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4. Kapitel – Was ist von mir geblieben?

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Forschungsstation 67, irgendwo im Süden der Wüste

Zur selben Zeit

Es war still. Kein Laut durchdrang die metallene Ummantelung und das Wasser im Inneren des Behälters. Das Wesen, das sich im Behälter befand, schlief tief und fest. Es hatte einige harte Stunden hinter sich. Stunden, in denen kalte Maschinen aus dem Menschen Sinnas etwas Neues erschaffen hatten. Etwas, was es zuvor noch nie gegeben hatte. Seine Erschaffer hielten ihn für noch nicht vollendet, da sein kybernetisch verbessertes Gehirn noch nicht die Steuerungsprogramme aufgespielt bekommen hatte. Diese sollten es dem Bio-Cyborg ermöglichen, seinen neuen Körper zu kontrollieren. In seinem speziellen Fall sollten die Programme aber auch gleichzeitig das Werkzeug zu seiner Kontrolle sein. Noch konnten sie nicht in den Sentio-Chips, die in sein Gehirn implantiert worden waren, abgespeichert werden. Zuerst musste das Biologische mit dem Kybernetischen zusammenwachsen.

Was aber keiner der Erschaffer ahnte, waren zwei Dinge. Erstens: Der biologische Prozess des Zusammenwachsens fand viel schneller sein Ende als bei einem durchschnittlichen Menschen. Und zweitens: Sinnas Gehirn brauchte keine speziellen Programme, um den kybernetisch stark modifizierten Körper unter seine Kontrolle zu bringen.

Der Grund, warum es im Behälter so still war, war der, dass es in der Lagerhalle selbst still war. Obwohl der Tag schon längst angebrochen war, herrschte nur wenig Betriebsamkeit. Das lag daran, dass sämtliche Arbeiten von den Robotern erledigt wurden. Die Wissenschaftler brauchten etwas Uran für den neuen Atomgeneratorprototyp? Kein Problem, sofort setzten sich die automatischen Kräne in Bewegung und luden einen Bleibehälter voll Uran in die Hände eines Transportroboters, der dann durch ein Tunnelsystem, zu dem die Menschen aus Sicherheitsgründen keinen Zutritt hatten, zu den Laboren eilte und das Bestellte ablieferte. Da also die gesamte körperliche Arbeit von Maschinen erledigt wurde, gab es normalerweise nur drei Techniker, die diesen geregelten Ablauf überwachten. Sie trugen aus Sicherheitsgründen Schutzanzüge, denn Uran war nicht der einzige gefährliche Rohstoff, der hier gelagert wurde.

Heute aber waren die Techniker nicht allein, denn ein Trupp von fünf Soldaten, die ebenfalls Schutzanzüge trugen, und zwei Delta-Gatling-Roboter bewachten den geheimnisvollen Behälter. Zwei der Techniker standen hoch oben in der Kontrollzentrale, von wo aus sie mithilfe ihrer Computer die Roboter überwachten, während der dritte durch die Halle ging. Selbst die Kameras konnten nicht alles sehen, weil sie tote Winkel hatten.

Zurzeit aber folgte alles seinem geregelten Gang, sodass einer der beiden Techniker der Zentrale durch ein großes Sichtfenster auf den geheimnisvollen Behälter und seine Bewacher herabsehen konnte. „Ich wüsste nur zu gern, was sich in diesem Behälter befindet“, murmelte er.

„Ist doch klar. Irgendein Endprodukt der neuen Experimente. Ich habe gehört, die neue Regierung hat sämtliche gesetzlichen Verbote im Bereich der Wissenschaft aufgehoben“, sagte der zweite Techniker, ohne von seinen Monitoren aufzusehen.

„Na klasse“, stöhnte der erste. „Dann könnte vom herzenfressenden Supermenschen über den armeausreißenden Killercyborg bis zum arroganten Superhirn, das die Weltherrschaft anstrebt, alles Mögliche drin sein. Und wenn jetzt was schiefgeht, sind wir die Ersten, die dran glauben müssen.“ Über diese Aufzählung musste der zweite Techniker lachen und kassierte dafür einen bösen Blick von seinem Kollegen. Dieser fügte nun endgültig gereizt hinzu: „Das meine ich ernst.“

Der zweite unterdrückte mehr schlecht als recht seine Erheiterung und sagte: „Ich bitte dich. Wenn von dem, was auch immer es ist, eine Gefahr ausgehen würde, dann hätte man es nicht hier in diese Lagerhalle gepackt, sondern in die Hochsicherheitszone der Labore.“

Der erste Techniker blickte wieder zum Behälter und gab dem anderen recht: „Stimmt. Wenn es wirklich gefährlich wäre, dann würde man auf den Zeitvorteil verzichten. So aber kann der Behälter von den Robotern in weniger als fünf Minuten durch die Tunnel zum Flughafen gebracht werden.“

Der zweite nickte: „Richtig. Wir werden also diesen unheimlichen Behälter sowieso in ein paar Stunden los sein. Also kein Grund, sich darüber unnötig Sorgen zu machen.“

Langsam regte sich im schlafenden Körper der Geist Sinnas’. Mehr und mehr wurde der Mensch sich wieder seiner bewusst, doch er musste feststellen, dass er sich verändert hatte. Sinnas spürte jedes Stück Kybernetik, das gegen seinen Willen in den Körper gepresst worden war. Er konnte zwar noch nicht sagen, was man alles mit ihm gemacht hatte, jedoch spürte er, dass es nicht wenig war.

Er versuchte, seine eigene Haut zu ertasten. Doch das ging nicht. Egal, wie sehr er sich anstrengte, sein Körper, dessen Knie vor der Brust angezogen und von den Armen umschlungen waren, rührte sich nicht. Erst nach mehreren Minuten reagierten seine Finger träge und nachdem Sinnas weiterhin unermüdlich versuchte, seine Arme zu bewegen, reagierten auch diese endlich.

Als er seinen Körper nun halbwegs bewegen konnte, ließ er seine rechte Hand über die Haut seines linken Armes gleiten. Und er spürte nichts. Sinnas erstarrte, denn was bedeutete das? Hatte er keine fühlbare Haut mehr? Oder ließ ihn sein Tastsinn im Stich? Er hatte Angst vor der Antwort, doch noch mehr quälte ihn die Ungewissheit, weshalb er seine Augen aufriss. Diese einfache Bewegung wurde von einem mechanischen Summen begleitet, doch Sinnas wollte sich keine Gedanken darüber machen, was das bedeuten könnte.

Seine Augen waren nun zwar offen, doch das, was er sah beziehungsweise nicht sah, sorgte für noch mehr Verwirrung und Angst bei ihm. Seine Sicht war so stark verschwommen, dass Sinnas nicht einmal seine eigenen Hände klar erkennen konnte. Zudem zuckte das Bild und wurde von Störungen überlagert. Dies erinnerte ihn an eine Aufnahme, die mit einer defekten Kamera getätigt worden war.

Jetzt war Sinnas einer Panik nahe, denn auch wenn er nichts eindeutig erkennen konnte, erkannte er zwei Dinge. Erstens: Er schwamm in einer Art Flüssigkeit, ohne etwas davon zu merken. Sein Tastsinn musste völlig ausgeschaltet sein. Zweitens: Seine Hände waren rot. Metallisch rot sogar, zumindest glaubte Sinnas, das zu erkennen.

Er bewegte seine Hände nach vorn und stieß vermutlich auf einen Widerstand, da er seine Arme nicht weiter ausstrecken konnte. Er ließ seine Hände weitergleiten und musste feststellen, dass er sich in einem engen Behälter befand. Jetzt wurde Sinnas endgültig panisch. Das alles war zu viel für ihn. Er kratze mit seinen Fingern über die Innenwand des Behälters, aber bis auf ein dumpfes, scharrendes Geräusch brachte es nichts. Sinnas gab jedoch nicht auf. Seine Hartnäckigkeit wurde belohnt, denn aus dem kratzenden Geräusch wurde plötzlich ein schneidendes Geräusch. Er machte sich keine Gedanken darüber, wie seine Finger plötzlich die vermutlich metallische Wand aufschneiden konnten. Er wollte nur heraus.

„Hm. Da unten scheint etwas los zu sein“, meinte der erste Techniker.

Der zweite sah von seinen Monitoren auf, erhob sich und ging zum Sichtfenster. Von dort aus konnte er sehen, wie die Wachposten nicht mehr die Gänge zwischen den Lagerobjekten im Auge behielten, sondern den Behälter anstarrten. „Vielleicht bricht ja gerade dein Killercyborg aus“, scherzte er noch, da er das Ganze nicht ernst nahm.

Fast, als wollte man ihm recht geben, zerbrach klirrend das Bullauge und eine wässrige Flüssigkeit spritzte aus dem Behälter. Jetzt erstarb das Grinsen auf dem Gesicht des Technikers. Dabei vermochte er aufgrund der Entfernung nicht einmal die roten Klingen zu sehen, die das Metall des Behälters aufschlitzten. Doch das laute Schlagen gegen die Innenhaut des Behälters konnten die beiden Techniker selbst hoch oben hören und sie sahen auch, wie die Vorderseite des Behälters von innen verbeult wurde. Es dauerte nur Sekunden, bis diese in zwei Teile zerbrach und der Behälter seinen Inhalt freigab. Ihre Nackenhaare stellten sich auf und die beiden Techniker hatten das Gefühl, als wären sie dabei, einem fremdartigen Wesen bei seiner Geburt zuzusehen.

Dieses Wesen hockte nun in einer Lache auf dem Boden und musste sich mit den Händen abstützen. Auch wenn die Techniker wenig über Biologie wussten, war ihnen klar, dass diese Flüssigkeit zum Schutz der lebenden Wesen diente, die man in solchen Behältern lagerte. Doch das Wesen, das unten in der Halle hockte, konnte kein biologisches Wesen sein. Da waren sich die beiden Techniker sicher, auch wenn sie aus dieser Entfernung keine Details erkennen konnten.

Endlich war er draußen. Sinnas fühlte sich benommen, da er heftig auf den Boden gefallen war. Er konzentrierte sich auf eine ruhige Atmung. Dabei achtete er nicht darauf, dass der Vorgang des Atmens einen maschinellen Klang hatte. Er wollte nur, dass sowohl sein Geist wie auch seine Wahrnehmung klar wurden. Langsam verschwand die Benommenheit und er gewann schrittweise die Kontrolle über seinen Körper. Sinnas nahm Geräusche und Wortfetzen in seiner näheren Umgebung wahr. Er war nicht allein und somit war auch sein Ausbruch nicht unbemerkt geblieben. Und er war sich sicher, dass niemand hier über seinen Ausbruch erfreut sein würde.

Sinnas’ Ausbruch überraschte die fünf Soldaten. Aber sie waren keine einfachen Soldaten, wie die Techniker gedacht hatten, sondern eingeweihte Elitesoldaten, die daher wussten, um wen und was es sich bei dem Cyborg handelte. Deshalb blieben sie nach einer Schrecksekunde ruhig, vor allem, als sie erkannten, dass der Cyborg in diesem Moment so unsicher und schwerfällig wie ein antiker Roboter war. Einer der fünf aktivierte seinen Kommunikator und funkte die Techniker an: „Wir brauchen einen der Transportroboter, um das Objekt an Ort und Stelle zu halten.“

Er bekam keine Antwort.

„Hey, seid ihr taub?“

Jetzt meldete sich einer der Techniker: „Der Roboter ist unterwegs.“

Nur einige Augenblicke später kam der Roboter angerast, blieb stehen und wartete auf Befehle. Da es sich um einen zivilen Roboter handelte, hatte er kein Delta, Gamma oder Beta im Namen, sondern hieß schlicht Zentaur-5982. Den Typennamen trug der Roboter, der deutlich größer als ein Mensch war, wegen seines Körperbaus, der dem eines mythischen Zentauren ähnelte. Der Oberkörper war dem eines Mannes nachempfunden, aber an den Armen waren Greifklauen befestigt. Diese erwiesen sich als nötig, um die zum Teil schweren Gegenstände zu greifen und zu verladen. Der Unterkörper bestand aus einem fahrbaren Untersatz mit Rädern, mitsamt einer großen Ladefläche, auf die der Roboter die Ladung packen konnte. Durch diese Konstruktion war er in der Lage, selbstständig Waren aufzuladen, zu transportieren und abzuladen. Seine umfangreiche Programmierung erlaubte es ihm, auch ungewöhnliche Befehle zu befolgen.

„Halt es fest, Robot. Aber nicht zu fest, es darf nicht verletzt werden … oder beschädigt … oder was auch immer“, befahl einer der Soldaten.

Sinnas wurde plötzlich von kräftigen Armen in die Luft gehoben, doch das interessierte ihn nicht. Er war immer noch damit beschäftigt, das Chaos in seinem Kopf zu ordnen. Langsam wurde auch seine Sicht endlich klar. Zuerst nahm er Konturen wahr, die dann zu erkennbaren Gestalten wurden. Er blickte sich um und zählte fünf Soldaten und zwei Delta-Gatling-Roboter. Während er sie ansah, zuckten digitale Anzeigen durch sein Sichtfeld, die zusätzliche Informationen über das, was er sah, anzeigen sollten, doch sie waren undeutlich und gestört. Offenbar funktionierte irgendein Chip noch nicht richtig. Doch schon allein die Tatsache, dass solche Daten in sein Sichtfeld eingeblendet wurden, bereitete Sinnas noch mehr Sorgen darüber, was man mit ihm angestellt hatte. Es kostete ihn seinen gesamten Mut, um nach unten auf seinen Körper zu blicken. Seine schlimmste Befürchtung wurde wahr. Das, was er sah, war kein lebendiger Menschenkörper mehr. Er erblickte rotes Metall, das seinen Körper wie eine Rüstung umgab. Doch es war keine Rüstung – es war sein Körper selbst.

Ein Schrei … wie ein kreischendes Kreissägeblatt. So klang das, was das Wesen von sich gab. Es wehrte sich plötzlich heftig gegen den Griff des Transportroboters. Die Soldaten schreckten zurück und fragten sich, was dieser Cyborg war. War er wirklich nur ein kybernetisch stark veränderter Mensch? Oder eine von der Wissenschaft geschaffene Bestie?

Der Cyborg wehrte sich immer heftiger, aber auch überlegter. Statt sinnlos hin- und herzuwackeln, presste er seine Beine gegen den Rumpf des Roboters und drückte dagegen. Die Soldaten erkannten seine Absicht, doch sie waren sich sicher, dass er den starken Armen des Roboters nicht entkommen konnte. Aber wie heißt es so schön? Irren ist menschlich. Mit einem lauten Knall riss der Cyborg allein durch den Druck, den er mit seinen Beinen erzeugte, die Arme aus, die ihn festhielten. Wieder einmal fiel er auf den Boden, doch diesmal fing er seinen Sturz ab und öffnete mit ungeheurer Kraft die Greifklauen des Roboters, die noch an seinen Armen baumelten.

Der Cyborg verharrte mehrere Augenblicke lang, sodass die Soldaten hofften, er hätte einen Systemabsturz. Doch dann schnellte sein Kopf hoch und er starrte sie mit blau leuchtenden, elektrischen Augen an. Blitzschnell sprang der Cyborg nach vorn. Bevor einer der Soldaten überhaupt mitbekam, was passierte, hatte der Cyborg mit einem kräftigen Kick seinen Fuß in dessen Brust versenkt. Dem Soldaten wurden durch den Tritt mehrere Rippen gebrochen, während sein Körper nach hinten geschleudert wurde. Erst eines der gigantischen Lagerregale stoppte seinen Flug unsanft. Der Soldat prallte mit seinem Rücken gegen eine Kante und trotz der schweren Rüstung glaubte man, seine Wirbelsäule brechen zu hören. Es war unwahrscheinlich, dass er das überlebt hatte. Und es war eindeutig, dass sich der Cyborg nicht so einfach einfangen lassen würde. Die Soldaten eröffneten das Feuer.

Sinnas war erschüttert. Seine körperliche Kraft war um einiges größer geworden. Auch wenn er in dem Moment, als er erkannte, dass man aus ihm einen Cyborg gemacht hatte, extrem wütend war, so wollte er den Soldaten nicht töten. Zumindest sagte er sich das selbst, als ihm klar wurde, was er getan hatte. Jedoch blieb Sinnas keine Zeit mehr, um über seine tödliche Fehleinschätzung der eigenen Kräfte nachzudenken, da die restlichen Soldaten das Feuer eröffnet hatten. Es waren Feuerschusswaffen mit Kugeln, vermutlich panzerbrechend. Zum Glück stellte sich heraus, dass Sinnas zu seinem eigenen Erstaunen einen Schutzschild besaß, an dem die Kugeln abprallten. Er fragte sich nur, woher die Energie für den Schutzschild kam. Hatten sie ihm etwa eine Atombatterie eingepflanzt? Was hatte dafür aus seinem Körper entfernt werden müssen? Sinnas war sich nicht sicher, ob er das wirklich wissen wollte. Er hatte aber auch diesmal keine Zeit, darüber nachzudenken, denn sein Schutzschild würde diesem Dauerfeuer höchstwahrscheinlich nicht endlos standhalten. Deshalb ging Sinnas in die Offensive und sprang einem anderen Soldaten entgegen. Er schlug diesem ins Gesicht und diesmal regulierte Sinnas seine Kraft besser, sodass der Soldat nur ins Reich der Albträume geschickt wurde. Das Schlimmste, was ihn erwarten würde, waren arge Kopfschmerzen nach dem Aufwachen. Genau auf dieselbe Art und Weise schaltete Sinnas die verbliebenen drei Soldaten aus, ohne sie schwer zu verletzen.

Das Kämpfen mitsamt den gigantischen Sprüngen und schnellen Schlägen und Tritten fiel Sinnas erstaunlich leicht, obwohl er niemals eine Kampfsportart oder etwas Ähnliches intensiv trainiert hatte. Man schien nicht nur seine Stärke, sondern auch sein Geschick verbessert zu haben.

Sinnas war bewusst, dass er sich in einer Basis befinden musste, was bedeutete, dass man ihn vermutlich jagen würde. Er musste von hier weg. Sein Blick fiel kurz auf seinen rechten Arm. Als er diesen drehte, konnte Sinnas auf der Außenseite etwas lesen: Dornteufel-1. Er erkannte sofort, dass es sich hierbei wohl um seinen Modellnamen und seine Seriennummer handelte. Dann war er also ein Prototyp. Doch warum trug er die Bezeichnung ‚Dornteufel‘?

„Frau Doktor Ansell, wir haben einen Notfall!“ Eine Assistentin kam, ohne zu klopfen, in Magarete Ansells Büro gehetzt.

Ansell war gerade damit beschäftigt, den Bericht über die Operation von Sinnas zu lesen, als sie aufblickte und beunruhigt fragte: „Ein Notfall? Greifen die Loyalisten an?“

„Nein! Unser Prototyp Dornteufel-1 ist ausgebrochen und wütet in der Basis“, antwortete die Assistentin.

Der Wissenschaftlerin fiel fast die Zigarre aus dem Mund: „Das ist unmöglich. Er könnte sich doch nicht mal bewegen, solange wir nicht die Software für seine Kybernetik aufgespielt haben.“ Ansell wusste jedoch, dass keiner ihrer Assistenten einen schlechten Scherz machen würde, weshalb sie sich jetzt erst einmal darauf konzentrieren musste, die kritische Lage zu entschärfen. „Was genau ist passiert? Geben Sie mir die Details“, forderte sie ihre Assistentin auf.

„Der Cyborg hat es geschafft, aus seinem Behälter auszubrechen und die Wachen auszuschalten. Danach hat er die Lagerhalle verlassen. Unsere Leute versuchen, ihn in den Gängen der Basis einzuschließen“, fasste die Assistentin zusammen.

„Hat er die Dornen eingesetzt?“, fragte Ansell.

„Nein, noch nicht, Frau Doktor.“

Ansell beruhigte dies für den Moment. Anscheinend konnte Sinnas noch nicht alle seine Funktionen benutzen. Jetzt war er zwar ein starker Cyborg, doch es sollte noch möglich sein, ihn wieder einzufangen.

‚Verdammter Mist‘, dachte Sinnas, während er durch die Gänge hetzte. ‚Ich kenne mich hier überhaupt nicht aus. Wie soll ich nur den Ausgang finden?‘ Er rannte weiter, doch als er um eine Ecke bog, stand er plötzlich drei Soldaten gegenüber. „Stehen bleiben! Keinen Schritt weiter!“, rief einer von ihnen und alle drei richteten ihre Waffen auf ihn. Sinnas machte keine Anstalten, den Befehl zu befolgen. „Hoch mit den Händen, damit ich sie sehen kann“, forderte der Soldat in der Mitte. Sinnas reagierte aber immer noch nicht. „Bist du taub? Ich sagte …“ Dem Soldaten blieb das Wort im Hals stecken, denn der Cyborg schnellte nach vorn, packte mit je einer Hand seine beiden Kameraden und schleuderte sie mit den Köpfen voran gegen die Wand. Das geschah so schnell, dass der verbliebene Soldat sein Lasergewehr erst hochreißen und einsetzen konnte, als seine Kameraden bereits ausgeschaltet waren. Der Laserstrahl verpuffte wirkungslos am Schutzschild des Cyborgs, der dem Soldaten mit einer schnellen, kaum wahrnehmbaren Bewegung das Gewehr aus den Händen schlug, bevor dieser ein zweites Mal abdrücken konnte. Der Soldat wusste nun, dass er keine Chance gegen den deutlich größeren Cyborg hatte, und blieb gelähmt stehen, um auf den letzten Schlag zu warten. Doch der kam nicht. Stattdessen legte der Cyborg ihm seine Hand auf die Schulter und befahl: „Zeige mir den Weg zum Ausgang. Dann wird dir nichts passieren.“

„Frau Doktor, der Proband hat einen unserer Wachtrupps außer Gefecht gesetzt und einen Soldaten als Geisel genommen.“ In der Kommandozentrale herrschte Betriebsamkeit, aber keine Hektik. Auch wenn die Situation ungewöhnlich war, so blieben die geschulten Männer und Frauen, die für die Verwaltung und Überwachung des Außenpostens zuständig waren, ruhig. Das Problem war weniger schlimm, als es auf den ersten Blick aussah. Zwar war der entflohene Proband mit neuartigen kybernetischen Teilen versehen worden und schien trotz der fehlenden Programme in der Lage zu sein, diese in einem begrenzten Maße benutzen zu können, aber trotzdem war er nur eine einzelne Person. Eine einzelne Person, die sich in einer Basis voller erfahrener Soldaten und kampfstarker Militärroboter der Gamma- und der Beta-Stufe aufhielt.

„Wir sind da. Hinter dieser Schleuse ist die Fahrzeughalle. Dort führt ein Tor nach draußen.“ Sinnas nickte. Der Soldat hatte ihn vermutlich wie befohlen zum Ausgang gebracht. Zumindest hoffte Sinnas, dass er es getan hatte. Der Soldat könnte ihn ebenso gut in das Zentrum der Basis geführt haben, denn die Gänge sahen alle gleich aus. Für jemanden, der sich hier zum ersten Mal aufhielt, war es unmöglich, zu erkennen, wo er war und wohin er ging. Es gab nicht einmal Schilder, die den Weg weisen konnten. Und Sinnas ahnte, egal wohin er gehen würde, der Feind würde ihn schon erwarten. Wenn er wenigstens wüsste, wer oder was genau ihn hinter dieser Tür erwartete.

Wieder zuckte eine Bildstörung durch sein Sichtfeld. Irgendetwas schien mit seinen Augen nicht zu funktionieren. Sinnas vermutete, dass es nicht seine biologischen Augen waren, sondern kybernetische Pendants, die sich noch mit dem Gehirn abstimmen mussten. Vielleicht ermöglichten sie andere Sichtweisen? Bei Robotern war es schließlich nicht untypisch, alternative Sichtmöglichkeiten wie den Röntgenblick einzusetzen. Doch wie konnte Sinnas so etwas aktivieren, wenn er tatsächlich dazu in der Lage wäre?

Der Soldat bemerkte, dass der Cyborg nachdachte und gar nicht mehr auf ihn achtete. Vermutlich hätte er einfach verschwinden können. Doch seine Pflicht als Soldat war ihm ständig bewusst. Er konnte nicht einfach verschwinden, ohne zu versuchen, den Cyborg aufzuhalten. Die Befehlshaber waren strenger geworden, seitdem die Putschisten an der Macht waren. Eine Flucht, selbst wenn sie das Klügste wäre, würde nicht ohne Konsequenzen bleiben.

Langsam zog der Soldat seine Laserpistole. Der Cyborg hatte ganz sicher noch nicht bemerkt, dass er mehr als nur eine Waffe besaß. Blitzschnell hob der Soldat die Waffe und hielt sie dem Cyborg an den Hinterkopf. „Das war’s dann, Cyborg! Bleib ruhig stehen, bis meine Kameraden kommen, sonst blase ich dir das Gehirn, oder was auch immer du im Kopf hast, weg.“

Weil es sich bei dem Cyborg um einen Prototypen einer neuen Waffenreihe handelte, dachte der Soldat nicht daran, abzudrücken. Das war sein Fehler. Gerade noch stand der Soldat hinter dem Cyborg, doch einen Lidschlag später lag er am Boden und die Pistole zerschmettert vor der Wand des Ganges. Sinnas stand vor ihm und hatte seine rechte Hand, die leicht rauchte, ausgestreckt. Rote, eiserne Dornen waren aus der Hand herausgefahren. Der Soldat konnte es nicht fassen. Der Cyborg hatte sich, ohne dass der Soldat es überhaupt wahrnehmen konnte, gedreht und ihm die Pistole aus der Hand geschlagen. Doch was war dieser rote Haufen, der neben der Pistole lag? Plötzlich spürte der Soldat einen starken Schmerz. Er sah an sich herunter und erstarrte. Dann schrie er, als er begriff, dass der Haufen die Überreste seiner Hand waren. An seinem Arm war nur ein stark blutender Stumpf zurückgeblieben. Der Verstümmelte schrie weiter, doch als er dem Cyborg in die Augen sah, blieb sein Schrei im Hals stecken. Rote Adern durchzogen das Blau der kybernetischen Augen und liefen auf eine blutrote Pupille zu. ‚Das kann kein Cyborg sein‘, war der letzte Gedanke des Soldaten.

Alles, was im Gang hinter der Schleuse passierte, blieb von den Soldaten und Robotern, die sich hier in der Fahrzeughalle verschanzt hatten, unbemerkt. Später würden sich die Menschen fragen, warum man sie nicht vor dem, was passieren würde, gewarnt hatte. Genauer gesagt, würden sich das die wenigen Überlebenden fragen. Die unbefriedigende Antwort würde lauten: Der Prototyp hatte alle Erwartungen übertroffen.

Die zweite Reise

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