Читать книгу Offenheit - Jaqueline Scheiber - Страница 8

Den Grundriss verstehen

Оглавление

Es beginnt in einer kleinen 50-Quadratmeter-Wohnung im Burgenland. Ich lebe dort mit meiner Mutter, wir sind erst vor Kurzem wieder umgezogen, das kommt in meinem Leben damals oft vor. Computer und Internet halten Einzug in die Haushalte, und auch ich logge mich das erste Mal, begleitet von krächzenden und piepsenden Geräuschen, in das vor mir liegende Netzmeer ein. Mit Freund*innen verabrede ich mich in Chatrooms. Anonym öffnet sich ein Tor zu einer Welt, die einen Dialog mit Fremden ermöglicht. Das birgt für ein junges Mädchen viele Gefahren, doch auch eine wesentliche Chance: Mitteilung.

Ich verspüre früh das Bedürfnis, mich auf verschiedenen Online-Plattformen darzustellen, eine Parallelidentität zu schaffen, die es mir ermöglicht, andere Aspekte meiner Persönlichkeit auszuleben. Aspekte, die im engen Rahmen eines burgenländischen Dorfs keinen Platz finden. Ich entdecke das Internet in seiner Vielfalt, Social Media in ihren Anfangsstadien. Kaum ein Portal bleibt von mir unberührt, unentdeckt, unbewandert. Ich komme mit den unterschiedlichsten Lebensrealitäten in Berührung, knüpfe Freundschaften und finde immer Ansprache, wenn ich sie brauche.

2010 erfahre ich, was das Konzept eines Blogs ist. Eine eigene Seite, die Bilder, Texte, Videos oder was auch immer man zeigen möchte, zusammenträgt. Minusgold entsteht, in einer Nacht kurz nach Silvester. Ich erinnere mich exakt an die ersten unbeholfenen Gedichte, die ich voller Scham und Furcht auf meine Seite lade. Das Schreiben unter dem Pseudonym wird mein täglich Brot, es ist beinahe eine Sucht, Worte zu finden und diese in Lyrik und Prosa zu betten. Über zweitausend Texte ruhen heute digital in einem öffentlichen Archiv. Sie sind der Grundstein für die spätere Selbstverständlichkeit, mit der ich mich meiner Sprache bediene. Ich erhalte erste Rückmeldungen von völlig fremden Menschen außerhalb meines persönlichen Umfelds auf mein Schreiben, werde zu Lesungen eingeladen und veröffentliche 2012 sogar ein Buch im Selbstverlag mit gesammelten Werken. Und ich spüre: Es ist wieder meine Art, mich der Welt offenzulegen, die mich an neue Orte bringt, bereichernden Austausch ermöglicht und wachsen lässt.

Ich bin eine Sammlerin. Keine, die ihre Sammlung in ihrem Kämmerchen verwahrt und katalogisiert, nein. Ich stelle sie aus. Ich schreie sie von der Mitte des Marktplatzes. Dabei ist es weniger wichtig, in welcher Form ich mir Gehör verschaffe, als dass ich gehört und gesehen werde. Ich möchte mich nach außen kehren, um damit eine Stelle zu markieren. Eine Stelle, an der sich eine Gemeinschaft festhalten und einordnen kann, die ähnliche Ansichten vertritt. Mein Marktplatz ist das Internet. Meine Sammelleidenschaft bezieht sich auf alltägliche Momente, die ich mit Bildern und Worten versehe. Die heutige Zeit gibt mir die Möglichkeit dazu, mich zu äußern, to put myself out there, wie man im Englischen sagt.

Durch meine Sammlung zu wandern bedeutet für die Besucher*innen, einen Bildschirm herunterzuscrollen. Es bedeutet, mit dem Zeigefinger auf Pixel zu tippen und einzutauchen in eine Welt, die ich gestaltet habe. Eine Teilrealität, die sich wie ein Lichtspiel über meinen Alltag legt und durch Filter gebrochen wiedergibt, was ich sehe. Manche Menschen finden das befremdlich. Finden es wundersam, dass jemand Privates der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Gerade bei den unbequemen Themen, wie meiner Trauer, meinem Körperbild oder dem Umgang mit meiner psychischen Erkrankung erfahre ich hin und wieder Gegenwind. „Muss das sein?“ ist eine der Phrasen, die ich immer wieder zu hören bekomme. Ich gehe selten darauf ein, denn was muss schon sein? Was viel wichtiger ist: Es kann sein. Es kann sein, weil es mir hilft, meinen Platz in dieser Welt zu verorten. Weil es mir Orientierung gibt und die Sicherheit, meine Gedanken an verschiedenen – öffentlichen – Plätzen wiederzufinden.

Auf meiner Suche nach einer Rechtfertigung für meine Existenz, für meine Bedürfnisse und meine Bewältigungsstrategien bin ich auf einen Leitsatz gestoßen. „Tu, was immer ein Stück Linderung verschafft, solange es nicht anderen schadet.“ Was wie ein Kalenderspruch klingt, ist tatsächlich eine hilfreiche Anleitung, um mehr auf sich selbst und die eigene Intuition zu hören.

Wir werden mit einer Unmenge an Wertvorstellungen ausgestattet, die so unterschiedlich sind, dass es immer Menschen geben wird, deren Verhalten wir für unzulässig erachten. Auch ich bin nicht frei davon, andere zu bewerten, sie zu beurteilen. Menschen brauchen das, um sich zu orientieren. Die wesentliche Frage, die sich dabei stellt, ist: Wie gehe ich mit meinem Urteil um? Menschen an den Pranger zu stellen halte ich für falsch. Kritik ist berechtigt, sie ist ein wichtiges Tool, um Weiterentwicklung zu ermöglichen. Ich habe unzählige Kritiken für mein Tun erhalten; einiges konnte ich annehmen und ändern. Dabei ist es wesentlich, wie Kritik ausgesprochen wird. Gerade in der digitalen Welt ist der Umgangston sehr harsch und teilweise bedrohlich. Vor allem Frauen sind häufig mit Hass im Netz konfrontiert und werden für ihre Aussagen und Positionen massiv beleidigt und bedroht.

Ich habe das Glück, dass ich in meiner näheren Umgebung großteils Zuspruch für meine Tätigkeit erlebe. Die meisten meiner Freund*innen haben mich als eine Person kennengelernt, die keinen Filter zwischen sich und die Welt legt – wobei das nicht völlig zutreffend ist. Denn natürlich entscheide ich, welche Einblicke ich gewähre. Das hat sich mit dem Zuwachs an Publikum stark verändert. Ich gehe im Gegensatz zu früher viel reflektierter damit um, welche Inhalte ich aufbereite und welche wirklich im Privaten verankert bleiben sollen. Jedoch ist mir bewusst, dass meine Hemmschwelle eine andere ist als die der meisten Menschen.

In der realen Begegnung bin ich ein zurückhaltender Mensch. Sobald ich mich in einer Umgebung wohlfühle, könnte man mich als extrovertiert betrachten. Auch in der Face-to-Face-Welt passiert es mir häufig, dass sich Menschen mir gegenüber öffnen. Das liegt zum einen an meiner Ausbildung als Sozialarbeiterin, in der ich gelernt habe, intime Gespräche über belastende Lebensumstände zu führen, zum anderen jedoch auch an der Tatsache, dass ich großen Wert darauf lege, Akzeptanz und Offenheit in meinem täglichen Leben zu zeigen.

Offenheit

Подняться наверх