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1. Ade

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Verdächtig

Er schiebt seinen Kopf so unvermittelt nach vorne, dass ich zurückzucke. »Sie saß also in Ihrer Vorlesung?«

Die Lehne drückt ins Kreuz. Ich rutsche vor, schlage die Beine übereinander und lasse die ineinander verhakten Finger knacken. »Herr Kommissar, das fragen Sie jetzt zum dritten Mal! Es ist mir klar, was Sie vorhaben. Sie wollen mich in Widersprüche verwickeln und Fehler finden. Dann werden Sie erbarmungslos nachbohren. Funktioniert so eine Befragung eines ehrlichen Zeugen? Ich bin unschuldig! Bei mir haben Sie solche Tricks nicht nötig.«

Bilde ich mir das ein oder ziehen sich seine Mundwinkel nach oben? Wütend schlage ich mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ihr Verdacht ist empörend. Ich ein Mörder? Nur weil das Mädchen im Hörsaal saß, werde ich mit dem Tod der jungen Frau in Verbindung gebracht? Das Gespräch ist genau an dieser Stelle beendet.«

»Hatten Sie nicht versprochen, uns zu helfen?«

»Ja. Aber nicht, wenn Sie so hinterlistig fragen.«

Warum lächelt er? »Sie war also nicht in Ihrer Vorlesung?« So ein Arschloch! Ich zeige es ihm, indem ich mit den Augen rolle. Sei’s drum!

»Doch, zweimal. Zum ersten Mal habe ich sie in der Schnuppervorlesung gesehen. Das war vor vier Monaten. Die Veranstaltung wird von der Hochschule begrüßt. Angehende Studenten sollen erfahren, in welchem Tempo der Stoff vermittelt wird und wie sich die Atmosphäre in einem Hörsaal anfühlt.«

»Aber?« Heinzingers Gesicht weist Ähnlichkeit mit dem einer Bulldogge auf. Sein Adjutant Hauff will nachsetzen, öffnet den Mund. Doch der Chef winkt ab, also schweigt er.

»Klären Sie mich auf!«

Er hält Block und Stift in der Hand. Das ist psychologisches Gehabe, denn der Rekorder läuft ohnehin.

»Noch einmal von vorne. Diese Schnupperstunde unterscheidet sich wesentlich von einer normalen Vorlesung. Ich möchte aufklären und Illusionen nehmen. Sie müssen die Wahrheit erfahren, bevor es zu spät ist.«

Ich lege eine Kunstpause ein, weiß nicht, ob ihn das Thema interessiert. Heinzinger nickt Hauff zu. Diesmal darf er gnädigerweise fragen: »Dann erklären Sie uns bitte Ihre Wahrheit?« Zur besseren Konzentration lehne ich mich zurück, schließe die Augen.

»Das Studium der Sozialen Arbeit mag ethisch hochwertig klingen, die Realität kennen weder Sie noch die Studenten. Seit drei Jahren ist der Kurs zum Kult geworden. Es gibt null Vorgaben für den Stoff, nur mein eigenes Drehbuch.«

Er klopft mit dem Stift auf den Tisch, er zwingt mich, die Augen zu öffnen. »Sie halten an der Uni eine Vorlesung, die zum Kult wurde?« Sein Blick soll einschüchtern, wird jedoch durch die herausragenden Nasenhärchen ins Lächerliche gezogen.

»Da bin ich nicht der Einzige. Die begehrtesten Veranstaltungen finden in den Naturwissenschaften statt. Ein Kollege der Physik atmet Helium ein. Dann spricht er wie Mickey Mouse. Im Fach Chemie wird auch heftig geklatscht. Dort lassen sie es krachen oder die Farbe wechseln und aus Reagenzgläsern wachsen endlose Plastikschlangen.«

Heinzinger rutscht auf dem Stuhl hin und her: »Bleiben wir doch besser bei Ihrer Stunde. Was beabsichtigen Sie damit?«

Täuscht er wahres Interesse vor? Nein, das ist ein Vernehmungstrick.

»Meine Vorlesung Sozialschnuppertag möchte ich nicht als Werbung verstehen. Sie soll eher das Gegenteil bewirken. Der Vortrag zeigt ihnen die Probleme ihrer künftigen Arbeit auf. Vor drei Jahren setzte ich dafür auch zum ersten Mal Bilder ein. Die dürfen niemals in falsche Hände gelangen. Deshalb sind Fotos nicht erlaubt und die Zuhörer müssen im Foyer Kameras und Handys abgeben.«

»Sie nehmen ihnen die Handys ab?«

»Nicht ich, das macht der Hausmeister. Wider Erwarten hat diese Maßnahme den Reiz für die Teilnehmer erhöht.«

»Warum ist das nötig?«

»Es sind, lassen Sie es mich so ausdrücken, außergewöhnliche Bilder. Susanne ist der Meinung, die Szenen seien zu grausam.«

»Grausam? Sie zeigen den Studenten grausame Bilder?« Heinzinger klopft mit zwei Fingern auf den Tisch. Er erwartet eine Reaktion, die ihn weiterbringt. Es ist wichtig, exakt bei den Tatsachen zu bleiben, kein Verwechseln oder Verfälschen. Ich schüttele meinen Kopf, fasse an die Stirn.

Der Disput mit Susanne sollte die Polizei nicht interessieren. Trotzdem läuft die Erinnerung an diesen Tag wie ein Film vor mir ab.

»Susanne, da hast du die wirklich harten Fälle in unserem Beruf nicht gesehen. Die lasse ich schon aus.«

Dabei kommen mir einige Bilder in den Sinn, die ich vorsichtshalber aussortiert hatte. Sie ließ nicht locker.

»Denk bitte an die jungen Zuhörer. Manche sind erst siebzehn, die wissen damit nicht umzugehen.« Ihre Stimme klang besorgt, doch meine Einstellung war gefestigt.

»Ja, klar, sie können mit sich selbst nicht umgehen und treffen Fehlentscheidungen. Dann vergeuden sie Jahre des Lebens mit einem Studium, für das sie nicht geeignet sind. Was ich in dieser Schnupperstunde zeige, ist die vorweggenommene Zukunft. Es ist ungerecht, ihnen eine heile Arbeitswelt vorzugaukeln.« Susanne war daraufhin in die Küche gerannt.

Jetzt kommt mir in den Sinn, dass ich zu grob war. Sie wollte mir helfen. Ich habe mich angegriffen gefühlt, mich verteidigt, anstatt ihr zuzuhören. So ein Idiot hat es verdient, von einem blutrünstigen Kommissar den Kopf abgerissen zu bekommen.

»Herr Professor Adelmann, sollen wir eine Pause einlegen? Sie wirken erschöpft.«

Jeder hat einen eigenen Tick, um sich zu konzentrieren. Ich streiche mit zwei Fingern an den Nasenflügeln von oben nach unten und zurück.

»Nein, danke, es geht schon. Jemand muss es machen. Ich meine, den Studenten die Augen öffnen. Scheitern ist nicht ihr Problem, auch die Erfahrung kann wertvoll sein. Leider habe ich einige zerbrechen sehen. Sie bekamen Folgeprobleme und Scheu vor Menschen. Das möchte ich den Anfängern ersparen. Damit sie das richtig verstehen, greife ich zu drastischen Mitteln! Ja, genau diese Bezeichnung passt zur Schnupperstunde.«

Heinzinger schiebt den Kopf nach vorne. Achtung Bulldogge!

»Sie können drastisch werden?«

Jetzt darf ich lächeln. »Sehr sogar. Brauchen Sie Beispiele?«

Rot

Sein Blick schwenkt vom Foto zurück auf das Mädchen. Die Farben? Augäpfel weiß, Mund rot. Alles richtig. Er lächelt, legt den A4-Ausdruck in das Moos daneben. Breitbeinig steht er über ihr, zieht die Kamera aus der Jackentasche. Auf dem Farbdisplay blinkt der Sucherrahmen. Zwei Schritte zurück, ein Fuß nach vorne. Jetzt erscheint sie von den Zehenspitzen bis zum Haarkranz auf dem Drei-Zoll-TFT. Sogar das Foto neben ihr passt ins Bild. Ein befriedigendes Schnauben und ein dreifaches Klicken ertönen gleichzeitig.

Die Hände wäscht er im Fluss, bedächtig wie bei einer Zeremonie. Dabei lächelt er. »Rot, die einzige wahre Farbe.«

Er bückt sich, muss noch näher heran. Nahaufnahmen: erstarrte rote Bahnen von der Stirn bis in weit aufgerissene Augen. »Klick, Klick!« Die Kuppe seines Zeigefingers fährt über ihre vollen Lippen. »Die wirken dunkler als das Blut. So mag ich die Variationen von Rot. Ein geniales Bild. Und der Regisseur bin ich, ich alleine.«

Wie in der Perspektive großer Hollywoodproduktionen wandert sein Blick über die Szene. ›Meine zweite Inszenierung und es war kein Zufall, wie beim ersten Mal. Diesmal habe ich sie mir ausgesucht. Gestellt? Gekünstelt? Hmm, ihr Ausdruck? Nein, das ist authentisch. Dieses Erschrecken wird eine Schauspielerin niemals hinbekommen. Nur ein Genie wie ich vermag so ein Werk zu gestalten. Leise summt er die Melodie des Kinderliedes, das für den Akt des Dramas angemessen erscheint: »War so jung und morgenschön!« Den Vers hat sie verdient.

»Morgenschön, abendschön, niemehrschön.

Mit Worten kann auch gemalt werden.«

Küssen verboten! Ihren Mund muss er öffnen, bevor die einsetzende Leichenstarre das verhindert. Diese intime Handlung befriedigt in ähnlicher Weise wie ein Kuss. Vorsichtig schiebt er die Blüte hinein. Sie verschafft in Verbindung mit weißen Zähnen den makellosen Kontrast. Auf Details in der Kombination von Farben legt er Wert. Der Abschluss der Szene ist erreicht. Er ruft dem imaginären Filmteam zu: »Klappe die Erste: Röslein rot!«

»Klick, klick, klick!«

Auf dem Display erscheint das Bild, von dem er als Kind geträumt hatte. »Rot, meine Bestimmung.«

Soll er sich neben sie legen? Ein stiller Abschied?

Sein Blick gleitet zur Flussmitte.

»Strudel, Bewegung, niemals Stillstand.

Sie warten auf mich, es muss weitergehen!«

Drastisch

Hundert Augenpaare, erwartungsvoll auf mich gerichtet, pendeln noch zu stark. Stehe unbeweglich, brauche ihre Konzentration. Ein verhaltenes Husten in der hinteren Reihe wird durch ›Psst‹ aus drei Richtungen zum Schweigen gebracht.

Die Zuhörer stammen nur zum Teil aus unserem Fachbereich. Der Hörsaal platzt von Gasthörern aus den Nähten. Für ältere Semester ist es zum Kult geworden. Sie blicken in immer blasser werdende Gesichter der Schüler und Erstsemester.

»Sozial ist gut! Bravo, Sie haben die richtige Einstellung. Human, ethisch, tugendreich, moralisch! Vergessen Sie bitte den ganzen Quatsch. Auf Sie wird harte und unangenehme Arbeit zukommen. Ich darf verraten, mit wem Sie es zu tun haben. Es sind HIV-infizierte Junkies und entwurzelte Jugendbanden ohne Perspektiven. Vom Vater missbrauchten Mädchen müssen Sie die Idee ausreden, durch Prostitution Geld verdienen zu wollen. Aggressive Borderliner schleichen Ihnen nach und verprügeln Ihre Freunde.«

Um die Wirkung meiner Worte zu unterstreichen, sehe ich den Zuhörern direkt in ihre Augen.

»Bereits im Praktikum werden Sie das erste Drogenopfer kennenlernen. Hier haben wir den dreiundzwanzigjährigen Denis W. Er hat sich vor einer Stunde auf der Toilette des Heilpädagogischen Jugendheims den letzten Schuss gesetzt. Das fand in Ihrem Zentrum statt und Sie waren für seine Betreuung verantwortlich.«

Jetzt kommt der Moment, in dem einige Zuhörer leicht torkelnd den Saal verlassen werden. Meine Assistenten und ältere Studenten stehen am Ausgang bereit und behalten sie im Auge. Ein Kreislaufkollaps durch Schock ist nicht zu verharmlosen. Die Nahaufnahme zeigt den mit heruntergelassener Hose auf der Toilette sitzenden Denis. Einige Zuhörer im Saal halten sich ihre Hände vor das Gesicht.

Wie schlafend an die Wand gelehnt, die Nadel noch im Arm, scheint er auf den Betrachter zu warten. Aus dem Mund rinnt ein langer Faden Erbrochenes, dessen Spur sich auf dem Knie fortsetzt. Schwarze Augenbalken zur Anonymisierung des Toten verstärken den Eindruck des Bildes.

»Ihre Aufgabe ist es, ihn anzusprechen, um herauszufinden, ob er noch Reaktionen zeigt. Danach müssen Sie Atmung und Puls kontrollieren. Sie rufen die 112 und werden bis zum Eintreffen der Rettungssanitäter reanimierende Maßnahmen durchführen. Dazu sollten Sie vorsichtig die Spritze herausziehen. Sie legen Denis auf den Boden der Toilette und ziehen seine Hose hoch. Es ist keine angenehme Aufgabe mit den Fingern das Erbrochene aus dem Mundraum zu entfernen. Dreißig Kompressionen des Brustkorbs, danach zwei Atemstöße durch Mund-zu-Mund. Bei Verdacht auf HIV dürfen Sie auf Letzteres verzichten. Die Herzmassage setzen Sie bis zum Eintreffen der Sanitäter kontinuierlich fort. Das waren in diesem Fall fünfundsechzig Minuten.«

Ich erkenne schreckgeweitete Augen, offene Münder und Gesichter, die sich abwenden.

»Die Sozialarbeiterin konnte die lebensrettenden Maßnahmen nicht durchführen. Sie hatte geschockt und weinend neben Denis gehockt. Erst ein Mitbewohner entdeckte beide nach fast einer Stunde und wählte den Notruf. Die Zeit für einen sinnvollen Einsatz des Defibrillators war längst abgelaufen. Es blieb nur, die Polizei zu rufen. Die Mitarbeiterin wurde für ein Jahr psychologisch betreut. Sie gab ihren Beruf auf und arbeitet heute nur von zuhause! Ihre emotionale Reaktion war das Ergebnis mangelnder Selbstfürsorge. Zum professionellen Abstand werde ich in einem weiteren Fall noch kommen. Um Sie auf Ihre zukünftige Tätigkeit vorzubereiten, wird das Schwerpunkt eines meiner Seminare sein.«

In diesem Stil geht es weiter. Geschlagene Frauen, ausgerastete Jugendliche, Gewalt und Terror, Drogen und Prostitution. Ein Mädchen in der zweiten Reihe wankt aus dem Hörsaal. Sie hält sich die Hand vor den Mund. Das Bild eines toten Babys konnte sie nicht ertragen. Die siebzehnjährige Mutter war im Frauenhaus untergebracht, ihr Freund dort widerrechtlich eingedrungen. Sein erster Griff galt dem Baby, das er aus dem Fenster warf. Es hätte ihrer Beziehung im Wege gestanden.

»Einige von Ihnen werden in ähnlichen Einrichtungen arbeiten. Nach einem solchen Erlebnis sind die wütend auf sich selbst. Sie bedauern, diese Berufswahl getroffen zu haben.«

In den Bankreihen erkenne ich bestürzte und aschfahle Gesichter. Hände verkrampfen sich unter Tischen. Es ist nötig! Wer sich nach meinem ›Sozialschnuppertag‹ einschreibt, weiß, was auf ihn zukommt und kann es schaffen.

Einen beispielhaften Fall hebe ich bis zum Schluss auf.

»Es gibt auch Positives zu berichten. Das sind Heike und Paul. Paul ist Streetworker in Berlin und hat Heike aus der Prostitution befreien können. Vor drei Monaten haben sie geheiratet. Das gesamte Sozialzentrum war eingeladen. Sie haben Reis geworfen und geklatscht. Die beiden galten als das glücklichste Paar der Stadt.«

Ah- und Oh-Rufe sowie Beifall, als ich ein vom Fotografen aufgenommenes Hochzeitsfoto zeige. Im weißen Kleid mit langer Schleppe küsst sie ihn verliebt auf den Mund. Die Wirkung ist angekommen.

»Das ist Heike vier Wochen später. Paul hatte erfahren, dass sie nicht nur acht Freier, sondern auch ihn mit HIV und Hepatitis C infiziert haben musste. Heike hatte die Infektionen verdrängt und verheimlicht. Im Wutanfall schlug Paul ihr mit einem schweren Aschenbecher heftig auf den Kopf und in das Gesicht. An den Folgen ist sie am selben Tag verstorben.«

Etliche Zuhörer schreien und weinen, Pärchen halten sich in den Armen.

»Paul, ein engagierter Sozialarbeiter und Streetworker, war für einige Minuten ausgerastet. Dafür sitzt er drei Jahre lang wegen Totschlags im Affekt in der JVA. Job und Zukunft hat er verloren. Natürlich könnte argumentiert werden: ›Sie haben sich doch geliebt!‹ Nochmals möchte ich an die Stichworte Selbstfürsorge und Abstand erinnern. Beziehungen zu Schützlingen halte ich für einen beruflichen Regelverstoß. Die Statistiken sind eindeutig, neunzig Prozent enden tragisch! Sehe ich in Ihre Gesichter, erkenne ich, dass Sie es klüger anstellen. Sie sind stark und schaffen das. Ab morgen beginnen die Einschreibungen. Treffen Sie die richtige Entscheidung! Ich freue mich darauf, einige von Ihnen wiedersehen zu dürfen. Vielen Dank.«

Es bleibt ein eingespieltes Szenario. Zuerst höre ich einzelne verhaltene Klatscher. Dann folgt das von den Altsemestern angestimmte rhythmische Fußstampfen.

Sie machen sich selbst Mut!

Gene

Seine Nasenflügel beben. Er kann es deutlich riechen, sogar am Gaumen schmecken. Ein Duft wie warmes Eisen geht von ihr aus. »Hmm!« Ist es eine Schande, den Geruch von Blut genauso zu mögen wie dessen Farbe?

»Es geht nicht anders! So war ich schon immer!

Doch warum? Wie gelangt das Böse in den Körper? Woher stammt der Antrieb, solche Taten vollbringen zu müssen? Steckt es in den Genen? Kommt es durch die Erziehung oder sind es Erfahrungen? Welche Ursache hat meine Sucht nach roten Kunstwerken?«

Dunkel erinnert er sich daran, dass sein erstes Bild in der Mülltonne landete. Sie hatte ihm den Versuch eines Aktgemäldes weggenommen und ihn beschimpft. »Es ist eine Schande, was du mit meinen Farben und der Leinwand angestellt hast!«

Also handelte es sich um eine Freud’sche Trotzreaktion gegen die Mutter? Das wäre zu einfach. Jedoch konnte das Ereignis die Geburt heimlicher Sehnsüchte sein. Es geht immer um die Frau. Damals noch mit dem Pinsel. Zu banal! Was er zelebriert, ist alles andere als ein simpler Mord. Er verwandelt das Mädchen in ein ästhetisches Stillleben. Ohne Leinwand und Acryl.

Nur das erzeugt dieses Glücksgefühl; dem jagt er hinterher.

Bin ich gestört? Psychose, psychische Defizite, Realitätsverlust? Es ist bedauerlich, dass sie darauf keine Antwort geben darf. Also muss er es selbst.

»Nein, das trifft auf mich nicht zu! Es kommt auf die Perspektive an. Genialität ragt immer aus der Menge heraus!«

Niemals fragten ihn die Eltern nach dem Berufswunsch. Er hat es für sich behalten: Bildhauer, Maler oder Fotograf. Davon schwärmte er. Kurzzeitig träumte er, als Regisseur Weltruhm zu erlangen. »Ich erkenne, wie Kunst die Menschen bewegt. Meine Meisterwerke bleiben im Gedächtnis und ich werde noch zahlreiche Bilder kreieren.«

Die Rose wird von strahlend weißen Zähnen umrahmt. Ihnen folgt die Farbe der sinnlichen Lippen. Das ist Schöpfung! Ein progressiver Künstler würde denselben Ton für unterschiedliche Details wählen. Die kunstvollen Applikationen der Blutspuren ergänzen den Eindruck. Sie bilden auf der Stirn stilvolle Bahnen.

Pah, sein Vater hatte nie Verständnis für derartige Kunst aufgebracht. Dessen Strickmuster verlief gradlinig. Nur für Geld wird sich niemand das kaufen können, was er hier vor sich sieht. Leider kann er die optische Impression nicht ewig genießen.

Ihren Mund muss er schließen, damit die Schöpfung der Nachwelt erhalten bleibt. Die Kleidung durfte das Mädchen nicht anbehalten. Das wirkte kitschig. Für Puritaner eignet sich diese Form der Kunst ohnehin nicht. Nur nackt versinnbildlicht sie Schönheit ohne Makel. Seine Tränen bringt er unter Kontrolle, denn es ist Zeit, das Werk abzuschließen!

Jetzt muss der Stein verschwinden. Die Stelle am Fluss hat er sich ausgesucht, weil sie für die perfekte Vernichtung sämtlicher Beweise geeignet erschien. Das Lied kannte sie nicht. Sie war zu jung, um es gehört zu haben. Lächelnd hatte er ihr die Zeilen vorgesungen, wie bei ihm die Großmutter.

Knabe sprach: Ich breche dich, Röslein auf der Heiden!

Das Bild ihrer letzten Sekunden: rote Lippen und vor Schreck geweitete Pupillen. Schade, davon gibt es keine Fotos.

»Der nächste Höhepunkt wird beim Wechsel der Farbe stattfinden. Die Natur kann in ihr Gesicht schreiben, deine Schönheit gehört mir.«

Das Mädchen hatte alle Eigenschaften besessen, die er suchte: Anhänglichkeit, Hinneigung und Neugier. Leider wurde dir das zum Verhängnis.

Mit der Rose im Haar wurde sie zu seiner Königin.

»Möchtest du den Ort sehen, an dem sie wachsen?«

Als sie nickte, löste sich eine Locke aus dem Haarkranz.

»Liebst du die Natur?«

Sie lächelte mit Lippen, Zähnen und Augen: »Sehr!«

»Vertraust du mir?«

Sie drückte seine Hand: »Du bist der einzige Mensch, dem ich vertraue.«

»Deswegen habe ich dich erwählt.«

Große Pupillen, gekräuselte Stirn. »Was meinst du mit ›erwählt‹? Wozu?«

»Du wirst sehen.«

»Es ist nicht meine Schuld, letztendlich ist es vorbestimmt, dass auch Rosen sterben müssen.«

Das tote Mädchen auszuziehen, wurde zum morbiden Akt. Bei ihm funktionierte das, Tränen der Ehrfurcht und gleichzeitig ein behagliches Schaudern. Das Erlebnis verlängerte er, indem er sie bewusst langsam und behutsam entkleidete. Schuhe und Söckchen waren kein Problem. Bei ihrem Rock wurde es kritisch. Er wollte nicht durch unbedachte Bewegungen die roten Streifen auf der Stirn verwischen. Beim Ausziehen der Bluse gelangte ein grünes Blättchen auf ihre Wange. Das sah nach Vorsehung aus. Doch es störte die Farben, also entfernte er es.

Nun darf er ihre Nippel befühlen. Die stehen erigiert hervor. Sieht er hier den letzten Protest der Natur kurz vor dem Tod? Ein Stupsen mit den Fingern bringt keine Steigerung. Erwartet er zu viel? Gewinn und Verlust müssen sich die Waage halten, auch beim Sturz einer Venus!

Venus? Stopp, das ist Kitsch!

Das Bild löschen, den Film an den Anfang zurückspulen! Das Mädchen ist enttarnt. In Wirklichkeit liegt am Ufer eine zickige Göre, die ihn ausgelacht hatte. Daran ändert die Tatsache nichts, dass sie noch Jungfrau ist.

»Das wird so bleiben. Niemand soll sie je besitzen.«

Seine Fingerkuppen auf ihrer Haut erzeugen ein Gefühl der Macht. »Mephisto, lenke mich!«

Das hat er schon.

»Hahaha! Ein Spiel, viele Spuren und Sackgassen.«

Die ratlosen Gesichter der Polizei, Ermittlungen in absurde Richtungen, all das gehörte zum letzten Akt. Sie hat die gerechte Strafe dafür erhalten, ein Genie auszulachen. Er wollte ihr eine angenehme Zukunft verschaffen. Sie hätte es sorgenfrei haben können, deutlich besser als bei ihren Eltern.

Es war eine Sucht, alles über sie erfahren zu wollen. In endlosen Gesprächen berichtete sie ihm freiwillig die intimsten Details.

»Ich führe ein eingeschränktes Leben.«

»Das tut mir schrecklich leid.«

Die Probleme sprudelten nur so aus ihr heraus. Psychologie hätte er auch gerne studiert. Nicht, um den Beruf später auszuüben. Es war die Neugier, ob durch dieses Studium die Kunst, Menschen zu manipulieren, optimierbar wäre. Wie perfekt war er? Der Lehrstoff für das Fach ist umfangreich. Meinetwegen, dachte er, dann bin ich ein Naturtalent. Die Manipulationen an ihr zeigten Wirkung. Gezielte Provokationen führten zum Erfolg.

»Möchtest du anders leben? Verspürst du Hass, wenn die Eltern dich bevormunden? Wünschst du deiner Mutter den Tod?«

Sie legte nach jeder Frage Sekunden des Nachdenkens ein, um sich ihm zu offenbaren.

»Das Wort ›konservativ‹ wird in meiner Familie niemals benutzt. Doch in der Schule werde ich damit gehänselt. Die Mitschüler kennen noch schlimmere Vokabeln. ›Bescheuert‹ ist eine der harmlosen. Anfangs musste ich weinen und berichtete das der Lehrerin. Heute bin ich stolz darauf, mich nicht angepasst zu haben. Von den Eltern erwarte ich keine Hilfe.«

Mit einem Finger wischte er Tränen aus ihren Augenwinkeln. Dabei nickte er ihr aufmunternd zu.

»Ich hörte, wenn sie von Freunden und Partys erzählten. Über erste Erfahrungen mit den Jungs konnten alle lachen, nur ich nicht. Montags wurde vom Besuch in der Disco geschwärmt. Da durfte ich nicht hin. Dafür gab Mutter mir Klavierunterricht.«

Ihr Tränenfluss wurde stärker, er reichte ihr ein Taschentuch.

»Siehst dir meine Hände an. Das war sie mit dem Lineal. Ich bekomme den zwölften Takt bei Chopins ›Prélude‹ einfach nicht hin.«

Er nahm ihre zartgliedrigen Finger, fuhr entlang der roten Streifen. Das verstärkte ihren Gefühlssturm. Sie warf sich an seine Brust. Das wurde der Anfang, beruhigend über vor Aufregung gerötete Wangen zu streicheln. Das ließ sie geschehen. Dabei wollte er sie nicht bedauern, auch keinen Trost spenden. Insgeheim bewunderte er die Strenge ihrer Mutter. Die hatte sie für ihn geformt und bis vor die Haustür geliefert. Eine gehorsame Geliebte hatte er sich in der Jugend immer gewünscht. Das stand nun kurz vor der Erfüllung!

So, das hatte sie von ihrer Zickigkeit!

Ist der Rückblick auf ein verpfuschtes Projekt von Bedeutung? Er sollte besser zur nächsten Aufgabe übergehen. Es ist verlockend, schon an eine Folgekandidatin zu denken. Er weiß, wo er suchen muss.

Wie in einer dichten Traube standen sie um ihn herum. Er sah überwiegend Schülerinnen und junge Studentinnen, die den Professor nach der Vorlesung ansprachen. Sie stellten Fragen und täuschten Interesse vor. Einige drängelten, rangen um Aufmerksamkeit. Sein Charisma und eine bemerkenswerte Ausstrahlung schwebten über der Szene. Er spielte mit Gesten, benutzt Arme, Beine und Mimik. Fasziniert hingen sie ihm an den Lippen. Eine Schülerin schüttelte ihm die Hand, sah ihm in die Augen. Sie schien geeignet. Aus sicherer Entfernung konnte er abwarten, später entscheiden.

Bislang hatte jede dieser Stunden einen Treffer erzielt. Fünf waren hübsch, drei zusätzlich schwärmerisch, aber nur eine genügend lenkbar. Sein Blick verweilte auf dem jungen Mädchen mit dem Handschlag und dem dankbaren Gesichtsausdruck.

Sie wird es!

Er durfte sie nicht aus den Augen verlieren, benutzte den Fahrstuhl. Als sie an ihm vorbeischlenderte, sog er ihren Duft ein. Ohne Hast folgte er, kam bis auf einen halben Meter an sie heran. Er roch an ihrem Haar, den blonden Zöpfen, die wie bei Julija Tymoschenko zu einem Haarkranz gebunden waren. Der lange Rock, der Knöchel erahnen ließ, musste von der Großmutter vererbt worden sein. Perfekt!

Diese Kleidung hat ein schwarzer Müllsack aufgenommen, der von der Strömung zur Flussmitte getragen wird. Das Gewicht der Steine drückt blubbernd Luft durch die Löcher. Als er samt Inhalt untergeht, tanzen Blasen an die Oberfläche. Wird er gefunden? Sicherlich nicht. Sie schon!

Es wird der vorletzte Akt in dem Schauspiel. Das Wasser ist an dieser Stelle so klar, dass er ihr Abtauchen längere Zeit genießen könnte. Leider ist die Strömung zu stark. So verschwindet ihr rot-weißer Schimmer hinter dem nächsten Weidenbaum des Naturschutzgebietes. Es soll der perfekte Schock werden: ein nacktes Mädchen, erschlagen, Jungfrau. Die Rosenblüte im Mund eröffnet ein Feld für Spekulationen.

Auch den finalen Akt wird er genießen. In seinen aufgewühlten Gedanken vermischen sich Zeilen der Lieder. Es hört sich kreativ an, sie damit auf ihre letzte Reise zu schicken.

Röslein ade! Scheiden tut weh!

Zunächst wird sie tiefer sinken und am Grund weitertreiben. Hoch kommt sie erst, wenn Fäulnisgase ihr ausreichend Auftrieb verliehen haben. Zu dem Zeitpunkt ist diese Stelle am Flussufer längst bereinigt. Die Natur tilgt verdächtige Spuren, wäscht Blut hinweg. Röslein wird nicht mehr schön aussehen, sondern anders.

Es wäre sein brennender Wunsch, ihre Entdeckung miterleben zu dürfen. Dann könnte er die Unterschiede bewundern, vorher und nachher! Das Verblassen der Töne aus Lippen und Augen ist ein faszinierendes Phänomen. Wie viele Tage treibt sie im Fluss? Für einen Künstler sind Farben wichtig. Grau, blaugrau? Es müsste eine Prise Grün mit hineingemischt werden, denn Algenbildung spielt in der Natur eine große Rolle.

Tiere? Nein, Krabbel- und Kriechwesen wird er auslassen, er ist nicht Hieronymus Bosch. Eher schon Miro! Der konnte das mit den Farben. Es ist nicht nötig, den Originalton zu treffen, auf die Wirkung kommt es an. Grün steht ihr! Ein Mädchen, das von den Flussgöttern geküsst wurde. Aus ihr sollte ohne sein Zutun ein neuartiges Kunstwerk entstehen.

Jetzt heißt es, diesen Fall hier am Fluss abzuschließen! Dafür darf er sich entspannt auf die kommenden Nachrichten und Spekulationen freuen. Es könnte in einigen Tagen noch einmal amüsant werden. Ein Drama muss mit dem Applaus des Publikums enden! Er kann zielstrebig in die Zukunft blicken. Unzählige Geeignete warten auf ihn.

»Ich suche mir ein Mädchen, das mich verdient hat.«

Niemals

Handschellen? Haben Kommissare die in der Jackentasche? Oder Kabelbinder? So modern ist er nicht, der bleibt bei Stahl.

»Hatten Sie ein Verhältnis mit Johanna Bora?« Mit dieser Frage geht Heinzinger mir wiederholt auf die Nerven. Es ist kein Verhör, sondern eine Zeugenbefragung. Daher muss ich noch nicht einmal antworten. Auf meiner Stirn steht jedoch ›Sozial‹ in großen Buchstaben und somit ist Helfen angesagt.

»Nein, hatte ich nicht.« Den Satz musste ich schon zweimal herausschreien.

»Wie erklären Sie sich dann, dass Sie in Ihrem Schreibtisch einen Zeitungsausschnitt aufbewahrte. Auf dem haben wir zahlreiche Kussabdrücke gefunden! Die waren auf einem Bild von Ihnen! Johanna Bora hat mehrfach ihren Mund auf Ihr Zeitungsbild gedrückt!«

»Oh!« Mehr fällt mir dazu nicht ein.

Heinzinger ist der Meinung, die Wahrheit erkennen zu können, wenn er mir scharf in die Augen sieht. »Ja, mit ›Oh!‹ drücken Sie genau das aus, was wir in dem Moment auch dachten.«

Bin ich jetzt stolz darauf, eine solche Wirkung auf Mädchen auszustrahlen? Es gibt eine Erklärung, ich bin ein überzeugender Redner!

»Sie sind in mich vernarrt, weil ich ein hervorragender Dozent bin. Sie verehren meine Vorträge und die Didaktik, die dahintersteckt. Sie lieben die aufregenden Blicke, mit denen ich sie fixiere. Junge Frauen kommen am Schluss der Vorlesung zu mir und stecken mir Zettel mit Telefonnummern zu. Einige wollen von mir private Nachhilfe, andere fragen nach dem Sportverein und wo ich jogge. Prinzipiell lehne ich Beziehungen zu Studentinnen ab. Falls Sie es noch nicht wissen, ich bin glücklich verheiratet. Wenn ich ein Verhältnis haben wollte, würde ich mir niemals eine siebzehnjährige Schülerin aussuchen.«

Heinzinger brummelt: »Warum eigentlich nicht?« Er ist erst still, als er böse Blicke erntet. Hauff nickt verstehend, wobei mir unklar ist, was er kapiert haben will.

»Aber sie kannten Johanna Bora näher?« Der Kommissar gibt nicht auf. »Näher, was wollen Sie damit sagen? Meinetwegen, wenn Sie das so interpretieren, verflixt noch mal! Genau nach der besagten Schnupperstunde kam sie zu mir ans Pult. Dort wartete sie geduldig, bis ich mit einer Runde von fünf Frauen und drei Männern durch war. Die hatten Fragen zum Studium gestellt. Zwei Telefonnummern durfte ich bereits einkassieren. Sie könnten sie zerrissen im Abfalleimer des Hörsaals finden, wenn der nicht täglich geleert würde. Johanna Bora kam zu mir und drückte meine Hand. ›Sie haben mir die Augen geöffnet, aber mich nicht abgeschreckt, sondern gut auf die Realität vorbereitet. Ich muss mir Alternativen überlegen. Danke Herr Professor Adelmann!‹ Dabei hat sie so eigenartig gelächelt. Den Blick konnte ich nicht einordnen. Doch, es wirkte verzückt. Ja, verzückt ist der richtige Ausdruck und deswegen erinnere ich mich an sie. Diese Johanna Bora war ihrem Alter weit voraus. Gleichzeitig berührte ihre Naivität. Von den Mädchen, die mir ihre Telefonnummern zugesteckt haben, sind die Gesichter längst vergessen.«

»Was ist denn mit Johanna Boras Telefonnummer passiert?« Heinzinger muss von Beruf ein solches Arschloch sein, daher nehme ich es ihm nicht übel.

»Sie hat mir keine gegeben, sondern wollte von mir wissen, ob Musiktherapeutin oder Klangtherapeutin in Kombination mit dem Studium vorstellbar wäre. Mit dieser Frage habe ich sie an die Kollegen des Lehrstuhls für Pädagogische Psychologie verwiesen. Dafür hat sie sich artig bedankt. Sie hätte noch ein Jahr Zeit und würde in Ruhe ihre Möglichkeiten bewerten. Ein gewissenhaftes und ernsthaftes Mädchen und ich wünschte mir, unsere Tochter besäße einige ihrer Qualitäten. In ihrem Gesicht lag so ein unschuldiger Blick. Ich hatte Zweifel, ob sie für den Beruf geeignet wäre. Ich gebe zu, ich fand sie bemerkenswert. Auf ihre Art! Sie beeindruckte durch große dunkle Augen, die zu ihrem weißen Teint passten, dazu diese transparent wirkende helle Haut. Ihre vollen Lippen faszinierten auch. Es war ein abstechendes Rot ohne Lippenstift, nur durch perfekte Durchblutung erzeugt. Erinnern kann ich mich, dass ich ihr hinterhergesehen habe, weil ihre Kleidung besonders war. So läuft heute kein Mädchen herum. Sie müsste damit in der Schule hämische Blicke auf sich ziehen. Der Gesamteindruck war neunzehntes Jahrhundert oder konservativer. Es erinnerte an die Amish People.«

»Was hatte sie an? Können Sie sich an Auffälligkeiten erinnern?« Er scheint mich als Zeuge, der ihn unterstützen möchte, ernst zu nehmen.

»Sie trug eine hochgeschlossene dunkelgraue Bluse mit weißem Kragen. Zum Stil passten der knöchellange dunkle Rock sowie die schwarzen Schuhe ohne Absatz.«

Das sehe ich deutlich vor mir.

»Sie scheinen Ihre Johanna ja genau inspiziert zu haben. Hatte das einen besonderen Grund?« Er fragt in einer lauernden Art. Es erinnert daran, dass er weiterhin auf der Suche nach Verdächtigen sein muss.

»Es ist nicht ›meine Johanna‹! An die Kleidung erinnere ich mich, weil sie außergewöhnlich altmodisch wirkte. Das habe ich alles schon gesagt.«

Ich bin kurz davor, ihn rauszuschmeißen.

Nahe

Ein letzter Blick auf das Foto.

»Mund rot. Augäpfel weiß. Rose rot. Zähne weiß. Tatatata! Goldener Schnitt? Fünf zu drei? Perfekt!«

Er zerreißt das Blatt in kleine Stücke, schiebt jedes einzeln in den Mund.

Kauen. Vertilgen. Löschen. Auch die Beweise.

Drei Monate hatte er an ihr gearbeitet und sie annähernd dorthin gebracht, wo sie hingehörte. Sie sollte Wünsche von Lippen ablesen, ihm glauben und vertrauen.

»Ich bin kein Ersatzvater.«

»Das habe ich auch nie behauptet.«

»Was bin ich für dich?«

»Ich, ich weiß nicht. Es tut gut, in deiner Nähe zu sein. Da ist so eine gewisse Verbundenheit, die ich nicht begreife.« Er lächelt sie an: »Ist da noch mehr?«

»Was meinst du mit mehr?«

»Warte ab, es ist zu früh!«

Niemand hatte von ihren heimlichen Treffen erfahren. Ihr Vater war tagsüber in der Firma und die Mutter ging einem Ehrenamt in der Gemeinde nach. Unter Aufsicht standen lediglich die Abende. Die hielten ihre Eltern für die gefährlichste Zeit. Alkohol, Drogen, Sex und unanständige Tänze verdarben die Jugend. Es wurden ihre Nachmittage, unbemerkt und ohne Zeugen.

Er ging umsichtig vor. Zunächst fuhr sie eine kurze Strecke mit dem Bus. Dann lief sie einen Kilometer zu Fuß. An einer einsamen Stelle wartete er im Auto auf sie. Er hatte nicht die Limousine genommen, sondern einen neutralen schwarzen Wagen. Dessen Kennzeichen gehörten zu einem Pkw in Bayern, er besaß die passenden Papiere. Ein gefälschter Führerschein war seit einem Jahr für den Fall einer Polizeikontrolle zum Standard geworden. Doch auf dem Land wird tagsüber niemals kontrolliert. Ungehindert konnte er sie in die Villa bringen und mit ihr die Nachmittage genießen.

Amüsiert beobachtete er, wie sie den Bechstein-Flügel öffnete. Sie spielte die Tonleiter in Dur und Moll an und nickte anerkennend. Es war das Klavier, auf dem etliche Frauen für ihn und seinen Vater die Beine breit gemacht hatten. Damals war es kein Klimpern auf den Tasten gewesen. Die Saiten vibrierten in Resonanz mit hektischen Bewegungen. Ihr Stöhnen lieferte die Hintergrundmusik.

So weit war es bei ihr noch nicht gekommen. Die höchste Stufe einer Annäherung erreichte er, als sein Atem ihre Nackenhärchen zum Kräuseln brachte. Ihre Gänsehaut am Hals war eine äußerst erotische Reaktion. Sie hatte sich amüsiert umgedreht.

»Stört es dich, wenn ich dir so nahe bin?« Das war eine Fangfrage, denn bildhaft sah er sich bereits zwischen ihren Schenkeln liegen. Sie hatte den Einwand ernst genommen. »Du störst mich niemals, sondern bereicherst mein Leben.«

Für so ein junges Ding war das ein altkluger Satz. Er musste ihr beibringen, derartige Schnulzen zu unterlassen und besser vor Lust zu jubeln. Bei seinem Vater hatte eine winzige Handbewegung ausgereicht, um den Frauen zu gebieten, sich artig zu bücken. Der vergangene Misserfolg sollte ihn vorsichtiger werden lassen. Er hasste es zu versagen. Wenn er sich in etwas auskannte, dann war es psychologische Strategie. Es musste ihre eigene Entscheidung sein, mit ihm zusammenleben zu wollen. »Es wird mir zu gefährlich. Du bedeutest mir viel, deswegen muss ich dich leider nach Hause bringen.«

Im Gegensatz zum Vater bevorzugte er sanft geköchelte Hühnchen. Zart und saftig sollten sie sein.

»Es ist schade, ich fühle mich gut in deiner Nähe.«

Ihr Satz war ebenfalls Kitsch, gab ihm jedoch Hoffnung, sie so weit zu haben. War der Plan so früh aufgegangen?

Dann hatte er es zum falschen Zeitpunkt gewagt. Es war ein romantischer Ort, dieses Wäldchen am Flussufer. Paradiesisch und tödlich!

»Möchtest du meine Freundin werden? Nicht wie in den letzten Wochen, sondern darüber hinaus.«

Die Frage war kaum ausgesprochen, schon bemerkte er den Fehler. Es war verfrüht, so weit war sie noch nicht. Länger abzuwarten konnte er nicht ertragen, zu groß war seine Ungeduld. Die Entscheidung musste jetzt fallen, die Zeit für neue Höhepunkte war überfällig.

Es war amüsant, sie über ihr eigenes Schicksal selbst bestimmen zu lassen. Ein fragendes Mädchengesicht wurde zum staunenden, das in ein belustigtes überging. Fünf Sekunden des Nachdenkens, dann wirkte sie zerstört.

»Du möchtest ein Verhältnis mit mir anfangen? Ich bin enttäuscht von dir! Baute unsere Beziehung nicht auf einer völlig anderen Ebene auf? Was du sagst, ist nicht richtig. Jetzt wird mir klar, was du die ganze Zeit bezweckt hast. Du musst aus meinem Leben verschwinden. Das ist ja unerträglich, geradezu lächerlich.«

»Lächerlich?«

Sie zuckte zusammen, weil er es zwischen Zähnen herauspresste.

Die Stimmung wurde nicht nur durch dieses eine Wort ruiniert, auch das Motorgeräusch eines Schiffes störte die Romantik der Naturbühne.

»Dann soll es so sein.«

Nun beglückwünschte er sich für die Vorsehung, der Stein wartete hinter dem Rücken. Sie war mit ihren siebzehn Jahren zu jung, wusste wenig über das Leben und die Gefahren. Dabei hätte die Zukunft für sie sorgenfrei und ohne Last werden können. Es war ihre Entscheidung, sich darüber lustig zu machen! Er fand die Wahl auch in Ordnung.

Der erste Treffer war keine Meisterleistung. Er sollte vorher üben. Eine Melone kam ihm in den Sinn. Es musste möglich sein, mit ausreichender Kraft durch die Schale zu dringen. Er dagegen hatte lediglich eine aufgeplatzte Stirn mit einem roten Rinnsal erzeugt. Nur ihr überraschter Blick und die ungläubigen Augen entschädigten diesen Dilettantismus. Für die zahlreichen Schläge, die er danach wie ein Berserker auf ihren Kopf niederprasseln ließ, schämt er sich heute noch. Das war keine Kunst, es zeugte von Barbarei.

Doch dann traf es ihn wie ein Blitz, denn das Ergebnis fiel ästhetisch aus. Was im Moos des Flussufers vor ihm lag, war Surrealismus vom Feinsten. Miro hatte mit geplatzten Farbbeuteln gearbeitet, das hatte er mit diesem Bild deutlich übertroffen. Es wurde sein Erwachen. »Ich kann das, bin dazu auserwählt.«

Hinzu kam die zweite Motivation. Berserker hin oder her, wer ihn verschmähte und auslachte, durfte nie wieder einem anderen Mann gehören. Eine verschwindend kurze Spanne lang hatte er sie lenken können, dann hatte sie ihn ausgelacht. Sie war zu jung und einfältig gewesen.

Es war an der Zeit, über ein Folgeprojekt nachzudenken. Das nächste Mädchen müsste reifer sein. Nicht zu alt, zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre sollten reichen. Ein Übermaß an Erfahrung könnte schaden und einen gegenteiligen Effekt bewirken. Die bisherige Methode, sich Frauen abhängig zu machen, erschien ihm zu mühsam, die Strategie fehleranfällig.

War die Vorgehensweise des Vaters überlegen? Er erinnerte sich an den Einfluss, den der auf alle Personen im Umfeld ausüben konnte. Durch Reichtum und Beziehungen. Dafür hatten die Menschen ihn abgrundtief und von ganzer Seele gehasst. Das war der falsche Weg. Er wollte geliebt werden. Die Wünsche sollten sie ihm freiwillig und mit Überzeugung erfüllen.

In der letzten Woche war er auf einen Artikel über Lobotomie gestoßen. Mit diesem Eingriff am Gehirn wurden verblüffende Ergebnisse erzielt. Das ging bis zu einer kompletten Änderung des Bewusstseins. Wozu hatte er vier Semester Medizin studiert?

Noch interessanter schien die Zingulotomie zu sein. Das Verfahren veränderte die Psyche eines Menschen irreversibel. Er sollte herausfinden, welchen Bereich des Gehirns er bearbeiten musste. Eventuell reichte es aus, den Antrieb des Mädchens operativ zu entfernen. Initiative, Motivation, Wille, Ehrgeiz, alles unnötige Eigenschaften für eine Frau. Er würde für ihre Versorgung zuständig sein. Für immer!

Könnte er sich eine Neurochirurgie aufbauen? Eine Möglichkeit wäre es. Er wollte nichts überstürzen, aber es lohnte sich, darüber nachzudenken. Er hasste Theorie. Wie sah denn in dem Fall die Praxis aus? Für einen Erfolg musste er zahlreiche Experimente durchführen. Er stellte sich die benötigte Anzahl der Mädchen vor. Frustrierend! Zuerst muss er sie in einen geheimen Operationssaal entführen. Dazu gehörte die komplette OP-Ausrüstung inklusive einer ordentlichen Anästhesie. So ein Projekt war mühsam und es sah nach Arbeit aus. Er scheute es, unangenehme Dinge eigenhändig durchzuführen.

Ramires würde ihn dabei nicht helfen können, er war zu grobschlächtig. Der könnte dann nur die Misserfolge beseitigen. Es formten sich Bilder von Frauen mit abgehobenen Schädelplatten und fehlenden Regionen im Gehirn. Das ist für Kunst der falsche Weg. Die Vorstellung verursachte einen tiefen Seufzer, mit dem er diese Idee verwarf. Offene Schädel waren grässlich, ein perfektes Mädchen sah anders aus.

Welche Möglichkeiten gab es noch? Zuhälter machen sie sich gefügig, indem sie ihnen permanent mit massiver Gewalt drohen. So etwas färbt auf die gesamte Psyche ab. Schrecklich! Dafür fand er sich zu künstlerisch und feinsinnig veranlagt.

Manche Nutten werden durch Drogen in eine Abhängigkeit getrieben. Sie betteln regelrecht darum, für einen Schuss alles machen zu dürfen. Konnte es einen Weg geben, die Sucht nach chemischen Substanzen stilvoll zu gestalten?

Sollte er ein Mädchen an die Nadel hängen? Was für ein perfider Gedanke! Das war ohne Niveau und widerwärtig, das Gegenteil von Kunst. Der Effekt rückte allerdings schon in die Nähe dessen, was er sich vorstellte. Eine von Drogen abhängige Frau würde sich frei bewegen. Sie könnte auch eigene Entscheidungen treffen. Die Wünsche, die in ihrem Kopf entstehen, sind nicht hineingeprügelt. Ihr Verlangen wird leider einseitig auf die Beschaffung des Stoffs ausgerichtet sein. Weswegen soll sie ihn dann lieben? Klar, sie müsste alles tun, was nötig war, um an den nächsten Schuss zu gelangen. So weit kannte er diese Szene. Das war nicht ein Dienen, wie er sich das vorstellte. Außerdem ging ein körperlicher und geistiger Zerfall bei Abhängigen schnell voran.

Ein solches Mädchen würde nicht lange attraktiv bleiben. Ein Jahr, wenn alles gut lief. Von der anderen Seite betrachtet, danach sollte es ohnehin langweilig werden. Seine Planungen reichten deutlich weiter! Über eine Tatsache war er sich klar: Mit einer Drogenabhängigen konnte es keine harmonische Beziehung oder wirkliche Liebe geben. Sie müsste es aus tiefster Seele hassen, für einen Schuss mit ihm zu ficken. Beim Vater hatte er genau das erlebt. Der hatte die Frauen durch Macht und Erpressung dazu getrieben, ihm sexuell zur Verfügung zu stehen. Zwang und Nötigung sind für einen Künstler ungeeignete Methoden.

Gab es eine überlegenere Lösung? Das Mädchen durfte nicht merken, dass es manipuliert wurde. Die Strategie lag auf der Hand, das Opfer sollte nicht erkennen, von Drogen abhängig zu sein. Damit schied die Spritze aus. Ein befreiender Seufzer der Erleichterung, er musste scharf nachdenken.

»Es gibt mit Sicherheit schöpferische Alternativen.«

Zart

Es stinkt! Ich erkenne Schweißflecke unter seinen Achseln, im Büro schwebt der Mief abgestandenen Kaffees und bei mir kocht Adrenalin über.

»Wann haben Sie sich wieder getroffen?« Heinzinger benutzt den Ausdruck ›wieder‹ als Fangfrage, so als gäbe es mehrere Verabredungen.

»Lassen Sie bitte diese Wortspiele! Wir haben uns nicht ›wieder‹ getroffen. Vor zehn Tagen kam sie nach der Vorlesung zu mir. Im Hörsaal hatte ich sie nicht bemerkt. Wahrscheinlich wartete sie das Ende im Foyer ab. Sie wollte sich noch einmal bedanken. ›Ich habe erkannt, dass eine Arbeit mit derart schwieriger Klientel zu belastend ist. Ich werde ein Jahr Auszeit nehmen. Für eine Entscheidung fühle ich mich nicht reif genug!‹. Das hat sie gesagt, dabei hat sie die ganze Zeit meine Hand gehalten. Das empfand ich einerseits als angenehm, andrerseits ungewöhnlich für ein so junges Mädchen.«

»Wollte Johanna Bora Sie anmachen? Hat dieser Händedruck Sie sexuell erregt?« Über seine Frage muss ich tatsächlich nachdenken. »Nein, es war eher wie ein Tochter-Vater-Verhältnis. So hat sie das auch gesehen.«

»Fällt Ihnen Weiteres zum letzten Tag ein? Wurde sie von jemandem abgeholt, hatten Sie den Eindruck, sie schaute auf die Uhr, wurde erwartet oder gab es andere Auffälligkeiten?« Heinzinger merkt die angespannte Atmosphäre und rudert zurück.

»Nein, das war alles. Doch, eine Sache, die Halskette! Sie hielt einen Anhänger, es war eine goldene Rose, zwischen den Fingern und drehte sie immer wieder herum. Das ist ein Tick, den viele Mädchen mit neuen Schmuckstücken machen.« Dieses Detail ist mir erst jetzt eingefallen. »Allerdings kann ich mich an die Kette bei unserem vorherigen Treffen nicht erinnern. Sie muss sie später bekommen haben.«

Er scheint interessiert und beugt sich vor. »Eine Rose? Können Sie die beschreiben?«

»Nicht genau. Sie war klein, höchstens einen Zentimeter im Durchmesser, aus glänzendem Gold oder vergoldet. Die Kette sah nicht alt aus, moderner als ein Familienerbstück.«

Durch ihre Drehbewegung mit ihren Fingern musste ich den Schmuck näher betrachten. Heinzinger wirkt zum ersten Mal aufgeregt. Das Detail ist also wichtig. Es bedeutet, eine Kette wurde nicht bei ihr gefunden. Fleißig schreibt er in sein Buch und kommt abrupt auf ein anderes Thema.

»In ihrer Schnupperstunde haben sie über den Fall Paul Berger berichtet. Auch die Attacke mit einem Gegenstand auf den Kopf war dabei. So was scheint Ihnen wenig auszumachen. Nicht jeder schafft es, unbeteiligt darüber zu berichten. Warum können Sie das?«

Heinzinger kritzelt in seinem Block herum. Er will mir das Gefühl geben, etwas Wichtiges entdeckt zu haben.

»Ist sie so gestorben? Wurde Johanna Bora durch Schläge auf den Kopf getötet? Das ist ja schrecklich! Sie sah so zart und verletzlich aus.«

Er sieht nicht auf: »Beantworten Sie bitte die Frage.«

Es ist unglaublich. Es wird mir als Motiv ausgelegt, über Gewaltdelikte im Arbeitsumfeld des Studiums zu berichten. Langsam werde ich böse.

»Hören Sie, dieser Kasus Berger ist ein Teil unseres Berufes als Sozialarbeiter. Es wird immer wieder solche Fälle geben, die Studenten sollen lediglich darauf vorbereitet sein. Und nein, es macht weder Spaß noch verspüre ich heimliche Schadenfreude, wenn ich über derartige Vorfälle berichte. Nur halte ich für meine Pflicht, es zu tun.«

»Sie hatten also mit dieser zarten und verletzlichen Johanna Bora ein Verhältnis? Deshalb haben Sie sich mehrmals getroffen? Ja klar, sie musste ja auf ihre Arbeit vorbereitet werden! War es so?«

Jetzt reicht es mir endgültig.

»Raus, sofort raus! Verlassen Sie auf der Stelle mein Büro!«

1979 bis 1985: das Erwachen

Die Kamera fiel krachend in den Papierkorb, als er mit der Stirn auf die Platte des Schreibtisches aufschlug. »Ich muss in der Vergangenheit suchen! Warum habe ich damals nicht einen Fotoapparat benutzt?«

Bis zu einem Alter von zwölf Jahren hatte er keinen Vergleich ziehen können, wie es in anderen Haushalten zuging. Die Dominanz des Vaters und die Unterwürfigkeit der Mutter hielt er für völlig normal.

Hatte ihn das geprägt?

»Ist er ein Vorbild? Soll ich so werden wie er?« Ihr Gesicht wurde vom Dunkel überzogen. »Du musst dich mehr anstrengen, um später die Firma übernehmen zu können. Hast du denn nicht bemerkt, dass er zu viele negative Seiten aufweist?« Ja, von denen wusste er. Nur die Sache mit der Abhängigkeit war beeindruckend. Die Mutter, Maria das Hausmädchen, Dutzende Geliebte, er hatte es verstanden, sie alle nach seiner Pfeife tanzen zu lassen.

Er sah die Bilder vor sich, konnte das damals noch nicht malen. Sie knieten vor ihm, den Mund weit geöffnet, bückten sich oder hielten ihre Beine zum Himmel. Warum hatte das niemand beenden können? War der Vater durch den Besitz der Firma und dem damit verbundenen Einfluss unangreifbar?

Dabei war die Fabrik überhaupt nicht des Vaters Verdienst, der Großvater hatte den Grundstein gelegt. Oft hatte der von den Mühen berichtet, das Unternehmen wieder aufzubauen. Die Großmutter Theresa wusste es besser.

»Es war ein unabwendbarer Erfolg durch die damalige Versorgungslage. In den Jahren nach dem Krieg kauften die Leute alle Produkte. Sie wurden den Herstellern aus den Händen gerissen. Jeder, der über Startkapital und eine zerbombte Ruine verfügte, war König. Wettbewerb gab es nicht. Rauchende Schornsteine, Wasserdampf, Hammerschläge, Arbeiter zu Fuß oder mit den Fahrrädern, das reichte. Dein Vater konnte auf den Erfolgen aufbauen.«

Der Prozess seines Erwachens fand exakt in dem Augenblick dieser bildlichen Schilderung statt. Daraus wurde eine unbestimmte Neugier. ›Ich muss Details über ihn und die Frauen hier im Haus herausfinden. Ihr Verhältnis untereinander? Da geht etwas Wichtiges vor. Warum verschwindet Mutter nach dem Mittagessen regelmäßig im Lesezimmer?‹

Der Raum hieß so, weil ein Glasschrank voller Bücher eine Wand komplett ausfüllte. Aber sie las selten in einem der verstaubten Bände, sie malte. Anfangs hatte er fasziniert hinter ihr gestanden, doch dann musste er unbeweglich auf dem Stuhl hocken.

»Du sollst zuschauen. Fragen stören mich, auch dein Herumlaufen.«

Mit Farben aus mehr als zwanzig Töpfen entstanden Landschaften. Immer waren es Berge, Wälder und Seen. Auf den Bergspitzen lag oft ein Rest weißen Schnees, den der See widerspiegelte. Für ihn wurde die Mutter damit zur Künstlerin. Anfangs! In vielen öden Stunden sah er ihr bei der Tätigkeit zu.

»Unterlässt du bitte dein unanständiges Gähnen!«

Das einzig Interessante waren die unerklärlichen Geräusche im Hintergrund. Aber er durfte den Raum nicht verlassen, musste still auf dem Stuhl sitzen.

»Es ist für dich lehrreich zuzusehen.«

Dabei lächelte sie nicht ihn, sondern das halb fertige Gemälde vor sich an. Beim dritten Bild wurde er es leid.

»Immer nur Berge und Seen, wo bleiben denn die vielen Menschen, die es auf der Welt gibt?«

»Die Menschen? Weißt du, die sind unnütz auf der Erde. Sie stören die Natur.«

Aha, dachte er, noch eine Sache, die er sich merken sollte. Aber was die Mutter auf die Leinwand brachte, war nicht richtig.

»Ich werde auch malen! Dann nur Menschen.«

»Du bleibst sitzen und lernst von mir!«

Die langweilige Malstunde wurde zur Pflicht und zum Ritual. Seit einigen Monaten hasste er sie. An den Fingern zählte er die Merkwürdigkeiten auf. Daumen: die Regelmäßigkeit der Malerei. Zeigefinger: die Geräusche. Mittelfinger: das Verbot, den Raum zu verlassen.

Im Alter von neun Jahren fand er die Wahrheit heraus.

Es war einer der Mittage, an dem es im Musikzimmer besonders laut zuging. Die Mutter hielt den Pinsel unbeweglich in der Hand, hatte die Augen fest zugekniffen. Unbemerkt öffnete er die Tür und spähte in den Flur. Durch den Spalt konnte er es beobachten. Maria lag auf dem Bechstein-Flügel und hatte ihre nackten Beine hoch zur Decke gestreckt. Der Vater stand mit heruntergelassener Hose vor ihr und vollführte rhythmische Bewegungen. Das Keuchen beider war als verräterischer Laut im ganzen Haus zu vernehmen. Zum Takt seiner Zuckungen lieferten die Stahlsaiten des Flügels eine disharmonische Begleitmusik.

Damals kannte er weder das Wort noch die Tätigkeit, die so etwas hervorrief. Doch es musste wichtig sein, wenn die Mutter dabei ihre Augen so fest zudrückte.

In der nächsten Mittagspause startete er das Ritual, sich in Schränke zu verstecken, um möglichst viel zu erfahren. Es ging nicht um die sexuelle Komponente, die kam erst später. Ihn interessierte, wie der Vater es anstellte, Maria freiwillig diese üblen Sachen auf sich nehmen zu lassen. Eindeutig stieß sie ja heftige Schmerzlaute aus. Heute steht es für ihn glasklar fest, dass es der Keim eines Verlangens war, Dominanz ausüben zu können. Mit offenem Mund hatte er die Szenen beobachtet und den Vater bewundert. Damals wusste er nichts von Geilheit, stufte ihre Schreie als Winseln nach Gnade ein.

›Das ist Macht. Er darf das, er hat das Recht, mit ihr so umzugehen!‹ Von dieser Erkenntnis waren der Gaumen trocken und die Hände feucht geworden.

Später vermutete er, dass der Vater von seiner Anwesenheit im Schrank wusste und als Lehrstück durchgehen ließ.

Was er beobachtet hatte, schien ein wichtiger Vorgang zu sein. Es erzeugte Töne des Schmerzes und wurde von Musik begleitet. Das war Macht und Kunst zugleich! Es fühlte sich besser an als die öden Landschaften der Mutter.

›Das sollte ich malen und nicht die langweiligen Berge!‹

Ein letztes Zögern.

»Ich muss das machen!« Mit dem Satz nahm er das halb fertige Gemälde der Mutter von der Staffelei und ersetzte es durch eine jungfräuliche Leinwand. Sein Blick glitt über die zahlreichen Farbtöpfe. Was hatte er genau gesehen? Schwarz! Der Flügel war pechschwarz, damit konnte er anfangen. Maria? Ihre Haut war hell mit einem leichten Stich ins Orange. Die Farbe gab es nicht und das Rot sah auf dem weißen Hintergrund sicher besser aus.

Es wurde sein erstes Aktgemälde. Marias Mund war zum Schrei schwarz geöffnet. Die Beine hatte sie weit auseinander und zur Decke gestreckt. An das kleine Dreieck dazwischen erinnerte er sich undeutlich. Rot und Schwarz auf weißer Fläche, das war für ein Kunstwerk ausreichend!

Das Donnerwetter kam in der nächsten Mittagspause. Er fand es enttäuschend, dass sie kein Wort über die Schönheit des Gemäldes verlor. Die sprach sie überhaupt nicht an. Nur der Begriff »Verschandelung« stand im Raum, wobei es um die teure Leinwand ging. Er behielt seine Meinung für sich und degradierte die Landschaften der Mutter zum Kitsch. Er war der eigentliche Künstler in der Familie! Farben, Emotionen, Gewalt und Schreie, alles war auf dem Bild zusammengefasst. Nun hatte es die Mülltonne aufgenommen.

Die Tür zum Lesezimmer fand er am nächsten Tag verschlossen. Sie sah es als Strafe, er als Belohnung. Die Teilnahme am öden Ritual der Landschaftsmalerei fiel auch aus. So bildete er sich schon in frühester Jugend eine gefestigte Meinung über Kunst. Der Kitsch, den sie malte, war gut für die Tonne.

Die Zeit für mein Werk wird kommen. Den Vater will ich nicht malen, nur Frauen. Jede ist nur für ein einziges Bild gut, dachte er. Betrachten, bewundern und Erregung spüren, das war das Ziel. Danach war ihr Glanz erloschen. Ihr Platz war dort, wo das Aktgemälde das Ende gefunden hatte. Maria schied damit aus, sie lag ja bereits im Abfall.

»Ein wunderschönes Mädchen. Es muss mir gehören! Auf dem schwarzen Klavier, roter Körper, Arme, Beine, Angst! Das ist Kunst.«

Wie brachte man sie zum Schreien? Was war nötig, so etwas mit ihr machen zu dürfen? Mit den Gedanken war er damals bei den entscheidenden Fragen angelangt. Erstens, wie bekommt ein Mann das hin? Zweitens, brauchte er dazu besondere Eigenschaften? Was ist der Schlüssel?

Zur Klärung wollte er die Menschen genauer beobachten. Er musste herausfinden, warum sie sich so verhielten. Es wurde eine spannende Sache, die sein Leben interessant gestaltete. Es dauerte einige Jahre, bis er etwas über die Beziehungen im Haushalt herausgefunden hatte.

Im Alter von vierzehn wurde ihm bewusst, mit welchen Methoden der Vater diese Form der Abhängigkeit geschaffen hatte. Nicht nur Marias Mann, auch ihr Bruder arbeiteten in der Fabrik und ihre beiden Söhne machten eine Ausbildung in der Werkstatt. Maria war somit für das Wohl der gesamten Familie einschließlich der Verwandtschaft in Geiselhaft gehalten. Das war der Zeitpunkt, an dem ihm die Genialität seines Vaters bewusst wurde.

Es war auch die Zeit, in der er morgens mit einem Steifen im Bett aufwachte. Dabei hatte er Marias hochgedrückte Beine auf dem Piano vor Augen. Dazwischen sah er sich liegen.

Zu dem Wunsch nach Dominanz über Frauen war eine diffuse sexuelle Begierde hinzugekommen. Obwohl er sich unsicher war, was es bedeutete, musste er handeln.

Die erste Aktion fiel dilettantisch aus. Er klaute ihren Slip, als sie sich nach dem Fick mit dem Vater im Bad wusch. Sie wurde unruhig, als er hinter ihr her scharwenzelte, wissend, dass sie kein Höschen unter dem Kleid tragen konnte. Das hatte er in der Nachttischschublade versteckt. Er benutze es, um diesen besonderen Geruch besser verstehen zu können. Allerdings fehlte ihm zu dem Zeitpunkt der Mut, Bedeutenderes mit ihr anzustellen.

In den nächsten Monaten wuchs seine Kühnheit. Er staunte, als der Vater Maria beim Mittagessen ohne jede Scheu unter den Rock griff. Die Mutter sah dabei geflissentlich auf ihren Teller. Maria konnte sich ohnehin nicht wehren, sie hielt die Suppenterrine in ihren Händen. Dafür bekam er den Mund nicht zu, als der Vater ihn lächelnd einlud.

»Möchtest du heute mit in die Firma kommen und sehen, wie gut sich Marias Söhne bei uns machen?«

Er wollte.

Der Vater hatte eine perfide Art, mit Leuten umzugehen. »Alfred, ich hoffe, du lässt den Jungspunden nichts durchgehen! Gerade weil die Bindungen so eng sind, bestehe ich auf einer harten Ausbildung. Ihr Zeugnis wird dafür hervorragend. Haben wir uns verstanden?«

Später erfuhr er, dass jeder in der Firma über die Beziehungen zu Maria Bescheid wusste. Ein Geselle, der als Lästerer aufgefallen war, hatte am selben Tag die Papiere bekommen. Es herrschte eine Atmosphäre der Einschüchterung und des Schweigens. Sein Vater war einer der letzten gnadenlosen Patriarchen.

»Auf deinem Spind liegt Staub! Das dulde ich nicht. Normalerweise mache ich das, heute bist du dabei. Zieh ihm dafür ordentlich die Ohren lang! Sofort!«

Es war kein Staubkörnchen zu entdecken. Hier ging es nicht um Sauberkeit, sondern um die Tatsache, dass er jederzeit grundlos demütigen konnte.

»Fester, du sollst stärker ziehen, sonst wirst du dir in der Firma niemals Respekt verschaffen.«

Marias Sohn hätte ihn mit einem kräftigen Faustschlag niederstrecken können. Der aber hielt still und jammerte nicht, als er zog, was die untrainierten Finger hergaben.

War das die Formel? Musste er die besondere Position nutzen? War er als Erbe der Firma Herrscher über das Schicksal der Angestellten? Würde sein Wort auch bei Maria Wirkung zeigen?

Bei der Bestrafung durch das Ohrenziehen hatte es ja geklappt. Er fühlte sich gefestigt, den nächsten Schritt zu wagen. Er wollte Maria zu den Aktivitäten verleiten, die nachts in den Träumen spukten. Zuerst gab sie ihm freiwillig ihren Slip, Tage später mehr.

»Maria, weiß du, dass man für Sex mit Minderjährigen in das Gefängnis kommt? Mindestens fünf Jahre, habe ich gelesen.«

Es war das erste Mal, dass er Restwiderstand brechen hören konnte. Er sah die Vergrößerung ihrer Pupillen, dann die Flüssigkeit in den Augenwinkeln. Ihr Mund schrie ein stummes ›Bitte‹ heraus. Danach machte sie alles.

»Im Grunde meiner Seele bin ich ein schlechter und niederträchtiger Mensch. Dafür bekomme ich, was ich brauche.«

Von diesem Zeitpunkt an war er es, der Maria beim Mittagessen ohne Scheu unter den Rock griff. Jetzt durfte er dabei lächeln, während die Mutter auf ihren Teller starrte. Der Vater hatte sich als Ersatz eine neue Sekretärin zugelegt. Jung. Ihre Eltern kannten seine Absicht. Als langjährige Angestellte der Firma sahen sie keine Alternative. Er machte ihnen deutlich, dass die gesamte Familie bei einer Entlassung niemals eine neue Arbeitsstelle finden würde.

»Ich bin auch ein Sieger. Malen kann ich besser als Mutter. Böse? Ich werde ihn übertreffen!«, rief er in das Haus hinein.

Rose

Lief ihr das Blut in die Augen? Der Gedanke verfolgt mich. Sah sie den nächsten Schlag durch einen roten Vorhang oder war sie da schon bewusstlos?

Weitere Details sickerten durch. Die ersten Zeitungen berichteten ausführlicher über die Tat. ›neue Erkenntnisse im Fall Johanna Bora: Einer verlässlichen Quelle nach soll sie durch zehn Schläge auf den Kopf getötet worden sein. Die Kriminalpolizei ermittelt jetzt in einem Mordfall.‹

Mit Erschrecken blitzte das Foto vor meinen Augen auf, das ich den Studenten als Schocktherapie vorgeführt hatte.

Einem befreundeten Gerichtsmediziner hatte ich das Projekt beschrieben. Von der Idee der Schnupperstunde war er begeistert. Dafür stellte er mir Bilder zur Verfügung. Über die Augen der Opfer hatte er schwarzen Balken gelegt. Im Fall der mit dem Aschenbecher erschlagenden Heike wäre das nicht nötig gewesen, ihr Gesicht war durch die Schläge ohnehin unkenntlich.

War bei Johanna Bora auch Affekt im Spiel? Dagegen sprach, dass die Polizei bis jetzt keine Spuren finden konnte. Die gibt es bei spontanen Morden immer.

Ihre Leiche war vom Besitzer eines Sportbootes in der Schleuse entdeckt worden. Der Kontakt mit etlichen Schiffsschrauben hatte eine Identifikation deutlich erschwert. Über den Tatort wussten sie auch nichts.

Johanna wurde von ihren Eltern vor acht Tagen als vermisst gemeldet. Auf eine Identifizierung durch sie wurde verzichtet, der DNA-Abgleich ergab Gewissheit.

Mit Hundestaffeln hatte die Polizei fünf Kilometer weit die Flussufer abgesucht. Ohne Ergebnis. Die Einsätze zweier Hubschrauber brachten keine neuen Erkenntnisse. Das stufte ich ohnehin als hilflose Aktion ein. Ihre Kleidung blieb ebenfalls verschwunden. Über eine Kette mit Anhänger in Rosenform wurde in der Presse nicht berichtet. Wenn Johanna Bora die noch getragen hätte, stände ein Bild davon in den Zeitungen. Ihre Eltern kannten die beschriebene Rosenkette jedenfalls nicht.

Rose? Welche Bedeutung kann sie haben?

Ich muss mich selbst ablenken. Um die Sache soll sich die Polizei kümmern!

Mein Spiegelbild starrt mich an. Hat es dunkle Augenränder? Seit einigen Tagen erscheinen mir im Schlaf Gesichter, Johannas und das meiner Tochter Laura.

»Sie haben mir die Augen geöffnet, aber mich nicht abgeschreckt, sondern gut auf die Realität vorbereitet. Ich muss mir Alternativen überlegen. Danke, Herr Professor Adelmann!«

Was für ein Satz für ein siebzehnjähriges Mädchen!

Vor wenigen Tagen musste sie mir auch noch ihren Entschluss mitteilen.

»Ich habe erkannt, dass eine Arbeit mit derart schwieriger Klientel zu belastend ist. Ich werde ein Jahr Auszeit nehmen. Für eine Entscheidung fühle ich mich nicht reif genug.«

Laura hatte es extremer ausgedrückt.

»Voll zombie die Bilder, richtig pervers ekelig. Mich brauchst du nach einem Studium Sozialfuck jedenfalls nicht mehr zu fragen.«

Dann war sie in ihr Zimmer gerannt und hatte überlaut ›Linkin Park‹ aufgedreht. Erstaunlich, dass es diese Bandbreite an Verhalten noch gibt. Die neuen Erkenntnisse sagen, dass sich Jugendliche bevorzugt anpassen und nicht aus der Menge herausragen möchten.

»Waas? Du hast Laura mit in eine deine Horrorvorlesung gezerrt? Sie ist gerade sechzehn geworden! Ist dir eigentlich klar, welchen irreparablen Schaden du damit angerichtet haben könntest?«

Susanne war außer sich und trommelte mit ihren Fäusten auf meine Brust.

»Ich hab sie nicht mitgenommen. Ich hatte auch keine Ahnung, dass sie im Hörsaal saß. Du weißt doch, in letzter Zeit macht sie alles, ohne uns zu fragen.»

Ärgerlich ist es auf jeden Fall, denn ab sofort bin für sie nur noch dieser Hannibal-Lecter-Professor.

Laura ist in einer Phase angekommen, in der sie sich überschnell von uns abkoppeln und verselbstständigen möchte.

»So verkalkt herumlaufen wie ihr? Könnt ihr aber so was von vergessen!«

Susanne kann es nicht verstehen. »Weshalb lässt du ihr so viel Freiheit? Wenn du auf mich hörst, sollte Laura spätestens um acht Uhr zu Hause sein.«

Rufe ich mir die zehn harten Schläge auf Johanna Boras Kopf ins Gedächtnis, bin ich mittlerweile der gleichen Meinung. Heute Abend werde ich mit Laura ein ernstes Wort reden!

Auf die Vorbereitungen zur morgigen Vorlesung kann ich mich schlecht konzentrieren. Ich bin froh, vorbereitete Stunden auf dem Notebook zu haben.

Meine Gedanken kreisen. Zehn Schläge mit einem harten Gegenstand. Am Fluss. Blut.

Goldkette mit Rosenanhänger …?

Die Zeitungen hatten ein aktuelles Foto gebracht. Es folgte die Aufforderung, alle bekannten Kontakte der letzten Monate bei der Polizei zu melden. In der ›Bildzeitung‹ war es in Farbe großformatig auf Seite zwei zu sehen.

Vollmundige rote Lippen, wie ich sie aus der Vorlesung kannte.

Vor acht Tagen war das.

»Susanne, fällt dir etwas zu einer Sache ein, die mich schon eine Weile bewegt? Mord am Flussufer, Mädchen mit roten Lippen wird mit einem Stein erschlagen. Sie liegt am Wasser, hat eine Goldkette mit dem Motiv Rosenblüte um den Hals? Mir schwirrt eine vage Erinnerung im Kopf herum, ich weiß nur nicht mehr, was es sein könnte.«

Es ist ein mulmiges Gefühl, Susanne da mit hineinzuziehen. Wir haben uns gegenseitig versprochen, alles zu teilen und keine Geheimnisse voreinander zu haben. Daher muss sie es erfahren.

»Geht es um das ermordete Mädchen? Du hast mir gesagt, der Kommissar wäre bereits argwöhnisch, weil du ihre Kleidung genau beschreiben konntest. Dann die Halskette mit der Rose! Er vermutet bestimmt Insiderwissen. Du machst dich noch mehr verdächtig. Lass es die Polizei erledigen.«

Als sie mich ansieht, erkennt sie, dass dieses keine Lösung ist.

»Wie kommst du überhaupt auf ›mit einem Stein erschlagen‹? ›Mit einem sehr harten Gegenstand‹ stand in der Zeitung.«

Dabei sieht sie fragend an die Wohnzimmerdecke.

Jetzt muss ich ihr gestehen, dass es eine Vermutung ist: harter Gegenstand, Flussufer, Steine am Flussufer.

»Du sagst › Flussufer, Stein, Mord, Halskette mit Rose‹? Mir fällt da etwas ein. Es ist ein Beispiel aus deiner ersten Schnupperstunde. Der Fall liegt Jahre zurück. Das Mädchen wurde vom Exfreund aus dem Frauenhaus gelockt und in einem Wäldchen mit einem Stein erschlagen. Verschmähte Liebe war das Motiv. Sieh dir das Foto an, das du damals gezeigt hast. An eine Rosenkette erinnerst du dich wohl nicht mehr? Die habe ich mir gemerkt, weil so hässliche Blutspritzer auf der goldenen Rose waren.«

»Herr Heinzinger, hören Sie mir bitte genau zu! Sehen Sie sich die Fotos zum Mordfall Rosa Bertrich an. Dann sagen Sie mir, dass es überflüssig ist, eine Hundestaffel auszuschicken. Die müssten im nächsten Weidenwald anschlagen, der flussaufwärts liegt. Die Halskette, die Johanna Bora in den Fingern hielt, ähnelte exakt der, die Rosa Bertrich trug.«

1985 bis 2012: Herz

Nackte Beine bis an die Decke, schwarzes Dreieck dazwischen. Das Bild hat sich eingebrannt.

Der Schlüssel für seine jetzige Veranlagung schien in der Vergangenheit zu liegen. Wie hatte er sich in der Pubertät ein Traummädchen vorgestellt?

So wie die Mutter sollte sie sein, natürlich nicht ganz so alt und schöner. Ihre bedingungslose Unterstützung für den Vater hatte er immer als Vorbild gesehen. Was sie für den getan hatte, war mit einer finanziellen Abhängigkeit nicht zu begründen. Willenlos und ohne eigenen Antrieb war sie auch nie gewesen.

Ganz im Gegenteil!

»Maria scheint ihre Periode zu haben. Heute wirst dich mit Oralverkehr begnügen müssen.«

Diesen Satz hatte er im Schrank des Musikzimmers aufgegabelt. Wie immer lauerte er dort auf die Vorstellung, die jeden Mittag stattfand.

»Oralverkehr. Ein zu schönes Wort für eine so böse Tat.«

Zwei Wochen später belauschte er, wie Maria von der Mutter scharf gemaßregelt wurde.

»Maria, sorgen Sie bitte dringend dafür, dass mein Mann nach dem Verkehr sein Glied gesäubert bekommt. Wie Sie das anstellen, ist mir egal, nur schnell muss es gehen. Jedenfalls möchte ich nicht, dass er mit beschmutzter Unterwäsche in die Firma fährt. Haben Sie denn gar keinen Sinn für Hygiene? Das ist ekelhaft und zeugt von Ihrer bäuerlichen Abstammung, die anscheinend immer noch durchschlägt.«

Die scharfe Ermahnung klang interessant. Das Aufregendste kam später. Mit offenem Mund sah er zu, wie Maria ihm nach der Fickveranstaltung den Schwanz sauber lutschte.

Trotzdem blieb einiges unverständlich. Warum hatte seine Mutter in devoter Weise die Fehltritte des Vaters toleriert? Sie wurden sogar von ihr perfekt organisiert. Daher gewann er den Eindruck, es gehöre zu einem ordentlichen deutschen Haushalt dazu. Erst im Alter von einundzwanzig Jahren hatte er sie darauf ansprechen können.

»Eine geborene von Schwanenfeld verlässt ihren Mann niemals! Wir haben uns ewige Treue geschworen. Daran wird sein Hang zu diesen kleinen Eskapaden nichts ändern. Natürlich benötigt er so ein Ventil, um sich abzureagieren. Außerdem scheinst du in dieselben Fußstapfen zu treten. Das muss ein Erbteil aus der Linie deines Vaters sein.«

Zu keinem Zeitpunkt hatte er bei der Mutter etwas Negatives wahrgenommen. Er musste zugestehen, Stil hatte sie. Niemals verlor sie die Kontrolle oder überschüttete den Vater mit Vorwürfen. Sie sprach auch nicht abfällig über dessen sexuelle Abenteuer. Ausschließlich Maria wurde Ziel ihrer Angriffe.

Einige Jahre später wurde Maria durch Milana aus Estland ersetzt. Maria war angeblich zu alt. Bislang hatte er wenig auf das Alter der Frauen geachtet. Jung mussten sie also sein! Das war eine neue Erfahrung. Trotzdem kam es ihm so vor, als fehlte mit Maria ein wichtiges Mitglied in der Familie. Mit Milana konnten die Spiele ungehindert fortgesetzt werden. Die Mutter unterstützte das weiterhin tatkräftig.

Zwei Jahre später wurde die zwanzigjährige Olga aus Polen als zusätzliche Pflegekraft eingestellt. Auch sie bekam die Regeln des Hauses zu spüren.

»Olga, ich hoffe, Sie haben sich unten herum ordentlich gewaschen? Ich möchte nicht, dass mein Mann mir über die Wangen streichelt, wenn an seinen Fingern der Schmutz Ihres Geschlechts klebt.«

Zu dem Zeitpunkt war die Demenz des Vaters bereits in einem fortgeschrittenen Stadium. Zwischen Frauenbeine wandernde Hände wurden als Reflexe der Vergangenheit betrachtet. Olga war attraktiv und durfte im gesamten Haus keinen Slip tragen. »Der arme Mann ist verwirrt genug. Er kann damit nicht umgehen, wenn sich unerwartet Kleidung in den Weg stellt.«

Für ihre passiven Sexdienste bekam sie von der Mutter ein fürstliches Gehalt.

»Olga, das Geld kannst du dir nur durch einen höheren Einsatz verdienen. Hast du das verstanden? Kennst du die Alternativen?« Nach einigen Stunden der Überlegung: »Ich das machen, mein junger Herr!«

Zusammen mit Olga und Milana ergab sich zum ersten Mal was völlig Neues: ein interessanter Dreier. Ein fader Beigeschmack blieb. Beide Frauen wurden nur durch das Geld motiviert. Sie zeigten keine Schuldgefühle, wenn er sie beschimpfte: »Ihr seid de facto bezahlte Nutten!«

So wollte er seine Zukunft niemals gestalten!

Die Mädchen sollen mir mit glänzenden Augen die Wünsche erfüllen. Unterwürfig dienen, aufopfernd erdulden, sie hat vorgemacht, dass eine Ehefrau dazu in der Lage ist.

Als der Vater vor drei Jahren verstorben war, schien im Leben der Mutter eine wichtige Komponente zu fehlen. Den Verlust ihrer bisherigen Aufgaben konnte sie nicht akzeptieren und überflüssig wollte sie auf keinen Fall sein.

»Weißt du, mein Lieber, die Fabrik hast du seit einiger Zeit im Sinne deines Vaters geführt. Das wirst du auch alleine schaffen. Der Punkt ist gekommen, an mich zu denken. In Lugano konnte ich eine gemütliche Wohnung erwerben. Dort ist das Klima deutlich angenehmer als im regnerischen Deutschland. Wir können ja telefonieren, sooft du möchtest.«

Olga und Milana bekamen eine beträchtliche Abfindung. Ein Notar regelte mit einem Vertrag ihre Verschwiegenheit. Jetzt gehörte die Firma ihm alleine. Dazu kamen die Villa und ein dickes Aktienpaket. Erst Tage später wurde es ihm bewusst, als er vom Bankdirektor persönlich empfangen wurde.

»Herzlichen Glückwunsch. Sie haben ein Vermögen geerbt.«

»Wie viel ist es denn?«

»Sie werden es unmöglich ausgeben können. Dafür reicht ein Leben nicht.«

Damit konnte er ungehindert starten, seine geheimsten Wünsche umzusetzen. In dem leeren Haus gab es weder Ablenkung noch Zeugen. So begann er im Alter von zweiundvierzig Jahren, die Zukunft neu zu gestalten.

Kommt zu mir, ihr Schönen. Meine Visionen können Formen annehmen!

Todesrot

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