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Die Javeérs

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Gerade mal eine Woche war es jetzt her, dass Skyler mich bei den Javeérs zurückgelassen hatte. Umgeben von zwölf wortkargen greisen Männern, von denen selbst der jüngste älter als mein Vater war.

Skeptisch besah ich mir die gewagte Konstruktion des Klosters. Sie bestand aus einer hölzernen Pagode, die kunstvoll mit Balken abgestützt und mit kleinen beeindruckenden Räumlichkeiten hoch oben über einem Gebirgsbach schwebte. Wie ein Schwalbennest an eine senkrechte Felswand gebaut.

Seit Tagen schaltete ich auf stur. Ich aß so gut wie nichts. Wollte mit niemandem reden, wenn sie nicht dazu bereit waren, mir von dem mit Skyler geschlossen Pakt zu berichten. Stumpfsinnig dämmerte ich dahin. In dem Maße wie der Hunger schwand, nahmen die Schmerzen in der Brust zu, genauer gesagt, im Herzen. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass ich mich nach einem Mann derart verzehren würde. Ich wollte ihn hassen, doch eine unbegreifliche Macht band mich an ihn.

Träge öffnete ich die Augen. Nur am Rande registrierte ich die sehnige Hand, die mir irgendeine Flüssigkeit einzuträufeln versuchte. Dicker als Wasser und dünner als Suppe. Begleitet von einem melodischen Singsang, kehrten meine Lebensgeister mit jedem Löffel zurück.

„Du magst einen ausgeprägten Willen haben, mein Kind aber …“

„Avery“, krächzte ich. „Und ich bin das Kind meines Vaters – niemand sonst.“

Aus dem runzeligen Gesicht meines Gegenübers starrten mich zwei milchige, pupillenlose Augen an – der Mann war blind.

„Warum vergeudest du dein junges Leben, wo hingegen Bedeutsames auf dich wartet?“

Er stellte sich mir nicht vor. Stattdessen ordnete er an, den Inhalt des Bronzebechers in seiner Hand in kleinen Schlucken auszutrinken.

Es bedurfte noch einige Tage und des absonderlichen Mantra, bis ich wieder bei Kräften war. Auch wenn er Magie angewandt hatte, so wusste er doch nichts gegen die Leere in meinem Inneren auszurichten. Das Wort Liebeskummer wollte ich mir nicht einmal gestatten zu denken. Wie hatte ich nur so naiv sein können zu glauben, dass Skyler was an mir lag? Für ihn war ich doch nur das Dummchen, an das er seine Eitelkeit stillte und mit Leichtigkeit herumgekriegt hatte.

Ohne auf meine Fragen oder Einwände einzugehen, fand ich mich von einen auf den anderen Tag in ein Programm integriert, dessen straff organisierter Stundenplan mir kaum noch Zeit zum Grübeln ließ. So beobachtete ich nur.

Die befremdliche Allianz der Javeérs schien keiner hierarchischen Struktur zu folgen. Ihren Namen stand allen voran ein „Le“. LeAssenat, LeDessart und so fort. Ebenso ließ ihre einheitliche steingraue Kleidung keinerlei Rückschlüsse auf ihren Rang erkennen. Wohingegen sie mir ein grünes Gewand zuteilten. Auf die Frage nach dem Warum erhielt ich stets ein verstocktes Lächeln.

Sie bezogen gemeinschaftlich einen Raum, in dem sie auf geknüpften Grasmatten meditierten, lasen, lernten oder schliefen. Mir teilten sie eine eigene kleine Kammer zu. Die Mahlzeiten nahmen wir gemeinsam ein. Häusliche Pflichten wechselten wöchentlich.

„Kannst du mit Pfeil und Bogen umgehen?“, fragte eines Morgens LeFarkon, der jüngste der Javeérs. Das schlohweiße Haar trug er wie bei allen anderen zu einem dünnen Zopf geflochten, den restlichen Schädel kahlgeschoren. Eine Tätowierung neben dem Haaransatz, Pfeil und Bogen umgeben von zwei Händen, wies ihn als Meisterschützen aus.

Ich zuckte mit den Schultern.

„Bedeutet das ja?“, fuhr er mich unerwartet schroff an.

„Ich bin mir nicht sicher“, stotterte ich und ärgerte mich sogleich über meine Unsicherheit.

Eisblaue Augen sahen mich durchdringend an. Dann brachte er den Bogen, den Skyler für mich angefertigt hatte, unter seinem Umhang hervor.

„Siehst du den Jutesack, der in der Nische klemmt?“ Er deutete mit einem knöchernen Finger zu einem Punkt am anderen Ende des langen Korridors, der die einzelnen Wohnparzellen miteinander verband.

„Ja.“

„Stelle dir vor es wäre dein Feind und treffe das Herz.“

Ich schätzte die Entfernung auf mindestens fünfzig Schritt. Konzentriert visierte ich das Ziel an, legte einen Pfeil auf die Bogensehne und ließ sie zurückschnellen. Ich wusste, dass ich genau ins Herz getroffen hatte, auch wenn LeFarkon keine Regung zeigte.

„Der Bogen muss noch etwas ausbalanciert werden“, kommentierte er meinen Treffer lediglich und nahm ihn mir aus der Hand. „Du solltest einen Bogenhandschuh tragen“, bemerkte er und hielt mir einen Armschutz entgegen, aus grüngefärbtem Leder, der mit verstellbaren Schnallen passgenau meinen Unterarm umschloss. Erst jetzt stellte ich ein Brennen oberhalb des Daumens fest, dort, wo die Federn des Pfeilendes über die Hand hinweg geschnellt waren.

„Gehen wir nach draußen“, befahl er. Ungeduldig scheuchte er mich über eine Hängebrücke zum nächsten Gebäude, von dort eine hölzerne Treppe empor, die im Zickzack nach oben führte. Über die altersschwache Konstruktion wagte ich kaum nachzudenken. Der Wind zog und zerrte an meinem Umhang, als wolle er mich mit Gewalt am Boden halten.

LeFarkon hatte das Ende des Aufgangs erreicht, doch setzte er seinen Aufstieg entschlossen fort, sich mit versiertem Griff und Tritt in steinerne Stufen stemmend. Es war so bitterkalt hier oben, dass ich bereits nach kurzer Zeit meine Finger nicht mehr spürte. Endlich hielt LeFarkon auf einem felsigen Vorsprung, der wenig Platz für eine Person bot, geschweige denn für zwei.

„Geh an mir vorbei bis zu der Stelle, wo die Felswand sich zu einer Höhle öffnet.“ Fahrig wies er mit dem spitzen Kinn in die Richtung.

„Wie soll ich …“, an dir vorbeikommen, wollte ich sagen, verkniff es mir aber. Trotz der Kälte trat mir der Schweiß auf die Stirn, als ich mich an ihm vorbeizwängte. Mühsam zog ich mich nach oben, mit den Füßen festen Halt suchend. Erschöpft erreichte ich den Eingang einer kleinen Höhle. Ich erwartete, dass mir LeFarkon folgte. Stattdessen hörte ich ihn gegen den Sturm anbrüllen: „Töte den blauen Garbet und bring mir seine Federn …“

Der Sturm verschluckte den Rest seiner Worte. Als ich nachhaken wollte, war LeFarkon bereits auf dem Abstieg, die Kapuze gegen den Wind tief in die Stirn gezogen. Was sollte das? Wollte er, dass ich hier verrotte, bis dieser Vogel zufällig seinen Weg hierher fand? Eher würde der Mond die Sonne verfinstern. Oder stellte dies eine Prüfung dar, um zu sehen, wie ich reagierte?

Ich wagte einen vorsichtigen Blick aus dem Höhleneingang. Beinahe senkrecht ging es nach unten. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Noch immer hatte ich mich nicht an die Höhe der Berge gewöhnt, die jede Anstrengung verdoppelte, jedes zusätzliche Gewicht zu verzehnfachen schien.

Ich zwang mich zur Ruhe. Meine Möglichkeiten abwägend, durchmaß ich die Höhle, die nirgendwohin führte, aber wenigsten Schutz vor den eisigen Höhenwinden bot. Dann kam mir eine Idee. Was, wenn ich diesen Vogel hierher zitierte, indem ich ihn malte? Schon einmal war es mir gelungen, einen Sperling zu Papier zu bringen, der daraufhin aus dem Blatt heraus flatterte. Warum also nicht einen Garbet?

Da mir kein Papier zur Verfügung stand, musste ich improvisieren, indem ich mit dem Finger auf den Boden zeichnete. Ich kniete nieder, hielt die Augen geschlossen, um mich darauf zu konzentrieren, was ich über diesen Garbet wusste. Leider basierten diese Informationen nur auf mündliche Überlieferungen. Ich selbst hatte nie einen zu Gesicht bekommen. Und wenn ich mir etwas Falsches ausdachte? Denn, egal was ich abbildete, es wurde lebendig.

Blauschwarze Federn, sinnierte ich. Die Pfeile, die Skyler mir gegeben hatte, waren damit bestückt. Erst jetzt wurde mir bewusst, welch kostbares Geschenk er mir damit gemacht hatte. Augenblicklich verbannte ich die Gedanken an ihn, konzentrierte mich stattdessen auf den Vogel, den blauen Federn seiner Flügel, dem Symbol der dunklen Magier.

Mir schwirrte der Kopf. Unschlüssig sah ich nach draußen, als gelte es dort die Antwort zu finden. Der Sturm hatte sich inzwischen gelegt. Es herrschte eine geradezu gespenstische Ruhe. Plötzlich stand mein Entschluss fest: Ich würde den Garbet nicht zeichnen, würde das Böse nicht hierher zitieren – auch wenn ich mich damit LeFarkons Anweisung widersetzte.

Ich wagte den Abstieg und erreichte unbeschadet die Treppe. Erleichtert verspürte ich wieder festen Grund unter den Füßen.

„Du kommst ohne den Garbet zurück?“

Erschrocken fuhr ich herum, als die grau gekleidete Gestalt LeFarkons hinter mir auftauchte.

„Ich wollte keine dunklen Mächte in euer friedliches Kloster locken“, entgegnete ich mit einer Ruhe, wie ich sie selbst nicht empfand.

Lerne, dich zu beherrschen …

„Und was ist dann das hier?“ Er zog eine indigoblaue Feder aus den Falten seines Umhangs hervor, hielt sie mir wie einen Dolch entgegen.

„Keine Ahnung“, antwortete ich wahrheitsgetreu.

„Seltsam nur, dass du die Feder der dunklen Magier in deiner Reisekleidung versteckt hältst“, zischte er.

„Ich habe nichts zu verbergen. Wie kommen Sie überhaupt dazu, meine Sachen zu durchwühlen?“

„Skyler fand sie auf dem …“, er sah mich naserümpfend an „Nachtlager in der Höhle zum Tor von Merdoran.“

„Und wer sagt Ihnen, dass es meine Feder ist und nicht seine? Schließlich sind auch seine Pfeile mit den blauschwarzen Federn des Garbets bestückt.“

Wenn Skyler mich schon hereinreißen wollte, sollte er auch nicht unbeschadet davonkommen. LeFarkon brachte ein kaum merkliches Lächeln zustande.

„Nur eine Person ist im Besitz dieser Federn: Nubia, die Meisterin der dunklen Magierzunft – deine Mutter.“

Schmerzhaft fühlte ich mich an meine Herkunft erinnert. Wie konnte es sein, dass die Feder bei mir gefunden wurde? Dann blitzte eine Erinnerung in mir auf: Mein Vater, wie er bei meinem überstürzten Aufbruch, den Saum des Umhangs zu fassen bekam. Darin eine geheime Tasche eingenäht, die seitlich offen war.

„Wie ich sehe, erinnerst du dich.“

„Und warum gaben Sie mir dann den Auftrag, den Garbet heraufzubeschwören und zu töten?“, fragte ich.

„Weil du es kannst.“


Das Mädchen mit dem Flammenhaar

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