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Exkurs II: Junkie
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Als Junkie [?d???ki] (von engl. junk = Müll, Abfall) wird umgangssprachlich ein Mensch bezeichnet, der im fortgeschrittenen Stadium drogenabhängig ist.
Der Begriff bezeichnet weniger sozial unauffällige Süchtige als vielmehr stark von ihrem Drogenkonsum gezeichnete Süchtige. Das typische Erscheinungsbild eines Junkies ist oft geprägt von starker Gewichtsabnahme, begleitet von allgemeiner Verwahrlosung des äußeren Erscheinungsbildes und der inneren Gefühls- und Gedankenwelt. Eine zusätzliche Belastung erfolgt auch durch Strafverfolgung und Verunreinigung der häufig aus dubioser Quelle bezogenen Drogen, aber auch durch deren psychische und physische Auswirkungen selbst.
Die Beschaffung von Rauschmitteln (zum Beispiel Heroin oder das aus dem Kokain gewonnene Crack) nimmt für einen Junkie oft die höchste Priorität im täglichen Leben ein. Junkies begehen dadurch oft Straftaten (Beschaffungskriminalität) oder prostituieren sich, um ihren Drogenkonsum zu finanzieren. Sucht und Kriminalität haben gravierende Folgen, beispielsweise soziale Entwurzelung; viele Junkies verkehren nur noch in der Drogenszene. Viele Langzeitabhängige leiden unter verschiedenen gesundheitlichen Problemen, dazu gehören Abszesse an Einstichstellen, neurologische Störungen und Infektionen (beispielsweise Hepatitis C oder AIDS). Neben der Infektionsquelle Geschlechtsverkehr (Prostitution) ist auch durch die gemeinsame Nutzung von Spritzen mit anderen Junkies die Übertragung von Infektionskrankheiten möglich.
Jackie Baehr wurde dieses Jahr im Dezember zweiundzwanzig. Danach würde sie endgültig aus dem Programm ausscheiden, daran gab es nichts zu rütteln. Bald könnte sie alles tun, was sie wollte. Zumindest fast alles, denn da war ja noch Jonnie. Aber in zwei oder drei Jahren konnte man den auch schon mal allein lassen.
Momentan störte aber nach wie vor die Alte vom Jugendamt Jackies Träume. Wie ein Bluthund wachte Sabine Kaiser darüber, dass Jackie auch ja keinen Spaß am Leben hatte. Nicht genug, dass sie und Jonnie jeden Montag diese alberne Gruppe besuchen mussten, nein! Einmal im Monat musste Jackie auch noch in ein Röhrchen pinkeln. Wenn die Schweine einen akuten Verdacht hatten, zapften sie ihr sogar Blut ab. Es war echt wie im Mittelalter oder so.
»Wenn du nicht reich bist, behandeln die dich wie einen Sklaven«, hatte Daniel damals schon immer gesagt. Daniel war der heißeste Jonnie-Vater-Anwärter. »Kaum hammse dich aufm Kieker und schon musste innen Röhrchen schiffen.«
Er hatte Recht behalten. Aber Daniel war ja sowieso super intelligent gewesen. Was der alles gelesen hatte! Solschenizyn, Karl Jaspers, Jim Morrison und so. Jackie war sich immer ganz blöd bei ihm vorgekommen, aber er hat sie nie aufgezogen deshalb.
»Bist ja noch jung, Kleine«, hat er immer gesagt und sie in den Arm genommen.
Überhaupt war Daniel so ganz anders als alle Jungs, die Jackie bis dahin kennengelernt hatte. Nicht gerade stark, dafür aber so zärtlich, dass ihr immer ganz anders wurde, wenn er sie berührte. Damals, in der Kurfürstenstraße, haben sie alle Mädels um ihn beneidet. Jeden Abend hat er sie dort abgeholt und zu einem Döner eingeladen. Dabei hat er ihr seine Gedichte vorgelesen und gesagt, sie sei zu gut für die Arbeit, die sie da machte. Aber sie brauchte eben das Geld. Geile, alte Böcke gab es wie Sand am Meer und Jackie war immerhin selbständig.
Das leuchtete Daniel ein. »Echte Künstler gehen auch erst mal durch die Scheiße«, war seine Antwort und Jackie fühlte sich verstanden. »Nur so finden sie die Erleuchtung!«
Später erweiterte Daniel seinen Horizont am liebsten mit Speedball, einer Mischung aus Koks und Heroin. Das Zeug wurde gespritzt, weshalb er es anfangs auch nicht so häufig tun wollte. »Wenn du erst mal auf dem Zeug drauf bist«, hatte er gesagt, »ist alles zu spät, Jack, dann kaschen sie dich und das Spiel ist aus.«
Auch da hatte Daniel Recht behalten. Er war losgezogen, um ihnen beiden einen Schuss zu besorgen, als das Abbruchhaus in der Köpenicker gestürmt wurde. Jackie konnte nicht mehr abhauen, weil sie so sehr was brauchte. Sie brachten sie in eine Entzugsklinik und erklärten ihr hinterher, sie sei schwanger.
Die Kaiser hatte ihr angeboten, das Baby zur Adoption frei zu geben. Aber da Jonnie das Einzige war, das Jackie von Daniel geblieben war, entschied sie sich clean zu bleiben. Und so steckte man sie zusammen mit dem Jungen in ein Mutter-Kind-Programm. Bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag lebte Jackie mit anderen jungen Müttern und deren Kindern auf einer Art Bauernhof in der Lausitz, wo sie alle Frondienst leisten mussten und lernten, wie man Kinder erzieht.
Jonnie war einfach zu erziehen gewesen, er war schon immer ziemlich still. Aber er wuchs von Anfang an nicht richtig. Außerdem war er total oft krank. Die Ärzte führten seine schlechte Konstitution natürlich auf Jackies Drogenkonsum zurück. Angeblich hätte ja auch das Kind den Entzug mitgemacht, hieß es, so ein Esokram von der Jugendamtsfraktion halt.
Daniels Teddyaugen hatte Jonnie leider nicht geerbt. Er hatte typische Baehr-Augen. So leicht hervortretende Murmeln, die in einer Art Hauttasche steckten und wie durch ein Wunder nicht heraus fielen. Wenn Jonnie sie bewegte, zuckte der Hautsack um die Murmeln und das sah dann aus wie bei einem Gecko. Und Geckos fand Jackie unheimlich süß.
Der Grund, aus dem Lara Morgenstern es an diesem Samstag schaffte, bis um acht im Bett zu bleiben, lag auf der Hand. Sie hatte nicht die geringste Lust, den Anruf zu tätigen, der heute anstand. Um ihn weiter hinaus zu zögern, stand sie auf und begann mit ihrer Morgenroutine: Rechner starten, den Kaffeeautomaten einschalten und während die Technik ihre Arbeit verrichtete, duschen. Doch anstatt wie wochentags Emails zu beantworten, verschwand sie mit ihrem Kaffee und nassem Haar im Atelier.
Eines ihrer so genannten Schichtenbilder war inzwischen so weit getrocknet, dass sie weiter daran arbeiten konnte. Alle ihre Werke, darunter auch Plastiken, bestanden aus Schichten. Schichten, die sie zerschnitt, zerwühlte, filigran frei legte oder aus denen sie mit bloßen Händen Stücke herausriss. In Laras sonst so geregelten Leben war ihre Kunst Ausdruck einer wilden Seite, die sie sich nach außen niemals zu leben getraut hätte.
Sie arbeitete mehr als zwei Stunden, als es plötzlich klingelte. Zerzaust und selbst einem ihrer Gemälde ähnelnd, lief sie aus dem Atelier und durch das Wohnzimmer zur Wechselsprechanlage. Unten meldete sich niemand, dafür klopfte jemand an die Tür.
Es war Robert – im Trainingsanzug. »Überraschung!«, jubelte er, küsste sie flüchtig und zog sie ins Schlafzimmer. »Wir müssen uns beeilen, sie glaubt, ich jogge.«
Lara hasste solche Besuche. Sie trugen nur dazu bei, dass er sich hinterher besser, sie sich dafür aber noch einsamer fühlte.
Bei einem seiner letzten Besuche dieser Art – es war an einem Wochentag vor etwa zwei Monaten – hatte er außerdem etwas getan, was Lara nachhaltig erschreckte. Nach vollbrachter Mission eröffnete er pfeifend, er habe den dritten Hinterhof von den Fahrrädern befreit, die sonst immer den Eingang zu Laras Aufgang blockierten.
Lara erinnerte sich, wie ihr unter der Dusche schwarz vor Augen wurde. Sie wollte gar nicht so genau wissen, was Robert getan hatte, fragte aber dennoch, wie genau er das angestellt hatte.
Robert legte ihr fürsorglich ein großes Badetuch um die Schultern, nachdem sie das Wasser in der Dusche abgestellt hatte. Erst dann lachte er unangenehm auf, schnippte mit den Fingern und meinte: »Na einfach so halt«, und ließ seinen rechten Arm durch die Luft segeln.
Durch zehn Minuten Zärtlichkeiten hatte sie sich danach noch quälen müssen, bis er endlich gegangen war und sie sich hinunter in den Hof schleichen konnte. Darauf bedacht, nicht gesehen zu werden, glitt sie leise an der Wand vorbei und spähte mit angehaltenem Atem in die Hofeinfahrt. Es war tatsächlich kein Fahrrad mehr zu sehen. Sie pirschte weiter und schaute um die nächste Ecke. Und da lagen sie. Zu einem Berg gestapelt. Die Tat eines Wahnsinnigen!
Laras Herz war kurz vor einen Stillstand. Schuld an dieser niederträchtigen Rache war doch sie allein! Hatte sie sich nicht bei ihm darüber beschwert, dass Nachbarn und vor allem die Angestellten aus den Büros ihre Fahrräder ohne Sinn und Verstand vor ihrem Eingang abstellten? Ganz so als sei sie überhaupt nicht da? Hatte sie sich nicht darüber so aufgeregt, dass sie schließlich geweint hat?
Mehr mit dieser Erinnerung als mit Robert beschäftigt, brachte sie den Akt hinter sich, den sie heute trotz allem besonders befriedigend empfand. Hinterher schämte sie sich dafür, aber das war nichts Neues. Sie musste bloß noch mal kurz in die Wanne und alles wäre wieder in bester Ordnung.
»Woran denkst du?«. Den nackten Oberkörper auf einen Ellenbogen gestützt, sah Robert sie zärtlich an.
»An nichts«, log sie und wollte aufstehen.
Er hielt sie am Arm fest und zog sie wieder zu sich. »Du hast abgenommen, weißt du das?«
Lara lächelte. »Findest du?«
»Finde ich. Seit der Sache mit den Fahrrädern.«
Konnte er Gedanken lesen? Sie wurde rot.
Er küsste sie sanft. »Leider muss ich jetzt wieder los.«
Sie nickte, schaute geduldig zu, wie er sich anzog.
»Hat dich eigentlich mal jemand auf die Sache angesprochen?«
»Die Sache mit den Rädern? Nein.« Endlich fand sie Gelegenheit, aus dem Bett zu kriechen und ins Bad zu schlüpfen. »Soweit ich weiß, verdächtigen sie den Journalisten aus dem zweiten Stock«, informierte sie ihn auf dem Weg.
»Den Alki?«, Robert lachte gehässig – und verschwand.
Ein Telefon klingelte. Nein, eigentlich war es kein Klingeln, es glich mehr einem Jaulen. Es war als dränge die scharfe Klinge eines Messers in einen Klumpen Watte ein. Und wieder… und wieder… und wieder. In ihrem Kopf klopfte es, die Funken in den geschlossenen Augen tanzten. Ihr war schlecht, der Geschmack im Mund wenig verheißungsvoll. Carla Morgenstern hoffte nur, ihr Kopf möge nicht zerplatzen.
Langsam erhob sie sich, das Gesicht verzerrt wie nach einem schrecklichen Unfall. Hatte sie vergessen, den Anrufbeantworter einzuschalten? Ihr schwindelte und Speichel schoss in ihren trockenen Mund. Wenn sie diese Pfütze hinunterschluckte, musste sie kotzen.
Carla war nackt. Ihr ausgemergelter Körper hing grau und faltig an ihrem Hals, kaum die Kraft wert, sich aufzurichten. Sie tastete nach dem Glas auf ihrem Nachttisch und spie den abgestandenen Speichel hinein. Angewidert beobachtete sie, wie er sich mit dem Rotweinrest vermischte.
Wo war dieser beschissene Hörer? Sie schaute sich blinzelnd um. Ein paar Meter vom Bett entfernt, lag er auf der Erde. Ihr war wirklich hundeelend. Das Karussell in ihrem Magen erreichte gleich seinen Höhepunkt. Wenn es nur nicht aus ihr herausbrach, dann war alles gut. Man musste nur die ersten zehn Minuten des Tages überstehen, den Rest schaffte man dann irgendwie.
Sie glitt vorsichtig zu Boden, wo sie auf allen vieren in die Richtung des Telefonterrors kroch. Ihre knochige rechte Hand mit den langen, gepflegten Fingernägeln, ergriff das Mobilteil. Carla ließ sich seitlich fallen.
»Morgenstern«, raunte sie unfreundlich.
»Hallo Mama«, antwortete es kaum hörbar. Räuspern. Noch ein Räuspern.
»Lara«, stellte Carla fest und verfluchte ihre Stimme. Sie klang wie ein Reibeisen. Die Stimme einer alternden Bardame. Und so kalt, dass es sie selbst fröstelte.
»Ja.«
Stille.
Carla Morgenstern erhob sich langsam vom Boden. Sie wollte sich aufsetzen, aber ihr wurde schwarz vor Augen und sie fiel wieder zurück. Dabei knallte ihr Kopf auf etwas, das am Boden lag. Sie fluchte laut in Italienisch, ihrer Muttersprache.
»Was ist passiert?«
Carla war nicht nach Antworten, sie rollte auf den Bauch und kam mithilfe ihres freien Arms zum sitzen. Sie musste mal.
»Hallo?«
»Ja doch!«, schon wieder so unfreundlich.
Mühsam kam sie auf die Füße. Nur nicht auf den rebellierenden Kreislauf achten, das Vakuum im Kopf ignorieren, den Schmerz unter ihren Zehen… einfach nur aufstellen und tief atmen.
»Mama?«
»Jaja«, sagte Carla nun ein wenig milder, wie sie fand.
Sie versuchte sogar zu lächeln, was aber nicht gelang, als sie einen Blick auf ihren nackten Körper im Spiegel gegenüber erhaschte. Carla hasste Spiegel.
»Mama, was ist nun?«
»Ich habe mir Geld vom Geschäftskonto überwiesen«, antwortete Carla auf dem Weg ins Badezimmer, »mein Auto.« Drüben roch es sauer. Offenbar war sie schon einmal hier gewesen.
»Tatsächlich…«, Laras Stimme klang nicht im geringsten vorwurfsvoll, trotzdem ärgerte sich Carla.
»Es ist auch mein Geld«, schnappte sie gereizt. Wenn sie sich ärgerte, hörte man auch heute noch ihren italienischen Akzent. Sie mochte das.
Dann setzte sie ihren nackten Körper auf die Toilette, wo sie in aller Ruhe ihre Blase entleerte. Ja, das hasste ihre Tochter! Und Carla grinste verschlagen.
»Mama«, Lara sprach nicht weiter. Man konnte ihre Scham aus dem Hörer kriechen sehen.
Ganz das Verhalten der Morgensterns, dachte Carla verächtlich und sah ihre Schwiegermutter Lieselotte vor sich. Groß, hager, fast burschikos, lange schmale Finger, honigfarbenes, wassergewelltes Haar, blaue Augen – eine typische Preußin, penibel zurecht gemacht und von allem Menschlichen peinlich berührt. Lara mochte etwa vier mal Lottes Umfang haben, aber diese Art der Morgensterns, die konnte sie nicht wegessen.
»Ja bitte?«, näselte Carla theatralisch und zog den Abzug, »wie meinen?«, dann lachte sie scharf, doch als sie daran war, den Hörer an den Nachlauf zu halten, tat es ihr plötzlich leid so schäbig zu sein.
»Ach Scheiße, Lara, entschuldige«, hastig rannte sie aus dem Bad hinaus auf den Korridor. »Ich brauche neue Reifen für den Winter, muss zur Inspektion, das Übliche halt.«
»Schon, Mama, es ist nur…«, wieder brach sie ab.
»Was ist?«, Carla köchelte schon wieder. Wieso konnte sie nicht einmal mit ihrem eigenen Kind reden ohne sich dermaßen aufzuregen? Ihre Familie würde sich ihrer schämen.
Lara seufzte und nahm ein paar Mal tief Luft. »Na ja, es wäre schön gewesen, wenn du mir vorher Bescheid gegeben hättest, das ist alles.«
Jetzt ärgerte sie sich noch mehr. »Es ist auch mein Geld, Lara! Erinnerst du dich? Der Typ, der damals den Unfall hatte… du warst, glaube ich, dabei« - eine bittere Pause, »Rudolf Morgenstern, das war mein Mann! Alles klar?«
»Ja, ich habe überlebt, schon klar«, Laras Stimme versagte.
Carla spürte einen Stich im Herzen. Eigentlich war das einer der Sätze, den sie endgültig aus ihrem Repertoire streichen wollte. Aber in Situationen wie dieser, konnte sie meist nicht anders. Sie brauchte ihre ganze Kraft, Lara nicht offen die Schuld an seinem Unfall zu geben. Hätte die dumme Kuh nicht dringend Eislaufen müssen, dann wäre das alles niemals passiert. Aber wie sagte ihr Therapeut so schön? Das Kind kann nichts dafür, der Vater ist einem Tier ausgewichen und mit hoher Geschwindigkeit gegen einen Brückenpfeiler gedonnert. Er war sofort tot. Das Kind hatten sie retten können.
Carla schluckte schwer. Ihr Herz brannte noch immer, wenn sie daran dachte, es tat weh – auch jetzt noch, nach neunundzwanzig Jahren.
Aus dem Telefonhörer in ihrer Hand tönte das Besetztzeichen, neben ihrem Herzen das einzige Geräusch, das sie in diesem Moment wahrnahm. Die Frage war nicht, wie lange sie das noch aushielt, die Frage war, wozu sie es tat. Nicht, dass Lara sich selbst und ihre Bedürfnisse jemals vor die eines anderen Menschen gestellt hätte – bestimmt nicht – aber sie merkte ganz tief drinnen, dass etwas nicht stimmte. Ganz kurz nach dem letzten Mal, als sie merkte, dass etwas nicht stimmte, fand sie sich in einer Klinik wieder. Man hatte sie ruhig gestellt und an ein Bett gebunden. Ihre Freundin Renate erzählte ihr später, sie habe wild um sich geschlagen, und nicht mehr aufgehört zu weinen. Renate und Lotte Morgenstern seien deshalb zu dem Entschluss gekommen, es sei besser den Notarzt zu verständigen. Die damals zehnjährige Lara durfte ganze vier Monate nicht mehr nach Hause.
Es war nicht auszudenken, was geschah, wenn ihr das heutzutage passierte! Mit dem Gewicht in der Öffentlichkeit zusammenzubrechen und weinend um sich zu schlagen, machte vielleicht eine Ruhigstellung, aber sicher keinen Abtransport möglich.
Es hatte geklingelt. Schon dreimal. Ganz mechanisch drückte Lara den Türöffner. Sie wartete in der offenen Tür, aber es kam niemand. Sie wollte schon nach unten laufen und nachsehen, wer es war, als jemand unverschämt gegen eine Tür im hinteren Bereich der Loft hämmerte.
Das Klopfen kam vom Lieferanteneingang, der den Lagerteil ihres Ateliers mit dem zweiten Aufgang verband. Der zweite Aufgang besaß einen Lastenaufzug. Es gab nur einen einzigen Menschen, der sie immer wieder zwan,g ihn dort einzulassen, wahrscheinlich weil er zu faul war die letzten fünf Meter in den dritten Hof zu laufen: Der Postbote.
Sie rannte hinüber. »Wie oft muss ich Ihnen eigentlich noch sagen, sie sollen den dritten Hinterhof benutzen?« brüllte sie außer sich vor Abneigung. Sie hasste diesen Briefträger wirklich. Er war ein ungehobeltes Stück Dreck.
»Bost!«, schallte die Antwort hinter der verschlossenen und dreifach gestärkten Tür. »Einschreibe.«
Gott, was für ein Blödmann! Wie lange lebte er denn nun schon in Deutschland, dass er die einfachsten Begriffe nicht richtig aussprach… Bost… so ein Unsinn!
Wenn sie niemanden beim zweiten Eingang erwartete – also ungefähr 360 Tage im Jahr – war er aufgrund des immer geringer werdenden Lagerplatzes im Atelier auch nicht so einfach zugänglich. Lara hatte Mühe, die großen Leinwände aus dem Weg zu räumen, die meisten davon musste sie hinüber in den Werkstattteil schleppen. Sie hätte den Postboten am liebsten erschlagen.
Fünf Minuten später hatte sie endlich genug Platz geschaffen, die schwere Tür zu öffnen. Der ungehobelte Klotz war inzwischen schon wieder verschwunden. Seine Schritte klangen von ganz unten.
»Hallo!?«, brüllte Lara. Sie war außer sich. Ganz sicher würde sie ihm nicht nachrennen.
»Bost!«, rief der Idiot wieder.
»Sie haben doch gehört, dass ich die Tür aufmache, oder?«
Lara schaute vorn bei der Treppe die Flucht hinunter. »Was ist nun?«
»Einschreibe«, rief seine raue Stimme.
Lara hörte einen gehässigen Unterton. Dieses Arschloch erwartete doch tatsächlich, dass sie zu ihm hinunter lief!
»Okay, ich gebe bei Post ab, Frau Lara.«, schallte es jetzt und er lief weiter.
»Sie werden mir jetzt auf der Stelle die Post hier herauf bringen!«
»Eine schäne Tag noch, Frau Lara!«. Unten fiel das Tor ins Schloss.
Lara nahm all ihre Beherrschung zusammen und schritt aufrecht die Treppen hinunter. Im zweiten Hof stellte sie den viel zu klein geratenen, in gelb gekleideten Schwarzen. Er grinste blöd und legte dabei weiße, makellose Zähne frei.
»Diesmal kommen Sie nicht so einfach davon«, schnaubte sie wütend. »Ich werde meinem Freund von Ihren Unverschämtheiten erzählen. Machen sie sich auf etwas gefasst!« Wütend riss sie ihm Stift und Block aus der Hand und quittierte für das Einschreiben. Es war vom Jugendamt Pankow. Ihr Herz setzte für eine Millisekunde aus.
Der Postbote lächelte jetzt nicht mehr. Er verrenkte sich und blickte hinter Laras massige Gestalt. Als er dort niemanden erblickte, sah er erst Lara, dann den Umschlag an. Nun grinste er wieder. »Schäner Tag noch, Frau Lara.« Dann tänzelte er leichtfüßig davon.
Lara fasste sich nach einigen Minuten tiefen Atmens. Der Brief in ihrer Hand war scheinbar schwerer geworden. Ganz langsam öffnete sie ihn auf dem Rückweg zum Lasteneingang. Wie Sabine Kaiser es ihr vor einigen Tagen voraus gesagt hatte, enthielt das Schreiben den positiven Bescheid ihres Adoptionsantrages.
Der Weg zu Fuß von der Hufelandstraße über die Danziger hinüber zur Scher-Straße dauerte etwa eine Viertelstunde. Wenn man schnell ging oder gar lief, zehn Minuten. Nur zehn Minuten für die Reise zwischen zwei Welten. Die eine reich an Farben, blühenden Pflanzen, die üppig von neu angebauten Balkons herunterwucherten. Die andere – jenseits der dicht befahrenen Danziger Straße – das Grau in Grau größtenteils frustrierter Existenzen.
Jackie machte sich gerne vor, das Überqueren der Danziger als eine Art Erlösung zu erleben. Schließlich hatte sie drüben ihre halbe Kindheit verbracht. Zumindest bis zu dem Tag, an dem ihr Säufervater Jackie und ihre Mutter halb tot geschlagen hatte. Es war so schlimm, dass er dafür sogar verurteilt worden war und für fünf Jahre in den Bau wanderte. Als sie wieder auf den Beinen war, kündigte ihre Mutter die Wohnung in der Scher-Straße, die nur wenige Häuserblocks von Jackies jetziger Unterkunft entfernt lag. Die Tussi von der Fürsorge hatte ihnen was in Mitte organisiert. Nach sechs Monaten ist die Alte abgehauen. Jackie hat sie da gelassen.
Eins wusste Jackie genau, ihre Sache würde sie besser machen, auch wenn es manchmal schwer fiel. Gerade heute, wo Jonnie wieder einmal ganz besonders trödelte. Er hüpfte wie ein hirnamputierter Hase hinter ihr her, in den Händen irgendwelches Mädchenzeug, das er – wo auch sonst – bei der Dicken gebastelt oder gemalt, ausgeschnitten oder sonstwie zusammengefriemelt hatte.
»Sag mal, kannst du auch mal Sachen machen, die Jungs in deinem Alter machen?«, Jackies kleine Stimme überschlug sich gleich zu Anfang.
»Was machen denn Jungs in meinem Alter, Mama?«, fragte er debil.
Sie hatten endlich die Danziger Straße erreicht und Jackie stapfte viel zu schnell für Jonas über die breite Straße. Auf dem Mittelstreifen wartete sie ungeduldig. Als er endlich an ihrer Seite war, war die Ampel zur anderen Straßenseite wieder auf rot gesprungen. »Nenn mich nicht Mama!«, blaffte sie, »wie oft soll ich dir das noch sagen?«
Jonas antwortete nicht. Er sah nur bockig zu Boden.
Das regte Jackie so auf, dass sie hinzufügte: »Die Dicke wird erst Ruhe geben, wenn du schwul geworden bist.«
Jonas hatte nicht die geringste Ahnung, was das jetzt nun wieder heißen sollte. Er zog die Mundwinkel noch weiter nach unten und studierte angestrengt den Boden vor seinen Füßen, wo jemand eine Hummel tot getreten hatte. Der Junge versuchte sich ganz auf die feuchte Stelle um den Insektenkadaver herum zu konzentrieren, wo sich die Strahlen der tief stehenden Nachmittagssonne brachen. So viel Flüssigkeit speicherte also eine Hummel… so viel…
Er wurde unsanft am Arm gepackt und gerüttelt. »Hast du gehört, Jonnie?«, Jackies Stimmchen glich dem Klagelaut eines Spatzes.
Jonas war jetzt ganz schön wütend geworden. Nicht nur, dass Jackie Lara schon wieder die Dicke nannte, obwohl er sie doch gebeten hatte, das zu lassen, nein, jetzt tat sie ihm auch schon wieder weh und kam mit ihrem Gesicht so bedrohlich nah an seines! Jonas mochte seine Mutter, aber er fand auch, ihr Mund rieche nach Aschenbecher, vor allem, wenn sie ihn so anschrie.
Jetzt wusste er jedenfalls gar nicht genau, ob er weinen oder schreien sollte. Mit einem heftigen Ruck befreite er seinen Arm, kreischte: »Nenn mich nicht Jonnie!«, und nahm die Beine in die Hand.
Bremsen quietschten, Autofenster wurden heruntergelassen, Schimpfwörter gebrüllt und um ein Haar wäre ein Kleinlaster in ein Cabrio mit Hamburger Kennzeichen gebrettert. Jonas erreichte unbeschadet die gegenüberliegende Seite. Er hörte wie jemand »Ey, du Schlampe, kannst du nicht auf dein scheiß Balg aufpassen?«, rief.
»Ach fick dich doch!«, entgegnete die Stimme seiner Mutter. Dann hörte er ihre kurzen, schnellen Schritte hinter sich und lief nach Hause.
Laras älteste Freundin, Renate Schrödermann, stand etwa sechs oder sieben Schritte vor einer riesigen Leinwand. Auf den ersten Blick zeigte sie nichts weiter als in unzähligen Schichten aufgetragene Ölfarbe in Braun- und Orangetönen. Erst aus einiger Entfernung erschloss sich dem aufmerksamen Betrachter ein Gebilde, das sich konzentrisch von innen nach außen wiederholte. Typisch für einen Morgenstern, von denen es außerhalb des Ateliers der Künstlerin nur wenige gab.
Eine der Begünstigten war Renate, eine gut fünfzigjährige, hochgewachsene Frau, deren langes rotes Haar inzwischen gefärbt war. Es unterstrich ihre ganzjährig dürftig gebräunte Haut mit den Abermillionen Sommersprossen, die sich in beliebiger Abfolge über ihren gesamten Körper ausschütteten. Das Gesicht war spitz und kantig, die schrägen Augen bernsteinfarben und wie die Blätter einer Taglilie über eine nicht ganz unerhebliche Nase gemalt, deren Spitze den Amorbogen ihrer üppigen Oberlippe bedeckte. Ihren Mund hatte Renate in diesem Moment ebenso wie die meiste Zeit ihres Lebens zu einem breiten Lächeln verzogen. Es war ein Lächeln, das Laras Mutter als eine in die Haut gebrannte Banane beschrieb, die Renates gut verdienender Schönheitschirurg mit Silikonlippen versäubert habe. Lara liebte dieses Lächeln, wenn auch die Geschichte mit der Banane nicht ganz von der Hand zu weisen war. Woran Renates Schönheitschirurg definitiv gut verdient hatte, war ihre Oberweite. In ihrer Jugend eher flach geraten, hatte sie inzwischen ein opulentes Dekolletee zu bieten, das sich auch heute wieder üppig unter der cremefarbenen Chanelbluse wölbte. Die Art wie Renate dieses Schmuckstück über einer schmal geschnittenen schwarzen Designerjeans trug, würde wohl so mancher jüngeren Frau Tränen des Neides in die Augen treiben.
»Das hätte deiner Großmutter gefallen!«, stellte die Rothaarige schließlich theatralisch fest und stöckelte noch ein paar weitere Schritte nach hinten. Zur Betonung ihres Satzes vollführte sie dort eine große Geste, indem sie die Arme so weit ausbreitete, dass ihre Bluse spannte.
Lara lächelte und schaute Renate zu, wie die sich mit einem Taschentuch die Augen tupfte.
»Wirklich Süße, sie hätte es geliebt!«
Es kam nicht häufig vor, dass jemand Laras Werke in Zusammenhang mit ihrer Person sah. Die Situation war ihr etwas peinlich. »Möchtest du was trinken?«, fragte sie und bewegte sich ohne eine Antwort abzuwarten Richtung Wohnzimmer.
Renate folgte ihr. »Wenn du es nicht tust, dann werde ich für dich bei Carolina anrufen, hörst du?«
»Bei deiner Lieblingsgaleristin?«, fragte Lara lächelnd und goss ihrer Freundin Wodka über Eis. »Zitrone?«
Renate rollte die Augen. »Ich meine es ernst!«. Sie nahm den Wodka ohne Zitrone und brachte ihn auf die Terrasse hinaus.
Lara folgte ihr mit Martini und einer Schüssel Oliven. »Warm für September findest du nicht?«
»Die Königin der Ablenkung!« Renate lachte zu laut und ließ sich in einen der beiden Liegestühle fallen. Du hast abgenommen, hat dir das schon mal jemand gesagt?«
Lara stellte Oliven und Martini ab und zupfte nervös an ihrem Kleid. Sie hatte es erst letzte Woche neu gekauft und gehofft, jemandem würden die zehn verlorenen Kilos auffallen, wenn sie es trug. »Nur Robert«, antwortete sie leise.
»Aha, Robert also!«. Auf Robert reagierte Renate ambivalent. »Apropos, wie läuft es eigentlich mit deinen Babyplänen?«
Ein breites Lächeln verschönerte Laras Miene. Sie ließ sich auf dem zweiten Stuhl nieder. »Dass du das gerade erwähnst… stell dir vor, gestern habe ich meine offizielle Adoptionserlaubnis bekommen!«
»Liebes Kind, wenn du Sex hast, musst du doch nicht adoptieren!« Sie schüttelte ihre rote Mähne.
Lara spürte wie ihr Gesicht sich in der gleichen Farbe färbte. »Robert möchte keine Kinder«, erklärte sie knapp. Zum hundertsten Mal ärgerte sie sich über die Leichtsinnigkeit, ausgerechnet Renate von Robert erzählt zu haben. Am liebsten würde sie ihr sagen, sie habe sich den Mann nur ausgedacht, damit dieses Thema endlich vom Tisch war.
Wie vermutet ließ ihre Freundin nicht locker. »Muss er ja nicht, er soll nur spenden und auf Wiedersehen!«. Mit dem Glas in der Hand machte sie eine wegwerfende Bewegung.
Renate wartete eine Weile auf Antwort. Als keine mehr zu erwarten war, stand sie seufzend auf und stöckelte mit ihrem Wodka ins Atelier zurück. Dort zog Renate sich einen Stuhl heran, um das Gemälde noch eingehender zu betrachten.
Der Eindruck einer übergroßen weiblichen Figur, die in sich weitere, schmaler werdende Frauen barg, bestätigte sich auch beim zweiten Hinsehen. War das nicht zu traurig?