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3. Kapitel – Erwins Verschwinden

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Goldia, Hauptstadt des Silbernen Hammers

Vormittag des zweiten Tages nach dem Fall von New Paris

„Wie geht es Janok?“, fragte Neptunia.

„Ganz gut, die Menschenärzte meinen, dass er sich erstaunlich schnell erholt. Er ist sogar bereits wieder aufgestanden“, antwortete Schimascha.

„Ich hätte nicht gedacht, dass Orks zwei Herzen haben“, gab April zu.

Die drei Frauen spazierten durch die Vorstadt von Goldia, die zwischen dem ersten und dem zweiten Mauerring lag. Überall an den Gebäuden waren Gerüste aufgebaut worden und zahlreiche Zwerge arbeiteten auf ihnen, um den alten Glanz der Stadt wiederherzustellen. Jedoch waren die zahlreichen Bauarbeiten nicht das Einzige, was das Stadtbild stark veränderte. Neben den menschlichen Soldaten und den Robotern, die von den Zwergen mit einer Mischung aus Misstrauen und Ehrfurcht beäugt wurden, hatte die fehlende Höhlendecke eine gravierende Veränderung ausgelöst: Es war eiskalt geworden. Früher blieb die Wärme, die von den magischen, in Gebäuden und Gehwegen eingravierten Runen abgegeben wurde, in der Höhle, sodass nur ein leicht kaltes Klima innerhalb der Stadt herrschte. Man musste in den Häusern nur ein kleines Feuer entfachen, um die Räume auf angenehme Temperaturen aufzuheizen. Doch das alte System funktionierte nicht mehr, da die Wärme nun sofort in die eisige Berglandschaft entwich. Die Häuser selbst waren nicht darauf ausgelegt, Wärme zurückzuhalten. Man kann sich gut vorstellen, warum Pelzmäntel, Felle, Feuerholz und Kohle seit wenigen Tagen so begehrt waren. Überall waren dick eingepackte Zwerge zu sehen, die bibbernd und fluchend ihrer Arbeit nachgingen.

„Die Ärzte haben nicht schlecht gestaunt“, erzählte Schimascha, wobei sie trotz des dicken Mantels, den sie trug, zitterte. Ihre Schuppen hatten einen leichten Blauton angenommen. „Sie kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus, als sie ihn eine Stunde später untersuchten und feststellten, wie schnell die Wunde des verletzten Herzens sich schloss. Janok hat mir erzählt, dass sich Wunden bei Orks in Ruhephasen immer schnell verschließen. Orks sind wirklich wahre Kampfmaschinen: groß, zäh, stark und fast schon ein bisschen unsterblich. Kein Wunder, dass mein Volk ihre Invasion nur knapp und mit aller Kraft aufhalten konnte“, berichtete Schimascha und ihre Stimme wurde dabei zunehmend düsterer.

April merkte, dass das Gespräch drohte, einen für Schimascha unangenehmen Verlauf zu nehmen, und versuchte einen Themenwechsel: „Na ja, jedenfalls bin ich froh, dass es Janok gut geht.“ Sie seufzte traurig: „Ich mache mir mehr Sorgen um Erwin. Seine gebrochene Wirbelsäule hat sich zwar wegen seiner Lichtmagie regeneriert, doch sein Geist …“

Neptunia bemerkte Aprils Bedrücktheit: „Keine Besserung?“

April schüttelte den Kopf: „Ich war vorhin bei ihm im Kerker der Zitadelle. Sie haben ihn in schwere Ketten gelegt, nur wenige Fackeln brennen, gerade genug für ihn zum Leben, und zwei eiserne Unholde in der Größe von GKR-3443 halten Wache. Ich habe versucht, mit ihm zu reden, doch Erwin reagierte nicht, obwohl ich mir sicher bin, dass er bei Bewusstsein war. Mir kam es so vor, als hätte er seinen eigenen Geist in seinen Körper gesperrt. Jedenfalls sind sich alle uneinig darüber, was mit ihm geschehen soll. Auch wenn er Tropandus, den Kristallmenschen und Janok angegriffen hat, können die Leute nicht vergessen, dass er es war, der die Stadt mit einer gewaltigen Lichtensa-Explosion gerettet hat. Kurz gesagt, niemand weiß, was er über Erwin denken soll.“

„Dieses Problem haben wir alle“, gab Schimascha zu.

„Reiterin! Warten Sie bitte!“, ertönte es plötzlich aus einiger Entfernung. Es war die Stimme einer Zwergenwache, welche angerannt kam. Der Zwerg blieb keuchend vor Schimascha stehen und sprach, sobald er seinen Atem wieder unter Kontrolle hatte: „Reiterin Schimascha, der Rat der Stadt ruft eine weitere Versammlung ein und Ihre Anwesenheit wird erwünscht.“

Schimascha nickte. „Ich komme sofort“, gab sie zur Antwort und wendete sich April sowie Neptunia zu: „Ich muss mich verabschieden. Bis später.“

„Bis später, Schimascha“, ließen April und Neptunia gleichzeitig verlauten, während Schimascha schon dem Zwerg folgte.

Mutter und Tochter schlenderten weiter durch die Stadt, ohne ein richtiges Ziel zu haben. Deshalb sahen sie gelangweilt den Bauarbeiten zu. Genauer gesagt, sah nur Neptunia zu, denn April war mit den Gedanken völlig woanders.

„Du bist ja wirklich richtig besorgt um Erwin“, meinte Neptunia.

April sah sie an. „Ist das so offensichtlich?“

„Ja. Du siehst aus, als würden alle Sorgen von Locondia an deiner Seele nagen“, antwortete Neptunia. „Du solltest dich entspannen, egal was mit Erwin los ist. Er ist ein zäher Bursche und kommt schon wieder in Ordnung“, fügte die Mutter hinzu.

„Sein Körper vielleicht …“, meinte April missmutig. „Doch gilt das auch für seinen Geist? Und wie sollen wir ihm vertrauen, wenn er womöglich jeden Moment wieder ausrasten könnte?“

„Erst mal müssen wir herausbekommen, was mit ihm überhaupt los ist. Schließlich war er ja bis jetzt ein ruhiger und gelassener junger Mann, der konzentriert und nicht rasend kämpfte. Irgendetwas muss mit ihm während der Belagerung passiert sein. Vielleicht ein Trauma? Ich werde mir ihn jedenfalls genauer ansehen, sobald er wieder bei Bewusstsein ist“, versuchte Neptunia ihre Tochter zu beruhigen.

Aprils Gesichtsausdruck entspannte sich ein wenig und sie ließ ihren Blick durch die Straßen schweifen. Schließlich antwortete sie: „Vermutlich hast …“ Sie kam nicht dazu, den Satz auszusprechen, denn ein gewaltiges Knallen durchflutete die Stadt.

Zehn Minuten vorher in der Goldenen Zitadelle. Janok stand vor einer Zimmertür und klopfte an. „Herein!“, forderte Lupunias Stimme Janok zum Eintreten auf. Lupunia lag in einem Bett und sowohl ihr Körper als auch ihre Flügel waren mit Verbänden übersät, sodass es gar nicht auffiel, dass sie nackt im Bett lag. Zumal sie mit einer Decke zugedeckt war. Janok setzte sich auf den Stuhl, der neben dem Bett stand, und fragte: „Wie geht es dir, Mutter?“

Lupunia lächelte schmerzvoll: „Es wäre einfacher, dir aufzuzählen, welche Stellen nicht schmerzen, als jene, die schmerzen, zu nennen. Diese verdammten Sukkuben haben versucht, mich zu zerfetzen, und haben es leider auch halbwegs geschafft. Zum Glück verfüge ich als Engel über eine ausgezeichnete Regeneration. Doch wie geht es dir, mein Sohn? Du hattest eine heftige Auseinandersetzung mit Erwin.“

Jetzt war es Janok, der schmerzverzerrt lächelte: „Unsere ‚Auseinandersetzung‘ als heftig zu beschreiben, wäre so, als würde man einen Zyklopen als sanftmütig bezeichnen. Erwin war in eine Art Raserei verfallen, die selbst bei einem Ork wie mir eine Gänsehaut verursacht.“

Die Elfin nickte traurig. „Wie konnte das nur passieren? Gestern war er noch ein Held und heute müssen wir Angst vor ihm haben.“

„Irgendetwas muss während der Schlacht passiert sein. Mir war aufgefallen, dass er sehr … bedrückt erschien. Ich habe aber keine Idee, was es gewesen sein könnte. Vielleicht schwarze Magie?“, mutmaßte Janok.

Doch seine Mutter schüttelte den Kopf: „Kann ich mir nicht vorstellen. Für uns Lichtmagier ist eine Korruption durch Schattenmagie problemlos spürbar. Zudem ist Erwin ein starker Lichtmagier, der das Potenzial besitzt, selbst den legendären Sonnenelfen Erwin zu übertreffen. So jemand kann nicht einfach unbemerkt korrumpiert werden. Schließlich kann er sogar eine gigantische Menge Lichtensa kontrollieren. Aber vielleicht waren es die gigantischen Anstrengungen, die vonnöten gewesen sein mussten, um die ganze Stadt mit Lichtensa zu überfluten, die seinen Geist verwirrt haben.“

„Dann hoffen wir mal, dass Erwin sich wieder entwirren kann. Denn noch ist es nicht zu spät. Die Leute hassen ihn noch nicht, sondern haben nur Angst. Schließlich hat er eine ganze Armee von Dämonen pulverisiert. Wenn er wieder normal wird, werden die Leute das ganze Drama schnell wieder vergessen“, meinte Janok.

„Und was denkst du? Schließlich bist du derjenige, dem der größte Schaden zugefügt wurde“, hakte seine Mutter nach.

Janok lächelte jetzt breiter und etwas Sarkasmus schwang in seiner Stimme mit, als er antwortete: „Ich bin immer noch ein orkischer Krieger. Und wir Krieger hassen nicht diejenigen, die uns abstechen. Wir bewundern sie! Das können wir uns mit selbstheilenden Herzen auch leisten.“

Daraufhin lachten Mutter und Sohn und verdrängten für einen Moment die Gewissheit, dass es eine schlimme Zeit war, in der sie lebten. Dieser Moment hielt aber nur so lange an, bis plötzlich ein ohrenbetäubender Knall die friedliche Stimmung im Zimmer zerriss.

Im Thronsaal, wo sich alle außer Janok und Erwin für eine zweite Versammlung eingefunden hatten, herrschte Chaos. Denn hier war nicht nur der heftige Knall zu hören gewesen – eine Druckwelle hatte den Thronsaal verwüstet.

„Bei den Wurzeln des Dschungelgottes! Was ist denn hier passiert? Ein Wirbelsturm?“, keuchte Schimascha, die gerade durch das große Eingangstor trat.

Tropandus kroch unter dem gewaltigen Tisch, an dem die Versammlung eigentlich stattfinden sollte, hervor und stand vorsichtig auf. „Ich habe keine Ahnung. Da sitzen wir hier, warten auf Sie und wollen schon die ersten Dinge besprechen … und plötzlich herrscht hier Chaos, von einem Moment auf den anderen“, beantwortete er stöhnend und zugleich um seine würdevolle Haltung ringend die Frage der Schamanin.

Nun rappelten sich auch die anderen wieder auf. „Mir brummt der Schädel. Was war das?“, fragte Gribus laut.

Auf diese Frage hatten auch GKR-3443, Monarchius, Maximilian, Irving sowie die anderen elfischen, zwergischen und menschlichen Vertreter, die nach und nach die Benommenheit abschüttelten, keine Antwort.

Schimascha blieb nichts anderes übrig, als sich nach Hinweisen zur Herkunft des Knalles umzusehen. Sie entdeckte, dass bei einer der Treppen, die nach unten führten, im Steinrahmen einige Stücke herausgebrochen waren, woraus sie schlussfolgerte, dass die Druckwelle von unten aus den Kellergewölben gekommen sein musste.

Da die anderen noch wacklig auf den Beinen waren, hätte Schimascha allein heruntersteigen müssen, wenn Janok nicht in diesem Moment die Treppe heruntergerannt gekommen wäre. Seine Augen weiteten sich, als er den verwüsteten Thronsaal zu Gesicht bekam: „Bei der Axt meines Vaters! Ist hier ein Sumpfschmetterling vorbeigekommen oder bist du einfach nur ausgerastet, Schimascha?“

Diese lief rot an, zumindest soweit dies bei einer Echse möglich war: „Weder noch! Was für eine fürchterliche Unterstellung! Außerdem seid ihr Orks doch diejenigen, die alles ohne Sinn und Verstand zusammenschlagen!“

Janok hatte eine Drachensaat ausgelegt und Schimascha ließ sie wachsen, ungeachtet dessen, dass es sie eigentlich mehr interessierte, was hier los war.

Das Chaos wäre durch den Streit noch schlimmer geworden, wenn nicht Gribus, immer noch leicht stöhnend, gefordert hätte: „Wenn ihr bitte die Güte hättet, euren Streit auf später zu verschieben, damit ihr nachsehen könnt, was passiert ist? Ich würde es ja gern selbst machen, doch bei mir dreht sich noch alles.“

Die dringende, aber auch leicht sarkastische Bitte des Zwerges brachte den Streithahn und die Streithenne zur Besinnung. Beide gingen missmutig und sich gegenseitig anknurrend in den Untergrund der Zitadelle.

„Was meinst du? Ob Erwin das angerichtet hat?“, fragte Schimascha.

„Würde mich nicht wundern“, antwortete Janok trocken.

In den Kellergängen sah es noch schlimmer aus als im Thronsaal. Aus den Wänden waren mehrere Steine herausgebrochen und in den Räumen lagen zerschmetterte Möbel und ohnmächtige, sowohl zwergische als auch menschliche Wachen, die glücklicherweise aber nicht schwer verletzt zu sein schienen. Vermutlich würden sie für eine Weile schlecht hören können. Janok und Schimascha kamen Erwins Zelle näher und entdeckten eine der denkenden Menschenmaschinen, die von irgendetwas in eine der Wände hineingepresst worden war.

„Ich weiß langsam nicht mehr, ob ich hoffen soll, dass es Erwin nun gut oder schlecht geht“, murmelte Janok und Schimascha nickte, da sie dasselbe ungute Gefühl hatte. Glücklicherweise schien kein lebendiges Wesen in der Nähe von Erwins Zelle gewesen zu sein. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn die Druckwelle jemanden mit voller Kraft getroffen hätte.

Als Janok und Schimascha nun endlich Erwins Raum erreichten, war es für beide nicht schwer vorstellbar, was das laute Geräusch mitsamt der Schockwelle erzeugt hatte. Schimascha fasste es passend zusammen: „Dies dürfte der heißeste Gefängnisausbruch aller Zeiten gewesen sein.“

„Heiliger Wasserfall, was ist das?“, fragte Neptunia erschrocken, als sie sah, was sich in Erwins Zelle, genauer gesagt, in deren Rückwand befand. Die Wassermagierin war kurz nach Janok und Schimascha mit April zusammen im Verließ angekommen.

„Ein ziemlich großes Loch“, antwortete Janok lapidar.

Das Loch in der Rückwand der Zelle gehörte zu einem kreisrunden Gang mit einem Durchmesser von drei Metern, welcher schräg nach unten verlief. Man konnte das Ende nicht sehen und es wäre auch keine gute Idee gewesen, sich gleich auf die Suche danach zu machen: Die Wände und der Boden des Ganges glühten hell und flüssiges Gestein tropfte herab. Jeder, der es wagen würde, dort hineinzugehen, hätte von Glück reden können, wenn er es als lebendige Fackel wieder zurück zum Anfang des Tunnels geschafft hätte, bevor sein Körper restlos verkohlt wäre. Und dies wäre mit fehlenden Füßen gar nicht so einfach gewesen.

Jedoch schien Erwin dieses Kunststück vollbracht zu haben, denn seine Zelle war leer.

„Langsam bekomme ich es mit der Angst zu tun“, gab Schimascha zu.

„Jetzt erst?“, fragte Janok erstaunt und sah in die Zelle hinein.

„Wir müssen hinterher und ihn suchen“, platzte April auf einmal heraus.

„Vergiss es!“, ermahnte Janok sie barsch und hielt sie mit seiner Hand zurück. „Wenn du da jetzt hineingehst, verlierst du deine Füße und womöglich noch mehr. Wir müssen warten, bis das Gestein sich abgekühlt hat“, meinte er eindringlich.

„Bis dahin sind Erwins Entführer schon über alle Berge“, erwiderte April.

Der Ork sah sie erstaunt an: „Du glaubst doch nicht wirklich, dass Erwin unfreiwillig abgehauen ist. Der Gang wurde eindeutig von hier aus geschaffen und nicht von außen, sonst würde auch in der Zelle glühendes Gestein liegen. Erwin ist aus unbekannten Gründen geflohen.“

„Warum sollte er?“, hakte April bissig nach.

„Erwin hat in letzter Zeit schon ein paar Dinge getan, die nicht nachvollziehbar sind. Zum Beispiel unschuldigen Orks ins Herz zu stechen …“

April starrte ihn jetzt nur noch an, unfähig, darauf etwas zu erwidern.

Janok stierte zornig zurück und fragte sich: ‚Was ist denn mit der auf einmal los?‘

Bevor er sich weiter den Kopf über Aprils Verhalten zerbrechen konnte, mischte sich Neptunia ein: „Es dürfte kein Problem sein, das heiße Gestein mithilfe unserer Wassermagie abzukühlen.“ Sie trat vor das Loch, streckte ihre Hände der Hitze entgegen und schon floss von ihren Handflächen ausgehend eine große Woge kaltes Wasser den Gang hinunter. Zischend erstarrte das Gestein, sodass der Gang nun begehbar war.

Die Gruppe kam aber nicht so schnell voran wie erwartet. Der Gang führte immer tiefer in den Berg hinein und sie mussten häufig anhalten und warten, bis die beiden Wassermagerinnen den nächsten Abschnitt des Tunnels abgekühlt hatten.

„Ich frage mich, wo Erwin hinwill“, murmelte Schimascha.

„Vermutlich nach draußen. Es ist inzwischen ganz schön kalt geworden“, antwortete Janok.

Tatsächlich fegte ein kühler Wind durch den nun endlich vollständig begehbaren Tunnel und die zwei Elfinnen sowie die Tarborianerin waren froh, dass sie ihre Mäntel anbehalten hatten, während der Ork aufgrund seiner leichten Kleidung zu frieren begann.

„Verdammt, hat dieser Wahnsinnige sich wirklich bis nach draußen durchgeschossen? Dann fängt er sich aber mit seiner dünnen Robe eine Mordserkältung ein“, mutmaßte Schimascha und erntete dafür einen bösen Blick von April.

Neptunia überlegte laut: „Das müsste aber dann eine ungeheure Menge an Gestein gewesen sein, die er einfach weggeschmolzen hat. Die Stadt und damit auch die Kellergewölbe der Zitadelle befinden sich in der Mitte dieses Berges und der Gang führt schräg nach unten. Ein möglicher Ausgang müsste dann auf der Höhe des Tales am Fuße des Berges liegen.“

„Darüber jetzt weiter nachzudenken, ist nicht mehr nötig“, sagte Janok und deutete dorthin, wo Tageslicht hereinfiel.

Sie hatten den Tunnel durchquert. Der Gang endete in einer Felswand zwei Meter über dem Boden. Das herausgeflossene Gestein hatte sich dort zu einer unförmigen Anhäufung angesammelt, über welche die Gruppe vorsichtig zum Boden herabsteigen konnte. Sie befanden sich in einer kleinen Schlucht zwischen dem Berg Goldspitze, der die Stadt Goldia unter seiner halbierten Spitze beheimatete, und dessen namenlosen Nachbarn. Die Zwerge gaben nur wichtigen Bergen Namen, was auch verständlich war, da es Hunderte von Bergen im Eisigen Norden gab.

Diese Schlucht hatte nur einen Ausgang, zu dem auch Spuren, die vermutlich zu Erwin gehörten, führten. Wortlos folgten sie den Abdrücken und gelangten in eine enge Seitenschlucht, die sich ohne Abzweigungen hinschlängelte und wo sie nur hintereinandergehen konnten. Da es somit nur einen Weg gab, war das Fehlen von Spuren aufgrund des Nichtvorhandenseins von Schnee nicht weiter problematisch.

Etwas anderes beunruhigte April allerdings. Überall auf dem Felsboden und an den Schluchtwänden klebten kleine Klumpen aus Blut und Speichel. Es schien, als hätte Erwin sich immer wieder erbrechen müssen.

„Das sieht nicht gut aus. Erwin scheint unter Magiebrand zu leiden“, befürchtete Neptunia.

„Magie… was?“, fragte Janok nach.

April erklärte es ihm, während sie eilig weitergingen: „Wenn ein Magier bei der Magiebenutzung seine Kraft überstrapaziert, kann es passieren, dass er einen Teil der Energie nicht mehr kontrollieren kann. Diese bewegt sich dann frei und unkontrollierbar im Körper des Magiers und richtet innere Verletzungen an. Die Symptome unterscheiden sich zwischen den verschiedenen Arten der Magie, was aber fast immer vorkommt, sind innere Blutungen. Von denen ist meist die Lunge betroffen. Deshalb berichten die Geschichten über kämpfende Magier fast immer von kleineren Mengen Blut, die ausgehustet werden. Man könnte es als Warnzeichen ansehen, da es zu diesem Zeitpunkt noch nicht kritisch ist.“

„Aber solche Mengen, die in regelmäßigen Abständen ausgestoßen werden“, fügte Neptunia hinzu und ihr Blick fiel auf einen der Blutklumpen, „weisen auf einen schlimmen Magiebrand hin. Wir müssen ihn schnell finden und hoffen, dass sein Körper mithilfe der Regeneration den Magiebrand unter Kontrolle bekommt.“

Die Gruppe bewegte sich noch schneller durch die enge Schlucht. Endlich wurde diese breiter und die vier entkamen der bedrückenden Enge, um dann in einem dichten und undurchdringlich erscheinenden Tannenwald zu landen. Der Wald gehörte zu einem riesigen Tal, das inmitten der Berge des hohen Nordens lag. Erwin hätte von hier aus überallhin verschwinden können. Und zufälligerweise schien sein Magiebrand erloschen zu sein, als er die Schlucht verlassen hatte, denn nirgendwo in der Nähe war geronnenes Blut zu entdecken. Das war zwar für die Gesundheit des Elfen erfreulich, jedoch waren so diejenigen, die ihn suchten, einer wichtigen Spur beraubt. Und da selbst die mächtigen Tannen keinen absoluten Schutz vor dem starken, unglücklicherweise jetzt einsetzenden Schneefall boten, gab es immer noch keine Fußspuren, denen man hätte folgen können.

„Verdammte Axt! Hätte es jetzt wenigstens mal nicht schneien können?“, fluchte Janok und sprach aus, was alle dachten.

Schimascha trieb zur Eile: „Es hat keinen Sinn, sich darüber aufzuregen. Wir müssen uns aufteilen. April, Neptunia, ihr beide geht nach rechts, an der Felswand entlang. Ich suche die Felswand links von uns ab. Janok, du gehst in den Wald.“

„Warum soll ich allein in den Wald gehen?“, fragte Janok missmutig, mehr aber aus Streitlust als aus Widerwillen.

„Hast du etwa Angst?“, spöttelte Schimascha. „Keine Sorge. Hier gibt es keine Monster, deren Mägen stark genug wären, etwas so Ungenießbares wie dich zu verdauen.“

Diesmal erreichte der Spott Janok nicht, denn er antwortete nur lasch: „Das ist auch gut so.“

„Hört auf, euch zu streiten. Jede Sekunde, die wir verschwenden, entfernt sich Erwin weiter“, fauchte April die beiden wütend an. Ein zorniges Leuchten lag in ihren Augen und alle hatten es auf einmal noch eiliger, nach dem Elfen zu suchen.

„Erwin! Erwin! Verdammte Axt, was soll das Ganze, Erwin?!“, brüllte Janok zornig in den Wald, bekam jedoch keine Antwort. Und immer wieder fragte sich der Ork, warum er eigentlich frierend nach dem Verrückten suchte, der ihm ein Herz durchstochen hatte. Das widersprach doch selbst der unkomplizierten Logik eines Orks, die immer dann aussetzte, wenn sich ein ehrenhafter Kampf anbot. Allerdings, wenn Janok so nachdachte, hatte er auch nie einen Grund gehabt, nach Norden zu gehen. Dann wären ihm aber einige gute Kämpfe entgangen. Vielleicht war er als einer der fünf ungleichen Reiter tatsächlich an ein Schicksal gebunden, dem er unbewusst folgen musste. ‚Na gut‘, dachte Janok grimmig. ‚Ich tue, was du willst, Schicksal. Besorge mir dafür aber ein paar richtig gute Kämpfe.‘

Es schien, als hätte das Schicksal seinem Handel zugestimmt, denn Janok hörte plötzlich ein monströses Knurren hinter sich. Entweder hatte das unbekannte Wesen eine kräftige Stimme oder es war selbst monströs. Janok blieb stehen, blickte aber noch nicht nach hinten und tastete nach seinen Schwertern. Als seine Hände ins Leere griffen, fiel dem Ork wieder ein, dass seine Zwillingsschwerter von demselben Verrückten zerstört wurden, dem er gerade hinterherrannte.

Schimascha ging an der Felswand entlang und fragte sich, ob es eine gute Idee war, Janok allein in den Wald zu schicken, denn ihr war eingefallen, dass er unbewaffnet war. ‚Pah, der reißt doch mühelos jeder Bestie den Kopf ab‘, versuchte Schimascha sich selbst zu beruhigen, bevor sie sich ärgerte, dass sie sich um diesen Idioten Sorgen machte.

Dann aber wurde ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt. Vor ihr, unmittelbar an der Felswand, befand sich ein kreisrundes Loch im Boden. Es hatte einen Durchmesser von ungefähr einem Meter und war wegen des dichten Schneefalls nicht sehr gut zu sehen. Wäre Schimascha etwas schneller gegangen, hätte sie das Loch wahrscheinlich übersehen und wäre hineingefallen, da man so ein Loch hier nicht erwarten würde. Sie bückte sich und versuchte, etwas im Loch zu erkennen, das Tageslicht verlor sich jedoch in der tiefen Dunkelheit. ‚Das Loch ist vermutlich sehr tief. Wenn Erwin da reingefallen ist, könnte er sich schwer verletzt haben‘, vermutete Schimascha. Also rief sie hinein: „Erwin! Kannst du mich hören?“ Die Antwort bestand aus mehrstimmigen, schrillen Schreien, die eines verdeutlichten: Das Loch war nicht durch Umwelteinflüsse entstanden.

Noch besorgter als zuvor kamen April und Neptunia zurück zum Eingang der Schlucht, durch die sie das Tal betreten hatten. Sie waren ungefähr einen halben Kilometer an der Felswand entlanggegangen, ohne auch nur eine Spur von Erwin zu finden. Überraschenderweise fanden sie Gribus und Tropandus vor, die ihnen entgegenkamen.

„Ich hoffe, es gibt eine gute Erklärung dafür, warum auf einmal ein Gang vom Keller hierher ins Tal führt“, forderte Tropandus höflich und man sah ihm an, dass ihm die gesamte Situation über den Kopf wuchs.

Neptunia zuckte mit den Schultern: „Bis jetzt wissen wir nur, dass Erwin verschwunden ist. Und alle Hinweise deuten darauf hin, dass er es war, der den Tunnel ins Gestein gebrannt hat und so entkommen ist.“

„Aber warum?“, wollte Gribus wissen.

April seufzte traurig: „Wir wissen ja nicht einmal, was überhaupt mit ihm los ist.“ Eine einzelne Träne der Sorge kullerte über ihre Wange.

Gribus schien Aprils Kummer nicht zu beachten, denn nachdem er sich noch einmal umgeblickt hatte, fragte er stattdessen: „Wo sind die anderen? Waren nicht Janok und Schimascha bei euch?“

April nickte und schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter: „Wir haben uns aufgeteilt, damit wir in verschiedenen Richtungen suchen können. Ich hoffe, sie haben ihn gefunden.“ April deutete in die beiden Richtungen, in die die anderen gegangen waren.

Wie der Zufall es wollte, kam Schimascha genau in diesem Moment zurück. Sie sah furchtbar aus, denn an mehreren Stellen waren kleine Bissspuren in ihrer Kleidung und auf ihrer Haut.

„Ach, du heiliger Stein, was ist denn mit dir passiert?“, fragte Gribus erschrocken. „Bist du in ein Nest voller Schneevipern gefallen?“

Schimascha sah ihn wehleidig an: „Falls deine Schneevipern blau mit weißen Streifen sind, dann ja. Sind sie giftig?“

Tropandus schüttelte den Kopf: „Sie haben nur ein leichtes Nervengift, welches dafür sorgt, dass die Bisswunden noch eine Weile brennende Schmerzen verursachen. Für größere Wesen ist das Gift ansonsten harmlos. Schneevipern greifen eigentlich auch nur Beutetiere an, die nicht größer sind als sie selbst.“

„Oder jene, die ihrem Nest zu nahe kommen“, vermutete Schimascha missmutig. „Diese verdammten Drecksviecher haben sich selbst durch meine Schuppenhaut durchgebissen.“ Die Tarborianerin blickte um sich und fragte: „Ist die Grünhaut noch nicht zurück?“

Die anderen verneinten und Schimascha blickte in den Wald, in den sie Janok geschickt hatte. Da ihr Gesicht von den anderen abgewendet war, konnten sie nicht ihren sorgenvollen Blick sehen. Es war wohl wirklich keine gute Idee gewesen, Janok allein in den Wald zu schicken. Womöglich gab es dort unter den finsteren Tannen noch schlimmere Kreaturen als die Schneevipern.

Schwere Schritte ließen plötzlich den Boden vibrieren und kündigten eine dieser schlimmen Kreaturen an. Sofort richtete die Gruppe die Blicke auf den Wald und wartete auf das Monster, das jeden Moment aus diesem hervorbrechen konnte. Und es kam. Es war ein weißer Warg und er war groß. Er hatte eine Schulterhöhe von zwei Metern und überragte sie alle. Jedoch rührte er sich nicht, sondern stand einfach da, während aus seiner rechten Seite der Lebenssaft herausfloss. Schimascha ließ das Holz ihrer Arme wuchern und formte sie zu Holztentakeln, für den Fall, dass der todgeweihte Warg in seinen letzten Zügen angreifen würde. Doch das tat er nicht. Auf seinem ausdruckslosen Gesicht erlosch der letzte Lebensfunke und der weiße Riese fiel zu Boden.

Fassungslos starrten alle das mächtige Tier an, das einfach so vor ihren Augen gestorben war. Nun konnten sie seine Verletzungen genauer betrachten. In seiner Seite klafften mehrere große, kreisrunde Wunden, aus denen Organe hingen und Blut herausfloss. Es war schwer zu sagen, ob das Tier verblutet oder an seinen Organverletzungen gestorben war. Schimascha trat vorsichtig an den Warg heran und stupste ihn mit einem Holztentakel an. Ein paar weitere, kräftigere Anstupser versicherten der Tarborianerin, dass der Warg wirklich tot war.

„Beim Dschungelgott, wer oder was hat dieses Riesenbiest getötet?“, fragte Schimascha laut.

„Was es auch immer war, ich hoffe, es ist in die entgegengesetzte Richtung gelaufen“, antwortete Tropandus und man sah ihm an, dass er einer Panik nahe war.

Plötzlich raschelte es im Gebüsch hinter dem Kadaver des Wargs. Dies gab den Nerven des Beraters den Rest. Er schrie auf, rannte kreischend in die Schlucht zurück und war augenblicklich verschwunden. Die anderen sahen ihm nach, doch dann konzentrierten sie sich auf das, was nun kam.

Das Gebüsch wurde von einer kräftigen Hand zur Seite geschoben und ein schlecht gelaunter Janok mit blutbesudelten Händen kam zum Vorschein. Als der Ork die erstaunten und zugleich fragenden Gesichter sah, beantwortete er die nicht gestellte Frage: „Nein, ich konnte Erwin nicht finden. Dieses verdammte Vieh kam dazwischen.“ Die letzten Worte brüllte der Ork und er trat gegen den Kadaver.

Schimascha sah ihn verblüfft an: „Ich dachte, Orks schätzen einen guten Kampf.“

„Nicht, wenn er zum falschen Zeitpunkt stattfindet“, gab Janok genervt von sich. „Und die Suche nach einem Elfen in leichter Stoffkleidung und ohne Schwerter ist ein falscher Zeitpunkt. Na ja, jedenfalls bin ich, nachdem ich diesem Mistvieh ein paar in die Seite gedonnert habe, noch etwas weitergegangen. Ich habe aber keine einzige Spur gefunden, weshalb ich wieder zurückgekommen bin.“

„Dann bleibt Erwin immer noch spurlos verschwunden“, fasste April zusammen und man sah ihr an, welche Schmerzen ihr diese Worte bereiteten.

„Ja, es sieht schlecht aus“, musste Gribus zugeben. „Er könnte nun überallhin verschwunden sein und dieses Tal ist groß und gefährlich.“

Alle sahen sich an und jeder, auch April, stimmte schweigend zu, die Suche vorerst abzubrechen. Wortlos gingen der Zwerg, die zwei Elfen und die Tarborianerin. Nur Janok fragte fast beiläufig: „Wer ist eigentlich gerade schreiend weggerannt?“

Die zweite Reise

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