. Hat er Vorkehrungen für die Zeit seiner Abwesenheit getroffen?“ „Er wird ja nicht ewig fortbleiben“, wich ich ihrer Frage aus. Tatsächlich hatten wir nicht darüber gesprochen, wie seine Vertretung zu regeln sei. Jodee sah mich ungläubig an. „Du meinst, er hat sich einfach nach Timno Theben begeben, ohne diese Dinge mit dir zu besprechen?“ Eine haarlose Augenbraue formte sich zu einem ausgeprägten, umgedrehten U. „Er schien sehr in Eile zu sein. Die Wahlen finden in knapp einem Monat statt. Er ist nur wegen mir länger geblieben.“ Sie sah mich weiterhin skeptisch an. „Selbst, wenn Skyler Tag und Nacht durchreiten würde, benötigt er fast zwei Wochen“, verteidigte ich seinen überstürzten Aufbruch. „Hm. Jedenfalls kann es nicht schaden, wenn du präsent bist, bevor jemand anderer seine Abwesenheit nutzt, um an seinem Stuhl zu sägen.“ „Ich werde mich später im Gemeindehaus sehen lassen“, ließ ich mich hinreißen. Jodees kohlrabenschwarze Augen ruhten auf mir. Der Humor darin war verflogen. „So lange würde ich nicht warten. Ich schätze, das ist seine Art dir zu sagen, wo dein Platz ist. Verstehe mich nicht falsch, Avery, aber er scheint sich immer noch nicht damit abzufinden, dass du deinen eigenen Kopf hast und Heilerin sein willst. In erster Linie bist du die Frau des Statthalters von Gullorway und Botschafters von Kandalar. Sollte er als Esch zurückkehren, bist du die Guhlant an seiner Seite. Er hat dich ins kalte Wasser geworfen, würde ich sagen.“ Selten kommentierte sie Skylers Absichten mit solcher Deutlichkeit. Es ärgerte mich mal wieder von ihm ferngesteuert zu werden. „Was soll ich deiner Meinung nach unternehmen?“ Meine Stimme klang eisiger als beabsichtigt. „Wie würde Skyler jetzt vorgehen?“, stellte sie mir eine Gegenfrage, ohne sich ihre gute Laune nehmen zu lassen. Ich beneidete sie um ihre Gelassenheit. „Womöglich einen Berg von Bettelbriefen lesen, seine Ratsmitglieder herumkommandieren, die Baustelle beaufsichtigen und Annie besuchen.“ „Annie?“ Jodee stutzte. Wusste sie noch nichts von dem tragischen Ereignis? Kurz setzte ich sie ins Bild. „Das gefällt mir überhaupt nicht.“ Nachdenklich kratzte sie sich am Kopf. „Wir ändern die Reihenfolge und besuchen Annie sofort!“ Sie griff nach der Ledertasche, die heilende Medizin für Notfälle enthielt und forderte mich auf, ihr zu folgen. Mittlerweile besaß ich einen ebensolchen Beutel, um neben den mir eigenen Fähigkeiten gerüstet zu sein. Wir durchliefen die staubigen Straßen Gullorways, die sich allmählich zu füllen begannen. Pferdekarren rumpelten an uns vorbei, vom Bäcker wehte ein angenehmer Duft nach frischem Brot zu uns herüber. „Geh schon vor, ich nehme noch einen Laib Brot mit und komme nach“, beschloss Jodee und stapfte zum Bäcker hinein. Annies Haus lag eingepfercht zwischen dem des Färbers und des Zimmermanns. Noch bevor mich der strenge Geruch der Färbemittel erreichte, stachen mir die leuchtenden Farbtöne der zum Trocknen aufgehängten Stoffe ins Auge. Auf mein Klopfen hin öffnete die Frau des Färbers, eines ihrer Kinder an der Hand und einen Säugling auf dem Arm tragend. „Den Göttern sei Dank, dass du vorbeischaust“, begrüßte sie mich. Sie wirkte erschöpft. „Annie ist oben, will nicht reden und nicht essen, das arme Ding. Kommst du klar?“ „Ja. Jodee ist auf dem Weg. Danke, dass du dich um sie gekümmert hast. Grüße mir deinen Mann.“ Sie nickte knapp und stahl sich erleichtert an mir vorbei. Oben hörte ich das Weinen eines Kindes. Mit Schritten wie Blei trat ich die abgewetzten Holzstufen hinauf. Ich fand Annie in ihrem Bett vor, die Haare um den verschwitzten Kopf verwirbelt, den Blick starr zur Decke gerichtet. Bei meinem Eintreffen schwoll das Babygeschrei an. In einer hölzernen Kiste am Fußende entdeckte ich die Urheberin dafür. „Du bist“, ich überlegte kurz, dann fiel mir der Name des Mädchens wieder ein. „Hannah, richtig?“ Ich besaß keinerlei Erfahrung im Umgang mit Kleinkindern, hoffte aber, dass meine Anwesenheit beruhigend auf Mutter und Kind wirkten. „Wie fühlst du dich, Annie?“, wandte ich mich an die junge Frau. Sie mochte höchstens siebzehn sein, doch hinterließ das Leben bereits erste Spuren in ihrem Gesicht. Die Wangenknochen wirkten eingefallen, die Haut fahl. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen. „Wie würdest du dich fühlen, wenn du deinen Mann und dein ungeborenes Kind verloren hättest?“ Schmerzerfüllte Augen glitten zu meinem gewölbten Bauch. Eine einsame Träne bahnte sich ihren Weg über ihr hohlwangiges Gesicht, bevor sie den Kopf wegdrehte. „Es tut mir leid, Annie“, flüsterte ich. Unbeholfen drückte ich ihre eiskalten Hände, strich ihr die Haare aus dem Gesicht. “Mir fehlen die Worte, doch ich teile deinen Schmerz.“ Ich nahm sie in den Arm. Sie ließ es geschehen. Hoffnungslosigkeit und Trauer in mich aufnehmend, bemühte ich mich zuversichtlich zu klingen. Herannahende Schritte, dann tauchte Jodee im Türrahmen auf. „Essenszeit. Ich habe frisches Brot, Honig und ein paar Haferflocken mitgebracht.“ Trotz der angespannten Lage verbreitete sie Optimismus. „Avery, nimm Hannah mit in die Küche! Mach einen Topf Milch mit Honig warm und gebe ein paar Haferflocken dazu. Mutter und Kind können bestimmt etwas zu essen vertragen. Was sagst du dazu, Annie?“ „Wenn du meinst.“ „Gut. In der Zwischenzeit würde ich dich gerne genauer untersuchen.“ Annie blickte müde drein, auch wenn sie nicht mehr so resigniert. Ich hatte ihr ein wenig von meiner Heilung übertragen. „Avery?“ Jodees Stimme klang ungeduldig. „Bin schon unterwegs.“ Ich hob Hannah aus ihrem improvisierten Bett, griff nach einer Lumpenpuppe mit nur einem Arm, die neben der Kiste lag. „Komm, wir kochen dir und Mama etwas Leckeres zu essen.“ Hannah ließ sich widerstandslos von mir forttragen. Die Puppe unter dem Arm geklemmt, fasste sie mit der freien Hand nach meinen Haaren und zog interessiert daran. Ich setzte sie auf dem Küchenboden ab und bereitete das einfache Mahl zu. Auf der Suche nach Tellern und Löffel, plapperte ich unnützes Zeug vor mich hin, nur, um nicht an das denken zu müssen, was Annie widerfahren war. Erleichtert sah ich sie wenig später gemeinsam mit Jodee die Treppe herunterkommen. Wir nahmen um den Tisch herum Platz. Hannah begann wieder zu weinen, woraufhin Annie sie erschöpft auf den Schoß hob. Lustlos tunkte sie ein Stück Brot in ihren Teller, ohne jedoch etwas zu sich zu nehmen. „Du musst essen und viel trinken, Annie“, mahnte Jodee. „Du hast viel Blut verloren und musst wieder zu Kräften kommen.“ „Wozu? Die Götter haben mir alles genommen.“ „Du hast ein Kind, das dich braucht, und wir brauchen dich auch“, wandte ich mich sanft an sie. „Du nimmst einen Platz in unserer Gesellschaft ein, die nur funktionieren kann, wenn alle zusammenhalten.“ Während des Essens bemühten Jodee und ich uns um eine unbeschwerte Konversation, doch bald schon hüllte uns der Mantel aus Trauer wieder ein. Ich setzte dazu an, den Tisch abzuräumen, weil ich nicht länger untätig herumsitzen wollte. „Lass gut sein, Avery“, wandte Annie ein. „Wir sind für dich da, wenn du etwas benötigst. Ich werde heute Abend nochmals nach dir sehen!“, versicherte ich ihr. „Ich weiß nicht.“ „Aber ich weiß es!“ Ich warf Jodee einen auffordernden Blick zu, die sich daraufhin erhob. „Du hast gehört, was die Frau des Statthalters gesagt hat. Stoße sie nicht vor den Kopf, hm?“ Sie tätschelte ihr zum Abschied die Wange. Die Hand am Türgriff hörte ich ein leises „Ich denke darüber nach.“ Es war also noch nicht alles verloren. „Nächster Punkt der Tagesordnung: Du gehst zum Gemeindehaus, ich beaufsichtige die Helferinnen und nehme mich der Heilungsbedürftigen an“, verfügte Jodee. Ich hielt inne. Die Mittagshitze trieb mir den Schweiß auf die Stirn. „Wie steht es wirklich um Annie? Wird sie es schaffen?“, fragte ich besorgt. Jodee zog mich in den Schatten eines Hauses. „Ja. Aber es braucht Zeit, auch wenn du sie mit deinen heilenden Kräften unterstützt. Gut, dass du besonnen vorgegangen bist. Die Menschen stehen der Magie oftmals ängstlich gegenüber und Angst hat Annie genug erfahren in den letzten Stunden. Sehen wir uns, wenn du die stellvertretenden Aufgaben des Statthalters erfüllt hast?“ Sie sah mich aufmunternd an. „Wie viele Nächte willst du wachbleiben, um auf mich zu warten?“ Sie lachte herzlich und ich fiel ebenso darin ein. Beschwingt gingen wir jeder unserer Wege. Kaum, dass ich die Tür zum Gemeindehaus aufstieß, drangen hitzig debattierende Männerstimmen an mein Ohr. Ich atmete tief durch. Erhobenen Hauptes stolzierte ich auf die Tür zu und erlebte eine Überraschung. Woodrow, Statthalter von Alebas stand wild gestikulierend am Ende des Tisches, dessen Platz Skyler gebührte. Die Männer starrten mich mit offenen Mündern an, als ich mitten in Woodrows Redefluss hineinplatzte. Obwohl in der Kleidung einer Heilerin gewandet, schritt ich wie eine Königin auf ihn zu, darauf hoffend, dass er mir meine Unsicherheit nicht ansah. „Hast du dich verirrt, Woodrow-Statthalter von Alebas?“ Ich benötigte keinerlei magische Kräfte, ihn beiseite zu fegen. Allein mein Zorn verlieh mir Größe und offenbar eine gewisse Präsenz. Unwillkürlich wich er vor mir zurück. Nur am Rande nahm ich seine imposante Erscheinung wahr, eindrucksvoll in der Robe eines Statthalters gekleidet. Ich blickte prüfend in die Runde. „Und ihr wollt die Vertrauten meines Mannes sein, wo ihr, kaum dass Skyler seinen Stuhl verlässt, einen Fremden seinen Platz einnehmen lasst?“, spie ich verächtlich aus. Im Zorn wuchs ich über mich hinaus. Vierzehn Augenpaare starrten mich in allen Facetten ihrer derzeitigen Gefühlsregung an. „Ich gehe mal nicht davon aus, dass dieser Besuch als Interessenaustausch zwischen den Städten gilt?“ „Wir wussten ja nicht, dass du …“ „Skyler hat nichts davon gesagt wer …“ „Ich bin die Frau des Statthalters von Gullorway und ersten Botschafters Kandalars!“, fuhr ich sie an. „Und in dieser Funktion vertrete ich meinen Mann. Wer also meint, sich darüber hinwegsetzen zu wollen, wird sich bei Skylers Rückkehr verantworten müssen!“ Meine Worte blieben nicht ohne Wirkung, wenn ich auch nicht daran glaubte, dass sie Skylers Format besaßen. Woodrow trat beiseite, sich spöttisch vor mir verneigend. „Verzeih mir mein unhöfliches Auftreten, Avery …“ „Nein, ich verzeihe nicht“, fiel ich ihm ins Wort. „Du kannst draußen warten, bis der Rat mich in Kenntnis gesetzt hat, was der Grund dieses unangekündigten Zusammentreffens ist!“ Unnachgiebig sah ich ihn an. Er presste die Zähne aufeinander und verließ um Würde bemüht den Raum. Nur mit Mühe unterdrückte ich ein Zittern. Ich durfte jetzt keine Schwäche zeigen. „Ich höre!“ Ich bemühte mich, das schmerzhafte Pochen in meinem Unterleib zu ignorieren. Würdevoll ließ ich mich auf Skylers Stuhl nieder. Meine Finger umschlossen die Armlehnen, ertasteten die geschnitzten Schlangenköpfe darauf – geflügelte Schlangen, Skylers Symbol. Allmählich beruhigte ich mich. „Ornion, ich frage dich als Dorfältesten Gullorways, weil ich in dir die Weisheit sehe, die mich deine Ratskollegen momentan vermissen lassen.“ Ich blendete alle Gedanken dahingehend aus, ob meine Handlungsweise in diesem Moment die richtige darstellte. Wenn ich schon ins kalte Wasser geworfen wurde, wie Jodee es nannte, musste ich versuchen mit dem Kopf an der Oberfläche zu bleiben, in alle Richtungen strampeln, bis ich das rettende Ufer erreichte. Ornion leckte sich nervös über die Lippen, spielte auf Zeit. Sein schütteres Haar reichte ihm bis knapp auf die Schultern. Silbrig weiß wie die Farbe des Mondes in einer klaren Nacht. Wenn auch jenseits der fünfzig, wirkte sein Blick wach und aufmerksam. „Avery, Frau des Statthalters von Gullorway und ersten Botschafters Kandalars“, er verneigte sich höflich. „Ich muss mich im Namen meiner Ratskollegen entschuldigen. Wir hätten dich natürlich zu unserer Zusammenkunft mit einberufen müssen. Doch erforderten die Geschehnisse der letzten Tage ein rasches Handeln und du warst nicht auffindbar.“ Lüge. Ich las es in seinen Gedanken, obwohl es mir widerstrebte, dies zu tun. Doch wenn ich der männlichen Domäne an der Tafel einen Schritt voraus sein wollte, musste ich zu dieser List greifen. „Jeder hier am Tisch weiß, wo ich wohne und dass ich als Heilerin tätig bin. Es wäre ein Leichtes gewesen, meinen Aufenthaltsort herauszubekommen. Hast du noch etwas anderes vorzubringen als diese billige Ausrede, Ornion?“ Der alte Mann ließ sich nicht anmerken, ob ihn meine Zurechtweisung erboste. „Wir wissen, dass du als Heilerin einen bedeutenden Beitrag in unserer Stadt leistest. Es erschloss sich uns bisher nicht, dass du auch an den Ratssitzungen interessiert bist. Die letzten Monate sahen wir dich nur selten hier.“ Ein begründeter Vorwurf. „Wie du siehst, sitze ich hier. Was war nun der Grund für eure Zusammenkunft und Woodrow-Statthalters Eindringen?“ Ich ließ mich nicht aus der Reserve locken. „Die beiden Todesfälle. Koray und Leart.“ „Was hat Woodrow damit zu schaffen, dass er auf Skylers Platz sitzt?“ „In seiner Stadt wurden ebenfalls Männer getötet. Ein wohlhabender Kaufmann aus Abylane, ein Scout aus Timno Theben und sein Schwager.“ Entsprach dies tatsächlich der Wahrheit? Ich traute Woodrow ebenso zu, Skylers Abwesenheit zu nutzen, um seine Gefolgsleute gegen ihn aufzuwiegeln. „Gibt es dafür Beweise?“, fragte ich, selbst erschrocken, wie kalt meine Stimme klang. Ich hatte Woodrows Intrigen und Ränkeschmieden nicht vergessen. Bei unserem letzten Aufeinandertreffen gingen wir nicht als Freunde auseinander. Wenn Skyler von seiner Anwesenheit wüsste, käme dies einer kriegerischen Handlung gleich. „Nur sein Wort.“ In diesem Moment bedauerte ich, dass Skyler den blauen Garbet, den Botenvogel der dunklen Magier, zu den Javeérs zurücksandte. Durch ihn wären wir in der Lage gewesen, zu sehen, was er sah. Im Moment blieb mir nur Orinons Wort. „Holt Woodrow herein! Ich will von ihm hören, was sich zugetragen hat!“ Rasch erhob sich Milow, um meiner Aufforderung Folge zu leisten. Bis jetzt lief alles gut. Keiner, der sich mir widersetzte. Woodrow trat ein. Seine Miene spiegelte sein Missfallen, auf meinen Befehl hin herbeizitiert zu werden und wie ein Bittsteller auftreten zu müssen. „Beliebt es der Frau des Statthalters von Gullorway nun, Gehör zu finden für die Probleme anderer Städte?“ Seine bissige Äußerung ließ ich augenscheinlich von mir abprallen, wenn sie mich auch im Herzen traf. „Unter Einhaltung der Etikette und allgemeiner Höflichkeitsregeln sehe ich darin kein Problem. Bitte.“ Ich wies auf einen freien Stuhl am Ende des Tisches. Widerstrebend nahm er darauf Platz. „Was ist also der Grund dafür, dass sich der Statthalter von Alebas nach Gullorway aufmacht, anstatt zu den Wahlen nach Timno Theben?“ Woodrow legte eine selbstgefällige Miene auf. „Ich bin nicht so machtversessen wie dein Mann, Avery. Mir genügt es, Statthalter von Alebas zu sein.“ Einen Moment war ich versucht, den Ratsmitgliedern am Tisch die Augen darüber zu öffnen, wie er zu diesem Amt gelangte, doch ich war kein Richter und wollte es auch nicht sein. „Ist das so?“ Gern hätte ich auch in seinen Gedanken gelesen. Da Woodrow aber um meine Gabe wusste, gelang es ihm, sein Innerstes vor mir zu verschließen. Dennoch, Trauer las ich nicht in seinen Zügen. „Auch Alebas wurde von Meuchelmördern heimgesucht, als Warnung, nicht dem falschen Mann zu dienen.“ Sowohl Skyler als auch Woodrow waren ehemalige Bowmen. Hatte man deshalb ihre Anhänger als Opfer ausgesucht? Oder wollte man nur, dass dieser Eindruck entstand? „Unter den Getöteten befand sich auch mein Schwager. Daher sah ich es als meine Pflicht an, die Nachbarstädte aufzusuchen, um mich mit ihnen über die vorherrschende Bedrohung auszutauschen, Avery.“ „Mein Beileid zum Verlust deines Schwagers, Woodrow-Statthalter.“ Bewusst wählte ich die formelle Anrede, um ihn in seine Schranken zu weisen. „Wann ist dieses Unglück denn geschehen?“ „Vor eineinhalb Wochen“, kam seine Antwort viel zu schnell, wie ich fand. „Und in der knappen Zeit hast du – pflichtbewusst wie du bist – Faronbendras, Gambel und Abylane bereits aufgesucht, Woodrow-Statthalter?“, köderte ich ihn. „So ist es.“ „Dann besitzt du wohl Flügel.“ Er fuhr von seinem Sitzplatz auf. Augenblicklich spürte ich die Gefahr, die von ihm ausging, bannte ihn an Ort und Stelle fest, doch nur so weit, dass es den anderen verborgen blieb. Ron, der neben mir saß, sprang ebenfalls auf. Die Hand am Dolch, den er am Gürtel trug, trat er beschützend an meine Seite. Seine edle Geste rührte mich. „Ich spare mir die Frage, wie du in der knappen Zeit von den Morden in Gullorway erfuhrst.“ Schwankend erhob ich mich, die Tischkante umfassend. Steckte etwa Woodrow hinter den feigen Verbrechen an Koray und Leart? Ging er in seiner Rache wirklich soweit, den Tod seines Schwagers in Kauf zu nehmen, nur, um Skyler aus dem Rennen zu werfen? All diese Gedanken rasten mir in Windeseile durch den Kopf und ich las in Woodrows Augen, dass er dies wusste. Ich musste handeln. „Ruft die Wachen! Nehmt ihm die Waffen ab!“ Allmählich ließ es sich kaum noch leugnen, dass Woodrow sich nicht freiwillig unbeweglich gab. Gegen die Festsetzung ankämpfend trat seine Halsschlagader deutlich hervor. „Habt ihr mich nicht verstanden? Ihr sollt die Wachen holen! Sofort!“ Erst bei meiner zweiten Aufforderung kamen sie in Bewegung. Sie waren es nicht gewöhnt, Befehle von einer Frau entgegenzunehmen. Meine Hände begannen bereits gefühllos zu werden. Lange konnte ich ihn nicht mehr bannen. Die Schwangerschaft schwächte mich zusätzlich. Ich sah Woodrows ungewohnt boshafte Augen auf mir ruhen, wusste, dass er auf Zeit spielte, um mich zu entkräften. Endlich schlug die Tür auf, die Wachen preschten herein, überwältigten den Mann, der wie ein Fels in der Brandung dastand, und legten ihn sogleich in Ketten. Erst da lockerte ich meinen mentalen Griff. „Bringt ihn in den Kerker. Ich traue ihm nicht über den Weg.“ Mein Atem kam stoßweise. Als Woodrow an mir vorbeigeführt wurde, spie er vor mir aus. „Das wird dir noch leidtun“, zischte er so leise, dass nur ich ihn verstand. „Gib acht auf deine ungeborene Brut. Es sind gefährliche Zeiten.“ Wie versteinert stand ich da, konnte nicht fassen, dass er mir drohte. Mit weichen Knien ließ ich mich auf den nächstbesten Stuhl sinken, kaum dass er hinausgeführt wurde. All mein Mut, den ich noch vor wenigen Augenblicken besaß, war verflogen. „Ich will, dass Woodrow Tag und Nacht bewacht wird! Vermutlich ist er nicht allein hierhergekommen. Man wird versuchen, ihn zu befreien.“ Erschöpft rieb ich mir die Schläfen. „Geht es dir gut, Avery-Statthalterin?“ Ich zuckte zusammen, als Nisar mich mit diesem Titel ansprach. Auch die anderen bekundeten mir ihren Respekt. „Ja, danke. Es geht schon.“ In Wahrheit zweifelte ich daran, ob all dies nicht meine Kräfte überstieg. Ich war nicht fürs Kämpfen oder Regieren geboren. Heilen war meine Bestimmung. Doch wie die Dinge im Moment lagen, hatte ich keine andere Wahl. Während ich ihren Auslegungen von Woodrows Auftreten lauschte, plante ich im Stillen, einen Schutzwall um sein Verlies zu legen, damit ihm jeglicher Fluchtversuch misslang und er auch von niemandem sonst befreit werden konnte. „Wir sind jedenfalls dankbar dafür, dass du so besonnen gehandelt hast, Avery-Statthalterin“, schloss Orinon seinen Bericht. Zustimmendes Gemurmel bestätigte seine Feststellung. Ich nickte beifällig. „Wie sollen wir weiter vorgehen?“ Da war sie, die Frage, vor der ich mich fürchtete. Ich sah mich nicht als Anführerin, wollte nicht Schicksal spielen für eine ganze Stadt. „Wir müssen Augen und Ohren offenhalten, mehr denn je. Zum derzeitigen Zeitpunkt haben wir weder Kenntnis darüber, ob er in jemands Auftrag handelte oder auf eigene Rechnung. Bis wir Genaueres wissen, bleibt er unser Gefangener. Sendet Späher aus, die seine Aussagen prüfen. Möglich, dass anderen Orts Ähnliches vorgefallen ist. Verdoppelt die Wachposten an den Stadtmauern ebenso wie innerhalb der Stadt. Ich will, dass jeder der hinein oder hinaus geht, genauestens kontrolliert wird. Wir müssen den Bürgern Gullorways ein Gefühl von Sicherheit vermitteln, auch wenn ihr Statthalter nicht vor Ort ist. Und ich will über sämtliche Aktivitäten in Gullorway sowie der näheren Umgebung informiert werden! Sind wir uns darüber einig?“ Zustimmendes Gemurmel. Zögernd schlug ein jeder seine Faust zweimal gegen die Brust. Vorerst akzeptierte man mich als Skylers Vertretung. Dennoch konnte die Stimmung jederzeit umschlagen.
Obwohl völlig erschöpft, gönnte ich mir keine Ruhe. Stattdessen stattete ich Woodrow einen Besuch ab, nicht nur um mich von seiner ordnungsgemäßen Verwahrung zu überzeugen. Von zwei Männern bewacht, hatte man ihn in einem Trakt des Gefängnisses untergebracht, indem er verborgen vor den Augen der anderen Häftlinge blieb. Niemand brauchte vorerst zu wissen, dass wir den Statthalter von Alebas als Gefangenen festhielten. Bei meinem Eintreffen zögerten die Wachen kaum merklich, bevor sie beiseitetraten.
„Haltet euch bereit!“, wies ich sie an, bevor ich die Tür hinter mir schloss.
Ich entdeckte Woodrow im Halbdunkel seiner Zelle. Er hockte auf einer Pritsche. Ein Teller mit unberührtem Essen und ein Krug Wasser standen in Reichweite.
„Will sich die Frau des Statthalters von Gullorway persönlich von der sicheren Unterbringung ihres Gefangenen überzeugen?“ Er warf mir einen spöttischen Blick zu. „Keine Angst, mit mir allein in einem Raum zu sein, Avery?“
„Wir sind nicht im selben Raum. Du bist hinter Gittern und in Ketten gelegt, Woodrow.“
„Dennoch fürchtest du mich.“ Trotz der misslichen Lage behielt er den arroganten Tonfall bei. „Warum sonst errichtest du einen Schutzwall?“
Mein Handeln war ihm also nicht verborgen geblieben.
„Aus welchem Grund hast du das getan, Woodrow? Ist dein Hass auf Skyler so groß?“, ging ich zum Gegenangriff über.
„Was wird mir denn zur Last gelegt?“
„Stell dich nicht dümmer als du bist. Du weißt genau, wessen man dich bezichtigt.“
„Spielst du dich jetzt auch als Richterin auf?“
Er sah zu mir herüber. Trotz der Einschränkung, die ihm die Ketten boten, gab er sich betont lässig.
„Es liegt mir fern, zu richten.“
„Stimmt. Du kannst dich ja magischer Mittel bedienen. Vielleicht warst du es am Ende selbst, die die Morde begangen hat? Fließt in deinen Adern nicht auch das Blut der dunklen Magier, Mädchen mit dem Flammenhaar?“
Seine Worte trafen mich bis ins Mark.
„Du wirst deine Fähigkeiten nicht ewig verbergen können. Selbst euren einfältigen Ratsmitgliedern dürfte nicht verborgen geblieben sein, dass ich mich ohne Widerstand entwaffnen ließ, wohingegen mir die Augen fast aus dem Kopf hervorquollen.“
Ich bemühte mich, Ruhe zu bewahren, obwohl mir das Herz bis zum Hals schlug.
„Die Sage von dem Mädchen mit dem Flammenhaar dürfte den Menschen wohl noch vertraut sein“, ließ ich mich hinreißen.
„Jeder legt sich die Geschichte zurecht, an die er glauben will, nicht wahr? Zumal sie noch in keinem Buch nachzulesen ist, oder täusche ich mich da?“
„Es wird wieder Bücher geben, so wahr ich hier stehe.“
„Ja, so wahr du dort stehst, mit dickem Bauch.“ Ein seltsamer Ausdruck trat in seine Augen. „Zwei Mädchen, eine jede die Kopie der anderen, ihr Antlitz den Göttern gleicht. Wenn sie erblicken das Licht der Welt, ein tödliches Tuch aus Staub und Sand der Menschheit Mantel ist“, rezitierte er den Sagentext.
Mir wurde die Kehle eng. Schwindel erfasste mich. Ich war nicht in der Lage, mich seinen Worten zu entziehen.
„Trägst du Zwillinge in deinem Bauch, Avery? Skylers Frucht? Dann Gnade der Menschheit, wenn Skyler als Esch zurückkehrt.“
Taumelnd verließ ich den Kerker, um seinen Worten zu entkommen. Sein boshaftes Lachen begleitete mich, als ich an den Wachen vorbei nach draußen stürmte. Erst vor Jodees Haus hatte ich mich wieder einigermaßen gefasst.
„Was ist los?“, fragte sie, kaum dass ich den Raum betrat.
Zum Glück traf ich sie allein an. Ich berichtete von der unfreiwilligen Ratssitzung, von Woodrows Erscheinen und meinem Verdacht, dass er die Morde angezettelt habe, wenn nicht gar selbst begangen.
„Hm. Wo ist er jetzt?“
„Im Stadtverlies. Ich … habe einen Schutzwall errichtet.“
„Sehr gut“, lobte Jodee und rieb die Handflächen aneinander. Ihre weißen Zähne blitzten anerkennend auf. „Und was ist mit seinen Waffen?“
„Habe ich ihm abnehmen lassen.“
„Ausgezeichnet.“ Sie nickte zustimmend. „Wo werden sie aufbewahrt?“
„Ich hatte den Wachen befohlen …“
„Geh sie holen! Wir nehmen sie sicherheitshalber hier unter Verschluss. Vor allem, den Stab, den Woodrow stets am Gürtel trägt, genau wie Skyler.“
Ich sah sie verständnislos an.
„Ich habe lange genug bei den Bowmen gelebt, um ihre Tricks zu kennen. Also?“
„Bin schon unterwegs.“
Es widerstrebte mir zwar, mich abermals zum Gefängnis zu begeben, doch vertraute ich Jodees Intuition. Überrascht sahen mich daher die Wachen an, als ich so kurz nach meinem Fortgehen erneut eintraf.
„Wo bewahrt ihr die Waffen des soeben eingelieferten Gefangenen auf?“, fragte ich ohne Umschweife.
„Wozu willst du das wissen?“, begehrte einer von ihnen auf.
„Bist du taub? Als die Frau des Statthalters frage ich dich: Wo sind seine Waffen?“
„In der Waffenkammer, wo sonst? Gleich die Ecke herum, aber …“
Er erhob sich, um mich am Weitergehen zu hindern.
„Danke, ich finde allein dorthin.“
Mit einem unguten Gefühl folgte ich seiner Beschreibung. Die Rüstkammer wurde nur von einer einzelnen Wache geführt. Schläfrig hockte er hinter dem Schreibtisch, den Kopf auf die Hände gestützt. Bei meinem Eintreten richtete er sich betont gelangweilt auf.
„Was gibt’s?“, fragte er träge und gähnte mich ungeniert an. Nachlässig glitt ihm der Umhang von den Schultern, als er die verspannten Glieder streckte.
„Weißt du, wer ich bin?“
„Natürlich. Du bist die Frau des Statthalters.“
Er grinste mich frech an.
„Und warum liegst du dann halb auf dem Tisch, anstatt dich zum Gruß zu erheben?“
Es missfiel mir zwar, derart herrisch aufzutreten, doch wenn ich ernstgenommen werden wollte, war dies unerlässlich.
„Ähm …“ Er straffte die Schultern. Zarte Röte überzog sein Gesicht. „Was kann ich denn für dich tun, Avery-Statthalterin?“ Skeptisch hob er eine Augenbraue in die Höhe.
„Gib mir die Waffen, die ihr dem Gefangenen abgenommen habt.“
Er runzelte die Stirn, als müsse er über diese schwierige Aufgabenstellung erst nachdenken.
„Wozu? Sie sind sicher verschlossen, wie alles andere auch“, gab er selbstgefällig zur Antwort.
„Ich frage kein zweites Mal!“
Drohend trat ich einen Schritt vor. Ich hatte Skyler oft genug in Situationen wie diesen beobachtet, um zu wissen, wie er sich Respekt verschaffte. Doch als Frau, noch dazu schwanger, schien es nicht dieselbe Wirkung zu haben. Blitzschnell griff ich in die Falten meines Kittels und brachte meinen Dolch YEMAHL zum Vorschein. Seit den vergangenen Ereignissen trug ich ihn stets bei mir. In einer fließenden Bewegung landete mein Wurfmesser nur knapp neben dem Ellbogen des Mannes in der Tischplatte. Erschrocken fuhr er aus dem Stuhl empor und wankte zurück.
„Kein Grund, mit dem Messer nach mir zu werfen“, stammelte er und griff nach dem Schlüsselring greifend. Er schloss das Gitter einer kleinen Kammer auf, wobei er mich wachsam im Auge behielt. Ich zog den Dolch aus der Holzpatte, ließ ihn wieder unter meinem Gewand verschwinden.
„Nun?“
„Das ist alles, was wir bei ihm gefunden haben.“
Er breitete ein wahres Arsenal auf dem Tisch aus, als wolle er es zum Verkauf feilbieten. Flüchtig warf ich einen Blick darauf. Etwas fehlte.
„Und der Stab?“
„Welcher Stab?“ Die Gesichtsfarbe wechselte zu Zinnoberrot. „Er sah nicht wie eine Waffe aus, da habe ich ihn hier eingeschlossen.“
Ich glaubte ihm kein Wort. Mit zitternden Fingern wählte er einen anderen Schlüssel aus, um die Schublade vor seinem Schreibtisch zu öffnen. Papier raschelte.
„Ist er das?“ Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.
Ungeduldig entriss ich ihm den Stab aus den Fingern. Unfreiwillig kam ich ihm dabei so nah, dass ich seinen fauligen Atem roch. Würgend drehte ich mich fort.
„In diesem besonderen Fall nehme ich die Waffen an mich.“
„Das kannst du nicht …“, widersetzte er sich.
„Sagt jemand, der sich das beste Stück daraus beiseitelegt? Wie lautet dein Name, Wachmann?“
Ohne Eile rollte ich die Waffen samt Stab in seinem Umhang ein. Es brauchte niemand zu sehen, dass ich sie besaß.
„Mein Name? Ähm“, er leckte sich nervös über die Lippen. „Momen.“
„Den Mantel lasse ich dir später zurückbringen – und, ich behalte dich im Auge, Momen.“
Raschen Schrittes verließ ich den Raum. Als ich draußen war, lehnte ich mit rasendem Herzen und schweißgebadet an der Mauer des Kerkers. Der Nachmittagssturm zerrte mir an Kleider und Haaren. Gierig nach Sauerstoff pumpte ich meine Lungen voll, bis ich glaubte, mich mit meiner Last fortbewegen zu können, ohne einzuknicken.
„Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen. Setzt dich erst mal, Avery.“
Jodee musterte mich besorgt.
„Was schleppst du da überhaupt unter deinem Arm mit dir herum?“
„Woodrows Waffen. Den Stab habe ich auch.“ Ich grinste.
„Und bei den Göttern, iss etwas! Wenn Skyler erfährt, dass ich dich den ganzen Tag ohne Essen herumlaufen lasse, macht er mich einen Kopf kürzer.“
„Dann bleibt ja nicht mehr viel“, versuchte ich mich an einem lahmen Witz.
„Eben.“
Sie stellte eine Schale vor mir hin, füllte sie mit einer sämigen Fischsuppe, die mir das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Hungrig fiel ich über die Suppe her.
„Noch einen Teller?“
Belustigt über meinen Appetit hielt sie die Schöpfkelle in der Hand.
„Ja, bitte. Es schmeckt köstlich.“
„Einen gesegneten Appetit hast du jedenfalls. Ich habe noch eine Portion für Annie übrigbehalten, die ich ihr gleich vorbeibringen wollte.“
„Das kann ich doch erledigen.“
„Du ruhst dich aus“, bemühte sie sich, streng zu klingen. „Aber zuvor erklärst du mir, was jetzt schon wieder vorgefallen ist.“
Genussvoll wischte ich mit einem Kanten Brot den Teller aus und lehnte mich gesättigt zurück. Erst dann sah ich mich in der Lage, die Geschehnisse wiederzugeben.
„Ich kann das nicht mehr, Jodee“, schloss ich meinen Bericht nach dem Vorfall mit den Wachen im Gefängnis ab. „Ich kann Skyler nicht längere vertreten. Ich bin nur seine Frau.“
„Und künftige Guhlant!“
„Noch bin ich es nicht.“
„Doch, das bist du.“
„Nein, Jodee.“ Ich schüttelte resigniert den Kopf. „Heilerin, vielleicht. Aber eine Herrscherin? Niemals. Ich kann mir nur Respekt verschaffen, indem ich zu magischen Hilfsmitteln greife, und das ist gefährlich.“
„Es kann nicht schaden, den Menschen von Kandalar deine Stärke zu zeigen, solange du es nicht übertreibst.“ Sie tätschelte beruhigend meine Hand.
„Jodee, es schmeckt mir nicht von der Macht zu kosten, wie Skyler es zu gefallen scheint.“
„Du wirst dir doch jetzt wohl nicht Woodrows Worte zu Herzen nehmen?“
„Nein, natürlich nicht“, log ich. „Aber gewisse Bedenken sind nicht von der Hand zu weisen. Was, wenn die Sage sich erfüllt wie auch alles andere darin?“
„Als da wären?“
„Du weißt, wovon ich spreche, was geschehen wird, wenn unsere Zwillinge das Licht der Welt erblicken.“ Gequält sah ich sie an. „Jodee, ich habe Angst vor der Geburt.“
„Es ist völlig normal, dass du dich davor ängstigst. Schließlich ist es das erste Mal für dich“, bemühte sie sich um Zuversicht.
„Das allein ist es nicht. Was, wenn wirklich ein Unglück geschieht, nachdem sie geboren wurden?“
Ich wollte nicht die Schuld daran tragen, dass die Geburt unserer Mädchen anderen Menschen schaden konnte.
„Avery, wie sollen zwei unbefleckte Säuglinge ein Unglück heraufbeschwören?“, bemühte sie sich, meine Bedenken zu zerstreuen.
„Weil in ihnen nicht nur Skylers und mein Blut fließt, sondern auch das der dunklen Magier.“
Es war mir nicht entgangen, dass sie kaum merklich zögerte. Was wusste sie?
„Avery, du bist das Mädchen aus der Sage. Durch dich wurden die Menschen von Kandalar von der Knechtschaft der Herren von Kandalar befreit.“
„Nicht durch mich. Es war Skyler, der gegen sie antrat.“
„Nicht so bescheiden. Hätten die Götter etwas anderes für dich und Skyler vorgesehen, stünde dies in deinem Lesestein.“
„Du weißt davon?“, fragte ich sie überrascht.
„Natürlich. Als du bei den Bowmen warst und Skyler von Woodrow den Stein verlangte, fragte er mich nach dessen Bedeutung, obwohl er es längst wusste.“ Sie kicherte verschmitzt. „Wie auch immer. Ihr seid füreinander bestimmt, das Volk von Kandalar zu führen.“
„Warum gabst du mir dann die Kapseln, um mich vor einer Schwangerschaft zu schützen?“
„Weil du Skylers Kinder austragen solltest – niemands sonst.“ Ihre Stimme klang ganz ruhig, während sie mich beobachtete.
„Und wenn ihm jemand zuvorgekommen wäre?“
„Hätte, wäre, wenn … Dafür hat er dir doch eine andere Kapsel gegeben, nicht wahr?“
„Du wusstest, dass sie mich an ihn bindet?“
„Ja.“
Ihre offene Antwort traf mich wie ein Pfeil.
„Welche Geheimnisse teilt ihr sonst noch miteinander, von denen ich nichts weiß?“
In meinem Herzen drohte sich ein Eisklumpen zu bilden, der unaufhörlich wuchs. Sie war meine Freundin, oder etwa nicht?
„Natürlich bin ich das.“
Und dennoch las sie in meinen Gedanken, wenn ich sie nicht abschirmte.