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2. Durch die Wand
ОглавлениеNoch bevor Wolf damals durch diese furchtbar hohe Pforte die schmale Rasenfläche vor dem schwarzen Haus betrat, wusste ich, dass er schlechte Neuigkeiten brachte. Das war das erste Mal, dass mir klar wurde, dass ich die Gedanken anderer lesen konnte. Wolf wollte mir sagen, dass mir Terri Grubers Stiefvater bei meiner Befreiung nicht helfen werde, dass mir niemand helfen werde, dass mein Bruder alles Mögliche versucht habe, aber vergeblich. Eines wollte er allerdings nicht ansprechen: dass ich in dem schwarzen Haus sterben würde. Verhungern oder verdursten, vielleicht auch beides.
Doch Wolf sollte sich irren. Denn es war mir wider Erwarten nach all den Jahren gelungen, aus meinem Gefängnis zu fliehen, und zwar aus eigener Kraft. Wie genau ich das angestellt hatte, konnte ich mir selbst nicht erklären. Ich wusste auch nicht, wie lange ich da schon in der Abenddämmerung im Vorgarten stand und auf meinen Bruder wartete. Doch eines war wirklich passiert: Ich war durch die Hauswand gegangen. Irgendwie hatten sich die Atome meines Körpers mit denen der dicken Mauer vermischt, anders konnte ich es nicht beschreiben. Ich hatte keine Schmerzen, nicht einmal einen Widerstand gespürt, während ich die Mauer durchdrungen hatte.
Für einen Moment fürchtete ich, Wolf werde ohnmächtig werden, als er mich erblickte. Völlig sprachlos stand er da, und ich sah ihm an, dass er erst kürzlich geweint hatte. Er meinte, mich verloren zu haben, und nun war ich wie durch ein Wunder gerettet. Mein Bruder fing wieder an zu weinen, diesmal vor Erleichterung, als wir uns in die Arme fielen, und auch ich brach in Tränen aus. Dann versuchte ich, Wolf zu erklären, was geschehen war. Er hörte mir ruhig zu und schien mir jedes Wort zu glauben. Später, nach unserer Rückkehr nach Sandburg, zog er es in Erwägung, dass ich vor Durst, Hunger und Todesangst Halluzinationen gehabt haben könnte und das Haus eventuell doch auf eine andere, natürliche Weise verlassen hatte. Ich widersprach ihm nicht. Doch ich kannte die Wahrheit. Die einzige Wahrheit. Ich hatte das schwarze Haus durch die Wand verlassen. So und nicht anders.
Als wir uns etwas beruhigt hatten, blickte Wolf verwirrt um sich, als suchte er etwas.
„Was ist los?“, fragte ich, eine neue Bedrohung fürchtend.
„Die Zypressen“, sagte Wolf nur.
„Was ... was meinst du damit?“
„Sie sind still. Sie sind verdammt noch mal endlich still!“ Dann fing mein Bruder an zu lachen. Erst zaghaft, dann ausgelassen, fast hysterisch. Für einen Moment glaubte ich, er habe den Verstand verloren.
„Lass uns bitte endlich von hier verschwinden“, drängte ich ihn schließlich.
Wir machten uns auf zu Wolfs Unterkunft. Wolf hatte darauf bestanden, dass ich seine Jacke anzog, da ich zu meiner Jeans und Turnschuhen nur einen dünnen Pullover trug. Ich war so wackelig auf den Beinen, dass mein Bruder mich stützen musste. Zum ersten Mal sah ich die Gegend, in der sich mein jahrelanges Gefängnis befand. Es war eine ganz normale Wohnsiedlung mit adretten Häusern und gepflegten Gärten, allerdings kamen mir die Straßen, deren Namen alle ähnlich klangen, zumindest jetzt in der Dunkelheit wie ein Labyrinth vor. Doch Wolf hatte sich anscheinend über die Jahre eine gute Ortskenntnis angeeignet und ließ sich nicht beirren. Ich hätte es wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, wenn wir im Kreis gegangen wären.
Ein hagerer Mann kam uns nach einigen Hundert Metern entgegen. Als er Wolf und mich im Licht einer Straßenlaterne sah, starrte er uns für einen Moment ungläubig an. Dann senkte er den Blick und wechselte die Straßenseite.
„Was war denn das für ein Typ?“, wollte ich wissen.
„Das war Herr Huhn“, erklärte Wolf ruhig. „Er war damals bei deiner Befreiungsaktion durch die Bürgerwehr beteiligt. Genauer gesagt, war er es, der die Bürgerwehr ins Leben gerufen hatte. Leider hat er im entscheidenden Moment Angst bekommen und ist weggelaufen. Er hat Tarek, Ingo und mich einfach im Stich gelassen.“ Die letzten Worte meines Bruders klangen bitter.
„Du bist immer noch sauer auf ihn, was?“
„Sauer ist das falsche Wort. Aber Ingo hat sein Leben riskiert und ist gestorben, und Tarek liegt seit jenem Tag, an dem er die Zypressen berührte, bewegungsunfähig in einem Pflegeheim. Wenn Herr Huhn nicht weggerannt wäre und stattdessen Ingo und mir geholfen hätte, hätten wir den Lebensmittellieferanten vielleicht überwältigen können. Dann wärst du schon vor Jahren frei gewesen.“
Ich schwieg betreten.
Wir näherten uns allmählich dem Stadtzentrum. Wohnhäuser wichen zunehmend Geschäften. Schließlich kamen wir am sogenannten Zentralplatz an, in dessen Mitte ein beleuchtetes Schild mit einem dicken, roten, nach unten zeigenden Pfeil auf das Zentrum der Republik hinwies. So etwas Bescheuertes. Wolf hatte mich über die Jahre, ob ich nun wollte oder nicht, über die politischen Ereignisse auf dem Laufenden gehalten, und so wusste ich, dass Deutschland in ein paar Tagen wiedervereinigt werden und Noveha sich dann nicht mehr im Zentrum der Republik befinden würde.
„Das neue Zentrum der Republik wird Nühlpah sein“, nahm Wolf das Gespräch wieder auf. „Das weiß ich von dem Ufologen, den ich in der Schweiz besucht habe. Ich muss dir unbedingt noch erzählen, was er mir für interessante Informationen gegeben hat. Einfach unglaublich! Ich hatte für dich extra einen Reisebericht geschrieben, aber dann hattest du nichts mehr zu essen und zu trinken, und der Bericht schien völlig unwichtig.“
Wir standen vor einem dreistöckigen Backsteinhaus, über dessen Eingangstür in weißen Buchstaben „Pension Lola“ geschrieben stand. Wolfs Unterkunft während der letzten Jahre. Ein Schild mit der Aufschrift „Ausgebucht“ hing an der Tür. Wolf betrat vor mir die kleine, schwarzweiß geflieste Eingangshalle, in der eine ältere rundliche Frau in Kittelschürze an der Rezeption damit beschäftigt war, Besteck zu polieren. Ihr kurzes, dauergewelltes, pechschwarz gefärbtes Haar wurde größtenteils von ihrem im Nacken geknoteten Kopftuch bedeckt und bildete einen seltsamen Kontrast zu ihrem faltigen Gesicht.
„Nanu, Herr Klein, ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, sprach sie Wolf besorgt an und bezog sich dabei vermutlich auf sein verweintes Gesicht. Schnell kam sie hinter dem Tresen hervor. Dann fiel ihr Blick auf mich, und ihr Gesicht hellte sich auf. „Oh, wie ich sehe, sind Sie nach langer Zeit wieder in Begleitung. Das ist ja schön, Herr Klein, sehr schön. Ich freue mich für Sie. Sie haben es wirklich verdient, das muss man sagen. Besonders nach dem Reinfall mit der Krankenschwester. So was vergisst man nicht so schnell. Aber man soll trotz aller Rückschläge die Hoffnung nie aufgeben. Ich persönlich glaube an echte Liebe. Und das, obwohl ich drei gescheiterte Ehen hinter mir habe! ‚Henriette‘, sage ich mir immer, ‚auch für dich wird der Richtige noch kommen.‘“
„Das ist meine Schwester Inga“, unterbrach Wolf das Geschnatter.
„Ach!“ Die Frau war für einen Moment sprachlos. „Etwa die, die das Haus nicht verlassen konnte? Die mit der Angststörung?“ Sie sah mich an. „Sie sind etwas blass um die Nase. Das kommt sicher von der fehlenden Sonne und frischen Luft. Immer nur drin hocken! Das ist doch auf die Dauer kein Zustand! Aber das haben Sie jetzt wohl selbst eingesehen, was?“
„Ich bin durch die Wand gegangen“, sagte ich nur.
Die Frau brach in schallendes Gelächter aus und entblößte dabei eine Zahnlücke. „‚Durch die Wand gegangen‘, das ist ja herrlich! Ihr jungen Leute denkt wohl, ihr könnt mit uns Alten euren Schabernack treiben, was?“ Sie lachte noch immer. „So leichtgläubig sind wir nun auch wieder nicht! Aber das ist wirklich ein guter Witz! Den muss ich mir unbedingt merken! Damit werde ich meine Nachbarin demnächst mal auf den Arm nehmen. ‚Durch die Wand gegangen!‘“ Sie wurde ernst und fragte dann Wolf leise: „Oder hat Ihre Schwester etwa nicht alle Tassen im Schrank?“
„Frau Weißich“, antwortete dieser überzeugt, „mit meiner Schwester ist alles in Ordnung.“
Bei diesen Worten hätte ich am liebsten laut gelacht.
„Sie müsste hier übernachten, weil sie sonst keine Bleibe hat“, fuhr Wolf fort.
„Ich habe aber kein Zimmer frei, Herr Klein. Wie Sie wissen, bin ich so gut wie immer ausgebucht. Ist ja auch kein Wunder bei den Preisen. Da kann eben niemand mithalten. Aber nächstes Jahr werde ich endlich die Preise erhöhen. Von dem Hungerlohn kann ja kein Mensch auf Dauer leben. Meine Nachbarin hat neulich auch schon zu mir gesagt: ‚Henriette‘, hat sie gesagt, ...“
„Frau Weißich ...“, versuchte Wolf fast verzweifelt, den Redeschwall zu beenden und das Thema wieder auf meine Übernachtungsmöglichkeit zu lenken.
„Was denn, Herr Klein, was denn? Nun werden Sie doch nicht so schnell ungeduldig! Ich habe ja nur gesagt, dass ich ausgebucht bin, mehr nicht. Aber für Notfälle habe ich doch immer noch ein Feldbett in meinem Büro, das Sie bei sich im Zimmer aufstellen können. Das kostet dann natürlich extra. Acht Mark pro Nacht. Und Sie müssen es selbst nach oben tragen. So eine Schlepperei machen nämlich meine alten Knochen nicht mehr mit.“ Die Frau verschwand in dem Raum hinter der Rezeption und kam mit einer zusammengeklappten Liege sowie einem kleinen Kissen und einer Wolldecke wieder hervor. „Das wird es wohl übergangsweise tun. Etwas Besseres kann ich Ihrer Schwester leider nicht anbieten, Herr Klein.“
„Vielen Dank, Frau Weißich.“ Wolf nahm die Sachen erleichtert an sich.
Mir drückte die Wirtin anschließend zwei weiße zusammengefaltete Frottierhandtücher in die Arme, die sie aus einem Schrank genommen hatte. „Die werden bei mir nur einmal die Woche gewechselt“, erklärte sie mir bestimmt, „öfter nicht. Da lasse ich nicht mit mir diskutieren. Die ganzen Wäscheberge sind nämlich die reinste Wasserverschwendung und unnötig.“ Sie blickte auf meine blonden Locken, die völlig verfilzt und außerdem unsauber waren. „Warten Sie, junge Frau, ich habe noch etwas für Sie.“ Sie begann, hinter der Rezeption herumzukramen. „Wo habe ich es denn nur hingetan? Ah, da ist es ja!“ Triumphierend hielt sie ein kleines Tütchen in die Luft, das wie eine Kosmetikprobe aussah. „Das ging heute an alle Haushalte. Sehen Sie mal:“ Sie deutete mit dem Zeigefinger auf die Probe. „‚Bringt blondes Haar zum Strahlen und macht Locken leicht kämmbar‘, steht hier. Ich wollte es schon wegwerfen, aber dann dachte ich mir: ‚Henriette‘, dachte ich mir, ‚bewahr das mal lieber für alle Fälle auf. Das könnte noch einem deiner Gäste nützlich sein.‘ Und schon ist der Fall eingetreten!“
Bevor ich etwas dazu sagen konnte, legte mir die Frau die Shampooprobe auf die beiden Handtücher.
„Frau Weißich“, wechselte Wolf das Thema, „ich weiß, dass Sie üblicherweise kein Abendessen anbieten, aber könnten Sie heute eine Ausnahme machen und uns ein paar Brote schmieren?“
Bei den Worten wurde mir wieder bewusst, wie sehr mein Magen vor Hunger schmerzte.
„Ja, Herr Klein“, antwortete Frau Weißich streng, „aber nur weil Sie es sind, mache ich das. Sie können ein paar übriggebliebene Brötchen von heute Morgen mit Butter und Wurst bekommen. Die kosten dann aber extra. Fünf Mark macht das. Und erzählen Sie das bloß nicht herum, sonst kommen noch alle an und wollen, dass ich ihnen ein Abendbrot serviere!“
Ich war froh, als wir endlich in Wolfs Zimmer waren. Das lange Gehen und Stehen hatte mich sehr angestrengt. Trotzdem riss ich als Erstes das Fenster auf und warf die Shampooprobe im hohen Bogen hinaus. Sie landete direkt vor dem Zaun der Pension auf dem Bürgersteig.
„Was soll das denn, Inga?“, fragte Wolf verständnislos. „Wieso bist du so undankbar?“
Ich schloss das Fenster. „Ich bin nicht undankbar, Wolf, nur vorsichtig. Das mit der Shampooprobe ist mir nicht geheuer. Ich werde deines benutzen, wenn du erlaubst.“
Bei meiner Rückkehr aus der Dusche, die sich auf dem Flur befand, stand im Zimmer schon ein Tablett mit belegten Brötchen auf dem niedrigen Couchtisch. Frau Weißich hatte sogar noch eine Kanne Tee dazu gemacht. Wie eine Wilde stürzte ich mich auf das Essen. So viele Tage war mein Magen leer geblieben, dass ich mir gleich ein halbes belegtes Brötchen auf einmal in den Mund stopfte.
„Langsam, Inga“, warnte mich Wolf. „Du wirst dich noch verschlucken.“
Ich schüttelte energisch den Kopf und kaute mit vollen Backen. Dann fiel mein Blick auf die zerbrochene weiße Vase, die zusammen mit einer roten Plastikrose an einer Wand lag, und mir wäre tatsächlich fast das Essen im Hals stecken geblieben – vor Lachen.
Als mein Mund endlich leer war, fragte ich meinen Bruder kichernd: „Was war denn hier los? Hast du etwa herumrandaliert?“ Ich hob spielerisch drohend meinen Zeigefinger.
„Dass du darüber noch lachen kannst“, warf mir Wolf ärgerlich vor. „Weißt du, wie schlimm es war, als ich Terris Brief gelesen hatte? Weißt du das?“
Terri Gruber. Ja klar. Die verdammte Terri Gruber hatte Wolf endgültig den Rest gegeben. Stattdessen sagte ich beschwichtigend: „Natürlich weiß ich das, Wolf. Bitte entschuldige, dass ich mich über dich lustig gemacht habe.“ Schweigend aß ich weiter und trank von dem Früchtetee. Auch Wolf genehmigte sich ein paar Bissen.
Den Rest des Abends verbrachten wir damit, unsere Abreise aus Noveha zu planen, während ich meine verkletteten Haare mühsam entwirrte und mich innerlich dafür verfluchte, die Shampooprobe aus dem Fenster geworfen zu haben.
Wir standen zeitig auf, um uns gleich nach dem Frühstück zu dem Schuhgeschäft aufzumachen, in dem Wolf arbeitete. Mein Bruder wollte sich seinen Septemberlohn, den er noch nicht erhalten hatte, von seiner Chefin auszahlen lassen. Ich hatte auf der klapprigen Liege vor Aufregung kaum ein Auge zugetan und die Nacht damit verbracht, Pläne für die Zeit nach meiner Rückkehr nach Sandburg zu schmieden. Erst gegen Morgen war ich eingeschlafen und, so kam es mir vor, gleich darauf durch Wolfs Wecker aus dem Schlaf gerissen worden. Natürlich hätte ich auch in der Pension bleiben können, aber Wolf und ich wollten es nicht riskieren, noch einmal getrennt zu sein, solange wir noch in Noveha waren.
Wolf bestand darauf, zunächst in einer Kleiderkammer haltzumachen und um eine Jacke für mich zu bitten. Ich hielt das für völlig überflüssig, schließlich wollten wir doch möglichst noch heute abreisen, doch Wolf ließ nicht mit sich reden. „Du warst so lange isoliert und bist nicht an die Herbstluft gewöhnt. Ich will nicht, dass du krank wirst.“
Tatsächlich wehte ein recht frischer Wind, doch zum Glück war es sonnig. Ich war froh, dass ich beim Verlassen des schwarzen Hauses wenigstens Schuhe getragen hatte. Die Vorstellung, zu dieser Jahreszeit draußen barfuß herumlaufen zu müssen, war wenig verlockend.
Die Frau in der Kleiderkammer, die mich an unsere Mutter erinnerte, stellte keine unangenehmen Fragen, sondern suchte gleich einen sauberen roten Anorak für mich heraus, der mir, wie sich herausstellte, perfekt passte. Wir mussten nichts dafür bezahlen und verließen dankend das Geschäft, um unseren Weg zu Wolfs Arbeitsplatz fortzusetzen.
Mein Bruder betrat vor mir den Schuhladen. Eine Frau mittleren Alters mit blond gefärbtem kurzem Haar, das stark mit Haarspray fixiert war, stand an der Kasse und sah Wolf verärgert an. Ansonsten war das Geschäft menschenleer. Als die Blondierte mich erblickte, wurde ihr Gesichtsausdruck sofort aufgesetzt freundlich. „Oh, Herr Klein“, flötete sie, während sie auf ihren hochhackigen Schuhen auf uns zugetippelt kam, „wie ich sehe, haben Sie neue Kundschaft akquiriert.“ Etwas pikiert fügte sie hinzu: „Das ist auch das Mindeste, was Sie nach Ihrem gestrigen plötzlichen Abgang tun konnten. Hier ging es anschließend drunter und drüber. Ich konnte mich gar nicht um die ganzen Kunden gleichzeitig kümmern, die geradezu in den Laden drängten.“ Sie lächelte wieder künstlich. „Aber darüber unterhalten wir uns später. Schließlich ist die Kundin Königin, nicht wahr?“
„Das ist meine Schwester Inga“, stellte mein Bruder mich vor, ohne auf die Worte seiner Chefin einzugehen. „Es tut mir leid, Frau Kühl, aber ich kann nicht länger für Sie arbeiten. Wir werden noch heute abreisen. Ich bin nur hier, um meinen Septemberlohn abzuholen.“
Frau Kühl machte ein verkniffenes Gesicht. „Nun, wenn das so ist ... werde ich wohl kaum etwas dagegen machen können. Reisende soll man schließlich nicht aufhalten, so heißt es doch, nicht wahr?“
„Es wäre auch sehr nett, wenn Sie mir ein wohlwollendes Zeugnis schreiben könnten. Jetzt gleich, wenn es geht.“
„Nun gut, Herr Klein. Bis auf den gestrigen Aussetzer waren Sie mir wirklich eine gute Unterstützung. Und jetzt passt es auch gerade, es ist ja ausnahmsweise keine Kundschaft da. Ich weiß auch gar nicht, wie ich Sie so schnell ersetzen soll. Denn das muss ich - so gut, wie mein Geschäft läuft. Sie müssten mir dann aber bitte diktieren, was ich am Computer schreiben soll. Ich setze nämlich so selten Zeugnisse auf. Bitte folgen Sie mir in mein Büro.“ Frau Kühl blickte zu mir. „Ihre Schwester kann sich ja in der Zeit unsere exklusive Herbst-/Winterkollektion ansehen.“ Nach diesen Worten verschwand sie mit meinem Bruder in einem Nebenraum.
Die Schuhe und Stiefel konnten meine Aufmerksamkeit nur kurz auf sich lenken. Etwas anderes zog mich viel mehr in seinen Bann: die offene Kasse. Wolfs Chefin hatte Geld gezählt, als wir das Geschäft betreten hatten, und vor lauter Aufregung vergessen, die Kasse zu schließen. Ich bewegte mich langsam auf den Verkaufstresen zu und lauschte dabei in Richtung Bürotür, die nur angelehnt war. Wolf diktierte seiner Chefin, die immer wieder „nicht so schnell“ sagte, im Schneckentempo seinen Zeugnistext. Die beiden würden noch eine Weile beschäftigt sein.
Die Kasse war sehr gut gefüllt. Vielleicht waren das die Einnahmen des ganzen Septembers, vielleicht sogar mehrerer Monate. Wem würde es schon auffallen, wenn ein paar Scheine fehlten? Nur ein paar. Nur ganz wenige.
Ich griff nach einem 50-Mark-Schein. Er war noch neu und ganz glatt. Es war so lange her, dass ich das letzte Mal Geld in den Händen gehabt hatte.
„Herrgott, Herr Klein, nicht so schnell, habe ich gesagt! Ich habe mich vertippt und muss das erst korrigieren!“, hörte ich die Inhaberin des Schuhgeschäfts nebenan schimpfen und erstarrte vor Schreck. Dann folgte eine konzentrierte Stille. Ich entspannte mich wieder und nahm einen weiteren Schein in die Hand. Hundert deutsche Mark. Wie schön das klang. Wie von selbst tastete meine Hand weiter in der Kasse herum.
Schließlich beschloss ich, dass es genug war. Ich hatte ja nun wirklich nicht viel eingesteckt, das tat doch keinem weh, beruhigte ich mein Gewissen und ging zu dem Regal mit den Kinderschuhen. Ich hätte, als ich klein war, auch gern so ein Paar schwarze Lackschuhe gehabt, wie sie hier standen, doch mein Vater hatte es nicht erlaubt. „Die halten bei dir sowieso nur drei Tage, Inga. Für so‘n Tüdelkram wird kein Geld ausgegeben! Schluss!“
Ich konzentrierte mich bewusst weiter auf die winzigen Schuhe und berührte das glänzende schwarze Material, als Wolfs Chefin an die Kasse ging und meinem Bruder seinen Lohn auszahlte.
„Komm, Inga“, sagte Wolf anschließend zu mir. „Wir können gehen. Es ist alles erledigt.“
„Ja“, pflichtete ich ihm bei, „alles erledigt.“
Wir hatten vorgehabt, uns am Bahnhof nach der nächsten Zugverbindung nach Sandburg zu erkundigen und Fahrkarten zu kaufen. Wolf hatte Bedenken, dass es auf der Bahnfahrt Probleme geben könnte, weil es, wie er mir auf dem Weg berichtete, seit einigen Jahren zwingende Vorschrift war, dass Fahrgäste im Zug ihren Personalausweis vorzeigten, und ich ja keinen mehr besaß. Ich verstand die Sorgen meines Bruders nicht. Ein nicht vorhandener Ausweis konnte doch kein Grund sein, nicht mit der Bahn fahren zu dürfen.
Als wir am Bahnhof ankamen, erlebten wir eine herbe Enttäuschung. Die Bahnhofshalle war abgeschlossen. An der Tür hing nur ein Schild mit der Aufschrift „Streik“. Wir warfen dennoch einen Blick auf den verlassenen Bahnsteig, an dem weitere Schilder den Reisenden die Hoffnung nahmen, dass heute oder in den nächsten Tagen auch nur ein Zug fahren werde. Entmutigt gingen wir zurück zur Pension auf Wolfs Zimmer.
„Verdammt, was machen wir denn jetzt?“, fluchte mein Bruder.
Darauf hatte ich zunächst auch keine Antwort. „Wir brauchen ein Auto“, schlug ich schließlich vor.
„Und woher sollen wir ein Auto nehmen? Mein Lohn in dem Schuhladen war alles andere als üppig. Er reichte gerade einmal, um über die Runden zu kommen.“
Wolf war manchmal wirklich schwer von Begriff. Ich hatte ja auch nicht vor, ein Auto zu kaufen. Ich wollte eines stehlen. Doch stattdessen sagte ich: „Wir könnten einen Wagen mieten. Du hast doch einen Führerschein.“
Sofort hellte sich die Miene meines Bruders auf, und er machte sich auf zur Rezeption, um im Telefonbuch Mietwagenfirmen ausfindig zu machen. Ich begann derweil, Wolfs wenige Habseligkeiten in seine Reisetasche zu packen. Dann legte ich mich noch ein bisschen hin. Mein Bruder brauchte aber lange, um einen Mietwagen zu organisieren. Ich schloss die Augen und bemerkte, wie müde ich war. Durch die Aussicht, in Kürze Noveha verlassen zu können, fühlte ich mich entspannt und beschloss, vorher noch ein kleines Nickerchen zu machen.
Irgendwann wachte ich auf, weil ich auf die Toilette musste. Ich hatte das Gefühl, ziemlich lange geschlafen zu haben. Wolf saß auf dem Sofa und starrte vor sich hin. Sofort war ich hellwach und stand auf. „Was ist los?“, fragte ich. „Wieso hast du mich nicht geweckt? Wann können wir den Mietwagen abholen?“
„Gar nicht“, antwortete mein Bruder düster.
„Was ... was soll das denn heißen?“
„Das soll heißen, dass wegen des Bahnstreiks sämtliche Mietwagen für die nächsten Tage bereits vergeben sind. Ich habe alle Firmen im Umkreis abtelefoniert.“
„Und jetzt?“
„Ich weiß es nicht, Inga.“
Ich ging zunächst auf die Toilette und überlegte, ob ich Wolf einen Autodiebstahl vorschlagen sollte. Letztlich entschied ich mich dagegen. Mein Bruder war immer so anständig, dass er so etwas sowieso ablehnen würde. Außerdem sollte er nicht schlecht von mir denken.
„Komm, wir gehen uns etwas zu essen holen“, schlug Wolf bei meiner Rückkehr in das Zimmer vor. „Es ist schon nach drei Uhr. Wir werden sicher eine Lösung finden, wie wir von hier wegkommen.“
Frau Weißich war dabei, die Eingangshalle zu reinigen und lehnte sich, als sie uns die Treppe herunterkommen sah, erwartungsvoll auf ihren Wischmopp. „Achtung, es könnte rutschig sein“, warnte sie uns. Dann sah sie uns neugierig an. „Na, was haben Sie denn heute noch Schönes vor? Müssen Sie gar nicht arbeiten, Herr Klein?“
„Frau Weißich“, sagte Wolf, ohne auf ihre Fragen einzugehen, „Sie sind doch immer gut informiert.“
Sofort wurde die Pensionsinhaberin hellhörig. „Gewiss, Herr Klein. Worum geht es denn?“
„Wissen Sie, wie lange der Bahnstreik noch andauern wird?“
Ich war enttäuscht. Wollte mein Bruder wirklich auf das Ende des Streiks warten? Sofort witterte Frau Weißich Neuigkeiten. „Nanu, Herr Klein, wieso interessieren Sie sich denn auf einmal für den Bahnstreik? Wollen Sie und Ihre Schwester etwa abreisen? Zurück nach Hause?“
Wolf nickte nur.
„Das bedaure ich aber sehr, Herr Klein. Schade ist das, sehr schade ... Also, wenn Sie mich fragen, wird das erst einmal so weitergehen mit dem Streiken. Und unsereins kann sehen, wie er aus Noveha rauskommt. Schließlich wollen wir Älteren doch auch ab und zu einmal einen Ausflug machen! Wie soll das denn gehen ohne Auto und ohne Bahn? Und es fahren hier doch auch kaum Busse! Ein Hin und Her ist das mit diesen Tarifverhandlungen! Es geht nicht vor und nicht zurück, weil keiner nachgeben will. Sturköpfe sind das! Schlimmer als Maulesel! Wenn Sie uns im Fernsehzimmer ab und zu Gesellschaft leisten würden, Herr Klein, wüssten Sie, was das für ein Gerangel ist.“ Plötzlich hellte sich Frau Weißichs Gesicht auf. „Sie kommen doch aus Norddeutschland, oder, Herr Klein?“
Wieder nickte mein Bruder.
„Ja, wieso nehmen Sie dann nicht den neuen Expressbus?“
Mein Herz schlug sofort schneller, als ich das hörte.
„Expressbus?“, fragte ich hoffnungsvoll.
Frau Weißich ging zur Rezeption und kramte hinter dem Tresen herum. „Eine Unordnung ist das hier!“, klagte sie. „Ich weiß gar nicht, wo die ganzen Sachen herkommen, die hier herumliegen! Hat sich wohl alles im Laufe der Zeit angesammelt. Ich kann ja nichts wegwerfen. Muss dringend wieder einmal aufräumen. Ach, da ist es ja!“ Stolz hielt sie ein Faltblatt hoch, das sie mir gab. Wolf sah mir über die Schulter, als ich vorlas: „Expressbus Noveha – Sanddiek. Schnell und zuverlässig in den Norden und wieder zurück. Abfahrt jeden Dienstag um 16:00 Uhr vom Bahnhofsplatz Noveha und jeden Mittwoch um 14:00 Uhr vom Bahnhofsplatz Sanddiek. Fahrkarten direkt am Bus.“
Wolf und ich sahen uns verblüfft an. Ein Bus in einen Ort, der nur wenige Kilometer von Sandburg entfernt lag – was für ein seltsamer Zufall. Ich wollte nicht weiter darüber nachdenken, denn das war unsere Rettung! Aber wir würden uns beeilen müssen, denn es war inzwischen 15:30 Uhr. Schnell lief mein Bruder die Treppe hinauf, um seine Sachen zu holen. Frau Weißich war etwas überrumpelt von dem eiligen Aufbruch und bestand darauf, uns in der Küche einen Reiseproviant zusammenzustellen. Ungeduldig warteten wir an der Rezeption, bis die Frau mit einer gefüllten weißen Plastiktüte zurückkam, die sie mir gab. „Da sind nur die besten Sachen drin“, behauptete sie, „und ich nehme noch nicht einmal etwas dafür, weil Ihr Bruder so ein langjähriger Gast bei mir war und immer pünktlich dreißig Tage im Voraus bezahlt hat. Man kann auch nie wissen, wie lange so eine Busfahrt dauert. Vielleicht kommen Sie in einen Stau oder haben eine Panne oder ...“
„Frau Weißich“, unterbrach Wolf.
„Schon gut, Herr Klein, schon gut. Ich wollte Ihnen keine Angst machen. Es wird bestimmt alles klappen.“ Dann gab sie ihm sein Restguthaben für die zuletzt im Voraus bezahlten dreißig Übernachtungen zurück. Den Preis für die kaputte kleine Vase zog sie ab, nachdem Wolf seine Zerstörungswut ihr gegenüber als ungeschicktes Malheur dargestellt hatte.
„Das kann doch jedem mal passieren, Herr Klein, machen Sie sich keine Gedanken“, war alles, was Frau Weißich dazu sagte. Anschließend hörte sie nicht auf zu betonen, wie sehr sie es bedauerte, Wolf und mich als Gäste zu verlieren.
Schließlich war der Moment gekommen, um Abschied von Frau Weißich und der Pension Lola zu nehmen. Wolf drückte die alte Frau in der Kittelschürze, die ihm jahrelang ein Dach über dem Kopf gegeben hatte, an der Eingangstür dankend an sich, und ich gab Frau Weißich die Hand. Die Wirtin bestand darauf, uns noch bis an die Straße zu begleiten. Dort winkte sie uns mit einem Taschentuch nach. „Besuchen Sie Noveha ruhig einmal wieder!“, rief sie uns hinterher. „Auch wenn es ab morgen nicht mehr das Zentrum der Republik ist! Und empfehlen Sie meine Pension Lola in Norddeutschland weiter! So günstig ist es sonst nirgendwo!“
Wolf und ich mussten laufen, um es noch rechtzeitig zum Bahnhof zu schaffen. Ich fühlte mich wie in der Nacht, in der wir nach unserem Besuch in der Diskothek gerannt waren, um den Bus nach Hause zu erwischen. Schnell war ich aus der Puste, und meine Beine fühlten sich an, als wären sie aus Gummi. Wolf nahm mich jedoch unerbittlich an seine freie Hand und zog mich weiter. Selbst wenn wir pünktlich wären, schoss es mir durch den Kopf, würden wir in dem Bus überhaupt noch Plätze bekommen? Vielleicht würden wir gleich kleinlaut zur Pension Lola zurückgehen und dort eine Woche auf den nächsten Bus warten müssen. Die Vorstellung war grauenhaft.
Tatsächlich stand ein silberfarbener Reisebus mit laufendem Motor vor dem Bahnhofsgebäude. „Expressbus Noveha - Sanddiek“ stand an der Seite in dunkelblauer Schnörkelschrift. Enttäuscht sah ich, dass die Türen des Fahrzeugs bereits geschlossen waren. Wir waren wie befürchtet zu spät gekommen. Mist!
Doch plötzlich öffnete sich die Hintertür des Busses, und ein glatzköpfiger Mann in einem kurzärmeligen hellblauen Oberhemd, das über seinem Bauch spannte, und dunkelblauer Stoffhose stieg aus. Mir fiel ein Stein vom Herzen.
„Sie haben Glück“, sprach er uns an, „es sind noch genau zwei Plätze frei.“
„Vielen Dank, dass Sie Ihren Bus noch einmal für uns aufmachen“, sagte Wolf.
„Oh, das ist nicht mein Bus“, stellte der Mann richtig. „Ich habe zwar auch mal als Busfahrer gearbeitet, aber das ist lange her. Der Busfahrer ist schon seit einer Weile nicht mehr ansprechbar. Meint, er muss sich mental auf die Fahrt vorbereiten. Komischer Kauz, wenn Sie mich fragen. Sitzt da, sagt keinen Mucks und starrt stur nach vorn. Hat sich nicht einmal vorgestellt. Doch es ist heutzutage gar nicht so einfach, gutes Personal zu bekommen. Ich bin Klaus Petri, sitze im Stadtrat von Noveha und habe mich schon seit Jahren für den Expressbus eingesetzt, damit wir endlich einmal eine Alternative zur Bahn bekommen. Genauer gesagt, war der Bus nach Sanddiek meine Idee. Ich komme nämlich ursprünglich von dort. Heute ist die erste Fahrt. Und Sie sind wie ich dabei.“
„Ich bin Wolf Klein. Das ist meine Schwester Inga“, stellte mein Bruder uns vor. „Wir haben durch Zufall von dieser neuen Busverbindung erfahren.“
„Da haben Sie aber Glück gehabt. Sie sind gerade noch rechtzeitig. Den Begrüßungsumtrunk haben Sie verpasst. Der Busfahrer hat irgendein Getränk in Pappbechern ausgegeben. Ich habe auch nichts abbekommen, weil ich noch kurz wieder nach Hause musste, um die Musikkassetten zu holen, die wir auf der Fahrt hören wollen. Die hatte ich im Reisefieber ganz vergessen. Ich habe noch Verwandte in der Nähe von Sanddiek und nutze die Gelegenheit, sie zu besuchen und wieder einmal meine Heimat zu sehen. Und was führt Sie in den Norden?“
„Wir haben dort auch Verwandte“, behauptete Wolf. Er war vorsichtig. „Was kosten denn die zwei Fahrkarten?“
„Ach, um das Kassieren soll sich der Busfahrer kümmern, wenn er wieder ansprechbar ist“, meinte Herr Petri großzügig und öffnete eine der Gepäckklappen. „Hier können Sie Ihre Tasche verstauen. Und dann steigen wir besser ein, damit wir den Fahrplan einhalten.“
Sofort als wir nach Herrn Petri den Bus betreten hatten, wurde hinter uns die Tür geschlossen, und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung, so dass wir schwankend zu den beiden nebeneinanderliegenden Plätzen im vorderen Bereich auf der linken Seite des Busses gelangten, auf die Herr Petri wies. Er selbst setzte sich auf den vordersten Platz neben dem Fahrer. Ich ließ Wolf am Fenster Platz nehmen und setzte mich anschließend neben ihn. Die weiße Plastiktüte mit den Vorräten stellte ich zwischen meinen Füßen ab. Mir fiel das große Schild mit der Aufschrift „Nicht mit dem Fahrer sprechen!“ auf, das sogar einen Teil der Windschutzscheibe einnahm. Im Bus war es sehr warm, und wir zogen unsere Jacken umständlich im Sitzen aus. Ich verstaute sie anschließend auf der Ablage über uns. Alles war so schnell gegangen, dass ich erst jetzt einige weitere seltsame Dinge bemerkte. Im Bus war es totenstill. Nicht ein Gespräch unter den Fahrgästen war zu hören. Vielmehr schien es so, als wären einige bereits eingenickt. Aber wer wusste schon, seit wann sie bereits im Bus saßen und auf die Abfahrt warteten. Dann gab es auffällig viele Personen, die eine Sonnenbrille trugen, wie ich feststellte, als ich mich umschaute. Es war in der Tat ein sonniger Tag gewesen, aber wir hatten Anfang Oktober, und hier im Bus war es nun wirklich nicht grell. Die Sonnenbrillenträger schliefen nicht, sondern machten, soweit ich es beurteilen konnte, einen sehr aufmerksamen Eindruck.
Gerade wollte ich diese Dinge Wolf flüsternd mitteilen, als Herr Petri sich zu mir umdrehte und mir zuzwinkerte. Dann nahm er das Mikrofon, das eigentlich für einen Reiseleiter vorgesehen war, in die Hand und pustete testweise hinein. Das Geräusch wurde klar und deutlich über den Lautsprecher über unseren Köpfen zu uns getragen.
„Guten Tag, liebe Fahrgäste“, sagte Herr Petri. Man merkte ihm an, dass er nicht oft vor Menschen Reden hielt und entsprechend aufgeregt war. „Dies ist ... dies ist also die erste Fahrt des Expressbusses Noveha – Sanddiek, und ich freue mich, ... ja, ich freue mich, dass Sie heute alle dabei sind. Wenn alles gut geht, was wir ja hoffen, werden wir Sanddiek spätestens um 21:00 Uhr erreichen. Wir planen unterwegs keine Pause, aber es soll hier an Bord eine funktionierende Toilette geben.“ Herr Petri lachte kurz über seinen Scherz. „Ich wünsche uns allen eine schöne und unvergessliche Fahrt. Zur Unterhaltung und damit die Zeit schneller vergeht, habe ich einige Kassetten mit Musik von Künstlern aus Noveha mitgebracht. Beginnen wollen wir mit dem Country-Quartett ‚Die fidelen fünf‘.“ Er fummelte an dem Kassettenrekorder des Busses herum. Dann griff er wieder zum Mikrofon und sagte aufmunternd: „Los geht‘s.“
Damit war die Ansprache von Herrn Petri beendet. Wolf und ich klatschten anstandshalber. Von den anderen Fahrgästen zeigte keiner eine Reaktion. Hinter mir hörte ich jemanden schnarchen.
In dem schwarzen Haus hatte es keine Musik gegeben, und sie war eines der Dinge, die ich während meiner Gefangenschaft am meisten vermisst hatte, besonders die Songs meiner schwedischen Lieblingsband. Ich freute mich schon sehr darauf, mir zu Hause in Sandburg wieder meine Platten mit all ihren Hits anhören zu können.
Als die Kassette im Bus zu spielen begann, fand ich plötzlich, dass die Stille in dem schwarzen Haus doch gar nicht so schlimm gewesen war. Das erste Country-Musikstück bestand nämlich aus einem wilden Herumgefiedele, zu dem eine männliche Stimme dermaßen nuschelte, dass ich nicht einmal hätte sagen können, in welcher Sprache überhaupt gesungen wurde. Ich bemerkte, dass Herr Petri begeistert im Takt mitklatschte. Er war der Einzige.
Das Lied spielte vielleicht seit zwei Minuten, als der Busfahrer den Kassettenrekorder abschaltete. Herr Petri sah den Fahrer verständnislos an, sagte jedoch nichts.
Mir fiel ein, dass wir das Mittagessen ausgelassen hatten, und ich spürte meinen knurrenden Magen. Ich nahm mir ein belegtes Brötchen aus der Plastiktüte, und auch Wolf bediente sich. Fasziniert blickten wir aus dem Fenster und sahen, wie die Häuser Novehas an uns vorbeizogen. Dann waren wir endlich am Ortsschild angekommen und ließen die Stadtgrenze hinter uns. Ich hätte am liebsten laut gejubelt, und auch Wolf lächelte triumphierend.
Die Wärme im Bus und die Stille wirkten einschläfernd. Nachdem Wolf und ich uns satt gegessen und etwas getrunken hatten, schloss ich die Augen. Es dauerte nicht lange, und ich war eingenickt.
Als ich wieder erwachte, war es draußen bereits fast dunkel. Im Bus war der Gang schwach beleuchtet, dennoch hatte anscheinend niemand der Sonnenbrillenträger die Brille abgenommen. Es herrschte bis auf das Motorengeräusch noch immer Stille. Ich blicke nach links und sah, dass Wolf ebenfalls eingeschlafen war. Sein Kopf war leicht nach vorn gefallen und sein Mund etwas geöffnet. Wir befanden uns auf einer Landstraße, aber es schien nicht recht voranzugehen. Genauer gesagt, ging es überhaupt nicht voran. Wir standen und bewegten uns zwischendurch nur einige Meter im Schritttempo. Ich kniete mich auf meinen Sitz und reckte meinen Hals, um über Wolf hinweg den Grund des Staus zu erkennen. In der Gegenrichtung war die Fahrbahn fast leer, und die wenigen Fahrzeuge kamen ohne Probleme voran. Ich schaute auf der anderen Seite aus dem Fenster. Dort kam gerade ein gelbes Hinweisschild in Sicht. „Nühlpah 10 km“, stand darauf. Nühlpah! Hatte Wolf mir nicht erzählt, dass so das neue Zentrum der Republik hieß?
„Wolf, wach auf!“ Grob schüttelte ich meinen Bruder an der Schulter, der nur langsam zu sich kam. „Was ist denn los?“, fragte er verschlafen. Ich wies nach rechts aus dem Fenster. Glücklicherweise stand der Bus gerade, so dass auch mein Bruder das Schild lesen konnte. Wolf fasste sich entsetzt mit beiden Händen an die Schläfen. „Oh nein!“, fluchte er leise.
Der Bus setzte sich wieder in Bewegung. Panik ergriff uns. Was sollten wir jetzt tun? Es war unsinnig, uns in diesem Moment Vorwürfe zu machen, wie wir nur so naiv hatten sein können, und doch war ich fassungslos, dass wir nicht einen Moment daran gezweifelt hatten, dass es mit dieser angeblichen Busfahrt in den Norden seine Richtigkeit hatte.
Ich dachte daran, zum Busfahrer zu gehen und ihn zu fragen, ob er noch alle Tassen im Schrank habe, aber der überdimensionale, beleuchtete Hinweis „Nicht mit dem Fahrer sprechen!“, der einer Warnung gleichkam, hielt mich davon ab. In dem Moment reckte sich Herr Petri. Dann blickte er sich um und zwinkerte mir wieder zu. Er stand auf und kam zu unseren Plätzen. „Na“, fragte er flüsternd, „wie gefällt Ihnen beiden die Reise? Das mit dem Stau war nicht geplant. Mich wundert es auch ehrlich gesagt, dass der Fahrer gar keine andere Route wählt. Bin zwischendurch zwar eingenickt, aber wir stehen hier doch bestimmt schon eine Stunde herum! Der ganze Fahrplan gerät durcheinander. Mit dem Fahrer ist ja nicht zu reden. Der hört gar nicht zu, sondern starrt nur stur geradeaus. Ein unverschämter Kerl ist das!“
Mir wurde ganz anders, als ich das hörte.
„Herr Petri“, unterbrach Wolf flüsternd. „Wir fahren in die ganz falsche Richtung! Der Fahrer bringt uns gar nicht in den Norden, sondern ... in das neue Zentrum der Republik.“
„Was?“ Herr Petri schien ehrlich überrascht. „Das ist ja ungeheuerlich! Ich sage ja: das Personal! Was wollen wir denn in Nühlpah? Na warte, jetzt werde ich dem Knallkopp aber mal was erzählen ...“
Bevor wir es verhindern konnten, war Herr Petri wieder nach vorn geeilt, hatte den Fahrer mit der linken Hand am rechten Oberarm gepackt und redete eindringlich auf ihn ein. Nach ungefähr einer Minute sah uns Herr Petri an und zuckte hilflos mit den Schultern.
Ich hörte, wie die weiße Plastiktüte zwischen meinen Füßen knisterte, und wusste plötzlich, was zu tun war. Ich nahm die Tüte und stopfte den restlichen Inhalt in die Netze an den Rückseiten der beiden Sitze vor uns. Wolf sah mich fragend an.
„Ich werde das hier jetzt beenden“, sagte ich nur. Denn ich fürchtete, mein Bruder werde mir meinen Plan ausreden, wenn er mehr erfuhr. Ungefährlich war die Aktion in der Tat nicht. Aber vielleicht unsere einzige Chance. Meine linke Hand umfasste die zusammengeknüllte Tüte, als ich mich auf den Weg nach vorn machte. Plötzlich krallte sich die knochige Hand einer alten Frau zu meiner Rechten, die zu den Sonnenbrillenträgern gehörte, erstaunlich fest um mein rechtes Handgelenk. „Nicht mit dem Fahrer sprechen“, warnte sie mich mit krächzender Stimme. In dem Moment wusste ich, dass sie kein echter Mensch war.
„Das habe ich nicht vor“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Die Frau ließ daraufhin mein Handgelenk los, und ich setzte meinen Weg nach vorn fort. Herr Petri stand neben dem Fahrer, hatte die Hände in die Hüften gestemmt und schüttelte verärgert den Kopf. „So ein Sturkopf“, schimpfte er. „Hört überhaupt nicht zu und will keinen Ratschlag annehmen. Wer hat den Kerl nur eingestellt?“
„Herr Petri, bitte beruhigen Sie sich“, sagte ich leise. Mir fiel auf, dass der Fahrer das Lenkrad so fest umkrampfte, dass die Knöchel seiner Hände weiß hervortraten. „Ich glaube, der Busfahrer hat ein medizinisches Problem.“
„So?“ Herr Petri war ganz Ohr.
Ich zwang mich, den Hals des Busfahrers zu berühren und so zu tun, als würde ich seinen Puls fühlen. Der Mann ließ es regungslos über sich ergehen und starrte weiterhin nach vorne.
„Wie ich befürchtet habe“, heuchelte ich flüsternd. „Der Fahrer hat eine Panikattacke. Sein Puls ist viel zu schnell, und er atmet auch viel zu hastig.“ Dabei sah man dem Fahrer nicht an, ob er überhaupt atmete. „Kein Wunder, dass er nicht mehr weiß, wo er hinfährt.“
„So?“, fragte Herr Petri wieder.
„Es gibt nur eine Möglichkeit, um ihn wieder zu beruhigen und Schlimmeres zu verhindern.“
Ich sah aus dem Blickwinkel, dass auch Wolf nach vorn gekommen war und hinter mir stand. Hoffentlich würde er mich jetzt einfach das tun lassen, was ich vorhatte.
Ich faltete die Plastiktüte knisternd auseinander. Herr Petri sah mir neugierig zu. „Sie sind wohl Krankenschwester, was?“
Ich nickte. Gerade war der Bus wieder zum Stehen gekommen, und ich nutzte die Gelegenheit, dem Fahrer die Tüte über den Kopf zu ziehen und sie an seinem Hals leicht zusammenzudrücken. Der Busfahrer ließ alles wehrlos über sich ergehen. Ich vermutete, dass er völlig fremdgesteuert handelte. Herr Petri fasste sich mit einer Hand an den Mund. Ich hörte, wie Wolf hinter mir scharf einatmete. Es dauerte einen Moment, bis der Fahrer endlich das Lenkrad losließ und bewusstlos zusammensackte. Schnell nahm ich die Plastiktüte wieder von seinem Kopf, und Wolf zog den Mann gemeinsam mit Herrn Petri auf den Reiseleitersitz.
„Schnell, Herr Petri“, flüsterte ich, „Sie waren doch früher Busfahrer. Setzen Sie sich hinter das Lenkrad und wenden Sie den Bus.“
„Was? Hier mitten auf der Straße?“, fragte Herr Petri verdutzt. „So einfach geht das nicht.“
„Nein“, widersprach mir nun auch Wolf entschieden.
Fragend sah ich ihn an.
„Wir müssen erst die Kreaturen mit den Sonnenbrillen loswerden“, raunte mir mein Bruder zu.
Herr Petri hatte sich derweil schon auf dem Fahrersitz niedergelassen und machte sich mit dem Armaturenbrett vertraut. Gerade wurde der Verkehr wieder flüssiger.
„Herr Petri“, sagte Wolf leise, „bitte folgen Sie der Straße noch etwas weiter bis nach Nühlpah, aber fahren Sie auf gar keinen Fall in den Ort hinein. Anscheinend hat es ein Missverständnis gegeben, und einige Fahrgäste wollen gar nicht in den Norden, sondern in das neue Zentrum der Republik.“
Herr Petri nickte zustimmend. „Ja, das würde einiges erklären.“
Der Bus setzte sich in Bewegung. Anscheinend löste sich der Stau auf, und wir kamen nun recht zügig voran. Wolf und ich blieben unruhig vorn stehen. Ein weiteres Schild tauchte am Straßenrand auf: „Nühlpah 1 km“, und gleich darauf noch eines: „Besuchen Sie das neue Zentrum der Republik!“
„Herr Petri, wir müssen jetzt langsam anhalten, um die Leute aussteigen zu lassen, die nach Nühlpah wollen“, erinnerte Wolf.
Glücklicherweise kam kurze Zeit später eine Haltestelle in Sicht, die Herr Petri ansteuerte. Als er den Bus gestoppt hatte, stieg er aus, um den Fahrgästen, die uns verließen, ihr Gepäck zu geben.
Wie auf ein stummes Zeichen erhoben sich nun auch alle Sonnenbrillenträger – es waren etwa zwanzig - und verließen den Bus. Dort, wo es nötig war, kletterten sie einfach über ihre immer noch schlafenden Sitznachbarn hinweg. Herr Petri verteilte draußen Reisetaschen und Koffer und verabschiedete sich. Er erhielt keine Antwort. Die Sonnenbrillenträger standen in einer Reihe an der Haltestelle und starrten Herrn Petri schweigend an. Ich sah, dass dieser wie hypnotisiert in ihre Richtung blickte.
„Herr Petri!“, rief Wolf streng. Dann sprang er regelrecht durch die Vordertür hinaus und packte den Mann an der Schulter. „Sehen Sie mich an! Kommen Sie zurück in den Bus! Herr Petri!“
„Wie?“ Herr Petri machte einen Eindruck, als wäre er soeben erwacht, und schüttelte seinen Kopf, um wieder klar zu werden. „Entschuldigung, bin wieder voll da. Es kann weitergehen.“
Als hätten die Kreaturen bemerkt, dass es ihnen nicht gelingen würde, Herrn Petri weiter mental zu beeinflussen, wandten sie sich vom Bus ab und machten sich hintereinander neben der Straßen auf den Weg nach Nühlpah. Es war ein seltsamer, unheimlicher Anblick. Ich hätte Herrn Petri, als dieser wieder hinter dem Lenkrad saß, zu gern darum gebeten, sie alle mit Vollgas zu überfahren.
Herr Petri wendete den Bus geschickt auf einem Feldweg. Der eigentliche Busfahrer war zu sich gekommen und flüsterte immer wieder verwirrt „Kann mich an nichts erinnern“ vor sich hin. Bevor Herr Petri zurück auf die Straße fuhr, nahm er sich die Zeit, dem Busfahrer geduldig zu erklären, dass dieser eine Panikattacke gehabt habe, aber glücklicherweise eine Krankenschwester an Bord sei, die ihm geholfen habe. Ich nahm den Busfahrer mit, und er setzte sich auf Wolfs Platz, während mein Bruder den Platz des Reiseleiters einnahm, um Herrn Petri mit Hilfe einer Straßenkarte den Weg nach Sanddiek zu weisen.
Der Busfahrer war noch recht jung, sicher nicht viel älter als dreißig, hatte hellblondes Haar und ein schönes Gesicht. Ich schaltete die Leselampe über mir an und sah, dass der Mann neben mir blaue Augen hatte. Vermutlich hätte ich ihn sogar attraktiv gefunden, wenn er nicht die ganze Zeit vor sich hin gebrabbelt hätte, dass er sich an nichts erinnern könne. Schließlich reichte es mir, und ich drückte ihm einen Apfel in die Hand in der Hoffnung, dass er dann endlich die Klappe halten werde.
Nach und nach kamen nun auch die anderen Fahrgäste zu sich, die sich verwundert fragten, ob wir nicht bald in Sanddiek ankämen. Herr Petri pustete zunächst wieder geräuschvoll in das Mikrofon, bevor er alle informierte, dass es aufgrund eines Missverständnisses zu Verzögerungen gekommen sei, wir uns nun aber wie geplant auf dem Weg nach Sanddiek befänden. Dann ließ er es sich nicht nehmen, die Kassette der „fidelen fünf“ erneut zu starten.
Es war schon fast Mitternacht, als wir uns Sanddiek näherten. Ich blickte gebannt aus dem Fenster. Endlich kam mir die Gegend wieder bekannt vor. Die gerade spielende Musikkassette wurde durch eine erneute Ansage von Herrn Petri unterbrochen. „Liebe Fahrgäste, ich hoffe Sie sind damit einverstanden, wenn wir heute ausnahmsweise noch einen Zwischenstopp in Sandburg einlegen, um zwei Fahrgäste zu verabschieden ... Danke.“
Dann sah ich die ersten Häuser meiner Heimatstadt. Ich hatte nicht mehr daran geglaubt, dass ich den Ort noch einmal wiedersehen würde. Dass mir die Tränen über das Gesicht liefen, bemerkte ich erst, als mich der Busfahrer neben mir, der sich wieder gefasst hatte, verdutzt fragte, weshalb ich denn weine.
„Ach“, antwortete ich schroff, „das kommt nur von der verdammten Heizungsluft“, und trocknete meine Tränen mit den Ärmeln meines Pullovers.
Herr Petri ließ uns am Bahnhof von Sandburg aussteigen und bestand darauf, uns nach draußen zu begleiten, um uns unsere Reisetasche zu geben. Mein Sitznachbar nutzte den Stopp und griff vorn zum Mikrofon. Wir hörten draußen erstaunt, wie er sich zunächst bei den Fahrgästen als Lukas vorstellte und sich für seinen Ausfall, den er als einmalige Ausnahme darstellte, entschuldigte. Dann verkündete Lukas selbstbewusst, dass er wieder vollkommen auf dem Damm sei und die Rückfahrt nach Noveha am morgigen Tag der Deutschen Einheit wie geplant mit ihm als Busfahrer stattfinden werde.
Wir bedankten uns bei Herrn Petri und schüttelten dem Mann zum Abschied die Hand. Wolf bestand darauf, für sich und mich zumindest jeweils zwanzig Mark für die Busfahrt zu bezahlen. Herr Petri nahm das Geld nur widerwillig an. Der ungeplante Umweg nach Nühlpah war dem Mann sichtlich peinlich. Kopfschüttelnd sagte er, bevor er wieder einstieg: „Ja, jetzt hat dieser Knilch Lukas eine große Klappe! Was hat der uns nur für eine Irrfahrt eingebrockt! Und dann auch noch ausgerechnet zum neuen Zentrum der Republik! Das darf im Stadtrat von Noveha niemand erfahren. Sonst streichen sie uns die Busverbindung sofort wieder. Wir sind dadurch jetzt auch komplett aus dem Zeitplan. Und das gleich bei der ersten Fahrt! Was für eine Blamage!“
Einen Moment standen Wolf und ich noch am Bahnhofsplatz und winkten dem davonfahrenden Bus hinterher. Wir würden nie erfahren, ob nur ich, wir beide oder alle nichtsahnenden Menschen in dem Bus nach Nühlpah entführt werden sollten. Dann machten wir uns auf den Weg nach Hause. Fasziniert blickten Wolf und ich uns um. Auch mein Bruder war jahrelang nicht in Sandburg gewesen. Auf der einen Seite schien sich in den mehr als sieben Jahren, die ich fort gewesen war, nichts verändert zu haben, und andererseits war doch nichts mehr so wie früher. Geschäfte waren verschwunden, neue dazugekommen, Häuser waren abgerissen, saniert oder neu gebaut worden.
Über der Straße, in der wir wohnten, lag wie erwartet nächtliche Ruhe. Ich wurde ganz kribbelig, als ich sah, wie zaghaft mein Bruder an der Tür des Hauses unserer Eltern klingelte. „Wolf“, sagte ich ungeduldig, „so werden uns Mama und Papa oben im Schlafzimmer doch nie hören!“ Entschlossen presste ich meinen Daumen auf den Klingelknopf und ließ nicht mehr los.
Über der Treppe wurde das Licht angemacht, und die Silhouette meines Vaters, der die Treppe heruntergepoltert kam, wurde hinter den Glasbausteinen neben der Haustür sichtbar. Ich konnte mir vorstellen, wie wütend er war, mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen worden zu sein.
Aufgebracht öffnete mein Vater die Tür. „Was fällt euch Dreckspack eigentlich ...“, begann er. Dann stand er in seinem gestreiften Pyjama mit offenem Mund vor uns.
Mein Vater war nie jemand gewesen, der seine Gefühle offen zeigte. So legte er auch jetzt nach einem Moment des Schweigens Wolf und mir nur jeweils eine Hand auf die Schulter und brummte: „Da seid ihr beide also wieder.“