Читать книгу Fußball für Frauen - Jasmin Schneider - Страница 9

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»Verdammt noch mal, Besim, bleib ruhig!«, schimpfte Charlie Butz über den grünen Kunstrasenplatz hinweg. Er hatte die Angewohnheit, beim Schreien leicht in die Hocke zu gehen. Sein seit Tagen nachlässig rasiertes Kinn reckte er nach vorn. »Mensch, Junge, was machst du denn?«, nun aufrecht, etwas nach hinten gelehnt, die Arme in gespielter Überraschung ausgebreitet.

Worüber er sich aufregte, war die brutale Spielweise der gegnerischen Mannschaft aus Fürstenwalde. Hatte doch der hagere Typ, den sie Verteidiger schimpften, Besim, den Stürmer der Kickers, gefoult und aller Wahrscheinlichkeit nach beleidigt. Der Schiedsrichter hatte nicht gepfiffen. Klar. Wenn Charlie seinen aufgebrachten Dreizehnjährigen nicht unter Kontrolle bekam, würde er es allerdings nachholen. Hatte es plötzlich ziemlich eilig hinter den Jungs herzulaufen, der Blindgänger!

»Bleib weg von der Linie, Butz!«, mahnte Vereinsleiter Leidinger. Stand mit seinem beträchtlichen Hintern gleich neben Charlie und untermalte dessen Gezeter mit rasselnden Atemzügen.

»Besim!«, lauter als zuvor und durch einen Strecksprung hervorgehoben – da! Zum Teufel! Jetzt schaute er her. Charlie zeigte dem Jungen den Vogel. Verstand der Zwerg, for fuck’s sake! Kümmerte sich endlich wieder um den Ball statt um die Achilles des anderen.

Charlie schnalzte und strich sich über die blonden Koteletten. Im Gegensatz zu seinem Haupthaar waren sie exorbitant dicht. Zum Vereinsleiter sagte er, er solle noch eine rauchen und ihm nicht auf die Eier gehen. Tat ihm direkt leid. »Tschuldige, Dicker.«

Leidinger brummte wohlmeinend, »kein Ding, Butz, kenn dich ja«, und zog sich auf die Bank zurück.

Natürlich kannte er ihn. Alle kannten Charlie. Charlie Butz, Ausnahmetalent aus Berlin-Wedding. St. Pauli, Wolfsburg, Leverkusen, Werder und immer wieder Berlin; ein Angebot von Arsenal, dann das Aus wegen der Verletzung. Jahre war das jetzt her, aber brannte wie gestern.

Das Spiel endete fünf zu fünf. Hätten den Sieg brauchen können, die Kickers. Charlie spendierte eine Kiste Cola und setzte zum nächsten Training eine Schwimmrunde an. Die Zwerge waren begeistert.

Als Charlie gegen halb zwei geflankt von Labrador Frings seinen Kiosk in Neu-Tempelhof erreichte, saß seine Mitarbeiterin Barbara Paschke davor und trotzte eingehüllt in eine grüne Decke der frischen Aprilbrise. Machte sich gut zu ihrer roten Mähne, auf die sie großen Wert legte, wie sie ihm mehrfach ungefragt versichert hatte. Alle drei Wochen zum Nachfärben, alt aussehen könne sie mit Siebzig immer noch.

Charlie fand, die Paschke brauchte fürs Anti-Aging nur ihre große Klappe. Unentwegt in Bewegung hatte dort keine Falte die Gelegenheit sich niederzulassen.

Momentan war Barb damit beschäftigt, Kaffee aus einem übergroßen Becher zu trinken und Charlies Kumpel Sarotti zu Tode zu quatschen. Der Ärmste kauerte etwas abseits auf einem Plastikstuhl und rauchte eine Selbstgedrehte, die wie die alte Lederjacke mit Exploited-Zeichen auf dem Rücken zu seinen Markenzeichen gehörte. An der Art wie der Lange seine sich allmählich grau färbenden Schläfen bearbeitete, konnte Charlie sehen, dass Sarotti schon lange nicht mehr zuhörte.

Brachte ihn zum Lachen, heiser und ein ganz klein wenig schadenfroh. Blieb ihm allerdings im Halse stecken, als Barbara in seine Richtung sah und mit den Armen wedelte.

»Butz! Butz! Da bist du ja endlich! Na komm schon, wir müssen dir was erzählen!«, das in einer Frequenz, die wahrscheinlich nur die Paschke erreichte.

Er rollte die Augen. Frings preschte im Gegensatz zu seinem Herrn los und ließ sich die braunen Ohren kraulen.

Sarotti war indessen für seine Verhältnisse viel zu schnell aufgesprungen und eilte Charlie entgegen. »Yo, Alter, was bisten so spät heut?« Sie stießen die Fäuste zusammen. »Die Paschke hat mich fast ins Grab gelabert, Mann!«

Charlie bleckte seine unregelmäßige Zahnfront. »Ist Bobby nicht da?« Dabei schaute er zu der Wohnung direkt neben dem Kiosk rüber.

Bobby, ein Blogger und Soul-DJ aus Hamburg, wohnte seit gut zwei Jahren dort. Es hat nicht lange gedauert, bis er sich mit Charlie und seinen Kumpels angefreundet hatte.

Sarotti schüttelte den Kopf. »Ausgeflogen. Mit seiner Alten.«

»Die Mutter oder was Neues?«

»Mutter.« Sie nickten nichtssagend. „Arme Sau, wirft bestimmt wieder seine Hanfpflanzen aus dem Fenster!« Spaß genug für High Five unter Männern.

»Butz!«, noch mal die Paschke.

Sarotti griente, als wolle er sagen, jetzt bist du an der Reihe!

Charlie hob ergeben die Hände. »Muss noch meine Sachen ablegen, okay?« Er huschte an Barbara vorbei in seinen Laden.

Sauber war’s hier. Der fußballgrüne Tresen glänzte, der dunkle Holzbogen war frisch gewienert. Roch gut. Barbaras Wochenendschicht hatte sich gelohnt.

Zufrieden schlenderte Charlie durch den schmalen Durchgang hinter dem Tresen in die Küche. Dort schnappte er sich ein alkoholfreies Bier.

Dem Langen brachte er ein echtes mit. Hatte es verdient. Wurde auf ein Neues zugetextet, als Charlie zurückkam. Frings rollte sich im Grasstreifen zum Nachbargrundstück. Alles war gut.

»Noch nen Kaffee, Barb?«

Sie lehnte ab. »Stell dir vor, Butz, die Wohnungsfritzen haben endlich die Luxusbude oben in der Zweiundfünfzig vermietet!«

Alle drei schauten zum vor kurzem ausgebauten Dach des Nachbarhauses und brummten abschätzig. Sarotti brachte es auf den Punkt, »Luxusbude!«.

Charlie nickte. Die Zweiundfünfzig war, ebenso wie das Haus, in dem er den Kiosk betrieb, Teil einer Wohnanlage aus dem Aufbauprogramm 1953, die sich zweckmäßig, Backsteinbau an Backsteinbau, entlang der Gontermannstraße erstreckte. Gegenüber lag nicht minder massiv das St. Josephs Krankenhaus, wo zu jeder Tages- und Nachtzeit, Sirenen zu erwarten waren – weder eine hippe noch eine ruhige Gegend. »Man müsste sich schon die Mühe machen, ein Penthouse mit separatem Aufgang obendrauf zu bauen.«

»Eben!« Barbara lachte schrill und hieb ihm spielerisch die Hand in die Seite. Dabei fiel die grüne Decke runter. Schwarzes, enges Top mit Strassapplikationen über weißen Skinny Jeans auf silbernen Stilettos. Berliner Schick par excellence.

Charlie und Sarotti sahen einander grinsend an.

»Das Dach habense ausjebaut«, Barbara bückte sich nach der Decke und klopfte sie aus. »Und was ich gesehn hab, nicht eben gut.« Sie tat wissend. Hinter vorgehaltener Hand fügte sie hinzu, »die Susi und ich, wir sind mal nachts rauf und haben’s uns anjekiekt!«

Die Männer nickten. Konnte was dran sein, die Paschke wohnte mit Tochter Susi im dritten Stock der Zweiundfünfzig.

»Und wer ist der Mieter? Ist ja nicht ganz günstig so mit Dachterrasse.« Die konnte man nach hinten raus erahnen; wie es aussah das Herzstück der Investition. Schöne Aussicht, unverbauter Blick über ein ehemaliges Militär- und Gewerbeareal, wo sich unter anderem Charlies Backsteinhäuschen befand. Er hatte die hundertfünfzig Quadratmeter für eine geradezu lächerliche Summe erstanden, lange bevor das Gebiet in Gewerbe- und Kulturkaserne General-Pape-Straße umbenannt worden war.

»Das isses ja, ich weiß es nicht, Butz!«, gab Barbara zu. »Ich habe nur mitbekommen, dass ein Makler beauftragt wurde, der einen Dummen gefunden hat. Will bestimmt nicht unter fünfzehnhundert dafür, der feine Herr Investor, läuft ja über dit jesamte Haus, die Bude!«

Amüsierte ihn, dass die Paschke nicht Bescheid wusste. Machte sie wahrscheinlich irre! »Kannst ja mal im Internet nachsehen, da findet man doch heute alles!«, spöttelte er.

Sarotti rülpste. »Wenn die nur nicht murren, wenn wir im Sommer feiern! Fußball, Pizzafreitag und so.« Er stellte seine leere Flasche auf die Stufe zum Kiosk, setzte sich daneben und begann, eine Zigarette zu rollen. Frings gesellte sich zu ihm.

Barbara ignorierte den Einwurf. Sie blitzte Charlie angriffslustig an. »Als würdest du was vom Internet verstehen, du Steinzeitmensch! Nicht mal’n Smartphone haste.«

Er hob die Schultern. Hörte er den Langen glucksen? »Wozu? Interessiert mich nicht!«

»Wenigstens zuhause könntest du dir ein Telefon anschaffen!«, fuhr Barbara fort, »wenn du nicht im Laden bist und man dich erreichen will, bleiben einem bloß Buschtrommeln!«

Gegen halb sechs, Barbara war gegangen und bei Sarotti brannten nach mehreren Bieren die Lichter, verabschiedete sich auch der. Draußen begann es dunkel zu werden, Frings bekam langsam Kohldampf und Charlie räumte noch rasch die übrig gebliebenen Tageszeitungen in einem Streugutcontainer vor der Tür. In den Morgenstunden würde ein Zeitungsfahrer sie dort herausnehmen und aktuelle hineinlegen.

Sarotti, das konnte man von der Tür aus gut sehen, hatte gerade die Kreuzung erreicht, wo die Wintgensstraße gleich neben dem Krankenhaus auf die Gontermannstraße traf, als eine aufgemotzte Enduro um die Ecke rauschte. Der Fahrer, ein gedrungener Typ in Arbeiterstiefeln und weißer Hooligans Lichtenberg Jacke, stieg in die Eisen und hielt neben dem Langen an.

Charlie fluchte leise. »Attila«, der hatte ihm gerade noch gefehlt!

Attila verdankte seinen Spitznamen der vernarbten Glatze, die er, nachdem er den Helm abgenommen hatte, frisch rasiert dem fassungslosen Sarotti präsentierte. Was das Arschloch an einem Sonntagabend hierher trieb, war die große Frage. Üblicherweise arbeitete er nur während der Woche auf einer Großbaustelle in der Gegend. Charlie hatte am Rande mitbekommen, dass Bobby und der Lange sich vor kurzem mit ihm angelegt hatten. Dem Zucken seines ramponierten Schädels nach zu urteilen, wollte Attila genau darüber mit Sarotti diskutieren – oder was sein kleiner Geist eben darunter verstand. Sein Kiefer mahlte angriffslustig, während sein breites Kinn immer wieder kurz nach oben zuckte.

»Fuck«, murmelte Charlie und sah zu seinem Hund hinüber. Frings war aufgestanden, trippelte nervös auf der Stelle.

Draußen packte Attila den Langen am Schlafittchen. Frings knurrte und Charlie lachte humorlos, als die breite Hooliganstirn auf Sarottis Nase landete. Sarotti taumelte nach hinten, die Hände vorm Gesicht. Attila ließ ihm keine Zeit, sich zu fangen, sondern begann ihn strategisch über die Straße zu prügeln, wo ein Torbogen zwischen den Häusern die Gontermannstraße mit dem Gelände der Gewerbe- und Kulturkaserne verband. Um diese Zeit war dort kein Mensch und Attila könnte Sarotti in Ruhe so richtig auseinandernehmen.

»Fuck!«, Charlie, Verteidiger durch und durch, stürmte die Szene. Zu einer kompakten Masse verschmolzen postierte er sich zwischen Angreifer und Hintermann und schleuderte Attila ein grollendes »Ey«, ins Gesicht. Es war ein tiefer, ein animalischer Sound, der an jedem noch so geschulten Selbstbewusstsein kratzte. Unter Frings infernalischem Gebell nahm Attila Anlauf und hechtete auf Charlie zu, der ihn mit einer geschickten Drehung auf den Boden legte. Die Wucht seines eigenen Körpereinsatzes jagte den Hooligan mit dem Kopf voran in den Fahrradständer vor der Zweiundfünfzig, wo Susi Paschkes City Bike ihn klingelnd und polternd unter sich begrub. Charlie hatte noch nicht einmal Hand an ihn legen müssen. Er sollte jetzt seinen Hund beruhigen, der Attila andernfalls die Kehle herausriss. Da tönte auch schon der Abpfiff in Form von Polizeisirenen vom Südbahnhof herüber. Das ging schnell, konnte man nicht anders sagen.

Charlie schnalzte nach Frings, packte Sarotti am Arm und zerrte ihn in den Laden. Drinnen hoppte er über den Tresen und drehte die Musik auf.

»Los, nach hinten«, befahl er seinem Kumpel, dessen ohnehin wulstige Lippen unter jeder Menge gerinnendem Blut noch aufgeworfener geworden waren.

Der Lange brabbelte etwas und verschwand mit dem Hund in die Küche.

Vor der Tür stiegen zwei Beamte aus einem schräg geparkten Streifenwagen und hielten Attila davon ab, Susis Fahrrad kurz und klein zu schlagen. Hätten sie gar nicht gebraucht, denn im gleichen Moment stürzte Susi aus dem Haus, das Smartphone im Anschlag, und begrub Attila unter einem Regen aus Vorwürfen. Dabei machte ihre Stimme der ihrer Mom alle Ehre.

Charlies Trommelfelle klirrten. Er lachte mit weit aufgerissenem Mund. Das Ergebnis glich einem Krähen.

Was denn so witzig sei, wimmerte Sarotti von hinten.

»Die Susi mischt die Glatze auf«, erneutes Krähen, als Attila sich auf Susis Telefon stürzen wollte und von dem jüngeren der beiden Bullen überwältigt wurde. »Gleich legen die ihm Handschellen an!«

Der Lange eilte schmerzvergessen herbei, doch Charlie schob ihn vom Fenster weg. »Geh nach hinten und halt die Zähne still«, zischte er, »ich hab keinen Bock auf Aufmerksamkeit.«

Sarotti schaute verständnislos, verzog sich aber aufs Klo.

Wenig später löste sich die Traube um Susi Paschkes Fahrrad auf. Nach kurzem Dialog mit Attila entließen die Beamten den Hooligan. Wie um sicher zu gehen, dass der Schläger sich tatsächlich aus der Straße verzog, begleitete ihn der ältere Polizist zu seiner Enduro, die Attila, noch vor Wut schäumend, bestieg und startete. Als er bewusst zu schnell anfuhr, sodass sich die Maschine vorn leicht aufbäumte, schien er dem Bullen noch etwas entgegenzuschleudern, den Blick dabei auf Charlies Laden gerichtet.

»Fuck!« Charlie griff nach der nächstbesten Zeitung und tat, als würde er lesen. Die Beamten waren schon im Anmarsch.

»Guten Tag, Herr… ähm…«, grüßte der Ältere. Sein Gesicht sah zerknitterter aus als seine Haarfarbe, ein staubiges Hellbraun, es hätte vermuten lassen. Die Haut unter der üppigen Pracht wirkte leicht gebräunt, was Mitte April eher ungewöhnlich anmutete. Ein Blick auf die Hände des Mannes offenbarte den gleichen ebenmäßigen Teint. Solarium, die Fingernägel manikürt, Goldring. Anders als bei seinem jungen Kollegen saß seine Uniform wie eine zweite Haut. Schien gut in Form zu sein.

Charlie tat überrascht, stellte die Musik leiser und hielt dem Polizisten die Hand hin. »Butz, Herr Kommissar«.

Der Bulle schlug nicht ein. Stattdessen studierte er aufmerksam den Raum, der mit seinen roten Wänden hinter weißen Zeitungs- und Getränkeregalen eher einer Bar als einem Kiosk ähnelte. »Sie haben die Sache da draußen beobachtet«, stellte er fest.

Charlie sagte nichts, er zeigte nur ein breites Grinsen. Erst als sein Schweigen unverschämt wurde, schüttelte er den Kopf. »Was für ne Sache beobachtet, Herr Kommissar?«

Autoritäres Schnauben. Der rothaarige Kollege biss sich auf die sommerbesprosste Unterlippe. Ihm schien Charlies Kiosk gut zu gefallen.

»Nennen sie mich nicht ›Herr Kommissar‹, Butz. Haben sie’s nun gesehen oder nicht?«

»Wie die Kleene den Wurm gefilmt hat? Klar hab ick det jesehen, Herr… ähm…«.

Herr Polyp beachtete ihn nicht. »Vorher, Butz, was war vorher?«, härter jetzt, drohend.

Charlie schnappte gespielt nach Luft, schaute auf seine Füße und verlagerte sein Gewicht geschickt von einem auf den anderen. »Also soweit ich weiß, macht der Enduro-Typ hier schon ne ganze Weile ne Welle«, tänzelnd kickte er einen imaginären Ball, »schätze, die kleine Paschke hat ihm gezeigt, mit wem er es hier im Kiez zu tun hat!« Weit offener Mund, tiefes »Har Har Har.« Dabei beobachtete er, wie der schmale Rotschopf die Bilder an der Wand hinter dem Tresen studierte. »Der wollte einen unserer Nachbarn vermöbeln, glaube ich.« Wieder der imaginäre Kick.

Der Bulle entgegnete nichts. Seine Aufmerksamkeit war der seines Kollegen gefolgt und klebte nun hinter Charlie an der Wand mit den gerahmten Bildern. Ein paar Zeitungsausschnitte waren auch dabei.

Charlie grinste. »Sie werden den Kiez doch vor dem rechten Schwein beschützen, oder?«

Die Augen des Beamten wanderten von den Bildern an der Wand zu Charlie und zurück. »Sagen Sie mal, Mann«, Räuspern, »Sie sind doch nicht…«, dämmerndes Staunen.

Besser konnte es nicht laufen. »Was’n los? Nen Geist gesehen?«

Der braungebrannte Lackaffe lächelte auf einmal. »Na, Mensch, wusste ich’s doch, der Butz! Charlie Butz! Richtig?« Jetzt streckte er doch die Hand zum Gruß aus. »Wiesinger, der Name.«

Charlie drehte Wiesingers Hand leicht nach oben, hakte Daumen in Daumen, während er mit seinen restlichen Fingern das Gelenk umfasste. »Richtig, Charlie Butz höchst selbst. Schön, Sie kennen zu lernen, Wiesi«.

Der Zweite wollte jetzt auch grüßen. »Sven Kowalski, freut mich«, sagte er und zog Charlie zum Schulterstoß heran.

Charlie machte mit. Als Trainer einer Jugendmannschaft kannte er die ganze Palette der Szene-Begrüßungen.

Der Ältere genoss die aufgesetzte Jugendlichkeit. Breite Grinsegesichter und beifällige Laute überbrückten eine Weile unsicheren Schweigens. Wiesinger fasste sich als erster.

»Die junge Frau Paschke hat uns etwas ganz Ähnliches erzählt…«, seufzte er, »der Anrufer sagte allerdings etwas von einer Schlägerei. Recht ungewöhnlich für diesen Kiez. Nichts gesehen, Charlie?« Charlie klang aus seinem Mund wie Honig.

»Schlägerei? Hab ich nicht gesehen.«

Die beiden Polizisten nickten verständig und wandten sich zum Gehen. Ausgerechnet jetzt knarrte eine Schranktür in den Hinterräumen. Sarotti musste etwas in dem Schränkchen unter dem Waschbecken gesucht haben. Wiesinger schaute verwundert in Richtung des Geräuschs.

»Frings«, Charlie pfiff durch die Zähne und wartete, bis die Schnauze des Labradors seine Handfläche berührte. »Darf ich vorstellen, Wiesi und Kowalski, Frings, mein Hund.«

»Frings«, wiederholte Wiesinger, das Gesicht vor Aufregung erhitzt.

Charlie krähte. »Ja, Frings, wie Torsten!«

Wohlwollendes Lachen hoch drei.

»Sagen Sie, Charlie, spielen Sie noch?«

Die Frage konnte Charlie nicht leiden. Oder vielmehr die Antwort, die mitleidigen Blicke, wenn er zugab, dass sein scheiß Knie nicht mehr richtig wollte. Einfach nichts sagen. Den Clown geben, imaginäre Bälle zur Seite kicken. Funktionierte immer.

Reichte dann auch, Wiesinger grinste glücklich. »Vielleicht haben Sie ja Lust mal im Polizeiverein mitzukicken? Das wäre…«, er suchte nach dem richtigen Wort, »dufte!«

Amüsiert entblößte Charlie seine ungleichen Zähne und nickte mit den Schultern. »Klar Wiesi, kein Ding.«

Charlie erwartete Sarotti mit einer Flasche Bier aus dem Kühlschrank neben dem Regal mit den Illustrierten. Er selber hatte sich auch eine genommen. Laut Kioskregeln bedeutete das, jemand musste für beide Flaschen zahlen, sonst hätte Charlie sie aus der Küche geholt.

Sarotti wartete erst gar nicht ab, sondern legte gleich ein paar Euro auf den Tresen. »Danke Mann!«, nuschelte er und nahm einen tiefen Zug. Erst danach verzog er das Gesicht und betastete vorsichtig seine geschwollenen Lippen. Die Blutung hatte aufgehört, doch in spätestens zwei Tagen würde sein Gesicht einer Pflaume gleichen.

»Was sollte die Scheiße?«, schnappte Charlie, »warum hast du dich nicht gewehrt? Das Weichei ist vier Köpfe kleiner als du!«

Sarotti zog geräuschvoll die Nase hoch. »Bin halt Pazifist.«

»Pazifist«, Charlie schnalzte.

Der Lange griff in die Innentasche seiner Lederjacke und nestelte Schwarzer Krauser hervor, ohne seinen Kumpel anzusehen. »Meinste, die Nase is gebrochen?«, demonstrativ schniefend begann er zu drehen.

Nach einem Schluck Bier wies Charlie mit der Flasche in der Hand zum Krankenhaus hinüber. »Frag die da!« Dann drückte er sich an dem Langen vorbei zu den Hinterräumen. Die Art, wie er seine Schultern dabei hielt, verriet Sarotti auch ohne Worte, dass Charlie an keinem weiteren Gespräch interessiert war.

Eines der Dinge, das Charlie am Kioskdasein schätzte, war die Monotonie des Alltags. Um sechs Uhr stand er auf, schaltete Sky Sports ein, gab dem Hund zu essen, duschte, zog Jeans, Shirt und Chucks an und wenn er Lust hatte, kochte er noch einen Kaffee. French Press. Schmeckte ihm am besten. Hätte er heute gerne gemacht, denn die gestrige Laufrunde mit Abstecher zum 24-Stunden-Fitnessstudio am Südkreuz hatte nach all der Aufregung des Tages schwer an ihm gezehrt. Ging aber nicht, weil er seit Tagen die Kanne nicht gespült hatte.

»Fuck the fucking fuck«, murmelte er beim Anblick der Schimmelinsel und fragte sich, ob er das Sieb jemals sauber bekam und wenn, ob er es dann noch benutzen wollte. »Scheiß drauf«, er öffnete das Küchenfenster und warf die Kanne samt Inhalt in die grobe Richtung seiner Mülleimer.

Grobe Richtung deshalb, weil er durch die Wildnis, die sich über einen Großteil der Front des Backsteinbaus zog, die Mülleimer nicht sehen konnte. Zu viele Kletterpflanzen und Büsche; Geißblatt, Knöterich, sogar Rosen und weiß der Teufel was. Er hatte sie vor ein paar Jahren in einem Anflug von Geborgenheitswahn gekauft und ohne Sinn für Ordnung in das Stückchen Land rechts und links neben dem großen Metalltor, das den Eingang zu seinem Reich darstellte, gepflanzt. Seine Mutter hatte vorausgesagt, dass sie keinen Sommer überleben, so wie Charlie sie behandelte. Doch trau schau wem, die Pflanzen hatten sich besser entwickelt als der Umbau der ehemaligen Malerwerkstatt zu etwas, das einem Heim glich. Rohre waren verlegt, eine Gasheizung eingebaut, funktionale Wände errichtet und mehrere Elektriker für undurchsichtige Dienste bezahlt worden. Nachdem Küche und Bad samt freistehender Badewanne fertig waren, verlor Charlie die Lust. Seitdem lebten Frings und er in einem einfach verglasten Kühlschrank ohne Luxus und Badezimmertür. Obwohl, das stimmte nicht ganz, der Bang & Olufsen Bildschirm sowie die teure Stereoanlage, um die herum CDs und kaputte Hüllen zwischen leeren Getränkeflaschen und getragenen Klamotten, einem Paar Laufschuhe und diversen Sportgeräten verstreut lagen, sprachen doch von einem gewissen Wohlstand. Auch wenn Charlie alles daransetzte, diesen Umstand zu vertuschen – am meisten vor sich selbst.

Wenig später machte er sich auf den Weg. Wie üblich war Frings zuerst am Rollgitter vorm Kiosk. Dort kläffte er sich die Birne weich. An sich war das nicht seine Art, aber Charlie war zu müde, um sich darum zu kümmern. Erst als er neben dem Hund stand, fiel ihm auf, was ihn aus der Fassung brachte. Jemand hatte in der Nacht den Streugutcontainer mit den neu gelieferten Tageszeitungen aufgebrochen, die meisten Zeitungen aus der Schutzfolie gerissen und darauf gepisst.

»Fuck!«. Charlie kickte gegen den Container.

Frings bellte noch lauter.

Gut Dreiviertel der Tagesnews landeten im Papiercontainer im Hof. Wenn er einen Zahn zulegte, schaffte er es, neue zu besorgen und rechtzeitig zum Schichtwechsel im Krankenhaus, der ersten Kundenwelle des Tages, zurück zu sein.

Sarotti sah an diesem Nachmittag zum ersten Mal aus, als könne etwas an der Geschichte mit der halbschwarzen Mutter dran sein. Ein Großteil seiner Stirn, beide Augen sowie die linke Hälfte seines Gesichts schimmerten violett. Außerdem kündeten drei weiße Klemmpflaster über der Augenbraue von einem Arztbesuch. Der hatte ihm offenbar eine Salbe gegen die Schwellung gegeben, entsprechend intensiv glänzte seine Visage. Die Schmerzmittel, wie es schien, kamen von Bobby nebenan, wenn man sich die Augen des Langen so anschaute. Aus ihnen sprach ein eindeutiges »Gras only«.

Charlie ließ ein lautes »Ta-haaa« vernehmen, er konnte nicht anders. »Siehst echt scheiße aus, Langer!«, lachte er und öffnete seinem Kumpel ein Astra. »Wie geht’s Bobby?«

Der Lange zuckte brummend die Achseln und tätschelte Frings. »Alles klar bei ihm. Soll dir sagen, der Pizzafreitag nächste Woche geht klar.«

Den Pizzafreitag hatte Charlie während der letzten WM eingeführt. Sein Freund Lucci, ein Italiener und Besitzer einer Trattoria am Kleistpark, sorgte für das leibliche Wohl; Bobby, der als Soul-DJ in Berlin bekannt war, für die musikalische Untermalung. Der Event galt inzwischen als echter Geheimtipp in der Stadt und zog jeden Monat mehr Leute an.

»Ich freu mich schon auf Attila!«, frotzelte Charlie, »vielleicht kommt er vorbei und zündet uns die Pizza an«, das war unnötig, aber die weitere Verdunkelung in Sarottis Gesicht war die Bemerkung wert. »War’n Joke, Langer!«

Der setzte vorsichtig das Astra an. Der Technik, sich dabei nicht weh zu tun, war er seit gestern deutlich nähergekommen. Sein Gesicht verzerrte sich nur kurz, als er die Flasche mit einem Knall auf dem Tresen abstellte. Doch das konnte ebenso gut Ausdruck des Genusses sein. Frings bellte spielerisch.

»Warst du beim Arzt?« Charlie deutete auf die Klemmpflaster. »Was gebrochen?«

»Nee«, Sarotti kratzte sich vorsichtig am Kinn, »die hat mir Nadsch verpasst.« Dann nahm er eine Packung Tabak aus seiner Innentasche und begann seicht grinsend zu drehen.

»Nadsch«, wiederholte Charlie. Er kannte niemanden, der so hieß.

Sarotti wies mit dem Kopf zur Tür. »Nadeschda, arbeitet seit ein paar Wochen drüben im St. Josephs, war vorher im Urban«, das Urban Krankenhaus lag in Kreuzberg 36, »kenn die noch von früher.« Sein Blick wirkte irgendwie verklärt.

»Hast dich pflegen lassen, was?«

Der Lange hob die dünne Selbstgedrehte mit beiden Händen zum Mund und leckte das Blättchen an. Dabei schüttelte er den Kopf. »Nee, wir sind nur Freunde.«

Charlie krähte amüsiert.

»Muss nicht immer Sex sein.« Sarotti gab sich Feuer, darum bemüht seine Unterlippe nicht in Brand zu stecken. Er sog den Rauch tief in die Lungen, ließ ihn einige Sekunden darin brennen und blies genussvoll eine blaue Schwade aus. »Wirst sehen, Nadsch is’n echter Kumpel, kommt gleich noch vorbei.«

In seinem Geist sah Charlie eine zu alt gewordene Tante mit pink und grün gefärbten Stirnkringeln den Kiosk betreten. »Aber keine, bei der du dir wünschst, der Minirock wäre nie erfunden worden?«

Sarotti grinste. »Lass dich überraschen.«

Die Ankunft eines schicken grünen Jaguars vor der Tür, unterbrach sie. Die Scheiben des Wagens waren getönt, sodass man die Insassin nicht richtig sehen konnte, nur blondes Haar und eine Sonnenbrille.

Charlie trat ans Fenster und glotzte ungeniert. »Nadsch?«

Sein Kumpel schielte. »Seit wann geb ich mich mit Bonzen ab? Schau dir die doch mal an! Hat sicher noch nie was gespendet!«

Charlie war zu gebannt, um Sarotti zu fragen, wann er denn das letzte Mal etwas gespendet hatte. Es dauerte noch eine Weile, bis die Dame endlich die Wagentür öffnete und ihre schlanken Beine in hohen Pumps heraus schwang. Erinnerte ihn an Bonnie und Clyde. Hinter der Designer-Brille schätzte er sie auf Mitte bis Ende Dreißig. Perfekt.

»Besucht bestimmt einen alten Geldsack im Krankenhaus, der es nicht mehr lange macht«, bemerkte Sarotti.

Die Blonde schüttelte das halblange Haar und zupfte sich das graugrüne Kostüm zurecht. Dann drehte sie sich zum Wagen und sprach mit jemandem. Als Frings anfing zu bellen und vor der geschlossenen Tür zu tanzen, sahen Sarotti und Charlie, wie die Frau ein weißes Hündchen in einer Hundetragetasche aus dem Auto hob.

»Scheiße, nee, die Olle is doch krank, oder?«, der Lange rauchte verächtlich.

Charlie antwortete nicht, zu verzückt von dem aufgetakelten Wesen vor der Tür. Die Frau hatte Beine bis zu den Ohren. Als sie sich schließlich zum Schaufenster herumdrehte, um den Sitz ihrer Klamotten zu begutachten, grinste er dümmlich. Sie beachtete ihn nicht.

»Hätte nicht gedacht, dass du auf Laufstegtanten stehst, Charles!«, gluckste Sarotti.

Mit dem Hündchen in der einen und einer Handtasche in der anderen Hand stöckelte Bonnie an der Einbuchtung zum Torbogen vorbei hinüber zur Zweiundfünfzig. Dabei wackelte ihr perfekter Po so anregend, dass Charlie keine Gelegenheit fand, dem Langen zu erklären, was er davon hielt, wenn man ihn mit seinem richtigen Namen ansprach.

»Hallo?«, Sarotti stieß ihn in die Seite, »jemand zuhause?«

Keine Antwort. Nur ein vages, »Fringsie, Fringsie, dass du mir ja das Hündchen in Ruhe lässt!«

Nadeschda Runge, schätzungsweise Anfang Dreißig, etwas kleiner als Charlie und mit hammergrünen Augen ausgestattet, benahm sich anfangs fast unangenehm schüchtern. Ihr brünettes Haar trug sie unordentlich am Hinterkopf zusammengesteckt. Aus dem entstandenen Wust hingen breite Strähnen herab und verdeckten Teile ihres Gesichts; ebenmäßig, hohe Wangenknochen, griechisch anmutendes Profil mit vorstehender Nasenwurzel, deren nicht sonderlich große Blüte in einer spitzen Rundung über den üppigen Lippen endete. Eine unansehnliche Strickjacke verstärkte im Zusammenspiel mit den Haaren den Eindruck, sie sei gerade erst aufgestanden. Das viel zu große Wollzelt vergrub auch alle anderen interessanten Aspekte unter sich. Nur die Beine in einer Jeans, von den Knien abwärts sichtbar, ließen Charlie vermuten, dass sie eher zierlich gebaut war.

Mochte er nicht.

Der Lange erkundigte sich indessen gleich dreimal nach ihrem Befinden. Es war ihrer müden Miene anzusehen, dass sie nicht darauf antworten wollte. Schließlich gab sie sich geschlagen und räumte ein, ihr Tag sei die Hölle gewesen. Sarotti, endlich einsichtig, schloss die niedliche Frau in die langen Arme. Sie ließ es sich gefallen, dem Gesichtsausdruck nach zu urteilen genervt.

Um sich das Trauerspiel nicht länger anzuschauen, ging Charlie in die Küche, wo ihm auffiel, dass er vergessen hatte, warum er hier war. Nach ein paar Klimmzügen im Türrahmen nahm er ein Astra mit nach draußen, das er zu seiner Überraschung der Kleinen anbot.

Sie lächelte, sichtlich dankbar, und setzte die Flasche kaum geöffnet an die Lippen. Mit einem beachtlichen Zug leerte sie sie fast zur Hälfte. »Kann ich gerade gut brauchen. Meine Lieblingspatientin ist heute gestorben«, einfach so, als würde sie sagen, »das Taxi ist da.« Die Flasche stellte sie auf den Tresen.

Sarotti kam drücken, Frings beschnüffelte hingebungsvoll ihre Hosenbeine.

Charlie fürchtete, ihre Augen könnten feucht werden, und drehte sich zur Anlage um. »Musik?« Es war eher eine Feststellung als eine Frage, deshalb fiel ihm die Antwort doppelt auf.

Sie verlangte nach Edith Piaf. Die selbstverständliche Art, die sie dabei an den Tag legte, machte ihm fast ein schlechtes Gewissen.

»Hab ich nicht, tut mir leid«, antwortete er beherrscht. Als hätte jeder Mensch auf diesem Globus Edith Piaf zur Hand. Ausgerechnet Piaf!

»Aber ich«, lächelte sie, löste sich aus Sarottis Fürsorge und griff nach einer schwarzen Leinentasche, die sie zuvor achtlos auf den Boden vor dem Tresen hatte fallen lassen. Als sie Charlie einen in die Jahre gekommenen iPod inklusive Verbindungskabel reichte, rutschten die Ärmel der grauen Jacke so weit über ihre Hände, dass es aussah, als hielte eine Handpuppe das Gerät.

Die Haarwurzeln an seinem Hinterkopf begannen zu jucken, als er es entgegennahm und mit seiner Anlage verband. Wie in einem dieser Horrorfilme, in denen die Opfer reihenweise ins Gras bissen, nachdem sie sich bestimmte Filme angesehen oder Musiken gehört hatten.

»Haste vielleicht nen Rotwein für die Nadsch?« Sarotti, der Gockel, mit dem Geldbeutel in der Hand. Hey Big Spender, oder was?

Sie hob eine Hand – soweit man das unter der Wolle erkennen konnte – und lehnte ab. »Nee, lass mal, Bier ist schon okay!« Wie zur Demonstration nahm sie noch einen großen Schluck.

Charlie drückte Play, unsicher, ob Edith aus dem Grab aufsteigen und seinen Laden auf ewig verfluchen würde.

Und schon war der Raum erfüllt von Nadeschda, die ihre Schultern im Takt wog und zwischendurch Bier trank. Mit den Lippen, die tonlos die Zeilen begleiteten. Französisch. Frings an ihrer Seite. Hündisch. Sie beugte sich zu ihm und streichelte seinen schweren Kopf bis er nur noch ergeben vor sich hin grunzte.

Charlie sah weg. Besser nicht zu Sarotti, der angesichts der gebotenen Szene einen ganz ähnlichen Gesichtsausdruck wie der Hund aufgesetzt hatte. Die Klimmzugstange! Die Klimmzugstange half immer. Doch sie hielt ihn zurück.

»Bist du das?«, wollte sie wissen, eine Handpuppenhand zu den Bildern hinterm Tresen erhoben. Ihr Bier war alle. Hatte keine zehn Minuten dafür gebraucht.

»Hab ich dir’s nicht erzählt?«, prahlte der Lange, »Charlie war mal Profi.«

Ihre Lippen formten das ›Oh‹ noch bevor sie es aussprach. »Oh sorry«, sie hatte sich aufgerichtet, Frings devot zu ihren Füßen, »ich interessiere mich nicht für Fußball.« Jetzt wurde sie rot. Sie trat zum Kühlschrank, nahm ein weiteres Bier heraus und hielt sich die Flasche an die Wangen. »Was macht das?«

Charlie kräuselte die Oberlippe. Sein Hund schlabberte seine eigene Schnauze ab, tippelte mit den Pfoten und machte einen Ton. ›Nadsch, ich hab mich in dich verknallt! Darf ich Pfötchen geben?‹.

»Sei mein Gast«, hörte er sich sagen, im Hintergrund La Foule, ein Lied, das er noch nie gemocht hatte.

Sarotti, violett im Gesicht, aber nicht auf den Kopf gefallen, nutzte die Freibierlaune und hechtete zum Kühlschrank.

»Eins Zwanzig«, wollte Charlie sagen, doch Ediths rollendes R machte ihn ganz verrückt.

»Ich meine natürlich nicht, dass es ein blöder Sport ist oder so«, sie noch ganz woanders, händeringend um Blässe bemüht. »Oh Mann, ich rede heute nur Müll! Ich sollte besser nach Hause gehen.«

Die Musik wechselte zu L’Accordeoniste. Unerträglich! Ja, Kleine, geh nach Hause!

»Ach Nadsch, ist doch alles nicht so schlimm!«, fand Sarotti, kam und drückte.

»Lass mich«, zischte sie beide Hände vorm Gesicht wedelnd, dessen Farbe sich langsam normalisierte. Das Bier hatte sie auf den Tresen gestellt. In die Nähe von Charlie, der wie angewurzelt dastand, die Hände in den Hosentaschen vergraben. »Entschuldige bitte, ich bin heute kein guter Gast«, sagte sie zu ihm, »darf ich das wieder gut machen?«

Da endlich löste sich was, kam der Stein ins Rollen. »Mein Kiosk steht jedem offen. Öffnungszeiten stehen an der Tür.«

»Tja, dann mach ich mir doch gleich mal ein Foto davon!«

Recht spitz, die Bemerkung. Hätte er ihr gar nicht zugetraut. Auch nicht, dass sie ein weißes Telefon aus der Leinentasche nestelte, hinausging und tatsächlich das Schild mit den Öffnungszeiten fotografierte. Frings folgte ihr und japste Zustimmung.

Sarotti grinste. »Jetzt taut sie auf, Alter!«

Gerade rechtzeitig, das unumgängliche La Vie en Rose im Keim zu ersticken, zerrte Charlie das Kabel aus der Anlage, als sei der iPod kontaminiert. Ihm stand Schweiß auf der Stirn.

Sie nahm das Gerät wortlos zurück und warf es zusammen mit dem Telefon in die Leinentasche. »Man dankt.«

Sarotti schaute verwundert. »Schmeißt du uns jetzt raus, oder was?«

Eigentlich nicht, ich wollte nur den Fluch brechen, konnte Charlie ja schlecht sagen. Aber was anderes fiel ihm auch nicht ein. Hinter seinen Augäpfeln drückte etwas. Gleich würde er in Flammen aufgehen.

Die Kleine hatte die Leinentasche geschultert und raste mit großen Schritten zum Ausgang. »Man sieht sich«, dann bockig, »sicher nicht!«

Und dann war sie weg. Einfach so. Hinterließ nichts als ihre Abwesenheit im Raum. Anklagend wie eine vergebene Torchance.

»Das hast du ja fein hingekriegt!«, beschwerte sich Sarotti. »So hab ich die Nadsch noch nie erlebt. Wie bisten du heute drauf?« Wütend nahm er sich noch ein Bier, griff gleichzeitig in seine Hosentasche und knallte zwei Euro auf den Tresen. »Stimmt so!«, dann stiefelte auch er davon. »Find ich echt Scheiße, Alter!«

»Ach ja?«, erhitzte sich Charlie, »und weißt du, was ich Scheiße finde?«, nicht aufzuhalten, »ich finde Scheiße, dass irgend so ein braunes Arschloch mir hier die Zeitungen bepisst, weil du deinen blöden Rand nicht halten kannst!«

Der Lange hatte die Tür schon hinter sich zugeschlagen. Draußen hob er den Mittelfinger, bevor er wehenden Haares um die Ecke bog.

Laufen. Laufen bis der Kopf leer war. Zuerst langsam, dann immer schneller.

Sein Ausstieg aus dem Profifußball hatte ihn schwer mitgenommen. Die ersten Jahre fühlten sich an wie freier Fall, als hätte jemand den Stecker gezogen, obwohl die Sendung noch nicht vorbei war. Mutter hatte sich Sorgen gemacht, hatte sogar Angst, er könne sich etwas antun.

Schneller Laufen. Der Restalkohol musste raus. Zuviel getrunken gestern. Sarotti war die ganze Woche nicht mehr im Kiosk erschienen. Hatte es noch nie gegeben.

Eiserner Wille war es, was ihm auf die Beine half, Wedding-geprägt. Dort musste man auch immer wieder aufstehen –, gerade wenn’s weh tat.

Hans-Balluschek-Park, geradlinig, normaler Puls, leicht steigend, gut. Wind. Atmen. Die Oberschenkel jaulten, musste er jetzt durch.

Heute Fünfzehndreißig bei Charlie zum Fußballgucken. Wie jeden Samstag. Er und der harte Kern hatten direkt neben seinem Häuschen einen Carport aufgestellt, wo Bierbänke, Heizstrahler, diverse Vorrichtungen für die Installation von Beamer und Boxen sowie eine große Leinwand für die richtige Atmosphäre sorgten. Der harte Kern, das waren Sarotti, Bobby von nebenan, Lucci, der Pizzabäcker, Bogdan, ein rumänischer KFZ-Meister mit Garage auf dem Pape-Areal und Tomàs Ortega, Krankenpfleger im St. Josephs; eben die Menschen, die Charlie seine Freunde nannte.

Oberschenkel frei, Schöneberger Südgelände fast durchquert. Eisenbahnrelikte. Irgendwann hätte die Natur den Stahl konsumiert. Würde er nicht mehr erleben. Atmen.

Prellerweg. Rechts oder links? Frings wählte das Wohngebiet. Dürften so sieben, acht Kilometer sein. Reichten heute Morgen. Noch eine halbe Stunde Bodyweight, dann war gut.

Wieder zuhause erinnerte er sich an den abgestandenen Geruch seiner Bettwäsche. Neben der Matratze stapelten sich Bierflaschen. Einige waren umgefallen, der Restinhalt hatte sich aufs Parkett entleert.

Angewidert verzog er sich ins Bad, duschte und stellte sich seinem Spiegelbild. Grünlich graue Augen klagten ihn aus dunklen Höhlen an. Nicht mal der für einen Blondschopf ungewöhnlich dichte Wimpernrand, auf den die Mädels so abfuhren, rettete die Gesamtnote.

»Mann Butz, du siehst aus wie eine Niete!« Dann rasierte er sich das erste Mal seit Tagen. Als ihm das immer noch nicht ausreichte, holte er den Langhaarschneider und stutzte sein schütteres blondes Haar auf 3 Millimeter.

»Schon besser!«, befand er grinsend. Dabei strich er sich dandyhaft über die Glatze, lachte laut krähend, begutachtete seine ungleichen Zähne und zeigte abwechselnd mit der rechten und linken Hand auf sein Spiegelbild. »Yeah Fringsie, wir sehen gut aus!«

Während die Waschmaschine auf Hochtouren lief, drehte er die Anlage voll auf. Motörhead, Maximum Volume, hier im Pape-Areal störte das niemanden. Overkill brüllend fand er unter der kaputten Spüle eine Rolle großer Mülltüten. Only way to feel the noise is when it's good and loud. Sie füllten sich mit allerlei oberflächlichen Unrat, darunter zertretene CD-Hüllen, zerfledderte Bücher und sogar eine Schranktür. So good I can't believe it screaming with the crowd. Dann das Eingemachte. Don't sweat it, get it back to you! Bettwäsche, Kissen, Decken, den Inhalt seines Kühlschranks, verschimmelte Töpfe und noch weniger appetitliche Teller und Pfannen entsorgte er ohne weiter darüber nachzudenken. Overkill! Overkill! Overkill!

Allein für das Einsammeln und Wegbringen der Flaschen brauchte er eine Stunde. Unterwegs kaufte er ein belegtes Brötchen und ein Croissant. Anschließend packte er den Sperrmüll in seinen geliebten, gelben sechsundsiebziger Kadett mit schwarzen Rallyestreifen, den er zärtlich Biene nannte, und fuhr ihn in drei Etappen zum Werthof.

Er brauchte neue Bettwäsche, die alte würde bis heute Abend nicht mehr trocken werden. Sollte er Mutter um welche bitten? Blöde Idee. Wozu gab’s den Schweden?

Rein ins Land der glücklichen Mitarbeiter, sich von Zwanzigjährigen duzen lassen, Bettwäsche kaufen, gleich das Federbett dazu, neues Kissen. Das Beste von allen. Echte Daunen, Du! Danke, Du! Expresskasse, schnell noch den fünfzigjährigen Aufpasser geduzt, da musste der durch. Du, Herr Keller, schau mal, hab ick det richdich jemacht? Charlies Krähen. Herr Keller ziemlich angepisst. Geil! Laune steigt. Mach’s gut, Herr Keller! Brummen.

Jetzt noch Einkaufen. Waschmittel, Geschirrspülmittel, frisches Brot, Obst, Wurst, Käse und ein Stück gesalzene Butter. Lecker. Ein Salat wär klasse. Und Hähnchenbeine. Rindfleisch für Frings. Der wartete im Auto.

Als Charlie gegen halb drei auf die frisch bezogene Matratze plumpste, roch es in der Wohnung wieder sauber. Er hatte gelüftet, gewischt und abgestaubt, sogar das Klo geschrubbt. In der Schüssel baumelte ein gelber, zitrusduftverströmender Klostein. Das reichte fürs Erste. Don’t sweat it, get it back to you!

Nach dem Essen fuhr er noch einmal los, um eine neue Kaffeekanne zu besorgen. Als er auf dem Rückweg in die Gontermann einbog, stand auf der Straße weiter vorn ein kleiner Pulk Menschen um einen Umzugswagen. Einige der Männer trugen gelbe Westen mit der Aufschrift eines Möbelpackerdienstes. Einer von der Hausverwaltung hatte eine rote Weste über seinen schlecht sitzenden Anzug gezogen und versuchte, den anderen Anweisungen zu geben. Soweit Charlie das aus der Ferne beurteilen konnte, hörte keiner auf den Mann, was dem Idioten gar nicht schmeckte. Um dessen Unbill noch zu vergrößern, schob Charlie eine Kassette in den altmodischen Player seines Kadetts. Wieder Motörhead. Brüllend laut. Diesmal Ace of Spades.

Frings fiepte und sprang nach vorn auf den Beifahrersitz, um dem tosenden Lärm aus den Lautsprechern hinter der Rückbank zu entgehen. Charlie lachte aus vollem Hals, kurbelte die Scheibe runter und grölte, If you like to gamble, you know that I’m your man, you win some, you lose some, it’s all the same to me. Dabei klopfte er den Takt außen auf die Tür seiner Biene. Wie erwartet fror dem Hausverwalter das Lächeln ins Gesicht. I don’t share your greed, the only card I need is the Ace of Spades, the Ace of Spades!

Erst als im Schatten des riesigen Umzugswagens der grüne Jaguar in Sicht kam, verebbte Charlies Freude. Daneben stand die Blonde, auf dem Arm das weiße Hündchen. Ihre Miene zeigte keinerlei Regung.

Hektisch kurbelte Charlie sein Fenster hoch. Es verhakte sich auf halber Strecke und blieb schief in der Führungsschiene hängen. That’s the way I like it Baby, I don’t want to live forever…. Die Musik! Mit aller Kraft presste er einen Daumen auf Eject. Von der plötzlichen Stille wurde er fast ohnmächtig. Frings begann ein infernalisches Gebell, das für seine übliche Stimmlage viel zu hoch war. Draußen fand der Typ in Rot den Mut, sich bebend vor Zorn dem Wagen zu nähern. Im Rückspiegel sah Charlie, wie die Blonde im Eingang der Zweiundfünfzig verschwand.

But don’t forget the joker! Frings hatte sich beruhigt, atmete aber noch stoßweise. Kurz bevor Rotwestchen den Kadett erreichte, fuhr Charlie im Schritttempo los. Gerade etwas zu schnell für seinen Verfolger. Der Depp begann tatsächlich zu rennen! Charlie wieherte hysterisch und wischte sich mit der flachen Hand übers Gesicht. Kurz bevor er vorn an der Ecke zum Werner-Voß-Damm aus dem Blickfeld der Gontermann verschwand, hupte er noch dreimal.

Zurück blieb ein Gefühl, das er aus Kindertagen kannte. Er hatte mit ein paar Jungs aus dem oberen Wedding Fußball gespielt und dabei die Scheibe eines Nachbarn mit zertrümmert. Es war zwar lustig zu sehen, wie die Katze hinter der Scheibe, sich und einen danebenstehenden Blumentopf vor dem Geschoss in Sicherheit brachte, aber das anschließende Gespräch mit seiner Mutter, hätte er sich lieber erspart. Und es kam schlimmer als gedacht. Hatte doch Mutter damals tatsächlich seinen Alten angerufen!

Fußball für Frauen

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