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Prolog

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Kate und Nick

Mitten in der Nacht hörte sie es. Zunächst drang es nur dumpf zu ihr durch, doch dann erkannte sie. Schnell schlug sie ihre Decke zurück und rannte barfuß ins Bad.

Sie entdeckte ihren Sohn, der mit dem Kopf über der Toilette hing. Der immer wieder würgte und kaum mehr etwas in sich haben müsste.

»Liebling«, flüsterte sie.

»Mama ...«, stieß er zwischendurch aus. »Hilf mir«, krächzte er.

Sie kniete sich zu ihm und fühlte seine Stirn, er glühte regelrecht, aber trotzdem schien er zu zittern.

Sie nahm einen Lappen und ließ kaltes Wasser den Stoff durchweichen. Sie tupfte seine Stirn und wusch ihm die Reste vom Mund. Er fiel ihr um den Hals und weinte. Der Schmerz ließ seine Welt nebelig erscheinen. Der Schmerz in seinem Magen.

»Pscht, es ist alles gut. Ich bin da. Ich bin bei dir.«

Sie blickten einander in die Augen, dann stand sie langsam wieder auf und half auch ihrem Sohn. »Ich weiß, der Geschmack ist widerlich, aber das vergeht. Setz dich und putz dir erst einmal die Zähne«, sagte sie und versuchte möglichst gelassen zu wirken. ›Nur eine Magenverstimmung‹, wollte sie hinzufügen, aber das brachte sie nicht übers Herz. »Ich hol dir etwas zum Anziehen.« Sie lächelte und verließ das Zimmer.

Nun konnte er sie nicht mehr sehen, ihre Reaktion nicht mitkriegen. Den Lappen noch in der Hand, nahm sie den Hörer ab und wählte eine Nummer.

Sie musste sich einige Sekunden fangen, den blutigen Lappen verstecken und die Tränen wegwischen.

Als sie wieder bei ihrem Sohn war, reichte sie ihm neue Klamotten. Er war noch sehr wackelig und sie half ihm beim Umziehen. Etwas, was sie seit vielleicht 13 Jahren nicht mehr machen musste. Ihr Sohn war fast 19, erwachsen. Aber er würde immer ihr kleiner Schatz bleiben. Solange sie lebte, war sie seine Mutter und vielleicht auch darüber hinaus. Sie hoffte immer, dass niemals etwas ihnen in die Quere kommen würde. Sie träumte davon, mit ihren Enkelkindern im Garten zu toben, während ihr erwachsener Sohn mit seiner Frau dabei zusah. Das war ihr größter Wunsch.

Nun aber musste sie ihren Sohn ins Krankenhaus bringen.

»Wie fühlst du dich?«

Müde zuckte er mit den Schultern.

»Vielleicht hast du eine Lebensmittelvergiftung? Komm, lass uns das im Krankenhaus abklären.«

Er hatte keine Kraft zu widersprechen und wollte den Schmerz einfach nur abschalten.

Es war ein Uhr nachts. Wie lange er sich übergeben musste, wusste er nicht.

Schmerzen spürte er seit einigen Tagen, immer wieder. Aber er machte sich nichts daraus.

Er war Sportler und die Erwartungen und der Druck waren manchmal etwas zu viel für ihn. Zumal er sich auch in der Schule reinhängen musste, damit er auch weiterhin im Team bleiben durfte.

Möglicherweise wollte ihm sein Körper zeigen, dass er eine Pause benötigt. Das er nun endlich einmal etwas kürzer treten müsste.

Doch dann fing die Übelkeit an und er konnte kaum noch etwas essen.

Aber auch das beunruhigte ihn nicht sonderlich.

Man wird nicht mit 18 Jahren krank.

Er lernte an diesem Abend bis spät in die Nacht. Immer wieder musste er aufstoßen und ärgerte sich dabei. Wichtige Arbeiten standen bevor und er durfte nicht scheitern oder krank werden. Er wollte seine Mutter nicht enttäuschen. Sie hatte es auch so schon schwer genug. Alleinerziehend, mit einem Job, der sie sehr beanspruchte.

Er konnte tagsüber nicht lernen, da seine beste Freundin ihn brauchte. Also musste er die Nacht zum Tag machen.

Zuerst kam die Übelkeit, dann der Schwindel. Er musste den Stift zur Seite legen, erkannte kaum mehr ein Wort. Alles war verschwommen. Er legte seinen Kopf auf sein Physik Buch und hoffte, dass es dadurch besser werden würde. Doch wurde es nur schlimmer. Schnell rannte er ins Badezimmer. Seine Mutter wollte er nicht wecken. Sie müsste in wenigen Stunden aufstehen und ihre morgendliche Schicht antreten.

Das sie überhaupt fuhren, bekam er erst mit, als der Wagen bereits stand. Sie parkten nicht weit vom Krankenhaus. Eine Krankenschwester wartete bereits mit einem Rollstuhl am Eingang.

Erleichtert stiegen sie aus und sie freute sich, dass ihr Anruf ernst genommen wurde.

»Hallo, Sie sind Familie Joy, oder?«, wurden sie begrüßt.

»Hallo, ja, danke, dass es so gut geklappt hat.«

»Und du bist Nick?« Die Krankenschwester entdeckte Blut im Mundwinkel des Jungen und blickte seine Mutter besorgt an.

Nick ließ sich in den Rollstuhl nieder und wurde hineingeschoben.

Stunden später versuchte Frau Joy ihre Fassung nicht zu verlieren. Sie versuchte, stark zu sein. Aber ihr Herz wurde immer schwerer. Die Diagnose, die nur zaghaft in den Raum geworfen wurde, hing wie eine dunkle Wolke über ihr. Jedes Wort, was folgte, fühlte sich wie Hagelkörner auf der Haut an. Noch aber bestand Hoffnung, noch war es nicht zu spät.

Nick glaubte, dass sich der Nebel, in dem er sich seit Stunden bewegte, immer mehr zuzog. Dass er zu verschlingen drohte.

Er starrte vor sich her, verstand kaum ein Wort. Doch dann erschrak er:

»Ich kann nicht weg, nicht jetzt!«

»Nick, bitte. Es muss sein.«

Sie wurden alleine gelassen, damit sie in Ruhe darüber reden konnten.

»Ich kann Cassie nicht verlassen! Sie braucht mich!«

»Cassandra? Dein Leben steht auf dem Spiel und du denkst an Cassandra?«

»Du verstehst das nicht!«, sagte er.

»Was soll ich nicht verstehen? Du liebst sie, sie dich aber nicht. Sie nutzt dich doch nur aus!«

Er schüttelte den Kopf. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Die er zuließ. Es spielte keine Rolle. Er wollte weinen, den Schmerz davon spülen. Die Vergangenheit fortwischen.

»Nick?«

Er holte tief Luft.

»Cassandra hat mir das Leben gerettet, dabei aber hängt ihrs am Seidenenfaden.«

Blass und verwirrt setzte sich Kate zu ihrem Sohn.

Er musste es ihr erzählen. Es ging nicht anders. Sie musste die Wahrheit erfahren.

Gerade als er ausholen wollte, trat der Arzt zu ihnen und reichte einige Unterlagen.

»Wir haben einen Platz für dich erhalten, Nicholas. Du … Nick, es ist wirklich wichtig. Wir glauben, wir können den Tumor bekämpfen. Du hast gute Chancen! Aber dafür musst du in eine Spezial-Klinik.«

Er blickte in die Gesichter um sich herum. Sah den Schmerz in den Augen dieser fremden Leute. Menschen, die tagtäglich mit Krankheit und Tod leben müssen. Doch der Schmerz in ihren Augen war echt. Er war 18.

Niemand wird mit 18 Jahren krank.

Er schaute zu seiner Mutter und ihr Schmerz traf ihn noch mehr. Er musste kämpfen. Für sie. Für Cassie. Wenn er jetzt nichts unternehmen würde, wäre es womöglich zu spät. Er musste für Cassandra da sein, wenn sie ihn brauchte. Die Erinnerung an sie, wie er sie vor wenigen Stunden sah, raubte ihm die Luft. Sie war so zugerichtet.

Also willigte er ein und sie fuhren zurück, um eine Tasche zu packen. Als sie sich wieder ins Auto setzten und eine Weile schon unterwegs waren, bat seine Mutter, ihm alles zu erzählen.

Also begann er:

»Es ist schon etwas her und …«, er hielt inne und holte tief Luft: » … wir wollten uns direkt nach dem Training treffen. Sie war, wie immer, überpünktlich und ich mal wieder Letzter, da ich unbedingt noch eine neue Wurftechnik versuchen wollte, die mir aber nicht gelang. Also machte ich solange weiter, bis ich endlich traf. Als ich den Basketball wegräumte, war nur noch der Aushilfstrainer da. Ein Mann, der gelegentlich vor einem großen Spiel assistierte.

Er lobte mich für den Wurf und freute sich mit mir. Da ich mich mit Cassie verabredet hatte und wir etwas unternehmen wollten, konnte ich natürlich nicht stinken. Also ging ich unter die Dusche ...« Nick hielt kurz inne und atmete tief durch. »Wie gesagt, es war sonst niemand da … Ich stand mit dem Gesicht zur Wand und als ich mich umdrehte war plötzlich dieser Mann da. Er stand da, die Hose geöffnet und beobachtete mich. Ich wollte wegrennen, irgendwas machen. Aber er war schneller. Er drückte mich an die Wand, mit einer Hand hielt er mich fest, die andere …

›Hey, du Arschloch!‹, brüllte plötzlich jemand und bevor der Typ etwas machen konnte, traf ihn ein heißer Wasserstrahl. Cassandra war so geistesgegenwärtig. Sie hat mir das Leben gerettet.

›Ich habe die Polizei schon gerufen!‹, sagte sie streng und hielt ihr Handy in die Höhe. ›Du lässt also besser meinen Freund los oder ich werde noch etwas anderes von dir verbrennen!‹, schrie sie nun.

Der Typ rannte so schnell es ging davon.

Cassandra drehte sich um und reichte mir ein Handtuch. Es war das Mutigste, was jemand hätte machen können. Sie war so mutig. Obwohl damals schon ihr Leben in die Brüche ging. Später sagte sie, sie habe draußen gewartet und sei immer wieder hin und her marschiert. Sie hat mich dann schließlich gesehen, wie ich zu den Duschen ging und kurz darauf aber den Mann erspäht. Er blickte sich immer wieder um, wirkte aber entschlossen. Als auch er in der Dusche verschwand, musste sie sichergehen, dass alles in Ordnung ist«, versuchte er zu erzählen und verschluckte hin und wieder ein Wort. Die Erinnerung ließ ihn erzittern. Übelkeit stieg in ihm hoch. Alles drehte sich, doch blieb er stark.

»Nick … warum hast du nie etwas erzählt?« Kate wurde ganz blass. Sie fasste sich an die Stirn und ihr wurde richtig schlecht.

»Ich konnte nicht. Ich wollte dir keinen Kummer bereiten, ...« Er blickte sie traurig an.

»Was ist mit dem Mann geschehen, wer war es?«

»Er ist verschwunden. Kam nie mehr zurück. Natürlich hatte Cassie nicht die Polizei so schnell verständigen können, aber sie ging später zum Direktor und hat es erzählt.

Mama, Cassandra darf nicht wissen, dass ich krank bin.«

»Ich erzähle ihr, dass du bei deinem Vater bist. Und dort erst einmal eine Weile bleibst. Ihr wollt euch wieder nähern, du und dein Papa. Wieder Zeit miteinander verbringen, neu kennenlernen. Versprochen.«

»Wir wollten uns heute wieder Treffen.«

»Ich simse ihr. Ich nehme dein Handy und schreibe ihr immer mal, so wie du es tust.«

»Aber ...«

»Ich werde dir so ein billig Handy besorgen. Es wird alles gut, ich verspreche es dir.«

Nick hatte seine Zweifel, aber er schluckte alles Weitere runter. Die nächsten Wochen oder Monate würden schwer genug werden.

Nachdem sie alles geklärt hatten, holte ihm seine Mutter ein neues Handy, damit er sie anrufen konnte, wenn er etwas auf dem Herzen hatte.

Cassandra schrieb sie, wie versprochen, immer wieder eine Nachricht. Sie musste alles auch mit der Schule klären und nahm ihren Sohn einen Monat vor den Sommerferien aus dem Unterricht. Er war klug und würde alles nachholen können.

Die Zukunft würde nicht einfach werden.

Kate Joy wachte über Cassie. Sie wusste nun, was sie für ihren Sohn getan hatte. Es hätte ihn zerstört. Ihn vernichtet. Niemand kann so etwas einfach wegstecken.

Doch nicht einmal sie konnte Cassandra vor dem Schmerz beschützen, der ihr Herz einnahm.

Nick war über ein halbes Jahr weg. Er sehnte sich nach ihr.

Seine Freundin vermisste ihn so sehr, dass es ihr Herz zerriss.

Doch musste sie weitermachen. Sie wusste nicht, warum er so lange weg war.

Wenn sie doch nur die Wahrheit erfahren hätte …

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