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Exkurs I: Adipositas

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[aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie]; http://de.wikipedia.org/wiki/Adipositas

Bei der Adipositas (lat. adeps = fett) bzw. Fettleibigkeit, Fettsucht, Obesitas (selten Obesität; im engl. aber fast nur »obesity«) handelt es sich um ein starkes Übergewicht, das durch eine über das normale Maß hinausgehende Vermehrung des Körperfettes mit krankhaften Auswirkungen gekennzeichnet ist. Eine Adipositas liegt, nach WHO-Definition, ab einem Körpermasseindex (BMI) von 30 kg/m² vor, wobei drei Schweregrade unterschieden werden, zu deren Abgrenzung ebenfalls der BMI herangezogen wird. Indikatoren für den Anteil von Körperfett und dessen Verteilung sind der Bauchumfang und das Taille-Hüft-Verhältnis […]

»Sag mal Lara, was willst du eigentlich, das man über dich sagt, wenn du mal tot bist?«

Jonas, ein siebenjähriger Junge mit hellblauen Kulleraugen, wartete gespannt auf eine Antwort. Im Schneidersitz saß er auf einer roten Decke, die wiederum über ein grünes Sofa gelegt worden war. Dieses grüne Sofa war Mittelpunkt eines weitläufigen Wohnzimmers, in dem es immer nach irgend etwas duftete. Mal nach Schokoladenkuchen, mal nach den Zitronen, aus denen Lara frische Limonade machte. Heute war es das chemische Erdbeeraroma von Weichspüler, mit dem sie die rote Decke erst kurz vor Jonas Ankunft gewaschen hatte. Sie tat das immer, denn Jonas liebte Erdbeeren, sie waren sein Leib- und Magengericht. Doch im Moment wollte Jonas nichts von Erdbeeren wissen, denn immerhin hatte er ja eine Frage gestellt. Sie beschäftigte ihn nun schon den lieben langen Tag.

»Was willst du eigentlich, das man über dich sagt, wenn du mal tot bist?«

Statt dem Jungen eine Antwort zu geben, hantierte Lara Morgenstern in ihrer Küche. Vom grünen Sofa aus hatte Jonas freie Sicht auf ihren breiten Rücken. Laras Küche war nämlich kein eigener Raum. Sie war nur durch eine Anrichte mit integriertem Esstisch vom Rest der großen Wohnung getrennt. Bloß Atelier und Badezimmer besaßen Wände und Türen. Das Bad, damit man es auch ordentlich absperren konnte und das Atelier, damit nicht die ganze Wohnung den ölig harzigen Geruch annahm, den Laras Gemälde verströmten.

Endlich drehte sich die kräftige Frau zu dem Jungen um. Auf ihrer Stirn, direkt unterhalb ihres dichten Haaransatzes, standen Schweißperlen, die ab und zu in fadenförmigen Rinnsalen in ihre vollen Brauen liefen. Da sie beide Hände voll zu haben schien – die Anrichte war zu hoch für Jonas, um es genau zu sehen – konnte sie sich die Perlchen nicht wegtupfen. Und weil der Junge wusste, dass Lara Schwitzen nicht leiden mochte, tat er, als hätte er es nicht bemerkt. Stattdessen konzentrierte er sich auf ihr verdutztes Gesicht. Das brachte ihn zum lachen. Um Laras Unwissen extra fett zu unterstreichen, wiederholte er seine Frage noch einmal.

»Was willst du, das man über dich sagt, wenn du mal tot bist?«, dabei grinste er so breit er konnte, entknotete seine Beine aus dem Schneidersitz und setzte sich auf die Knie. So war er ein bisschen größer. Doch so sehr er sich auch reckte und streckte, was Lara genau trieb, konnte er nicht ausmachen.

Sie seufzte jetzt, legte ein großes Messer aus der Hand und schaute dabei dumm aus der Wäsche. Das brachte Jonas so zum lachen, dass er sich bäuchlings auf das Sofa mit der Decke fallen ließ. Da lachte auch Lara, womöglich um davon abzulenken, dass sie mal nicht alles wusste so wie sonst immer. Ganz im Gegensatz zu seiner Mama, die er Jackie nennen musste. Jackie wusste so gut wie gar nichts. Aber dafür war sie auch keine Lehrerin so wie Lara.

Als Jonas endlich genug davon hatte laut und lang zu lachen, richtete er sich wieder auf. Da ging Lara gerade zum Kühlschrank hinüber, öffnete die obere Tür und nahm Schlagsahne heraus. Offenbar hatte sie noch immer nicht vor, ihm zu antworten. Sie schüttelte das Päckchen in ihren großen Händen. Dabei wippte ihr gewaltiger Busen unter ihrer hellen Alt-Oma-Bluse und Jonas wurde rot. Er schaute verstohlen zur Seite, um sich zum Schein mit seinem rechten Zeigefinger zu beschäftigen, dessen Nagel er in tagelanger Arbeit bis auf die Wurzel abgenagt hatte.

»Jonas bitte lass doch«, maulte Lara auch prompt, während sie die Schlagsahne über etwas kippte, das sie geschickt mit ihrem Körper vor ihm verbarg.

Der Junge ließ schuldbewusst seine Hand sinken. Vorsichtshalber versteckte er den Zeigefinger unter der roten Decke. Er wurde langsam ungeduldig. »Jetzt sag doch!«, forderte er.

Sie lächelte, machte »hmmmmm…«, als würde sie überlegen und rührte anschließend in einer Schüssel, »darüber muss ich erst mal nachdenken, das ist eine ganz schön schwierige Frage.«

Jonas nickte zustimmend. »Das habe ich meinem Relilehrer auch gesagt.«

Endlich brachte Lara das Ergebnis ihrer Bemühungen ins Wohnzimmer herüber. Eine riesige Glasschüssel voller leckerer Erdbeeren in Sahne und einem Plastiklöffel. Jonas war begeistert. Sein Herz tanzte geradezu auf seiner Zunge.

»Mit Vanillinzucker«, zwinkerte sie, zupfte die rote Decke zurecht und stellte die Schüssel auf seinen Schoß. Sich selbst ließ sie ganz zaghaft neben den Jungen nieder. Trotz ihrer Vorsicht spürte Jonas, wie sich das Sofa beträchtlich senkte. Er ignorierte es, indem er aus dem Panoramafenster links der Couch auf die schöne Terrasse hinaus schaute, wo er gerade letzte Woche in Vorbereitung auf den Herbst zusammen mit Lara Vogelhäuschen aufgebaut hatte. So ließ er ihr Zeit, sich die weite Bluse zurecht zu zupfen. Als sie schließlich saß, nahm sie den Plastiklöffel aus der Schüssel, belud ihn mit viel zu vielen Erdbeeren, ließ ihn in der Luft kreisen und beförderte die Ladung anschließend mit Lauten wie etwa »bfrrbbrrrfffw!«, in seinen Mund. Die Hälfte ging natürlich daneben, worüber beide herzlich lachten, Jonas mit randvollem Mund.

»Also… mal sehen«, begann Lara während er angestrengt kaute, »was will ich, das jemand über mich sagt, wenn ich tot bin…«. Sie schaute zur Decke hinauf, durch die man den Himmel über sich sehen konnte. Erst nach einer ganzen Weile und zwei weiteren Hubschrauberladungen, antwortete sie. »Am liebsten wäre mir, man sagt, ich sei eine tolle Mami gewesen.«

Das enttäuschte Jonas. Lara hatte doch gar keine Kinder.

»Was willst du denn, das man über dich sagt, Prinz?«, fragte sie.

Jonas stellte die Schüssel auf den Wohnzimmertisch, seufzte und setzte sich ganz gerade. Dabei ließ er seine Augen flackern, wie er es erst gestern im Fernsehen gesehen hatte. So hatte dort ein Mann gemacht, als man ihn was gefragt hat. »Also ich will gerne so bekannt sein wie Jesus«, sagte er und nickte dabei vielsagend den blonden Kopf.

Lara lachte los, schloss ihn in die Arme und gab ihm einen Nasenstüber. »Weißt du, Prinz, ich glaube, das werden wir schon schaffen!«

Jonas machte sich los. Die Sache war ihm wirklich wichtig. »Aber mein Lehrer hat gesagt, das geht bei mir nicht so wie bei Jesus!« Entmutigt hob und senkte er die Schultern.

Sie klopfte sich mit dem Finger an den Kopf. »Tock, tock!«, sang sie dabei.

Jetzt musste er wieder lachen. Ganz laut, lange und schrill. »Tock, tock! Tock, tock!«, rief er immer wieder und wippte heftig auf der Stelle bis das hellgrüne Sofa unter der roten Decke quietschte.

»Tock, tock! Tock, tock!«, gackerte sie mit, stand auf, packte den Kleinen mit beiden Armen und wirbelte mit ihm um ihre eigene Achse.

Die Türklingel unterbrach ihren wilden Tanz.


Jackie Baehr, die eigentlich Jacqueline hieß, war wie immer furchtbar in Eile und wollte nicht reinkommen. Sie zog es vor, im breiten Treppenhaus zu warten, das hier oben vor Laras Eingangstür eher wie ein externes Zimmer wirkte. Es besaß zwar keine verglaste Decke ,so wie weite Teile der ausgebauten Loft, doch auch hier war der Boden mit dem gleichen edlen Parkett ausgelegt. Und obwohl der Aufgang zu Laras Reich im dritten Hinterhof lag, versorgten zwei vierflügelige, hohe, schmale Fenster das Carree mit dem gemütlichem Licht der untergehenden Sonne. Es fehlte lediglich eine kleine Sitzecke, und der Besucher hätte das Treppenhaus nicht mehr vom Wohnbereich unterscheiden können.

In ihrem ausgeleierten, grau-schwarz verwaschenen Shirt wirkte Jacqueline dort draußen nur noch schmächtiger. Ihre weißen Arme schienen lose aus den weiten Ärmel heraus zu hängen und drohten bei jeder Bewegung ihrer sackartigen Tasche abzubrechen. Alte Vernarbungen, die meisten davon in und unter den Armbeugen, machten den Eindruck nicht besser. Die Hose, eine Blue Jeans in maximal Größe 26, schlackerte um Jacquelines Beine wie ein ausgedienter Lappen. Dabei war sie brandneu – Lara Morgenstern hatte dem Mädchen keine zwei Wochen zuvor Geld dafür geliehen.

»In deiner Größe gab es sie nicht?« Lara bemühte ihr freundlichstes Lächeln, auch wenn ihr bei Jackies Anblick die Gesichtsmuskeln erstarrten.

Jackie zuckte mit den Achseln. »Geht doch«, murmelte sie, hob das Shirt, und gab so nicht nur den Blick auf den Gürtel frei, der maßgeblich am Halten der Hose beteiligt war, sondern auch auf einen nach innen gewölbten Bauch, dessen Anblick bei Lara Ekel, aber auch Mitleid hervorrief.

»Hast du Hunger?«, fragte die unwillkürlich. Eine blöde Frage, bedachte man, dass die Blonde gerade von der Arbeit in einem türkischen Bistro kam, wie man an dem unangenehmen Geruch, der von ihr ausging, unschwer erkannte.

Das Mädchen schnalzte mit der Zunge, griff ohne hinzusehen in ihren Taschensack, aus dem sie ein in Alufolie gewickeltes rundes Etwas hervorzog, höchstwahrscheinlich einen Döner. Dann wurde sie ungeduldig. Man sah es an ihrem zuckenden Fuß. Sie warf mit einer heftigen Geste ihre wenigen, blonden Haare in den Nacken. »Jonnie!?«, rief sie schließlich mit einer kleinen Vogelstimme.

Lara hatte nicht den Eindruck, dass dieses Fiepen viel weiter als bis zum Ende des Vorraums hinter ihr reichte. Nicht zuletzt, weil sie selbst in der Tür stand und damit das meiste der Wohnung für Jackie verdeckt blieb. Dieser Gedanke war ihr noch unangenehmer, als Jackie »Jonnie!«, rufen zu hören. Also trat sie schwerfällig zur Seite, damit sie an ihr vorbei in die Wohnung blicken konnte. »Jonas, deine Mami«, rief sie, nur um etwas zu sagen.

Als keine Antwort kam, zog Jackie ein Gesicht, beugte sich so weit vor wie es ging, ohne einen Fuß in die Wohnung setzen zu müssen, und piepste ein weiteres Mal: »Jonnie!«

Währenddessen war Jonas sehr langsam durch Laras Wohnzimmer geschlichen, vorbei an dem großen Regalschrank, der bis knapp unter die Decke reichte, hinein in einen schmalen, wiederum durch hohe Regale vom daneben liegenden Lese- und Arbeitszimmer abgetrennten Gang. Hier blieb er noch einmal stehen und schaute zur verglasten Decke hinauf, freute sich über die Vögel, die darüber hinweg flogen und tat, als hätte er das Rufen seiner Mutter nicht gehört. So machte er das immer, also vier- bis fünfmal in der Woche, wenn Jackie arbeitete und er seinen Tag nach der Schule bei Lara verbringen durfte.

Erst als er Laras klare Stimme hörte, tanzte er sich immer auf einem Bein drehend ins Atelier hinüber, das dem Arbeitszimmer gegenüber auf der anderen Seite einer Wand aus bunten Glaswürfeln lag. Das Atelier nahm den größten Teil der Loft ein und war in sich noch einmal unterteilt in Kreativwerkstatt und Lager. Die Werkstatt war ein Traum an Licht und wohl der einzige Teil der gesamten Wohnung, der nicht perfekt sauber und aufgeräumt war. Überall standen Farbeimer herum, der Boden war übersät mit Flecken, mannshohe Leinwände mit halb fertigen Gemälden warteten auf Weiterverarbeitung. Hier roch es nach Öl, Harz und Terpentin und nach dem Stein, aus dem Lara eine dicke Frau schlug, wenn sie sich ärgerte.

Dieser Raum war Jonas Lieblingsplatz. Wenn er sich nicht selbst als Künstler versuchte, begutachtete er vor allem die vielen Schätze, die er über die Jahre von seiner Babysitterin bekommen hatte. Er verbarg sie alle in einem Schränkchen hinten im Lagerbereich, direkt unter seiner persönlichen Garderobe, die aus einem alten Kleiderhaken aus Holz bestand. Von dort nahm er nun seine Jacke ab und konnte nicht umhin, die oberste Schublade des Schränkchens zu öffnen. Die Jacke legte er sich achtlos über die Schultern. Mit Hingabe betrachtete er die Mendelssohn Münze, die er bei seinem letzten Besuch mit Lara im Jüdischen Museum selbst geprägt hatte. Daneben lagen die teuren Filzstifte aus dem großen Künstlerbedarf in der Marienburger Straße, mit denen eigentlich nur Designer malten.

Jackie rief nun schon wieder nach ihm. Obwohl er viel lieber noch die Bilder angeschaut hätte, die er mit den Stiften gemalt hatte, beeilte er sich, warf seinen Ranzen auf den Rücken und lief »Komme!«, kreischend zum Eingang.

Die beiden Frauen standen in der Tür, die eine drinnen, die andere draußen und schauten ihn an; die eine strahlend, die andere mit einem verkniffenen Gesicht. Jonas bemühte sich zu lächeln, doch der Knoten, zu dem seine Jacke unter dem Ranzen geworden war, störte ihn dabei. Er zupfte rechts und links, doch die dumme Jacke wollte ihm nicht gehorchen.

»Mach schon Jonnie!«, herrschte Jackie ihn an, während Lara zu ihm herüber kam und half.

»So«, sagte sie aufmunternd, als endlich alles glatt war und kniff ihn sacht in die linke Wange. »Wann kommst du denn wieder her, Jonas?«

Er schaute ein bisschen beleidigt zu Jackie hinüber. Sie hatte inzwischen eine Packung Zigaretten aus der gestaltlosen Tasche gefördert, nahm eine heraus und zündete sie an. Dabei musste sie doch wissen, wie sehr Lara das verabscheute. »Wie immer halt«, antwortete sie gelangweilt und sog den Rauch tief in die Lungen.

»Na dann bis übermorgen, kleiner Prinz!«, sagte Lara und drückte ihn noch einmal fest an sich.

Jonas verabschiedete sich mit einem raschen Kuss und rannte Fluglärm imitierend an seiner Mutter vorbei ins Treppenhaus.

»Hab übrigens die neue Arbeit Samstags jetzt fest, Probezeit ist schon um«, sagte Jackie im Gehen, »weißt schon, das Putzen bei dem Reichen.« Ihre Augen funkelten beim letzten Wort.

Lara wusste, zögerte kurz, »reicht das Geld sonst nicht?«, sie biss sich auf die Zunge, »wird es nicht zu viel, meine ich?«

Jackie rollte mit den Augen. »Will ja auch mal in Urlaub mit dem Zwerg.«

»Aber«, Lara unterbrach sich selbst, »aber natürlich.« Dazu nickte sie ein wenig zu überschwänglich. »Bring Jonas einfach weiterhin her.«

»Klar.« Sie nickte Lara kurz zu, bevor sie schweigend die Treppen hinunter rannte.

In den Türrahmen gepresst blieb Lara zurück. Sie betrachtete die großen Palmen, die sie erst letztes Jahr im Treppenhaus hatte aufstellen lassen. An Italien sollten sie sie erinnern, an die Sommer ihrer Kindheit bei ihren Großeltern, als das Leben schön, ihre Mutter ein Mensch und ihr Vater noch am Leben war. Doch stattdessen kamen die Pflanzen ihr jetzt künstlich vor. Sie standen dort gegenüber der Eingangstür, fast spöttisch, eben bloß ein Ersatz für das wahre Leben. Gleich morgen würde sie die Palmen dem Frauenhaus spenden oder sonst einer bedürftigen Organisation, die für Schönes kein Geld übrig hatte.

Dann schloss sie die Tür. In der Wohnung wurde es ganz langsam stiller, je länger Jonas nicht darin war. Zuerst dünstete jede Ecke sein Lachen aus, der Schall traf sich in der Mitte. Dort stellte sich Lara auf, um so lange wie möglich davon zu zehren. Erst wenn auch der letzte Ton verklungen war, rannte sie zum Sofa hinüber. Wenn sie sich anstrengte, roch Lara Jonas’ Kinderduft noch bis zu einer halben Stunde danach.


Derselbe Kinderduft löste in Jackie schlimme Vorwürfe aus. Sie wurde nämlich das Gefühl nicht los, dass er stärker war, wenn sie Jonas bei Lara abholte. Schon auf der Treppe war ihr der Geruch aufgefallen und das, obwohl der Allergologe ihr schon wieder nicht das gute Spray gegen ihre scheiß Allergie verschrieben hatte.

»Bei ihrer Vorgeschichte, Frau Baehr, da kann ich ihnen nicht guten Gewissens noch Kortison aufschreiben«, hatte er gesagt. So ein Penner! Und das nur, weil irgend so ein Depp Kortison mit Speed gemischt hatte und dabei drauf gegangen war.

Die Luft unten im Hof schlug ihr entgegen wie eine Wand. Jackie musste stehen bleiben und tief atmen. Die halb aufgerauchte Zigarette warf sie weg. Zu spät. Sie hustete und fand, sie klänge dabei wie ein alter Mann, der sein Leben lang starke Zigaretten ohne Filter geraucht hatte.

Jonas war stehen geblieben. Er schaute sich um. Als er Jackie husten sah, kam er zurück. Geschickt nahm er ihr die Tasche von der Schulter, stellte sie sich vor die Füße und begann darin zu kramen. Nach kurzer Zeit fischte er ein Fläschchen Asthmaspray heraus.

Jackie riss es ihm aus der Hand wie eine Schiffbrüchige, fiel auf die Knie und atmete das Spray hastig ein. Ganz langsam ebbte der Anfall ab.

»Meine Lehrerin hat das auch!«, sagte Jonas als es ihr wieder besser ging.

»Wirklich?«, Jackies Stimme klang noch dünner als sonst.

»Ja, die Frau Kuhn, meine Klassenlehrerin.« Er streckte ihr eine Hand hin, um ihr auf zu helfen. Das war zwar nicht sonderlich hilfreich, aber Jackie musste trotzdem lächeln. »Die Frau Kuhn«, begann er dann wieder, »die sagt, das liegt alles nur an so einer Pflanze, die sie aus Amerika eingeschleppt haben.«

»So? Wer denn?«, Sie hatte sich aufgerichtet und warf sich die Tasche wieder auf den Rücken. Dann reichte sie ihm die Hand, eine seltene Geste.

»Na, so Leute… weiß nicht wer«, er zuckte die Achseln. »Und jetzt reißen andere Leute die Pflanzen wieder aus.«

»Wirklich?«

»Ja, mit Masken, damit sie nicht sterben.«

Sie lachte und öffnete das Tor zum nächsten Hof. »Aha.« Dann schüttelte sie seine Hand ab. »Wer Erster an der vorderen Tür ist!«. Sie rannte los.

Jonas folgte ihr johlend. »Wenn ich mal groß bin, dann hol ich dich ein«, keuchte er auf der Straße.

Jackie hustete unter Lachen. Sie sah kleine schwarze Punkte, blieb stehen und stützte sich an der Hauswand ab. Jonas tätschelte ihren rechten Arm. Da roch sie ihn wieder, den Kinderduft. Sie presste sich ein rasches Lächeln ab. Was gab die Dicke ihm nur immer, dass er so stank?


Laras Schlafzimmer lag im hintersten Teil der riesigen Loft. Dort, wo der Raum an das daneben liegende Lager des Ateliers angrenzte, war ein begehbarer Kleiderschrank eingebaut. Er war vom Rest des Zimmers durch eine Schiebetür abgetrennt. Wenn man sie betätigte, wurde es drinnen taghell. Auf diese Weise fiel nicht auf, dass es auf dieser Seite keine Fenster gab. Die lagen durch schwere Vorhänge abgedunkelt gegenüber. Unter ihnen stand ein breites Bett. Und in dem Bett lag Lara.

Sie war gerade dabei, die Schwelle von Traum und Wirklichkeit zu überwinden. Der Gedanke, die ganze Nacht nur vom eigenen Atem begleitet worden zu sein, gab ihr ein verlorenes Gefühl. Ein Schauer lief über Arme und Rücken. Sie erinnerte sich wieder nicht daran, was sie geträumt hatte. Das verstärkte die Sterilität ihrer Einsamkeit. Ihr gesamtes Leben war so keimfrei, dass nichts darin wuchs.

Lara zwang sich, die Augen zu öffnen. Sie lag auf dem Bauch, konnte nichts sehen, weil ihr Kopf ins Kissen gepresst war. Es roch frisch gewaschen. Wenn sie so noch eine Zeit lang lag, würde sicher bald der Wecker klingeln. Schließlich schaute sie auf. Es war erst zehn vor fünf, noch früher als gestern. »Du solltest länger fernsehen«, murmelte sie und rappelte sich hoch. Wenn sie nur lange genug die Schiebetür gegenüber ihres Bettes anstarrte, würde die Zeit vielleicht schneller vergehen.

Aber Lara war nicht der Typ, der den Kopf hängen ließ, also streckte sie sich ausgiebig, atmete ein paar Mal tief und setzte das Lächeln auf. Das Lächeln half meistens. Sie lächelte es den ganzen Weg am Bad vorbei ins Arbeitszimmer, wo sie ihren Laptop öffnete und einschaltete. Sie lächelte es auf dem Weg in die Küche und drückte den Knopf des Kaffeeautomaten. Und es noch immer lächelnd verschwand sie im Bad, wo sie länger als nötig verweilte und ihren strengen Dutt gleich zweimal band.

Erst nach dem Ankleiden entließ sie das Lächeln. Weil es nicht zu dem neuen grau-braunen Zweiteiler aus schlichtem Rock und Blazer über cremefarbener Bluse und den flachen Schuhe passte. Die schmale Schnittlinie des Outfits, die auch beim Rest ihrer Garderobe überwog, betonte vor allem ihre Größe und weniger ihre Form. Wie zuvor schon ihre Großmutter vertraute Lara Morgenstern dabei ganz auf Wissen und Können der Schneiderin, bei der sie ihre Kleider gewöhnlich anfertigen ließ. Auch die ererbte Perlenkette legte sie an. Sie gehörte zur Ausstattung wie Finger an die Hand. Außerdem machte sie sich gut auf Laras von Natur aus leicht gebräunter Haut, ein Plus, das sie wie das dichte, dunkelbraune Haar, ihrer sizilianischen Mutter verdankte.

Später saß Lara mit Kaffee und einem trockenen Keks am Rechner und bearbeitete Emails. Eine kam von ihrer besten Freundin Renate mit wie gewöhnlich esoterischem Inhalt. Die meisten anderen waren Stipendiatsbewerbungen junger Künstler und Architekten. Neben einem stabilen Vermögen, hatte Lara die Stiftung der Morgensterns geerbt. Ihre Großmutter hatte ihr beigebracht, das Geld auszugeben und dennoch zu behalten.

Zu ihren Hinterlassenschaften gehörte außerdem ein Stadthaus in München. Es war die Aufgabe der Hausverwaltung Umminger sich darum zu kümmern. Karl Umminger, ein älterer, überkorrekter Herr mit stark bayerischem Akzent, hatte seit gestern drei mal geschrieben. Seine Notizen enthielten nicht mehr als die Bitte, ihn so schnell wie möglich zurückzurufen. Lara seufzte. Ihre Arbeitszeiten hatten sich durch den Schuljahreswechsel von Mittwoch auf Montag verschoben. Aber das akzeptierte er offensichtlich ebenso wenig, wie ihre Entscheidung, den Dachstuhl des Münchener Hauses zu einem Penthouse umzubauen. Wieso war sie eigentlich trotz ihrer beträchtlichen Leibesfülle für die meisten Menschen unsichtbar?

»Braune Scheiße!«. Martin Born, unter den zwölf Leistungskursteilnehmern der älteste und einzig wirklich talentierte, schaute nicht von seinem schwarzen Skizzenbuch auf, als sich Lara schockiert zu ihm umdrehte. Wie üblich zeichnete und wischte er, ohne dabei auf die Verfärbung seiner Hände zu achten, die seit Beginn der Doppelstunde im Einsatz, bereits die Farbe des Nagellacks annahmen, der von seinen Nägeln pellte. Martin sonderte sich zu sehr von den anderen ab, als dass er wirklich Freunde unter ihnen gehabt hätte. Trotzdem folgte seiner Bemerkung ein erleichtertes Raunen.

Lara wusste nicht, wie sie reagieren sollte, nahm Luft, setzte zu sprechen an. Es machte nicht den geringsten Sinn, Rembrandts Werke zu verteidigen, wenn es eigentlich darum ging, den Unterrichtsfluss zu stören. Sie atmete wieder aus, ließ sich auf einen Stuhl in der Nähe nieder. »Theorie mag für Sie alle öde sein, aber diese Informationen sind notwendig für das Gelingen Ihres Abiturs«, begann sie, nur um wieder abzubrechen. Sie war die Lehrerin, sie musste ihre Arbeit nicht verteidigen, zumal sie sich wirklich Mühe gegeben hatte, ihren Vortrag interessant zu gestalten. Außerdem war es Born, der sie unterbrochen hatte, nicht die anderen. Auf ihn musste sie sich jetzt konzentrieren. »Was genau mögen Sie an Rembrandt nicht, Herr Born?«

Martin legte die Zeichenkohle beiseite und betrachtete sein Werk, bevor er es mit Löschpapier abdeckte. Seine Finger rieb er an der Innenseite des grauen Kapuzenpulli sauber, den er über einer abgewetzten Jeans trug. Dann lehnte er sich weit im Stuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Rembrandt«, antwortete er selbstsicher, »ich finde Rembrandt komplett Scheiße, Frau Morgenstern, braune Scheiße, um genau zu sein«, er nahm die Arme wieder nach vorne, schlug eine neue Seite in seinem Skizzenbuch auf und begann, erneut darin zu kritzeln. »Kein Wunder, dass ihm alle weggestorben sind«, fügte er hinzu. Die meisten seiner Mitschüler lachten. Nur ein paar Mädchen rollten mit den Augen.

Laras gequälter Gesichtsausdruck lichtete sich. Mit der letzten Bemerkung konnte sie etwas anfangen. Vielleicht würde sie Martins Interesse an ihrem Vortrag doch noch wecken können, indem sie ihn mit einbezog. »Herr Born«, begann sie und stand auf, um an seinen Tisch zu treten, »dafür, dass Sie Rembrandt SCHEISSE…«, das Wort betonte sie, als bekäme sie davon eine Krankheit, »… finden, wissen Sie aber ziemlich viel über ihn.« Sie räusperte sich, eine hilflose Geste, und betrachtete Martins neue Skizze.

Ohne Mühe erkannte sie in den wenigen Strichen auf dem Papier Rembrandts Portrait auf einem massigen Frauenkörper in einem korrekten Zweiteiler. Sie wurde rot. Den Dutt hätte Rembrandt gar nicht gebraucht, man hätte auch so sofort auf Lara Morgenstern getippt.

Born machte sich nicht die Mühe, die Zeichnung zu verstecken. Im Gegenteil. Er schaute sie aus seinen mit Kajalresten beschmierten Augen an. Sie waren so braun wie ihre eigenen. Lara schluckte, überlegte tapfer. Sie musste irgend etwas sagen. »Das Gesicht haben Sie gut getroffen, Herr Born«, presste sie schließlich hervor. Immerhin ein guter Konter.

Borns Tischnachbar lachte unverhohlen.

»Vielen Dank Frau Morgenstern«, antwortete Born belustigt, ließ vom Büchlein ab und setzte sich wieder breit grinsend in seinem Stuhl zurück. Blonde Haare mit dunklerem herauswachsendem Ansatz verdeckten sein linkes Auge. Frau Morgenstern hatte er nun schon zum zweiten Mal besonders betont.

Ihr war bewusst, sie hätte besser den Mund gehalten. Doch war es eben diese Einsicht, die sie dazu brachte, ohne Verstand drauf los zu quatschen, während sie mit hinter dem Rücken verschränkten Armen zurück nach vorne schritt. »Herr Born«, hörte sie sich sagen und wusste nicht, wie der Satz weiter gehen sollte, »sehen Sie, Rembrandt…«

»Herr van Rijn«, unterbrach er sie, »oder besser noch Herr Rembrandt Harmenzoon van Rijn, wenn es edel klingen soll, Frau Morgenstern.« – wieder diese Betonung – »Sie nennen mich ja auch nicht Martin.« Großes Gelächter. Lara war stehen geblieben, drehte sich aber noch nicht nach ihm um. Martin nutzte die Zeit um hinzuzufügen, »keiner Ihrer Kollegen tut so affig, nur Sie, Frau Morgenstern.«

Die Zustimmung, die Martin durch einige der Mitschüler zuteil wurde, verärgerte Lara nun doch. Sie zog die Augen eng, wandte sich um und gab scharf zurück: »Vielleicht liegt es daran, dass ich Rembrandt als Freund bezeichnen würde, Herr Born.«

Wieder Lachen, jemand sagte »Action!«, und machte ein klackendes Geräusch. Lara kam sich vor wie in einem Zirkus. Wie konnte sie sich nur so eine Blöße geben?

Born hüstelte gekünstelt. Ein Anflug von Spott klebte in seinen Mundwinkeln. Mit der Präzision eines erfahrenen Jägers platzierte er seinen Blattschuss. »Tja Frau Morgenstern, wenn Sie auch sonst niemanden haben…«.

Das türkische Bistro Antalja in der Danziger Straße 168 verdankte den großen Andrang seinem geschäftstüchtigen Besitzer Sadum Umut, der nach dem Tod seines Vaters Sedettin das Oberhaupt einer fünfköpfigen Familie geworden war. Er war der einzige Sohn Sedettins, dem sonst nur Töchter und ein Gemüseladen in der Rheinstraße in Berlin-Steglitz beschieden waren. Anders als sein Vater es gut geheißen hätte, war Sadum unverheiratet und nur wenig an seinen türkischen Landsmänninnen interessiert. Deshalb hatte er vor ein paar Jahren sein Bistro-Projekt im Prenzlauer Berg verwirklicht, weil er sich hier einerseits bessere Chancen, weil weniger Konkurrenz, und andererseits frische deutsche Mädchen ausmalte. Vor allem die vielen Studentinnen hier oben, die im Sommer leicht bekleidet sein Bistro aufsuchten, hatten es Sadum angetan. Einer von ihnen war er eine Zeit lang nachgestiegen. Sie hieß Hanna, war mittelgroß und ganz schlank mit kleinem, süßen Busen und studierte Psychologie, was Sadum sehr erregte. Er hatte sich vorstellen müssen, wie dieses Mädchen in ihn hineinsehen konnte während sie es taten.

Leider hatte Hanna niemals angebissen, doch statt ihrer stand irgendwann ihre schlechte Kopie vor ihm und fragte, ob er Hilfe in der Küche gebrauchen könne. Diese andere Hanna studierte gar nichts, sondern schlug sich mit einem Balg und Sozialhilfe durch ein kleines schmutziges Leben weiter unten in der Nähe der Bötzowstraße. Sie schien auch leichter zu haben als seine Studentin und so nickte er bloß, obwohl seine Schwester Mahfer Hilfe genug war und zudem kaum etwas kostete. Aber dafür zeigte die ihm auch nicht ihre Titten, wenn sie hinten im Kühl- und Lagerraum ihr eigenes Shirt auszog und das mit dem Aufdruck »Bistro Antalja« überstreifte.

Sadum genoss eben diesen den Anblick, als die Hannakopie schnarrte: »Du sollst nicht immer so glotzen! Hast wohl noch nie Titten gesehen, he!?«

Zu ihm hingedreht hob das Mädchen sein Shirt erneut und legte einen hübsch geformten Busen über einer hervorstehenden Rippenpartie und einem nach innen gewölbten Bauch frei. Sadum liebte es, wie sich ihre Riesennippel in der Kühlkammer zusammenzogen. Er biss sich auf die Unterlippe. Ihm war das keinesfalls peinlich. Frauen wie die da waren es nicht wert, dass man sich abwandte. Es waren Schlampen und so musste man sie behandeln.

Jackie ließ ihr Shirt wieder fallen und wollte an Sadum vorbei hinaus gehen, aber er versperrte ihr den Weg. »Halt!«, gebot er und hob seine rechte Hand wie ein Verkehrspolizist.

»Vergiss es, Türke!«, sagte Jackie, musterte seine Hose und grinste. »Im Leben nicht, klar!?«

Sadum verzog den Mund und gab den Weg frei. »Das werden wir sehen!«, gab er zurück und verschwand in der winzigen Toilette neben der Kühlkammer.


Wie dieser Kanacke ihr doch auf den Zeiger ging! Jackie stand jetzt hinter der Frischtheke und beobachtete zwei Penner, die fast immer da waren, wenn sie morgens arbeitete. Wenn die beiden gingen, würde es noch keine halbe Stunde mehr dauern und der Laden wäre voll. Sie schaute nach hinten, keine Spur von Sadum, und griff nach dem Päckchen Zigaretten, das er immer neben der Kasse liegen ließ.

»Scheiß Kanacke!«, murmelte sie, öffnete die Packung und suchte nach einem Feuerzeug, während sie sich die Zigarette zwischen die Lippen schob. Er bezahlte nicht schlecht und wenn sie ihn ein-, zweimal die Woche zuschauen ließ, wie sie sich umzog, legte er immer noch was drauf. Aber in letzter Zeit waren die Extrazuwendungen deutlich zurückgegangen. Jetzt legte er es darauf an, sie ins Bett zu kriegen oder wenigstens auf die kleine Couch in dem stickigen Kabuff, den er sein Büro nannte. Angst vor ihm hatte sie keine, was sollte er ihr schon großartig antun, das sie noch nicht kannte, aber was machte sie, wenn er nicht locker ließ und sie am Ende noch rausschmiss?

Endlich hatte sie das Feuerzeug gefunden. Es lag neben dem Dönergrill und war fettverschmiert. Sie nahm es, zündete sich die Zigarette an und wischte sich die fettigen Finger an der Innenseite des Bistro Antalja Shirts ab. Sie sog den Rauch tief ein bis ihr ein wenig schwindlig wurde, dann blies sie ihn langsam aus und ließ ihren Blick abwesend auf einem der Penner ruhen.

»Haste ooch eene für mich, Kleene?«

»Nee!«, gab Jackie barsch zurück und hockte sich auf den Hocker, den Sadum sich hinter die Theke gestellt hatte. Auf ihm saß er, wenn er dämlich grinsend irgendwelchen Prenzeltussen vom Meer in seiner Heimat vorschwärmte.

»Du bist zu spät«, hörte sie ihn plötzlich sagen. Nicht eben freundlich zog er ihr den Hocker unterm Hintern fort.

Schimpfend sprang Jackie auf die Beine.

Sadum packte ihr Handgelenk, drehte es zu sich und nahm ihr die Kippe aus der Hand. »Nicht hier drin!«, blökte er, warf die Kippe zu Boden und trat sie aus. »Wisch das auf und mach deine Arbeit jetzt!«. Er zeigte mit dem Daumen über seine Schulter in Richtung Küche. »Los!«

Jackie wusste, dass es sich nicht auszahlte, ihm zu widersprechen, deshalb gehorchte sie und bückte sich trotzig nach der Kehrschaufel, die neben dem Mülleimer lag. Während sie die Asche und die halbe Kippe aufkehrte, die zu Sadums Füßen lag, bewegte sich er keinen Millimeter von der Stelle. Jackie spürte seine Augen in ihrem Nacken, und weil sie solche Männer und ihre Vorlieben kannte, ließ sie sich Zeit und schaute bevor sie sich erhob kindlich zu ihm auf, ihr Kinn in etwa auf der Höhe seiner Hosennaht. »Stimmt, sorry!«, sagte sie dabei leise und schob die Oberlippe nach vorn. »Tut mir echt leid!«

Seinem Blick nach zu urteilen, genoss er die Situation, dennoch wandte er sich ab, um den Tisch bei den Pennern drüben zu säubern. »Kein Problem! Bleibst du länger!«, und zu den beiden gewandt: »So Freunde, es wird Zeit!«

Jackie war inzwischen hochgekommen, die Kehrschaufel hielt sie noch immer in der Hand. »Aber das geht nicht!«, rief sie dem kleinen Türken hinterher.

Sadum antwortete nicht, er ging mit den beiden hinaus und machte sich daran die Bänke auf dem Gehsteig in Position zu stellen. Auf einem hatte ein Passant einen leeren Coffee-to-Go Becher gestellt. Er nahm ihn und warf ihn in den Mülleimer mit dem Logo einer Eismarke, der neben dem Eingang zum Bistro stand.

Noch immer, die Schaufel mit der Kippe in der Hand, stand Jackie im Türrahmen. »Das geht doch nicht!«, wiederholte sie gequält und versuchte kindlich auszusehen.

Sadum sah sie nicht an. »Muss!«, war seine Antwort. Im Hineingehen deutete er auf dem Mülleimer bei der Tür, »Voll!«, und ließ Jackie stehen.

»Arschloch!«, entfuhr es ihr und sie warf die Schaufel auf die Straße, »du Arschloch!«

Natürlich hatte Lara Morgenstern sich nicht anmerken lassen, wie sehr Martin Borns Bemerkung sie verletzte. Seit dem Tod ihrer Großmutter vor fünfzehn Jahren, hatte sie tatsächlich Probleme Menschen kennenzulernen. Aber dass sie das nach außen signalisieren könnte, darüber hatte sie sich bisher noch keine Gedanken gemacht.

Ihren Vortrag beendete sie im Anschluss an Martins Beleidigung ohne Duldung weiterer Zwischenfragen. Den Rest der Doppelstunde ließ sie den Kurs Werke Rembrandts skizzieren. Als kleine Rache verringerte sie kurz zuvor die Dauer der Einzelbilder auf dem Beamer von 10 auf lediglich 5 Sekunden pro Werk. So war es schwierig das Bild in seiner Gesamtheit wahrzunehmen. In der Folge hatte wie gewünscht der Großteil der Teilnehmer keines der sechs Gemälde wirklich erfasst – bis auf Martin Born, der beim Hinausgehen konkrete Skizzen aller Werke achtlos auf ihr Pult warf.

Jonas Baehr ging eigentlich ganz gern zur Schule. Jedenfalls fast jeden Tag. Heute aber nicht. Und deshalb war er froh, als es endlich dreizehnuhrdreißig war, und er sich beeilen konnte nach Hause zu kommen. Am liebsten wäre er gleich zu Lara gegangen, bei der fühlte er sich an solchen Tagen am wohlsten.

Umso erfreuter war Jonas, als ihm zuhause niemand aufmachte. Seinen Schlüssel hatte er vor kurzem irgendwo verloren. Erzählt hatte er davon nur Lara, seine Mama durfte das auf gar keinen Fall wissen, sonst musste sie beim Amt anrufen und die gaben ihnen dann das Geld nicht. Lara hatte auch gesagt, er solle es ihr einfach nicht sagen, denn sie war überzeugt, sie würden den Schlüssel gemeinsam finden. Eigentlich konnte er nur bei Lara oder auf dem Weg von ihr zu ihm verloren gegangen sein. Letzte Woche hatten sie deshalb ein kleines Plakat gemalt, es ganz oft kopiert und in den Straßen rund herum aufgehängt.

Zuerst hatte Jonas Angst, Jackie könnte eines der Plakate entdecken und dann käme alles raus, aber wie Lara es ihm schon vorausgesagt hatte, kümmerte sich Jackie gar nicht um Sachen, die an Lichtmasten hingen.

Nachdem Jonas die breite Danziger Straße sicher überquert hatte, lief er die drei Blöcke bis vor zur Hufelandstraße an einem Stück. Er musste schließlich üben, damit er demnächst schneller als seine Mama war. Ganz außer Atem kam er bei der 38 an und machte sich so lang er konnte, um die Klingel zu erreichen. Die, auf der »Morgenstern« stand, war ganz besonders weit oben. Früher, wenn Lara nicht wusste, dass er kam, musste er häufig einen Passanten fragen, ob der für ihn klingeln würde. Inzwischen war er aber Gott sei Dank groß genug. Er drückte den Knopf dreimal kurz und einmal lang, damit Lara wusste, dass er es war und ihm öffnete.

Es dauerte ein bisschen, aber dann hörte er wie Lara oben in ihrer Wohnung den weißen Hörer von ihrer Sprechanlage nahm und verwundert »Jonas?«, hinein fragte.

»Jaja«, bestätigte er erfreut, »hier ist der Jonas!«

Es summte und er stemmte sich mit aller Kraft gegen die Tür. Sie sprang auf, und er fegte wie ein kleiner Blitz durch den ersten und zweiten Hof. Vor dem dritten verlangsamte er seinen Schritt, weil hinter der großen schweren Eisentür, die das alte Fabrikgebäude von den Wohnblöcken davor trennte, manchmal ein Pförtner saß und ihn grimmig anschaute. Aber heute war das Häuschen leer. Er rannte daran vorbei und hinter das Gebäude, wo er die Treppen nahm so schnell er nur irgend konnte.

Lara stand ganz oben und freute sich. Aber sie hatte heute natürlich noch die doofen Kleider an, die er nicht so gerne mochte. Mit ihnen und der strengen Frisur, an der man sich das Auge stoßen konnte, sah sie immer wie die böse Stiefmutter aus. Er lief ihr trotzdem in die Arme.

»Ist deine Mami noch arbeiten?«, fragte sie, nachdem er Ranzen und Jacke im Atelier verstaut hatte.

»Ja«, rief er gedehnt, drehte sich noch einmal um und schaute in den Schubladen des kleinen Schränkchens nach seinen Schätzen. Alle noch da! Er lachte vergnügt.

Lara war inzwischen im Bad verschwunden. Es dauerte eine Weile, aber als sie wieder heraus kam, waren ihre Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und anstatt der Lehrerkleider trug sie eine weite Bluse mit Blümchen über einer schwarzen Zelthose. »Wollen wir zu Gelatino gehen?«

»Eis?«, rief er erfreut und lief schon mal zur Tür hinüber.

Lara folgte ihm lachend. »Warte noch kurz bitte, ich nehme mein Handy mit, falls die Mama anruft.«

»Jackie«, korrigierte der Junge.

»Ja, Jackie.«, nickte sie, nahm ihre Tasche und folgte ihm.

Das Gelatino war eines dieser schicken kleinen Cafes, die in dieser Gegend wie Pilze aus dem Boden schossen. Neben hausgemachtem Eis gab es Tramezzini, mediterrane Wraps, italienischen Kaffee in all seinen Variationen und jede Menge Tageszeitungen in allen möglichen Sprachen.

Lara mochte es. Wie die Palmen in ihrem Flur, erinnerte das Gelatino sie an früher. In den Siebzigern hatte sie mit Mutter und Vater fast jeden Sommer bei ihren Großeltern in Süditalien verbracht, im Meer gebadet, unendlich viel Eis gegessen, Museen, Kirchen und Kunsthändler besucht.

Obwohl schon Anfang September, ließ die Sonne nicht nach. Und so war das Cafe voller schöner Menschen, die entweder in einen ebenso schönen Laptop starrten oder über ihre schönen Kinder sprachen, die ein paar Meter weiter im eigens angelegten Sandkasten umhertollten. Lara und Jonas fanden einen Tisch inmitten einer Gruppe Studenten, die wohl so etwas wie ein Brainstorming imitierten, und nahmen Platz.

»Eine Kugel Schoko und Zitrone für den jungen Herrn und einen Eiskaffee für mich«, bestellte Lara bei dem offensichtlich homosexuellen Kellner in karierten Freizeithosen und gelbem Muscleshirt. Er passte ganz wunderbar in dieses Ambiente, denn sein Körper glich italienischen Vorbildern der Antike, wenn auch seine Beine ein klein wenig zu kurz geraten waren.

»Waffel oder Becher«, fragte er gelangweilt und schaute zur anderen Straßenseite hinüber.

Lara schaute Jonas an. »Na?«

»Waffel!«

Der Kellner notierte etwas auf seinem Block und verzog sich ein wenig zu lässig.

»Wie war heute die Schule?«

»Och ja«, antwortete Jonas und spielte wieder mit seinem Fingernagelrest.

»Was heißt das?«. Lara strich ihm sanft die Hand aus dem Mund.

Jonas druckste.

»Hast Du eine Arbeit geschrieben?«

»Hmmmmm«, machte er und schaute Lara nicht an.

Sie lehnte sich nun weit über den Tisch. »Und?«

»Ein Diktat.« Er schaute zu den spielenden Kindern hinüber.

»Jonas, bitte schau mich an!«, forderte Lara.

Er tat es.

»Was war mit dem Diktat?«

»Der Andi«, begann er.

»Dein Freund, der neben dir sitzt?«

»Ja«, Jonas nickte, »der Andi hat was falsch geschrieben, ich habs gesehen.«

»Und weiter?«

Jonas schaute zu Boden als würde er die Steinchen auf dem Gehweg zu zählen. »Ich hab ihm gesagt, dass er es falsch geschrieben hat.« Sein Gesicht wurde dunkel.

Als Lara nichts erwiderte, fuhr er fort: »Frau Kuhn hat das gemerkt und hat mir mein Heft weggenommen.«

Laras Augen verengten sich. »Bitte?«

Jonas nickte.

Er war in der zweiten Klasse. Sicher hatte doch die Lehrerin Gnade vor Recht walten lassen. »Und dann hat sie es dir aber wieder gegeben?«

Jonas kaute wieder an seinem Finger. »Ja«, antwortete er, »mit einer sechs drunter.«

Es verschlug Lara die Sprache. Sie bemerkte den Kellner kaum, der ihr mit einem zickigen »Bitte!«, in seiner unsinnig absichtlichen Art den Eiskaffee auf den Tisch knallte.

Ohne darüber nachzudenken, sprang sie auf und schrie ihn an. »Sagen Sie mal, haben Sie denn überhaupt keine Manieren?«, was ihr gleich darauf schon wieder leid tat.

Von den Nachbartischen reckten sich einige Köpfe nach ihnen um, die Studenten nebenan kicherten.

»Reg Dich ab, Trude Herr«, schnarrte der Schwule zurück und wies auf ihren bebenden Busen, »bei der ganzen Arbeit hier«, er beschrieb lässig einen Kreis um ihre Formen, »macht sonst noch die alte Pumpe schlapp!«

Gelächter. Nur mit Mühe unterdrückte Lara den Wunsch ihm ins Gesicht zu schlagen. Stattdessen ging sie ruhig um den Tisch zu Jonas, bat ihn aufzustehen und machte Anstalten zu gehen.

»Macht Sieben Sechzig, Verehrteste!«. Er hielt die Hand auf und sonnte sich in der allgemeinen Aufmerksamkeit.

Lara nahm ihren Eiskaffee und stellte ihn darauf ab. »Bitte, stimmt so!«, entgegnete sie kalt und ging mit Jonas davon.

Obwohl Sabine Kaiser wie gewöhnlich auf Knopfdruck lächelte, sprach ihre müde Miene Bände. Die brünetten Locken verlangten nach einer Generalüberholung, der Ansatz war weit raus gewachsen und legte einige wenige graue Haare frei. Vom üblichen Mahagonirot profitierten nur noch die Spitzen. Dazu trug sie einen ihrer vielen bunten Seidenschals, der ganz und gar nicht auf das rot gefleckte Kleid passte. Ebenso wenig die schwarzen Schuhe darunter.

Sie saß an einem mit Akten übersäten Schreibtisch, der beim Betrachter den Eindruck eines unfruchtbaren Chaos hinterließ. Irgendwo dazwischen stand ein halb voller Kaffeebecher mit dem im Pop-Art-Stil aufbereiteten Bild eines Säuglings und der Aufschrift »I love Mom«. Sabine Kaisers schmale Hände tasteten danach wie die eines Junkies, griffen zu und kippten seinen Inhalt in die dafür vorgesehene Öffnung in ihrem Gesicht. Ein wenig ging daneben, was sie mit einer übertriebenen Reaktion unterstrich. Laut fluchend sprang sie vom Bürostuhl auf und hastete zu dem kleinen Waschbecken in der Ecke des düsteren Büros beim Jugendamt Pankow.

»Glauben Sie mir, Frau Morgenstern, Kinder zu haben wird häufig überschätzt.« Sie kam mit einem feuchten Schwamm zum Tisch zurück, mit dem sie ungelenk kleine braune Flecke neben den großen roten auf ihrem Kleid betupfte.

Lara hatte Mühe, ein Grinsen zu verbergen. Sie stand auf, nahm der Kaiser den viel zu nassen Schwamm aus der Hand und tauschte ihn gegen ein Blatt Küchenpapier aus, das sie neben dem Waschbecken entdeckt hatte. Doch gegen die braunen Flecke war auch sie machtlos. »Sie brauchen Schlaf, Frau Kaiser«, stellte Lara fest und setzte sich wieder hin. »Sie sollten einen Tag frei nehmen.«

Sabine Kaiser war die Situation sichtlich peinlich. Sie seufzte. »Ach, das hat mit der Arbeit wenig zu tun«, dabei tat sie, als suche sie eine bestimmte Akte in den Bergen vor sich. »Es ist der Kleine, er bekommt gerade seine ersten Zähne.«

»Wegen der Adoption…«, unterbrach Lara. Langsam wurde sie ungeduldig.

Sabine Kaiser fing sich, setzte sich kerzengerade auf und fand auch das professionelle Lächeln wieder, für das sie bekannt war. »Ja richtig.« Sie blätterte in einer Akte. »Also in Ihrem Fall sieht es inzwischen wirklich sehr gut aus…«.

Robert Altmann, ein mittelgroßer, breitschultriger Mann Ende Dreißig mit vollem Haar und grünblauen Augen, würde sich verspäten. Es war schlimm mit ihm. Er kam immer zu spät zu seinen Verabredungen mit der Frau neben seiner Frau. Gut, dass seine Geliebte sich heute um den kleinen Jungen dieses Flittchens kümmerte. Robert schien, als rege sie sich dann weniger auf.

Gegen Acht klingelte er an ihrer Tür. Er besaß zwar Schlüssel für diese, ebenso wie für das äußere Tor und die schwere Metalltür des alten Backsteingebäudes, aber er mochte die Begrüßungszeremonie, die ihn erwartete, wenn er seine Schlüssel nicht benutzte.

Er war etwas außer Atem, weil er die vierundachtzig Stufen wie jeden Donnerstag viel zu schnell hinauf gehechtet war. Meistens blieb er auf dem letzten Treppenabsatz noch einmal stehen, um Luft zu holen.

Lara öffnete die Tür wie immer sehr weit, ihr Lächeln breit über das ganze Gesicht verteilt, und wartete. Er schluckte, sog das Bild ihrer korpulenten Schönheit in sich auf, und ging sehr langsam auf sie zu. Wenn sie ihre langweiligen Zweiteiler wie heute durch ein hübsches Kleid eintauschte, sah sie in ihrer üppigen Form einfach umwerfend aus.

Laras Wangen glühten rosig, ihre Hände zupften abwechselnd an der komplizierten Hochsteckfrisur und dem Bund ihrer festen Strumpfhose. Robert wusste, sie zog ihren Bauch ein, bekam kaum noch Luft. Erst gleich – in seinen Armen – würde sie sich entspannen und ihr schönes weiches Fleisch an seinen Körper schmiegen.

Sie küssten sich in der noch offenen Tür. Bis auf eine Wohneinheit in der zweiten Etage bestand der Rest des Gebäudes nur aus kleineren und größeren Büros, deren Mieter das Treppenhaus mit dem alten Lastenaufzug auf der anderen Seite benutzten. So konnte niemand ihre Intimität stören.

Als sie endlich voneinander ablassen konnten, bewunderte Robert Laras Kleid. Es war feuerrot und erlaubte einen tiefen Einblick in ihr üppiges Dekolletee. Er lächelte und streichelte sanft die nussbraune Haut. Das blumige Parfüm, das er ihr zum Geburtstag im Frühling geschenkt hatte, rundete ihre Erscheinung perfekt ab.

Lara bat um seine Jacke, hängte sie an die Bauhaus Garderobe im Vorraum und schwebte durch den runden Durchgang ins Wohnzimmer. Dort steuerte sie die Hausbar hinter einer der zahllosen Türen des Systemschranks an. Während sie zwei Gläser mit schon bereitstehendem Eis füllte, erkundigte sie sich nach seinem Tag. Robert bemerkte den leisen Vorwurf in ihrer Stimme, und seine Miene verfinsterte sich für einen Augenblick.

»Es gab wirklich viel zu tun«, erklärte er ausweichend, sah ihr zu, wie sie in eines der Gläser eine Olive, in das andere eine Zitronenscheibe gab, »lass uns von was anderem reden, ja!?«. Er küsste sanft die Rundung, wo ihr Hals ganz weich in die rechte Schulter überging und freute sich über den wohligen Schauer, den er auf ihrer Haut sehen konnte. Sie gab sich jedoch Mühe, keine Reaktion zu zeigen. Enttäuscht sank Robert aufs Sofa.

Die hellgrünen, durchscheinenden Rollos vor den Panoramafenstern, durch die man die sicherlich 30 Quadratmeter große Terrasse betreten konnte, waren gerade so weit herunter gelassen, dass die Abendsonne ihn nicht blendete. Wieso war alles an dieser Frau so perfekt? Wieso musste er ihr weh tun? Er fühlte sich schuldig. Donnerstag war doch der einzige Tag, an dem seine Frau bis gut 23 Uhr mit dieser therapeutischen Pilates Gruppe beschäftigt war!

Als Lara sich schließlich zu ihm umdrehte, lächelte sie wieder – wenn auch etwas angespannt. Sie reichte ihm einen trockenen Martini, sich selber schenkte sie die süßere Variante ein.

»Es tut mir leid«, sagte er kleinlaut und nahm einen großen Schluck.

Lara schüttelte leise den Kopf und setzte sich neben ihn. »Es ist nur«, suchte sie nach den richtigen Worten, »ich gehöre überhaupt nicht zu deinem Leben, Robert«.

Um nicht darauf einzugehen, nahm er ihr Glas, stellte es zu seinem auf den Tisch und versuchte sie mit Küssen abzulenken. Er wusste ja selbst nicht, wie man das Problem lösen sollte. Simone und Lara zusammen ergaben die perfekte Frau für ihn, nur konnte er das den beiden schlecht erklären.

Lara bemühte sich nach Kräften, ihren Ärger zu unterdrücken. Nicht nur seine Verspätung brachte sie auf die Palme, es war seine Ignoranz ihren Wünschen gegenüber. Das schöne Essen, das sie mit Jonas vorbereitet hatte, wollte sie am liebsten nicht mehr mit Robert teilen. Dabei hatte sie den Nachmittag damit zugebracht Schmetterlinge aus Zuckermelone auszuschneiden, die sie später auf einem Bett aus Ruccola mit Pinienkernen und einem Klecks Himbeerbalsamico anrichten würde. Jonas Hilfe hatte übrigens darin bestanden, die überflüssigen Schnitze zu verzehren und als es keine mehr gab, sich über einige der Schmetterlinge herzumachen. Nur drei von ihnen hatte sie retten können, zwei für Robert, einen für sich. Die Erinnerung entspannte sie und sie gab Roberts Küssen nach.

Wenig später machte er Musik, während sie das Essen auftrug. Sie redeten ganz unverfänglich über die CD- Neuerscheinungen der letzten Woche, Robert bewunderte wie üblich ihren Geschmack und versprach, sich diese oder jene Sängerin einmal genauer anzuhören. Lara wusste ganz genau, dass er das nicht tun würde, freute sich aber über seine Bemühungen, den Rest des Abend angenehm zu gestalten.

Nach dem Essen überraschte er sie mit seiner Frage nach dem Stand der Adoption. Ihr stand der Mund offen.

»Was ist?«, fragte er und wandte sich wieder der Wand mit den Musik-CDs zu.

»Ich wundere mich nur über deine Frage«, stellte Lara perplex fest. Sie biss sich auf die Lippe. Ihre Kinderwunschpläne führten üblicherweise zu schlechter Stimmung.

Robert schob die Hände in die Taschen, ohne sich nach ihr umzusehen. »Du weißt, was ich davon halte.« Er räusperte sich.

»Ich werde nicht kinderlos sterben«, erklärte sie seinem Rücken.

Sag mal, Lara

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