Читать книгу Ingas Irrwege - Janina Hoffmann - Страница 3
1. Brittas Ende
ОглавлениеIch habe immer gewusst, dass ich meine Schwester eines Tages töten werde. Jetzt lebt Britta tatsächlich nicht mehr. Und obwohl nicht ich sie umbrachte, war ich es, die den Auftrag dazu erteilte. Anstiftung zum Mord. Wie lange werde ich dafür ins Gefängnis gehen, wenn ich gefasst werde? Oder sollte ich lieber sagen: falls ich gefasst werde?
Man muss clever sein, wenn man einen Mord plant. So clever wie meine Freunde und ich. Nach der Tat verwischten wir sorgsam alle Spuren. Ich bin mir sicher, dass wir nicht einen Fingerabdruck von uns in dem Gartenhaus zurückließen, in dem Britta und Thomas Curry aus dem Leben scheiden mussten. Das Auto meiner Schwester und den Wagen des angeblichen Architekten fuhren meine Freunde anschließend in einen naheliegenden Waldweg.
„Keine Sorge“, sagte mein dicker glatzköpfiger Freund Poker lässig, als er schwerfällig zu Thomas Currys Geländewagen ging, um ihn zum Waldweg zu fahren. „Wir haben ein paar Bekannte, die genau solche teuren Schlitten suchen, um sie zu verkaufen. Die rufe ich an, sobald wir von hier weg sind. Kein Mensch interessiert sich dafür, woher die Autos kommen. Für uns springt dabei auch noch ein bisschen was raus. Die Wagen verschwinden noch heute Nacht.“
Thomas Curry war auf meine Einladung hin an diesem verschneiten Dezemberabend allein zu der einsamen Schrebergartensiedlung gefahren. Dort erwartete ich ihn schon in der Gartenlaube. Meine Freunde hielten sich draußen in der Dunkelheit ein Stück weit entfernt in dem Auto versteckt, in dem sie mich mitgenommen hatten. Gegenüber Thomas Curry hatte ich behauptet, dass ich mit einem Mietwagen kommen würde.
„Wieso parkst du denn ganz da hinten?“, fragte mich Thomas Curry verwundert, nachdem er die Hütte betreten hatte, die schon mit zahlreichen Kerzen dekoriert war. Schließlich hatte ich den aufdringlichen Kerl ja zu einem angeblichen romantischen Rendezvous eingeladen, als er wieder einmal vor dem Büro der Anwaltskanzlei Hamilton & Lace herumgelungert hatte, um mich abzufangen.
Damit wir dich besser töten können, hätte ich am liebsten geantwortet. Doch stattdessen murmelte ich nur etwas von schlechter Ortskenntnis und dass ich die Gartenlaube zunächst verwechselt hätte. Dabei war sie mit ihrem leuchtenden lila Anstrich selbst in der Dunkelheit kaum zu verfehlen.
„Ja, du hast dir einen ausgefallenen Ort für uns beide ausgesucht“, stimmte Thomas Curry selbstsicher lächelnd zu. „Ich hätte die Siedlung fast nicht gefunden. Aber jetzt bin ich ja hier. Bei dir.“
Er ahnte nicht, dass sich meine Freunde bereits auf dem Weg zur Gartenlaube befanden und nur auf ihren Einsatz warteten. Das scharfe Fleischmesser lag schon griffbereit unter der Decke des schäbigen Doppelbetts versteckt, das meine Freunde und ich vom Sperrmüll geholt hatten, um Britta und Thomas Curry zu täuschen. Ich hatte meine weiße Steppjacke ausgezogen und auf das Sofa gelegt, damit sie nicht mit Blut besudelt werden würde, obwohl es in der Gartenlaube eisig kalt war. Thomas Curry verstand das als Aufforderung. Er kam sich sehr schlau und unwiderstehlich vor. In Wahrheit war er der Dumme. Es war mir die ganze Zeit über gelungen, meine Gedanken vor ihm zu verbergen, und so wusste er nicht, dass Adrian Adam, dem er so verblüffend ähnlich sah, mein Ein und Alles gewesen war. Stattdessen glaubte Thomas Curry, ich sei in ihn verliebt, der Narr. Ich hatte damals, in dem Sommer als ich fünfzehn wurde, nur einen kurzen Moment an die Geschichte von Adrians Tod geglaubt. Seit meiner Zeit in dem schwarzen Haus war ich überzeugt, dass Adrian Adam ähnlich Schlimmes widerfahren sein musste, dass er irgendwo gefangen gehalten wurde. Und jetzt war ich seinem Entführer begegnet: Thomas Curry. Daran hatte ich nicht den geringsten Zweifel. Und ich musste freundlich Thomas Currys widerliche Annäherungsversuche ertragen, die Teil von Brittas Spiel waren. Meine Schwester würde noch in dieser Nacht erfahren, dass es mein Spiel war und sie auf der ganzen Linie verloren hatte.
„Wo ist Adrian Adam?“, fragte ich Thomas Curry ernst und ohne Umschweife. Dabei entzog ich mich seiner Hand, die er gerade vertraut auf meine Schulter legen wollte.
„Ach, ihr tragt nicht nur denselben Nachnamen, sondern kennt euch auch noch?“ Thomas Curry schien aufrichtig verwundert. Er hatte also weder Brittas noch meine Gedanken gelesen, aus denen er erfahren hätte, dass mein richtiger Name Inga Klein war und es sich bei Britta nicht um meine Patentante, sondern um meine Schwester handelte. „Aber du musst doch noch ein ganz kleines Kind gewesen sein, als Adrian Adam verschwand.“ Thomas Curry ahnte ebenfalls nicht, dass ich nicht etwa, wie Britta behauptet hatte, zwanzig Jahre alt, sondern schon vierunddreißig war. „Also damit hätte ich jetzt nicht gerechnet. Dann ist dir ja sicher bekannt, dass Adrian Adam fast genauso aussieht wie ich. Oder ich wie er, je nachdem.“ Thomas Curry lächelte über seine Feststellung. „Irgendetwas an dir hat mich von Anfang an fasziniert. Es gab eine Anziehung, die ich mir nicht erklären konnte. Aber jetzt weiß ich, was es ist: Es ist deine Liebe für meinen Doppelgänger. In welchem Verhältnis steht ihr zueinander? Seine Tochter kannst du nicht sein, denn die beiden Kinder aus der Ehe mit Lucille kenne ich. Seine Nichte vielleicht? Um es gleich klarzustellen: Einen Onkel möchte ich für dich nicht spielen. Ich möchte etwas anderes spielen. Etwas ganz anderes.“
Thomas Currys Worte machten mich rasend. „Wo Adrian ist, will ich wissen!“ Der Tonfall meiner Stimme war jetzt unverhohlen aggressiv.
„Aber Inga“, versuchte mich Thomas Curry zu beruhigen, als wäre ich ein störrisches Kind, „rege dich doch bitte nicht so auf. Das hat sowieso keinen Sinn. Adrian Adam wird nicht zurückkommen. Vielleicht musste er bestraft werden, weil er seiner Frau gegenüber so illoyal war, wer weiß? Mit mir hast du einen mehr als adäquaten Ersatz. Das werde ich dir heute Abend noch beweisen.“ Suchend sah sich Thomas Curry in der Hütte um und wies auf die Tür in der Rückwand des Raums. „Gibt es hier eine Toilette? Die Fahrt hierher war doch recht lang, und ich pflege den ganzen Tag über viel Wasser zu trinken. Das hält die Körperzellen jung und verleiht mir ein strahlendes Aussehen.“
Ich nickte nur. In mir brodelte eine unkontrollierbare Wut auf diese Kreatur, die vorgab, ein Mensch zu sein und der es irgendwie gelungen war, die Gestalt meines geliebten Adrian anzunehmen. Mein Bruder Wolf hatte vor Jahren von einem Ufologen erfahren, dass Außerirdische ihr Aussehen anscheinend problemlos ändern konnten. Dass sie über die Fähigkeit verfügten, sich als Menschen zu tarnen, wusste ich nicht erst seit meiner Begegnung mit Lucille Adam, Adrians Frau, die seinem und meinem Glück im Weg gestanden hatte. Ich hatte damals, als ich vierzehn war, etwas gegen Lucille Adam unternommen – mit fatalen Folgen.
Auch jetzt war mir klar, was zu tun war. Als Thomas Curry mir den Rücken zuwandte, um die Tür zu öffnen, zog ich blitzschnell das Messer unter der Bettdecke hervor und stach zu. Mit vor Schreck und Schmerz aufgerissenen Augen bog Thomas Curry seinen Oberkörper nach hinten und fuchtelte erfolglos mit den Armen herum, um das Messer aus seinem Rücken zu entfernen. Es war ein grotesker Anblick. Während Thomas Curry mit schmerzverzerrtem Gesicht herumtaumelte, rief ich laut: „Helft mir!“ Das war das Stichwort für meine Freunde, die Hütte zu betreten.
Thomas Curry schlug sich zunächst tapfer, alle Achtung. Es gab ein Gerangel, in dem er es meinen Freunden möglichst schwer machen wollte, das immer noch in seinem Rücken steckende Messer erneut gegen ihn einzusetzen. Er muss höllische Schmerzen gelitten haben, doch er kämpfte wie besessen um sein Leben. Allein gegen vier Männer kam jedoch nicht einmal Thomas Curry an. Und ihn verließen langsam seine Kräfte. Ich hielt mich währenddessen etwas abseits und fragte Thomas Curry immer wieder nach Adrian Adam, doch dieser arrogante Kerl reagierte überhaupt nicht darauf. Damit fällte er endgültig sein Todesurteil. Jeder meiner Freunde stach schließlich auf Thomas Curry ein, der kaum noch Gegenwehr leisten konnte und letztendlich tot auf dem Bett zusammenbrach.
Anschließend war es Zeit, Britta anzurufen, um sie in die Gartenlaube zu locken, die ihre Todesfalle werden würde. Meine Freunde und ich fuhren so weit zurück Richtung Hamburg, bis wir wieder Handyempfang hatten. Den Anruf tätigte ich mit unterdrückter Nummer von Thomas Currys Mobiltelefon, das ich nur für diesen Zweck kurz einschaltete. Mit meinen behandschuhten Fingern war es gar nicht so einfach, die richtigen Tasten zu treffen. Außerdem zitterten meine Hände vor Aufregung. Würde Thomas Currys Nummer nun angezeigt werden oder nicht? Ich hatte schon Bedenken, durch meine Ungeschicklichkeit alles zu verderben, als mein Kumpel Bobby das Wählen freundlicherweise für mich übernahm.
Meiner Schwester gegenüber behauptete ich, mich in einer Telefonzelle an der Landstraße zu befinden. Sie war schnell bereit, zu mir zu kommen, um mir zu helfen, wie sie es nannte. Dabei wollte sie höchstens sich selbst retten, indem sie mit mir alle Spuren des Mordes an Thomas Curry verwischte. Zufrieden mit dem Ergebnis des Gesprächs machten meine Freunde und ich uns auf den Rückweg zu der Schrebergartensiedlung. Wir würden rechtzeitig vor Britta dort sein, um ihr einen besonderen Empfang zu bereiten.
In Brittas teurem Auto, mit dem sie an diesem Abend durch die verschneite Einsamkeit zu der Gartenlaube fuhr, hatte ich nie gesessen. Sie hatte es sich gekauft, nachdem sie mich aus ihrer Wohnung geworfen hatte. Mit ihrem vorherigen, ebenso edlen Wagen war ja auch nicht mehr viel anzufangen – so, wie ihn mein Kumpel Cäsar zugerichtet hatte.
Britta mit ihrem scharfen Verstand merkte sehr bald, dass ich sie unter einem falschen Vorwand in die abgelegene Schrebergartensiedlung gelockt hatte und es für sie kein Entrinnen mehr gab. Seltsamerweise nahm sie das mit einer unerwarteten Gelassenheit zur Kenntnis. Meine Schwester zeigte bis zum Schluss keine Angst, auch nicht, als mein Freund Wuschel ihr mit dem zweiten Messer, das wir in der Küchennische in einer Schublade deponiert hatten, einen tödlichen Stich in den Bauch versetzte. Ich fand Brittas Fähigkeit, Haltung zu bewahren, bewundernswert und hasste mich selbst dafür, dass ich meiner Schwester nicht nur bloße Verachtung entgegenbringen konnte, wie sie es verdient hätte.
Wir nahmen Britta und Thomas Curry nach ihrem Tod in der Gartenlaube kein Geld ab, um zu vermeiden, dass es später nach Raubmord aussehen könnte. Vielmehr sollte der Eindruck entstehen, dass Thomas Curry Brittas Geliebter war und sie zunächst ihn und dann sich selbst getötet hatte. Was das Verschwinden der beiden Autos und der Autoschlüssel anging, würde sich die Polizei daran wohl die Zähne ausbeißen.
Meine Schwester hatte ihr Privat- und ihr Firmenhandy in ihrer noblen Handtasche bei sich. Natürlich besaß sie die teuersten Mobiltelefone, die derzeit erhältlich waren. Wir schalteten beide ab. Das ausgeschaltete Handy von Thomas Curry, das seine beste Zeit wohl schon hinter sich hatte, steckte mein Kumpel Wuschel zurück in die Jackentasche des toten Architekten. Schon bald hinter der Hamburger Stadtgrenze gab es keinen Handyempfang mehr. Das hatten meine Freunde und ich vorher sorgfältig getestet. Die Polizei würde die Spur meiner Schwester und die von Thomas Curry nicht verfolgen können.
Dann kam der riskanteste Teil des Abends. Meine Freunde wollten nach den Morden unbedingt mit Brittas Wohnungsschlüssel zu deren Wohnung fahren, um nachzusehen, ob sich dort Wertgegenstände befanden, die wir entwenden könnten, um sie weiterzuverkaufen. Ich war nicht einverstanden mit dieser Idee, doch statt meinen Unmut zu äußern, bot ich an, mich allein in der Wohnung meiner Schwester umzusehen. Das würde am schnellsten gehen, schließlich kannte ich mich dort aus. Außerdem wollte ich vermeiden, dass meine Freunde Brittas Klingelschild sahen und herausfinden würden, dass ihr Nachname Klein war, während ich mich schon im Internet-Briefclub Inga Adam genannt hatte.
In dem teuren Haus, in dem meine Schwester eine Penthouse-Wohnung besaß, war es bei meiner Ankunft totenstill. Sicher lagen die wohlhabenden Bewohner alle schon längst brav in ihren Betten. Vorsichtig schlich ich im dunklen Treppenhaus die Stufen hinauf. Ich musste nur vermeiden, dass mir der Mann vom Wachdienst begegnete, der vor ein paar Wochen nicht einmal verhindert hatte, dass Cäsar Brittas Wagen in der Tiefgarage schrottreif schlug. Das war letztendlich der Grund dafür gewesen, dass meine Schwester mich aus ihrer Wohnung geworfen hatte. Sie hatte zwar keine Beweise, doch sie ahnte, dass ich etwas mit der Zerstörung ihres geliebten Eigentums zu tun hatte.
In Brittas Wohnung war es angenehm warm. Es brannte sogar noch überall Licht. Schnell sah ich mich um. Weder Geld noch Wertgegenstände lagen offen herum. Ich beschloss, gleich noch etwas in Schubladen und Schränken herumzuwühlen. Dann sah ich in Brittas Schlafzimmer den halb gepackten Koffer. Auf dem Bett lagen Kleidung und Reiseunterlagen. Ich hatte keine Bedenken, die Dokumente anzufassen, schließlich trug ich immer noch meine schwarzen Lederhandschuhe. Ein schön kostspieliges Reiseziel hatte sich meine Schwester da ausgesucht. Schade, dass sie dort nie ankommen würde. Ich packte die Unterlagen sowie die Kleidung in den Koffer und schloss ihn. Den würde ich mitnehmen, sonst würde Brittas Putzfrau, die sie sicher noch beschäftigte, sofort bemerken, dass etwas nicht stimmte.
Auf einmal packte mich das schlechte Gewissen, und ich verspürte nicht mehr das geringste Verlangen, etwas von Brittas Besitz an mich zu nehmen. Ich wollte nur noch aus der Wohnung verschwinden. Trotzdem war ich geistesgegenwärtig genug, die Heizung in allen Räumen zu drosseln, wie jemand es vor einer Reise täte. Anschließend löschte ich überall das Licht. Dann machte ich mich mit dem Koffer möglichst geräuschlos auf den Weg nach unten.
Die anderen waren enttäuscht, dass ich keine großen Reichtümer brachte, doch schließlich gaben sie sich damit zufrieden, Brittas edle Kleidung auf Flohmärkten zu verhökern. Wir mussten wohl oder übel noch einmal zurück zu der Schrebergartensiedlung, um Brittas Wohnungsschlüssel zurück in ihre Handtasche zu legen. Bei einem Mord ist jedes Detail wichtig. Es war eine höllische Fahrt. Außerhalb der Stadt waren die Straßen kaum gestreut und die Landschaft dermaßen zugeschneit, dass Poker, der den Wagen steuerte, nur mühsam den Verlauf der Straße erkennen konnte. Ich bemühte mich, wie die anderen Gelassenheit auszustrahlen. Dabei hatte ich große Angst, wir könnten von der Straße abkommen und in einen Graben rutschen. Zum Glück verlief unsere Fahrt dennoch reibungslos. Ich wartete mit den anderen im Wagen, während Bobby Brittas Schlüssel in die Laube brachte. Ich wollte nicht noch einmal den toten Körper meiner Schwester sehen. Dann fuhren wir zu der Wohnung meiner Freunde. Es war bereits weit nach Mitternacht, als wir dort ankamen. Der aufregende Abend war erfolgreich überstanden.
Thomas Curry war kein Mensch, wenn das auch außer mir niemand bemerkte, nicht einmal Virginia Lindt, seine Verlobte. Und Thomas Curry hatte Adrian Adam auf dem Gewissen. Um ihn war es nicht schade. Er verdiente es zu sterben, bevor er noch mehr Menschen schaden konnte. Genauso wie Britta. Ich bin froh, dass meine eigene Schwester tot ist. Ist es nicht abscheulich, so etwas von sich zu behaupten? Sollte ich mich dafür schämen? Aber es ist doch die Wahrheit. Ich würde Britta nicht einmal wieder ins Leben zurückholen, wenn ich es könnte.
Ich bin kein schlechter Mensch. Im Gegenteil, ich habe immer gute Absichten. So war es auch, als ich nach Hamburg fuhr. Britta war der eigentliche Grund für meine Reise, nicht die vier jungen Männer, die ich einige Monate zuvor im Internet-Briefclub kennengelernt hatte. Ich hatte gehofft, Britta und ich könnten nach all den Jahren doch noch wie echte Schwestern zueinander sein. Das hatte ich mir so sehr gewünscht. Doch dann kam alles anders.
Bevor ich Brittas Wohnung aufsuchte, deren Adresse ich aus dem kleinen zerfledderten Heft hatte, das bei meinen Eltern stets neben dem Telefon lag, machte ich einen Abstecher zu meinen Internet-Freunden, um die vier endlich das erste Mal persönlich zu treffen. Ich war ganz aufgeregt und hatte Angst, ich könnte wieder aus irgendeinem Grund wütend werden und die Kontrolle verlieren. Dann würden wir anfangen zu streiten, und sie würden mich für verrückt halten und mir sagen, ich solle abhauen. So war es sonst jedenfalls immer gewesen. Obwohl bisher meistens ich es war, die die anderen anschrie, dass sie verschwinden sollten. Es ist mir noch nie gelungen, eine Freundschaft zu jemandem aufzubauen. Ich weiß auch nicht wieso, aber ich habe damit einfach kein Glück. Alle Menschen wenden sich früher oder später von mir ab, erschrocken über mein wildes Temperament und verängstigt wegen meiner Wutausbrüche. Diesmal wollte ich alles richtig machen und hatte mir vorher schon genau überlegt, was ich zu den vier Männern sagen würde – und was besser nicht. Sie hatten mich zu sich nach Hause eingeladen, aber ich schlug vor, für unsere erste Begegnung einen neutralen Ort zu wählen, und so trafen wir uns in einem Café in der Hamburger Innenstadt. Die vier hatten schon an einem Tisch draußen Platz genommen, als ich am Treffpunkt ankam. Ich erkannte sie sofort: den dicken glatzköpfigen Poker, Bobby mit seinen grünen Haarstoppeln, den pinkhaarigen Wuschel und den hageren Cäsar mit seinem gelben Zopf. Schließlich hatten wir uns im Internet gegenseitig genau unser Aussehen beschrieben. Die Männer standen bei meiner Ankunft erfreut auf und begrüßten mich stürmisch, als wären wir schon seit Ewigkeiten befreundet, und so fühlte es sich auch an. Es fühlte sich einfach großartig an! Ich hatte es schon vorher geahnt, aber nun hatte ich Gewissheit: Das würden die besten Freunde sein, die man sich nur wünschen konnte. Sie sahen auch so ganz anders aus als die Spießer in Sandburg: trotz des heißen Sommerwetters in schwarze Lederhosen gekleidet, dazu verwaschene, teilweise löcherige T-Shirts, tätowierte Haut, mehrere Piercings im Gesicht und, außer Poker, buntgefärbte Haare. Wir wussten ja schon, dass wir viel gemeinsam hatten, und hatten uns jede Menge zu erzählen. Die Zeit vor dem Café verging wie im Flug. Die Luft war schwül, als wir auf den Motorrädern meiner Freunde zu ihnen nach Hause aufbrachen. Ich war froh, dass ich nur ein rotes Sommerkleid mit schmalen Trägern und dazu Sandalen trug. Wuschel nahm mich hinten auf seinem Roller mit, und erstaunlicherweise gelang es mir, trotz meiner schweren Reisetasche, die über meiner Schulter hing, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ich war nun doch neugierig geworden, wie die vier Männer wohnten. Außerdem wollte ich meine Tasche bei ihnen lassen, bevor ich mich zu Britta aufmachte. Mein Plan war es nämlich, Britta gegenüber zu behaupten, meine Reisetasche sei mir am Hauptbahnhof gestohlen worden, in der Hoffnung, sie werde mir dann Geld für neue Kleidung geben. Ich war doch ständig so knapp bei Kasse, und Britta hatte mehr Kohle, als sie brauchte. Es machte auch keinen Sinn, jetzt schon zu ihrer Wohnung zu fahren, da meine ehrgeizige Schwester ja sicher auch an diesem Freitagabend bis spät im Büro schuften würde.
Als wir bei meinen Freunden zu Hause ankamen, glaubte ich zuerst an einen schlechten Scherz. Zum Glück gelang es mir, mich zusammenzureißen und nicht laut loszulachen. Die vier lebten in einem abbruchreifen Haus. Die ganze Gegend schien verlassen, auch in der Nachbarschaft standen nur baufällige Ruinen. Die Motorräder wurden im verwahrlosten und mit Müll übersäten Hinterhof geparkt. Der grünhaarige Bobby wies noch stolz auf ein etwas angerostetes Auto mit Anhänger hin. „Das gehört auch noch uns und fährt einwandfrei, obwohl es wie unsere Motorräder offiziell gar nicht zugelassen ist. Toll, was?“
Ich nickte nur verblüfft.
Ein magerer schwarzer Hund humpelte auf dem Gehweg an uns vorbei, als wir das Haus betraten. Eine Eingangstür gab es nicht mehr. Wuschel bestand darauf, meine Reisetasche zu tragen. Über das marode Treppenhaus, dessen Wände mit Graffiti übersät waren und in dem es beißend nach Urin stank, gelangten wir in den dritten Stock. Bobby zog einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und schloss die klapperige Wohnungstür auf, die aussah, als würde sie gleich von selbst aus den Angeln fallen. Bei diesem absurden Anblick kroch erneut ein Lachen in meinem Hals hoch. Ich kaschierte es, indem ich stattdessen hustete.
„Willkommen in unserer bescheidenen Hütte“, lud mich der dünne gelbhaarige Cäsar mit einer übertriebenen Verbeugung ein, vor ihm einzutreten. In der Wohnung war es furchtbar stickig. Kein Wunder bei dem Wetter. Über einen dunklen, engen Flur, in dem Wuschel meine Tasche neben ein paar herumliegenden schmalen Eisenrohren abstellte, gelangten wir in einen Raum, der wohl als Wohn- und Schlafraum zugleich diente. Ein graues Sofa und ein niedriger Tisch standen darin. Vier schmutzige Matratzen, darauf ein paar Wolldecken, bedeckten fast komplett den abgetretenen, fleckigen, ursprünglich beigen Teppichboden. An einer Wand stand ein schief zusammengebauter Schrank. Von der Tapete befanden sich nur noch einige Fetzen an den Wänden. Vor dem Fenster hing eine vergilbte Gardine, darüber ein geblümter Vorhang.
„Wir leben hier ganz autark“, berichtete der dicke Poker stolz, „und scheißen auf die Gesellschaft. Unsere Möbel haben wir auf dem Sperrmüll zusammengesucht. Was die Leute für tolle Sachen wegschmeißen! Einfach Wahnsinn! Auf Strom und fließend Wasser müssen wir allerdings verzichten. Es ist im Winter ohne Heizung gar nicht so schlimm, wie du vielleicht denkst. Schließlich haben wir dicke Klamotten. Und wenn es gar nicht mehr geht, wärmen wir uns im Internet-Café auf. Unser Wasser sammeln wir draußen im Hof in einer Regentonne. Jetzt im Sommer ist das natürlich etwas schwierig, aber trotzdem kein Problem. Hier in der Nähe gibt es einen See, wo wir uns waschen können. Von da nehmen wir dann auch ein paar Eimer für die Klospülung mit.“
„Die Schlepperei ist zwar etwas mühsam, aber wir haben ja viel Zeit, die wir allerdings hauptsächlich im Internet-Café verbringen“, ergänzte Cäsar und kicherte. „Dafür geht einiges an Kohle drauf. Arbeiten tun wir nur, wenn es unbedingt sein muss.“
So wie ich.
„Na, was sagst du?“, fragte der pinkhaarige Wuschel, und alle vier sahen mich erwartungsvoll an.
„Das ist toll“, erwiderte ich, und das war nicht einmal gelogen. Ich fand es wirklich bewundernswert, so frei und unabhängig zu sein, allerdings wünschte ich mir für mich selbst etwas mehr Komfort. Aber ich würde ja auch nicht hier wohnen müssen. Sie zeigten mir noch das, was sie sich in einem anderen Raum als Kücheneinrichtung zusammengestellt hatten, und ein kleines Badezimmer, dessen wohl vormals hellblau geflieste Wände und dunkelblaue Bodenkacheln mit einem grauen Schmutzfilm überzogen waren. Auch das Waschbecken war völlig verdreckt.
„Das brauchen wir eh nicht“, rechtfertigte Wuschel den Zustand, obwohl ich mich gar nicht dazu geäußert hatte. Ein Blick auf die Toilette, die keinen Deckel mehr hatte, verriet mir, dass diese auch nicht besser aussah. Daneben stand ein mit Wasser gefüllter roter Eimer.
„Hier wird immer ordentlich gespült“, erklärte Bobby, „sonst gibt‘s eins in die Fresse. Nicht, Cäsar?“ Er blickte streng zu dem Gelbhaarigen, der wieder anfing zu kichern.
Ich hasse Schmutz. Als ich noch in dem schwarzen Haus gefangen war, hielt das tägliche Putzen mich davon ab, völlig den Verstand zu verlieren. Ich nahm mir vor, die ganze Wohnung zu einem späteren Zeitpunkt gründlich zu reinigen. Heute wollte ich erst einmal wie geplant zu Britta.
Es gab noch eine weitere Zimmertür, wie ich feststellte, als ich das Badezimmer verlassen hatte. Neugierig ging ich darauf zu, um mir den dahinterliegenden Raum anzusehen. Da bewegte sich der übergewichtige Poker plötzlich mit einer erstaunlichen Wendigkeit, um mich daran zu hindern.
„Da gibt es nichts zu sehen“, behauptete Bobby hastig, der sich neben Poker geschoben hatte.
„Was versteckt ihr da drin?“, fragte ich misstrauisch. Waren die vier doch nicht so ehrlich zu mir, wie sie taten? Sollte das etwa schon das Ende unserer Freundschaft sein?
„Zeigt ihr doch das Zimmer“, schlug Cäsar vor, der hinter mir stand und wieder anfing zu kichern, vielleicht vor Aufregung.
„Nun macht schon“, pflichtete ihm Wuschel bei.
Bobby trat ein Stück zurück, und Poker drückte die Klinke, um die Tür anschließend aufzustoßen, die sich mit einem leisen Knarren öffnete.
Der Raum, in dem sich wie in der restlichen Wohnung die Wärme des Tages gestaut hatte, war unauffällig, wie ich fast enttäuscht feststellte. Hier stand ein Kleiderschrank an einer Wand, an zwei weiteren Wänden sogar zwei Etagenbetten, jedoch ohne Matratzen.
„Die hat der Knast ausgemustert“, behauptete Poker, der direkt hinter mir stand. Vielleicht hatte er sogar Recht damit.
Wie in dem Zimmer, in dem die vier Männer schliefen, gab es einen abgetretenen Teppichboden und Tapetenreste an den Wänden. Die dünnen, orangerot karierten Vorhänge waren zugezogen und verdeckten ein Fenster und eine Balkontür.
„Wie gesagt“, wiederholte Bobby neben mir bestimmt, „es gibt nichts zu sehen.“
Er log. Ich las es in seinen Gedanken. Ich betrat das Zimmer. Die vier Männer blieben im Flur. Irgendetwas stimmte hier nicht. Wieso schliefen die vier in einem Raum auf dem Boden, wenn es einen zweiten mit Betten gab, der ungenutzt blieb? Dann bemerkte ich den widerlichen Geruch - als wäre ein Mülleimer lange nicht geleert worden. Kam der Gestank aus dem Kleiderschrank? Gern hätte ich nachgesehen, was sich darin befand, doch ich traute mich nicht, den Schrank zu öffnen. Das wäre doch zu neugierig gewesen. Stattdessen zog ich den Vorhang vor der Balkontür auf. Dahinter befand sich keine Gardine.
Fast die gesamte Fläche des kleinen Balkons Richtung Hinterhof wurde von einer Gefriertruhe eingenommen. Fragend sah ich mich um.
„Die stand ursprünglich in der Küche, nahm da aber nur Platz weg“, erklärte Bobby, der mir in das Zimmer gefolgt war. „Es war uns peinlich. Wir wollten nicht, dass du uns für blöd hältst, weil wir uns die Mühe machen, eine Gefriertruhe quer durch die Wohnung auf den Balkon zu schleppen.“
„Sie hätte beinahe nicht durch die Balkontür gepasst. War ein halbes Umbringen“, ergänzte Cäsar, der nun ebenfalls den Raum betreten hatte, und kicherte wieder.
„Komm, Inga, lass uns ins Wohnzimmer gehen und da noch ein bisschen quatschen, bevor du zu deiner Schwester aufbrichst“, schlug Bobby vor und griff sanft meinen nackten Oberarm.
Ich nickte nur. Durch den ekelhaften Geruch in dem Raum war mir bereits leicht übel. Gerade wollte ich mich umdrehen und Bobby zurück in den Flur folgen, als ich aus dem Augenwinkel wahrnahm, dass sich auf der Gefriertruhe etwas bewegte. Kleine gelbliche Punkte. Ich sah genauer hin. Es waren Maden.
„Der Kerl hat einfach nur genervt und musste weg“, erklärte mir Wuschel etwas später.
Ich hatte neben ihm auf dem grauen Sofa in dem sogenannten Wohnzimmer Platz genommen. Bobby und Cäsar saßen im Schneidersitz auf ihren Matratzen, und Poker lag lächelnd auf einer weiteren Matratze, die Hände auf seinem dicken Bauch gefaltet, in Erwartung einer guten Geschichte.
„Immer wieder ist der Typ hier aufgetaucht“, fuhr Wuschel fort, „hat im Haus herumgeschnüffelt und wollte uns die Wohnung abluchsen.“
„Aber es gibt hier doch noch genug leerstehende Wohnungen“, bemerkte ich verständnislos.
„Ja, aber die sind erstens alle völlig verschimmelt“, antwortete Bobby, „und zweitens nicht mit schönen Möbeln eingerichtet, die wir hier haben. Das hier sind die einzigen bewohnbaren Räume in dieser Baracke. Nicht umsonst haben wir uns die Mühe gemacht, alle Möbel vom Sperrmüll in den dritten Stock zu schleppen. Man muss bekloppt sein, wenn man sich in einer der anderen Wohnungen niederlässt.“
„Jedenfalls“, erzählte Wuschel weiter, „wollte der Kerl nicht kapieren, dass er hier nichts verloren hat. Dann haben wir ihn eines Tages beim Nachhausekommen erwischt, wie er die Wohnung durchsuchte. Da gab‘s zur Strafe dann erst mal ein paar mit dem Eisenrohr. Die Rohre liegen nämlich nicht umsonst im Flur. Die haben wir zu unserer Verteidigung. Vier gegen einen. War ein bisschen unfair. Und leider etwas zu viel für das Weichei. Der Kerl ist draufgegangen. Genauso war‘s.“
Poker nickte zufrieden bei diesen Worten.
„Und dann?“, fragte ich neugierig, obwohl ich mir andererseits nicht sicher war, ob ich das wirklich wissen wollte.
„Wir haben ihn nach unten in den Hinterhof geschleppt“, berichtete Wuschel weiter. „Es war schon dunkel und goss in Strömen. Zuerst wollten wir den Mistkerl vergraben. War uns dann aber zu umständlich, weil hier alles zugepflastert ist. Also haben wir ihn mit Axt und Säge zerlegt. War auch eine Sauarbeit, das kann ich dir sagen. Im Film sieht das immer so einfach aus. Isses aber nicht. Da ist ‘ne Menge Blut geflossen, aber das vermischte sich mit dem Regen und sickerte in den Gully.“ Wuschel machte einen Moment Pause, bevor er weitersprach. Cäsar kicherte aufgeregt.
„Anschließend haben wir alles in Plane und Teppichreste gewickelt. Davon liegt in den leeren Wohnungen reichlich herum. Dann sind wir nach oben und haben die Gefriertruhe auf den Balkon geschafft. Das war echte Maßarbeit. Dann wieder nach unten, die Einzelteile nach oben geschleppt und ab in die Truhe damit.“
„Seitdem hat unsere Wohnungstür ein Schloss“, sagte Bobby ernst. „Jetzt im Sommer riecht es ziemlich übel, aber das wird in ein paar Monaten vorbei sein, wenn der Kerl zersetzt ist.“
Plötzlich spürte ich wieder einen unbändigen Lachreiz. Ich biss mir in die Innenseiten meiner Wangen, um ihn zu unterdrücken. Es war doch zu komisch: Ich dumme Gans machte mir Gedanken, weil ich vor Jahren einer Frau, die noch nicht einmal ein echter Mensch war, das Gesicht verätzt hatte. Andere hatten ganz andere Sachen auf dem Kerbholz. Das relativierte doch alles, was ich jemals angestellt hatte. Auch die unschöne Geschichte mit Jonas Solitär, die mich immer noch schaudern ließ.
Ich merkte, wie mich die anderen erwartungsvoll ansahen. „Danke für eure Offenheit“, sagte ich mit klarer Stimme, als ich mich wieder unter Kontrolle hatte.
Dann ging ich in den Flur und nahm den kleinen Strohhut aus meiner Reisetasche, den ich erst einige Tage zuvor besorgt hatte. Den wollte ich bei meiner Ankunft bei Britta tragen, um sie zu beeindrucken. Zu ihrer Wohnung würde ich schwarzfahren müssen, denn mein letztes Geld hatte ich für die Bahnfahrt nach Hamburg ausgegeben.
Zwischen Britta und mir hätte alles gut werden können. Das hatte ich mir so sehr gewünscht. Ich war sogar bereit, in ihrer Kanzlei zu arbeiten, um ihr zu zeigen, was in mir steckte, dass ich kompetent und zuverlässig sein konnte. Für meine Schwester überwand ich mich und saß von morgens bis abends im Büro. Und mein Arbeitsplatz hatte noch nicht einmal Fenster. Ich konnte nicht nach draußen sehen. Das war die Hölle. Fast hätte ich gleich an meinem ersten Arbeitstag alles verdorben, als ich meine Kollegen anfauchte, weshalb sie mich so ansahen. Dabei hatte ich nur Angst. Ich hatte nur Angst davor, wieder gefangen zu sein.
Ich leistete in der Kanzlei gute Arbeit. Das weiß ich. Nicht umsonst hatten mir meine Eltern erst einige Monate zuvor einen Computerkurs bezahlt. Sie hofften, dass ich dadurch trotz fehlender Ausbildung eine Chance auf eine Anstellung im Büro erhalten würde, obwohl ich das gar nicht anstrebte. In dem Kurs hatte ich sogar gelernt, richtig schnell zu tippen.
Einen harmlosen Spaß machte ich mir daraus, Britta mit meiner exakten Handschrift zu verwirren, die so aussah, als wäre sie gedruckt. Das ist auch so eine Sache, die seit meiner Gefangenschaft zu meinen Talenten gehört und die ich mir nicht erklären kann. Aber das war nicht böse gemeint. Ich wollte meiner Schwester niemals schaden.
Doch dann fand ich heraus, wie gemein Britta immer noch war und was für schlechte Gedanken sie hatte. Die Gedanken anderer lesen gehört zu den Gaben, die ich zunehmend besser beherrsche, seit ich das schwarze Haus in Noveha verlassen habe. Was für schlimme Absichten Britta Virginia Lindt gegenüber hatte, der sie eine Freundschaft vorgaukelte! Und mich wollte sie für ihre Intrige benutzen. Dafür war ich in Brittas Augen gut, für sonst nichts. Es tat so weh, das festzustellen. Da wurde ich wütend. So wütend! Von da an ging alles schief. Ich fing an, wie früher, als ich noch ein Kind war, darüber nachzudenken, wie ich meine Schwester am besten töten könnte. Als ich diese Gedanken einmal zugelassen hatte, war das Unglück nicht mehr aufzuhalten. Britta gegenüber war ich weiterhin freundlich. Was für eine Mühe es mich kostete, mich so zu verstellen! Meine Freunde erlebten jedoch das volle Ausmaß meiner Wut mit. Ich tobte regelrecht, wenn ich bei ihnen war. Doch sie verstanden mich. Das spürte ich. Endlich verstand mich jemand. Ich erzählte ihnen von Brittas Machenschaften und verschwieg auch nicht, welche schlimmen Dinge meine eigene Schwester mir angetan hatte, als ich noch ein Kind war. Britta war doch acht Jahre älter als ich. Wie hätte ich mich damals gegen sie wehren können? Alles, was meine Schwester mir je zugefügt hatte, jede Gemeinheit, fiel mir plötzlich wieder ein. Alles war auf einmal wieder ganz präsent, als wäre es erst gestern gewesen. Und meine Freunde pflichteten mir bei: „Ja, Inga, deine verdammte Schwester muss dafür bestraft werden, was sie dir angetan hat.“
Wenn meine Freunde aus dem Internet-Briefclub nicht gewesen wären, wäre vielleicht alles anders gekommen. Dann hätte ich mich schon irgendwann wieder beruhigt und wäre, immer noch sauer auf Britta, zurück nach Sandburg gefahren. Niemand wäre zu Schaden gekommen. Doch meine Freunde fragten mich nach Britta, wenn ich bei ihnen war. Und es tat so gut, mir alles von der Seele zu reden. Poker, Cäsar, Bobby und Wuschel - ich kenne noch nicht einmal die richtigen Namen der jungen Männer, die ich da im Internet kennengelernt habe. Doch ich weiß, dass jeder von ihnen eine schreckliche Kindheit hatte und Furchtbares durchmachen musste, obwohl sie mit mir nie darüber sprachen. Das mussten sie auch nicht. Ich las es in ihren Gedanken.
Ihr eigenes Unglück war wohl der Grund, weshalb es meine Freunde so sehr faszinierte, dass ich eine menschenverachtende und rücksichtslose Schwester hatte. Wer jahrelang schlecht behandelt wurde, ist von Natur aus negativ eingestellt und kann im schlimmsten Fall mit den schönen Dingen im Leben nichts mehr anfangen. Jede Einzelheit wollten meine Freunde über Britta und den Psychopathen Thomas Curry wissen, der seine Verlobte hinterging und mir ständig nachstellte. Je abstoßender die Details waren, desto besser. Und ich offenbarte meinen Freunden bereitwillig alles.
„Leute wie deine Schwester und dieser Thomas Curry müssen weg.“ Es war der pinkhaarige Wuschel, der es als Erster laut aussprach.
„Du hast zu viel getrunken“, antwortete ich möglichst gelassen, obwohl das, was er gesagt hatte, genau meine eigene Überzeugung war.
„Wuschel hat Recht. Deine Schwester und dieser widerliche Kerl müssen weg“, pflichtete nun auch der grünhaarige Bobby seinem Kumpel bei, und die anderen nickten eifrig.
„Dann lasst uns mal überlegen, wie wir das am besten anstellen“, neckte ich die vier Männer. Doch ein Teil von mir wollte wirklich den Mord an meiner eigenen Schwester und an Thomas Curry planen.
Es begann als Spiel. Jeder trug seine Ideen vor, wie wir Britta und Thomas Curry töten und ungestraft davonkommen könnten. Je öfter wir uns trafen, desto konkreter wurde unser Plan. Die anderen wollten über gar nichts anderes mehr sprechen. Und mir gefiel es, im Mittelpunkt zu stehen. Ich genoss es, wie sehr sich die vier Männer für mich einsetzen wollten. Dann gab es irgendwann kein Zurück mehr. Ich verpasste den Moment, in dem ich das Ganze noch hätte aufhalten können, in dem ich hätte sagen können, dass das Blödsinn war, dass ich nicht wollte, dass Britta und Thomas Curry etwas passierte. Es wäre auch gelogen gewesen. Also lockten wir die beiden in eine Falle und töteten sie.
Dass Thomas Curry in Wirklichkeit ein bedrohlicher Außerirdischer war und das der wahre Grund war, weshalb ich seinen Tod wollte, behielt ich bis zum Schluss für mich, denn das wäre weit über den Horizont meiner Freunde hinausgegangen. Welcher Mensch könnte mit so einer Tatsache schon umgehen? Ich bin mir sicher, dass die vier kein Wort verstanden, als ich Britta kurz vor ihrem Tod über Thomas Curry aufklärte. Es ist auch egal, denn ich werde meine wunderbaren Freunde niemals wiedersehen. Zu ihrer und zu meiner Sicherheit sollten wir das, was wir getan haben, vergessen und unser Leben so gut es geht weiterführen. Sie das ihre in Hamburg und ich meines in Sandburg. Das beschloss ich noch in der Nacht, in der wir Britta und Virginia Lindts Verlobten töteten. Gleich am nächsten Tag fuhr ich zurück nach Hause. Ich brachte es nicht über das Herz, den vier Männern zu sagen, dass ich den Kontakt zu ihnen für immer abbrechen würde. Ich hatte ihnen meinen richtigen Wohnort nie verraten. Sie glauben bis heute, ich käme aus Noveha. Sie haben keine Ahnung, was für eine Hölle Noveha ist und dass ich dort mehr als sieben furchtbare Jahre lang in einem Haus eingesperrt war. Meine lieben Freunde werden mich niemals finden können, selbst wenn sie es versuchen. Sie kennen mich nur als Inga Adam. Einen schöneren Nachnamen kann es für mich gar nicht geben.
Alles, was ich tue, geht irgendwann schief. So war es schon immer. Nie mache ich irgendetwas gut oder richtig.
„Wir sind sehr enttäuscht von dir, Inga.“ Wie oft habe ich diesen Satz in den letzten Jahren von meinen Eltern gehört. Immer nur Vorwürfe. Meine Eltern leben ihren Alltagstrott und sind verärgert, weil ich nicht wie sie tagein, tagaus schuften will. Weil ich mich nicht an irgendeinem Arbeitsplatz einsperren lassen will, halten mich meine Eltern für eine nutzlose Schmarotzerin. Doch es ist mir egal, was sie und andere über mich denken, denn ich werde mich nie wieder einsperren lassen. Nie wieder.
Rechtzeitig vor Weihnachten war ich zurück in Sandburg. In der Wohnung, die ich mit meinem Bruder Wolf teilte, war es bei meiner Ankunft still. Sicher arbeitete Wolf noch, der Arme.
Ich hatte meine Reisetasche ausgepackt, geduscht und war im Begriff, den Inhalt des Kühlschranks zu begutachten, als ich den Schlüssel im Schloss der Wohnungstür hörte. Vor diesem Moment hatte ich mich etwas gefürchtet. Denn anders als ich Britta weisgemacht hatte, hatte ich Wolf und meinen Eltern nicht gesagt, wohin ich verreisen wollte, sondern war nach einem schlimmen Streit mit meinem Bruder, in dem es wieder einmal darum gegangen war, dass ich so gut wie kein Geld zum Haushalt beisteuerte, sang- und klanglos verschwunden. Ich wusste, dass das gemein war. Wolf kam sicher um vor Sorge und hatte vermutlich Angst, dass ich wieder irgendwo eingesperrt worden war. Mein Bruder hatte in den letzten Wochen viele Male versucht, mich auf dem Handy zu erreichen, doch ich hatte ihn mit der kurzen Aussage, dass es mir gut gehe, abgewimmelt und war anschließend nicht mehr an das Telefon gegangen, wenn er anrief. Während meines Aufenthalts in Hamburg fand ich, dass das meinem Bruder recht geschah, doch jetzt packte mich das schlechte Gewissen.
„Inga“, Wolf betrat die Küche und blickte mich erstaunt an. Er sah müde aus.
„Tja, da bin ich wieder“, antwortete ich in einem heiteren Tonfall.
„Wo warst du denn die ganze Zeit? Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht.“ Mein Bruder klang eher traurig als wütend.
„Ich ... Stell dir nur vor, ich war in Österreich und habe Bauern bei der Ernte geholfen. Und dann haben sie mich zum Dank noch ein paar Wochen bei sich wohnen lassen. Toll, nicht?“ Wie leicht mir diese frei erfundenen Worte über die Lippen kamen. „Ich weiß, ich hätte nicht so abweisend sein und mich zwischendurch bei dir melden sollen. Es tut mir leid. Verzeihst du mir?“
„In Österreich also“, murmelte mein Bruder.
Ich war mir nicht sicher, ob er mir glaubte. Ich hatte ihn in der Vergangenheit zu oft angelogen.
„Ja, in Österreich“, bestätigte ich hastig. Dann setzte ich, um abzulenken, schnell hinzu: „Geh du ruhig erst mal unter die Dusche. Ich koche uns etwas Leckeres zu essen. Schließlich müssen wir unbedingt meine Rückkehr feiern.“
„Wir sind sehr enttäuscht von dir, Inga“, brummte mein Vater statt einer Begrüßung, als Wolf und ich unsere Eltern an Heiligabend besuchten. Sicher hatte er diesen Satz aus einer der Serien, die er sich täglich ansah. Seit meine Eltern die Daten ihrer Kunden an irgendwelche Unternehmen verkauften, hinter denen Wolfs Ansicht nach in Wirklichkeit Außerirdische steckten, arbeiteten sie nur noch bis zum Nachmittag in ihrer Gärtnerei. Mein Vater pflegte dann den Rest des Tages vor dem Fernseher zu verbringen, während sich meine Mutter im Haushalt betätigte. Früher waren meine Eltern wie ich begeisterte Mitglieder im Briefclub gewesen, doch seit der schriftliche Austausch größtenteils im Internet stattfand, hatten sie das Interesse daran verloren.
„So ein Computer kommt mir nicht ins Haus, basta!“, hatte mein Vater bestimmt. Damit war das Thema für ihn erledigt gewesen.
„Nun fang doch nicht gleich wieder Streit an, Egon“, meinte meine Mutter versöhnlich, bevor sie mich an sich drückte. „Schön, dass du wieder da bist, Deern. Wo warst du denn bloß so lange?“
„In Österreich“, wiederholte ich die ausgedachte Geschichte. „Ich habe Bauern bei der Ernte geholfen, und sie haben mich anschließend zum Dank noch eine Weile bei sich wohnen lassen.“ Herausfordernd sah ich meinen Vater an. „Weil ich so tüchtig war.“
„Schön, Inga“, lobte mich meine Mutter, nachdem sie auch Wolf umarmt hatte. „Aber du hättest zwischendurch ruhig einmal anrufen können. Wir dachten, dir wäre Gott weiß was passiert! Nun lasst es uns erst einmal gemütlich machen.“
Wie schon in meiner Kindheit hatten meine Eltern auch in diesem Jahr die im Wohnzimmer aufgestellte Tanne aus ihrer eigenen Baumschule geholt, bunt geschmückt und mit einer Lichterkette verziert. Aus der Küche duftete es schon köstlich nach dem Gänsebraten, den wir an diesem Abend essen würden. Ich hoffte, dass meine Mutter reichlich zubereitet hatte und sie Wolf und mir die Reste mit nach Hause geben werde. Dann hätten wir für die nächsten Tage erst einmal ausgesorgt und würden uns nicht wieder wegen Geld streiten. Unsere Eltern, Wolf und ich hatten vereinbart, uns wie in den vergangenen Jahren gegenseitig nichts zu schenken. Ich hätte dafür auch gar kein Geld gehabt. Dennoch wollte ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, meinen Eltern einen Wink mit dem Zaunpfahl zu geben. Während wir vor dem Essen zusammensaßen und den Glühwein tranken, den meine Mutter uns eingeschenkt hatte, sagte ich scherzend: „Also, wenn ihr nicht wisst, was ihr Wolf und mir schenken sollt: Geld geht immer.“ Ich spürte, wie mich Wolf verärgert von der Seite ansah, als mein Vater seinen Glühweinbecher mit Wucht abstellte und losplatzte: „Glaub bloß nicht, dass du Faulpelz auch nur einen Pfennig von uns bekommst! Glaub das bloß nicht, Inga! Wozu haben wir dir eigentlich den Computerkurs bezahlt, wenn du dich, statt wie anständige Leute zu arbeiten, in der Welt herumtreibst! Deine Mudder und ich sind sehr enttäuscht von dir!“
„Egon ...“, versuchte meine Mutter, meinen Vater zu beschwichtigen. Dann wandte sie sich an mich: „Komm, Inga, du kannst mir in der Küche helfen. Das Essen müsste fertig sein.“
Ich war damit beschäftigt, die Kartoffelklöße, die meine Mutter an jedem Weihnachtsfest selbst machte, weil Britta sie früher so gerne gemocht hatte, mit einer Kelle aus dem Wasser zu fischen. Auch war der Esstisch, wie ich beim Betreten der Küche bemerkt hatte, wie immer für fünf Personen gedeckt, falls sich Britta doch noch einmal dazu herablassen sollte, das Weihnachtsfest mit ihrer Familie zu verbringen. Allerdings betrug die Wahrscheinlichkeit, dass Britta noch einmal nach Sandburg kommen würde, ab jetzt für alle Zeiten null Komma null. Bei dem Gedanken hätte ich am liebsten laut losgelacht.
Meine Mutter öffnete die Klappe eines Küchenschranks und kramte in einer Keksdose herum. Dann drückte sie mir ein paar Geldscheine in die Hand. „Hier, Deern, als Weihnachtsgeschenk. Teil dir das mit Wolf. Und lass bloß deinen Vadder nichts davon mitkriegen.“
„Danke, Mama“, sagte ich gerührt und drückte meine pummelige Mutter, deren einst blondes Haar inzwischen fast vollständig ergraut war, an mich. „Du bist wirklich die Beste. Du bist die Einzige, die zu mir hält. Papa hackt immer nur auf mir herum.“
„Dein Vadder will nur, dass aus dir was wird, Inga. Und nun sieh zu, dass du die restlichen Klöße aus dem Wasser kriegst, sonst werden sie zu matschig.“
„Was ist das bloß für ein zäher Scheiß!“, schimpfte mein Vater und bearbeitete das Stück Gänsebraten auf seinem Teller energisch mit dem Messer. „Da will man den kleinen Geschäften im Ort was Gutes tun und kauft beim Metzger, und der dreht einem dann so ein altes Vieh an! Ab jetzt kaufen wir das Fleisch nur noch im Discounter, Renate, das sage ich dir!“
Ich hätte meine Eltern an dieser Stelle gern über einige nicht ungefährliche Dinge aufgeklärt, die den arglosen Kunden in Supermärkten und Discountern angeboten wurden. Ich hätte sie gern gewarnt. Doch ich schwieg, denn sie würden mir sowieso nicht glauben, und mein Vater würde sich nur noch mehr aufregen.
„Komm, Egon, ich hol dir noch ein Bier“, bot meine Mutter an. „Dann rutscht es besser.“
Doch mein Vater ließ sich nicht besänftigen. Jetzt war er erst recht angriffslustig und wollte seine schlechte Laune an mir auslassen. „Wie hast du dir eigentlich dein zukünftiges Leben vorgestellt, Inga?“, fuhr er mich an. „Willst du dir vielleicht auch endlich einmal einen anständigen Beruf wie Wolf und Bridda suchen oder weiter anderen Leuten auf der Tasche liegen?“
„Egon, nun hör doch auf.“ Meine Mutter stellte eine zweite Flasche Bier vor meinen Vater auf den Tisch.
„Nein, lass nur“, wehrte ich gelassen ab. „Das ist doch eine berechtigte Frage.“
Wolf bat mich mit seinem Blick, jetzt bloß keinen Streit mit unserem Vater vom Zaun zu brechen. Unsere Mutter hatte sich mit dem Essen so viel Mühe gegeben.
„Ich habe allerdings vor, mein Leben zu ändern“, behauptete ich. „Gleich nach den Feiertagen werde ich in der Zeitung nach einem geeigneten Job Ausschau halten.“
Meine Eltern und Wolf sahen mich gleichsam erstaunt an.
„Das“, fügte ich triumphierend hinzu, „ist mein guter Vorsatz für das Jahr 2001.“
Schade nur, dass gute Vorsätze bei mir nie lange anhielten. Zumal dieser auch nicht wirklich ernst gemeint war. Ich wollte nur Ruhe von dem ständigen Herumgenörgele meines Vaters haben. Nein, es war nicht richtig, dass ich auf Wolfs Kosten lebte. Und: Ja, es wäre wirklich an der Zeit, mir eine Arbeit zu suchen und mein eigenes Geld zu verdienen. Aber dafür wollte ich nicht meine Freiheit aufgeben.
Mittlerweile war es Mitte Januar. Letztes Wochenende war eine Stellenanzeige eines neu eröffneten chinesischen Restaurants in der Sandburger Zeitung erschienen, in der eine Bedienung für die Abendstunden gesucht wurde. Meine Mutter hatte die Anzeige extra für mich ausgeschnitten. Vielleicht sollte ich mich dort wirklich einmal vorstellen, wenn ich auch keine Erfahrung als Kellnerin hatte. Dann hätte ich zumindest ein kleines Einkommen und würde tagsüber immer noch tun und lassen können, was ich wollte.
Während ich darüber nachdachte, war Wolf im Badezimmer und duschte. Er war völlig erschöpft aus dem Schuhgeschäft, wo er angestellt war, nach Hause gekommen. Er hatte nicht einmal großartig reagiert, als ich ihm mitteilte, dass ich nicht wie eigentlich geplant einen Auflauf zubereitet hatte, sondern heute Abend Reste aufwärmen würde, da diese sich nicht länger hielten. In Wahrheit hatte ich vergessen, Lebensmittel einzukaufen. Ich hatte es einfach vergessen, und irgendwie war der Tag vergangen, ohne dass ich genau hätte sagen können, womit ich ihn verbracht hatte. Es kam in letzter Zeit öfter vor, dass ich Dinge vergaß. Manchmal konnte ich mich beim besten Willen nicht daran erinnern, was ich in den letzten Stunden getan hatte. So war es ebenfalls teilweise gewesen, wenn ich Brittas Wohnung in Hamburg verlassen hatte. Aber auch schon davor war es vorgekommen, dass ich irgendwo in Sandburg unterwegs gewesen war und anschließend nicht sagen konnte, wie ich dorthin gekommen war und was ich dort eigentlich wollte. Das war mir selbst unheimlich. Meine Vergesslichkeit hatte schleichend nach meiner Flucht aus dem schwarzen Haus begonnen. Ich hatte dort während meiner Gefangenschaft einige Fähigkeiten dazugelernt und büßte dafür anscheinend mein Erinnerungsvermögen ein.
Wolf durfte auf keinen Fall etwas davon erfahren. Er hatte schon genug Sorgen bei der Arbeit, wenn er auch meistens darüber schwieg. Wolf machte mehr Überstunden als seine Kollegen, und das ohne Bezahlung oder Freizeitausgleich. Es stimmte nicht ganz, dass Wolf, wie ich Britta gegenüber behauptet hatte, Leiter eines großen Schuhgeschäfts in Sandburg war. Das war er gewesen, bevor das Geschäft Teil einer Schuhgeschäftskette wurde. Von da an hatte eine gewisse Frau Trapp dort das Sagen. Sie kontrollierte mehrere Filialen, und Wolf musste sich von ihr allerhand gefallen lassen. Sie scheuchte ihn von morgens bis abends herum, und er konnte es ihr nie recht machen. Dann stimmte die Kasse nicht, dann gab es zu viele Diebstähle, dann waren Warenbestellungen zu spät aufgegeben worden. Was es auch war, immer bekam Wolf die Schuld dafür. Und er schluckte das alles, ohne sich zu wehren.
„Lass nur, Inga“, winkte er ab, wenn ich mit ihm darüber sprechen wollte. „So schlimm ist es nun auch wieder nicht.“
Doch es war schlimm. Das wusste ich. Wolf wollte mit mir nicht über seine Arbeit reden, weil er dachte, dass es mich sowieso nicht interessierte. Aber da irrte er sich. Bei Wolf war es nicht so einfach, seine Gedanken zu lesen, und doch war deutlich, dass ihn seine Arbeit und diese Frau Trapp sehr beschäftigten. Aber keine Sorge, Wolf. Ich würde mich schon darum kümmern. Jetzt war ich ja zurück in Sandburg, und ...
Das Klingeln des Telefons im Wohnzimmer unterbrach meine Überlegungen.
„Hallo“, meldete ich mich. Ich hatte es irgendwann aufgegeben, meinen Namen zu nennen. Es hatten in der Vergangenheit zu oft Spinner angerufen.
Eine Frau weinte am anderen Ende der Leitung. Ich wusste sofort, dass es meine Mutter war. „Inga, bist du das?“, brachte sie schluchzend hervor.
„Ja, Mama.“ Ich stellte keine Fragen, denn es gab keinen Zweifel, weshalb sie anrief.
„Bridda ist verschwunden“, schniefte meine Mutter in den Hörer und putzte sich anschließend geräuschvoll die Nase.
„Was soll das heißen: verschwunden?“, fragte ich immer noch ruhig. Meine Mutter würde denken, dass mich die Nachricht vollkommen schockiert hatte.
„Die Polizei war gerade da, Inga. Bridda war wohl verreist. Sie hätte aber schon seit zwei Wochen zurück sein sollen.“ Meine Mutter konnte vor Weinen kaum sprechen.
Dann hatte sich in Brittas vornehmer Kanzlei anscheinend doch noch jemand gefunden, der es für nötig gehalten hatte, sie als vermisst zu melden.
„Ihre Putzfrau hat die Polizei verständigt. Die hat nämlich gemerkt, dass Briddas Briefkasten überquillt und dass sie anscheinend nie in der Wohnung ist“, erzählte meine Mutter mit bebender Stimme weiter. „Die Polizei fragt jetzt erst einmal in Briddas Bekanntenkreis herum ...“ Meine Mutter brachte die Worte nur mühsam hervor. „Und wenn das nichts bringt, ... wird wegen einem Verbrechen ermittelt.“ Erneut drang ihr hemmungsloses Schluchzen an mein Ohr.
Ich hatte mir in den vergangenen Wochen immer wieder ausgemalt, wie es sein würde, von Brittas Verschwinden oder dem Auffinden ihrer Leiche zu erfahren und wie ich darauf reagieren müsste. So rief ich mir jetzt die Worte in Erinnerung, die ich so oft geprobt hatte, während Wolf bei der Arbeit war. „Das kann doch nur ein Irrtum sein“, stotterte ich verwirrt. „Dafür gibt es sicher eine ganz einfache Erklärung. Du wirst sehen, Mama, es wird sich alles aufklären. Vielleicht hat Britta ihre Reise einfach spontan verlängert, weil sie dort einen tollen Mann ...“
„Doch nicht meine Deern!“, unterbrach mich meine Mutter energisch. „Doch nicht meine tüchtige, anständige Deern!“ Dann weinte sie weiter.
Mir fiel nichts Unverfängliches mehr ein, was ich noch hätte sagen können, und so beschloss ich, das Gespräch zu beenden. „Melde dich, wenn es Neuigkeiten gibt, ja, Mama? Ich komme euch morgen Nachmittag besuchen, okay?“ Dann legte ich auf.
„Was ist denn passiert?“, hörte ich plötzlich Wolf hinter mir fragen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er das Zimmer betreten hatte. Ruckartig fuhr ich herum. „Britta ist verschwunden“, antwortete ich, bemüht um einen leicht panischen Tonfall.
Wolf sah mich völlig entgeistert an. Diesen Ausdruck hatte ich schon einmal in seinem Gesicht gesehen, vor etwas mehr als zehn Jahren, als ich vierundzwanzig und er sechsundzwanzig war. An jenem Abend des 1. Oktober 1990, nachdem ich nach über sieben Jahren Gefangenschaft aus dem schwarzen Haus entkommen war.