Читать книгу Auf der Suche nach sich selbst weiterlaufen, einfach weiterlaufen - Jasmina Marks - Страница 7

Niaviatiagia

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Wie ein Strich, der in die Unendlichkeit führt, lag diese asphaltierte Straße vor mir. Kerzengerade verlor sie sich ohne eine Biegung in der Ferne. Verwundert schaute ich mich um. Ich hockte mitten auf diesem dunklen Grau und starrte entlang der weißen Mittellinie von einer Seite zur anderen. Was war das nur für ein sonderbares Geschehen?

Die Straße war wie ein scharfer Schnitt in dieser merkwürdigen Umgebung, dieser so gravierend geteilten Welt. Links von ihr war eine verdorrte Wüste. Roter Sand reichte soweit, wie man sehen konnte. Vertrocknete Sträucher, die schon seit langem keinen Tropfen Wasser mehr gesehen haben mussten, standen hier und da mit bizarr in die Luft stakenden, blätterlosen Zweigen. Vereinzelt lagen schwarze Steine um scharfkantige Felsbrocken herum, dorniges Gestrüpp wurde von einem sausenden Wind davon gefegt, deutliche Spuren im Sand hinterlassend. Eine Einöde, die schlimmer nicht sein konnte. Kein Laut außer dem unbehaglichen Brausen war zu hören und kein Lebewesen schien in diesem Teil zu existieren.

Gegenüber davon, eigentlich völlig unmöglich, lag eine mit Blumen übersäte Wiese. Schmetterlinge flatterten von Blüte zu Blüte. Obwohl es einer Phantasie entsprungen zu sein schien, lag am Rande ein herrlicher See, der von großen Bergen malerisch umrahmt wurde, welche sich auf der glasklaren Oberfläche widerspiegelten. Die Gipfel waren mit Schnee bedeckt und hoch oben zogen Adler ihre erhabenen Runden. Hasen hoppelten spielerisch über die Wiese und alles schien in ergreifende Friedlichkeit getaucht. Der Himmel war von tiefem Blau und das gesamte Bild dieser Schöpfung idyllischen Lebens schillerte in satten Farben. Eingetaucht von hellem Sonnenlicht, das Wärme ausstrahlte, war diese Welt ergreifend schön.

Langsam hatte ich mich erhoben und verharrte noch immer mitten auf dieser Straße. Wie ich dort hingekommen war, vermochte ich nicht zu sagen. Aber ich stand dort und wusste nicht, was ich tun sollte. Sehnsüchtigen Blickes wand ich mich dem See zu, wollte eintauchen in dieses traumhafte Etwas, das sich mir darbot. Ganz tief in meinem Innern war ich mir sicher, dass ich dort hingehörte, mit meinem Herzen und meiner Seele.

Jener Gewissheit folgend drehte ich mich in die Richtung des Sees. Doch dann plötzlich zerrte etwas an mir. Entsetzt drehte ich meinen Kopf, aber ich konnte niemanden sehen. Dennoch zog es an mir, umklammerte mich so gewaltsam und unvermittelt, dass mir der Atem stockte. Ich war nicht in der Lage, dagegen anzukämpfen. Der sausende Wind stob mir Sand in die Augen und hart fiel ich zu Boden. Das stachelige Gestrüpp streifte mich und es war, als zwänge es mich in die ausgetrocknete Einöde. Die dornigen Zweige schoben mich auf den groben Sand und enttäuscht blieb ich sitzen, verbarg mein Gesicht unter den Händen und weinte bitterliche Tränen. Eisige Fesseln legten sich um mein Inneres und Entsetzen forderte das Loslassen von dem so unbändig in mir aufgeflammten Wunsch, über die schöne Wiese schreiten zu dürfen.

Ich wollte mich nicht wirklich geschlagen geben, doch die Gewalt des herrschenden Windes, der mit den Armen des Buschwerks an mir festhielt, strafte jeglichen Versuch, zu entkommen mit noch härterem Griff. Mir schien keine andere Wahl zu bleiben, das unsichtbare Irgendwas, das mich hierher gezerrt hatte, war stärker, war mächtiger. Wie konnte ich etwas bekämpfen, das ich nicht sehen konnte, dessen Größe oder Kraft mir verborgen blieb?

Völlig unvermittelt griffen Hände nach mir, starke Hände die trotzdem nicht schmerzten. Entgeistert öffnete ich meine Augen. Absolut ungläubig starrte ich auf die Gestalten vor mir, die ich deutlich sehen konnte. Der stürmische Wind hatte sich mit ihrem Auftauchen schlagartig gelegt. Singende und tanzende Indianer standen da, lächelten mich an und halfen mir auf.

Vollkommen überrascht ließ ich es geschehen. Ich hatte überhaupt keine Angst vor ihnen. Warum auch immer, ich konnte es nicht benennen, aber sie schienen mir seltsam vertraut. Als ich auf unsicheren Beinen dastand, nahmen sie mich in ihre Mitte und geleiteten mich so zurück zur Straße. Ein stattlicher Mann, mit riesigem Federschmuck auf seinem Kopf sprach zu mir. Er sagte, dass ich dort nicht hingehöre und er und sein Volk beschlossen hatten, mich zu sich zu holen, weil ich doch ohnehin eine von ihnen sei.

Ich schüttelte den Kopf und antwortete ihm, dass das nicht sein könne, ich würde sie noch nicht einmal kennen. Er legte seinen Kopf in den Nacken und lachte lauthals los. Mit einer kleinen Geste bedeutete er den anderen, mich an den Händen zu nehmen und über die Straße zu führen. Sie gingen mit mir in ihrer Mitte über die herrlich duftende Wiese bis ans Ufer des Sees. Im weißen Sand ließen sie mich los und vor mir stand ein Name geschrieben, den ich nur mühsam entziffern konnte: „Niaviatiagia“. Ich fragte, wer das sei und als wäre diese Frage überflüssig, antwortete man mir: „Aber, Kind, das bist doch du!“

Fassungslos starrte ich auf die am Ufer entlang gezogene Schrift, konnte nicht glauben, konnte nicht erfassen, was da vor sich gegangen war. Folgte wieder und wieder mit meinen Augen dem Verlauf der fein geschwungenen Lettern, die diesen fast unaussprechlichen Namen bildeten. Ich saß im Sand und war wie gefesselt. Allmählich begann ich zu fühlen, dass ich wohl von nun an eine andere sein würde.

Wenn auch nicht wie, so war mir doch eines klar: Ich hatte ein Zuhause und eines Tages würde ich die sein, für die man mich hier hielt, weil es die war, die in meinem tiefsten Innern längst wohnte, die aber nie hatte raus dürfen! Hier hatte man mich erkannt und war bereit, mich als eben jene anzunehmen. Hier wollte man nicht zulassen, dass ich weiterhin verkümmerte.

Fast mein ganzes Leben habe ich mich danach gesehnt, dass es Menschen geben würde, die mich als diejenige lieben konnten, die ich war; die bereit sein würden, auch für mich einzustehen. Menschen, die mich mochten, gerade weil ich so war, wie ich in meinem tiefsten Innern fühlte; die mich auch gar nicht anders würden haben wollen, als mich im ureigensten Selbst!


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