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Der kleine Rebell

Nach unzähligen weiteren Ungerechtigkeiten, vielen ungelösten Problemen und tiefer Frustration hatte ich kurz vor meinem elften Geburtstag eine Art Nervenzusammenbruch. Ich weinte nur noch und erklärte meiner Mutter, dass ich nicht mehr leben wolle, wenn ich nur noch einmal in diese Schule zurückgehen müsste. Meine Eltern nahmen diese Äußerung sehr ernst. Trotzdem durfte ich aber nur einen einzigen Tag daheimbleiben und ließ mich nur mit gutem Zureden umstimmen, nachdem mir meine Mutter versichert hatte, dass sie mich in die Schule begleiten und mit meiner Lehrerin reden würde. Sie würde ihr von meinem ungeheuerlichen Leidensdruck erzählen, den wahrscheinlich niemand, schon gar nicht meine Lehrerin, abschätzen konnte.

Als meine Mutter gegangen war, schaute die Lehrerin mich streng an. Ich spürte in dem Moment ganz tief in mir: Diese Frau mag mich nicht. Und vor der ganzen Klasse sagte sie, meine Mutter sei böse, so kam es bei mir an. Ich fühlte mich gedemütigt und splitterfasernackt vor der ganzen Klasse – meine Seele schrie. In ihrem Verhalten mir und meiner Mutter gegenüber bestärkte sie die Ungerechtigkeiten, die meine Mitschüler mir gegenüber all die Jahre gezeigt hatten. Und da kam er: der Moment, als ich zum kleinen Rebell wurde.

Ich stand auf, alle schauten mich an, ich blickte zur Tür und rannte los. Rannte so schnell meine kleinen Beine mich trugen und so schnell, wie ich nie zuvor gerannt war. Mein Gesicht war nass von meinen Tränen und mein einziger Gedanke war: «Dahin geh ich nie mehr zurück!»

Ich wollte nicht mehr existieren, war absolut zerstört. Ich wollte nicht mehr da sein; weder in der Schule, noch sonst wo. Mit Sorge bemerkten meine Eltern zu genau dieser Zeit, wie ich, der Kleine, Schüchterne auch daheim begann, meine Geschwister zu ärgern, um meine innere Unzufriedenheit an ihnen rauszulassen. Es folgten Abklärungen und Gespräche mit einem Arzt, dem Schulpsychologen, meinen Eltern und der Lehrerin. Als es wieder eskalierte und die Situation irreparabel geworden war, wurde ich kurzfristig freigestellt: drei Monate vor dem Übertritt in die Oberstufe.

Um zwischenzeitlich nicht noch eine andere Klasse besuchen zu müssen, bis alle Abklärungen getroffen waren, entschieden sich meine Eltern für ein Beschäftigungsprogramm zuhause; ich verbrachte viel Zeit draußen in der Natur, mit unseren Tieren, freute mich aufs Trainieren im Circus Basilisk, wo man mich so nahm und genauso schätzte, wie ich war, und spielte stundenlang am Tag Playmobil. Mit meinen Figuren zusammen konnte ich mir eine eigene Welt aufbauen – in dieser Fantasiewelt fühlte ich mich aufgehoben und geborgen. Da war keine Lehrerin, die mich bis ins Innerste traf, da waren keine Mitschüler, die mich mobbten oder verprügelten, weil ich eine beste Freundin anstelle eines besten Freundes hatte. Hier in dieser Fantasiewelt war ich in Ordnung. Ich schätzte diese Wochen daheim sehr und kämpfte mich Schritt für Schritt wieder nach oben – und zu mir selbst. Ohne Einflüsse von außen.

Casting für Ovomaltine

Zur selben Zeit rief eine Sachbearbeiterin von Ovomaltine beim Circus Basilisk an, auf der Suche nach einem Jungen, der einen Salto machen konnte. Die Zuständige vom Jugendzirkus schlug zwei Jungs vor – einer davon war ich. Das war gerade in der Zeit, als es mir so richtig schlecht ging. Ich hatte null Selbstbewusstsein und hätte vor der Kamera stehen und etwas aufführen sollen, wofür mich meine Mitschüler ständig ausgelacht hatten. Nur schon die Tatsache, dass ich überhaupt die Chance bekam, meinen Salto vorzuzeigen, erfüllte mich mit einer unglaublichen Freude. Fremde Menschen wollten etwas von mir sehen, das ich gut konnte.

Ich machte es. Zusammen mit meinem Vater fuhren wir ins Tessin, wo das Casting stattfand, und sie waren mit meiner Leistung zufrieden. Sie waren mit meiner Leistung tatsächlich zufrieden! Da war jemand außerhalb meiner Familie, der anerkannte, was ich konnte. Und ich bekam den Auftrag.

Klar war das eigentlich nur ein kleiner Erfolg, aber für mich bedeutete dies immens mehr. Ich war innerlich so froh, glücklich und dankbar. Nicht nur für mich, sondern in erster Linie für meine Eltern. Sie hatten durch mich in der vergangenen Zeit so viel Ärger und Leid gehabt, hatten sich so sehr für mich eingesetzt, mich unterstützt und angenommen, obwohl ich anscheinend so anders war als andere Jungs. Und doch hatten sie durch all die Probleme und Anfechtungen hindurch immer an mich geglaubt.

Dieser Salto bei Ovomaltine war ein kleiner Teilerfolg, durch den ich ihnen beweisen konnte: Ich kann das. Ich kann mit meiner Liebe zur Akrobatik einen kleinen Erfolg haben. Und ich verdiente durch dieses Casting sogar mein erstes Taschengeld. Die Ovomaltinewerbung wurde daraufhin im Fernsehen ausgestrahlt und man sah mich etwa eine hundertstel Sekunde lang auf dem Bildschirm. Man musste mich fast suchen – trotzdem war ich sehr stolz darüber.

Traumfänger

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