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Kapitel 1

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1947

Dottore Bastiano Serra sah die blasse, übernächtigt wirkende Frau freundlich an, sodass sie sofort Vertrauen zu ihm fasste.

>>Warum bringen Sie Ihre Tochter zu uns, Signora? fragte er leise.<<

>>Weil ich einfach nicht mehr mit ihr fertig werde<<, antwortete Kamile Lombardo. >>Velia ist verschlossen, aufsässig, ständig gereizt und mitunter aggressiv. Manchmal fürchte ich mich richtig vor ihr.<<

>>Ist sie nur zu Ihnen verhaltensauffällig oder auch zu ihrem Vater?<<

Die Signora öffnete ihre Handtasche, nahm ein Spitzentaschentuch heraus und tupfte es demonstrativ an ihre Nase. >>Mein Mann ist im Zweiten Weltkrieg gefallen<<, sagte sie mit tränenerstickter Stimme.

>>Das tut mir leid. Womöglich ist Ihre Velia nicht über seinen Tod hinweggekommen.<<

>>Ach was, andere Kinder müssen auch ohne Vater aufwachsen. Sie war schon immer etwas sonderbar. Eben kein normales Kind. Sie hängt noch immer an ihrem Teddy, obwohl sie längst kein Kleinkind mehr ist. Sie spricht mit ihm, und er antwortet ihr sogar. Ich weiß nicht, wie sie das mit ihrer Stimme macht.<<

>>Kinder haben oft eine starke Verbindung zu ihrem Lieblingsstofftier oder einer Puppe.<<

>>Ich weiß, aber mit vierzehn? Andererseits verhält sie sich wie eine Erwachsene. Zeigt sich schamlos in der Öffentlichkeit gegenüber Jungen und Männern. Ich wollte das zuerst gar nicht glauben, bis ich es mit eigenen Augen gesehen habe. Irgendetwas ist in ihrem Kopf nicht in Ordnung.<<

>>Nun, wir werden uns selbst einen Eindruck darüber verschaffen. Haben Sie sie mitgebracht?<<

>>Ja, Velia wartet draußen.<<

>>Dann holen Sie sie bitte jetzt herein.<<

Kurz darauf kam die Signora mit einem sehr schlanken, hochgewachsenen Mädchen an der Hand zurück.

>>Buongiorno, ich bin Dottore Serra, und du bist Velia, nicht wahr?<<

Das verschüchterte Mädchen nickte nur und wagte kaum den Blick zu heben. Ihre langen, dunklen Haare waren im Nacken zusammengebunden und wurden von einer dunkelblauen Schleife gehalten.

>>Antworte, wenn der Dottore mit dir spricht.<<

>>Ja, ich bin Velia. Buongiorno<<, kam es kaum hörbar aus ihrem Mund.

>>Wir werden dich für eine Weile hierbehalten und herausfinden, was dir fehlt.<<

>>Nein, das will ich nicht. Hier ist es gar nicht schön.<<

>>Du musst dich erst etwas eingewöhnen. Das geht schneller als du denkst<<, sagte der Arzt.

>>Jetzt stell dich nicht so an. So wie es jetzt ist, kann es jedenfalls nicht weitergehen. Hier, nimm deinen Teddy! Dann fühlst du dich nicht so allein.<<

>>Bitte, mamma, nimm mich wieder mit. Ich werde auch ganz brav sein und dir keinen Kummer mehr machen.<<

>>Nein, du bleibst hier. Und damit basta.<<

Signora Lombardo konnte gar nicht so schnell reagieren, wie Velia ihr ins Gesicht spuckte.

>>Sehen Sie, was dieses schlimme Kind sich erlaubt? Sie hat nicht einmal Respekt vor der eigenen Mutter.<<

Dottore Serra nahm den Telefonhörer, wählte eine Ziffer und sprach leise hinein. Kurz darauf erschienen zwei Pfleger in weißer Kleidung und packten Velia jeder an einem Arm.

>>Komm, wir bringen dich auf dein Zimmer<<, sagte der eine. >>Da kannst du dich etwas ausruhen.<<

Velia sträubte sich mit Händen und Füßen und schrie verzweifelt nach ihrer Mutter, doch diese schaute zur Seite und kümmerte sich nicht darum.

>>Am Anfang wollen sie es alle nicht wahrhaben<<, meinte der Dottore. >>Das gibt sich aber nach einiger Zeit.<<

>>Das will ich hoffen. Ich muss für meinen Lebensunterhalt sorgen und kann mich nicht um ein krankes Kind kümmern.<<

>>Hier ist Ihre Tochter gut aufgehoben. Es wird ihr bestimmt bald wieder besser gehen. Und Sie haben schon Schlimmeres überstanden, Signora. Den Weltkrieg und den Verlust Ihres Mannes.<<

>>Wem sagen Sie das? Also, Sie halten mich auf dem Laufenden, ja?<<

>>Selbstverständlich, Signora.<<

Als Signora Kamile Lombardo den Raum verlassen hatte, trug Dottore Serra in das Aufnahmeformular eine erste Diagnose ein:

„Vierzehnjähriges Mädchen, womöglich leicht unterernährt. Depressiv mit aggressiven Ausbrüchen. Gestörtes Verhältnis zur Mutter. Leicht schizophrene Anzeichen (spricht mit ihrem Teddy und gibt sich Antwort mit verstellter Stimme). Aufnahme in die Abteilung für ruhige Patienten, wenn sich ihr Zustand nicht bessert, Verlegung in die Abteilung für unruhige Patienten. Muss gründlich untersucht und beobachtet werden.“

Velia wurde in ein Zimmer mit acht weißen Metallbetten gebracht. Auch die Zimmer nebenan waren ebenso ausgestattet, wie Velia beim Vorbeigehen erkannte. Die breiten Fenster, durch die helles Sonnenlicht fiel, wiesen Metallgitter auf, durch die man allenfalls eine Hand stecken konnte. Aus dem Körper des jungen Mädchens schien alle Kraft gewichen zu sein. Leise vor sich hin weinend, ergab es sich seinem Schicksal.

Das Verhalten der anderen Patientinnen war sehr unterschiedlich. Manche nahmen keine Notiz von Velia. Andere starrten sie unverhohlen an. Eine junge Frau, die Velia im Nebenzimmer aufgefallen war, weil sie von ihrer Bettkante aus interessiert das Geschehen beobachtet hatte, stand plötzlich in der Tür und kam zu Velia herüber.

>>Ciao, ich bin Gianna. Jetzt hör schon auf zu weinen. Es ist ja alles gar nicht so schlimm. Du musst nur immer schön das tun, was sie von dir wollen. Wir sind hier in der Abteilung der ruhigen Patienten, weißt du. Da sind die Türen nicht abgeschlossen. Und am Tage kann man in den Garten gehen zum Spazierengehen. Da gibt es auch Bänke aus Stein und sogar einen Spielplatz. Aber dafür bist du ja schon ein bisschen zu groß, oder?<<

>>Ich weiß nicht. Was stehen denn da für Spielgeräte?<<

>>Eine Rutsche, eine Wippe und ein kleines Karussell, das sich dreht.<<

>>Das wird Babo sicher gefallen.<<

>>Dir nicht? Und wer ist Babo? Dein Bruder?<<

>>Nein, das ist mein Teddy. Er ist mein bester Freund. Viel besser als ein Bruder. Er ist immer lieb zu mir, schimpft nie und lügt mich nicht an.<<

>>Das haben Stofftiere so an sich<<, lächelte Gianna.

>>Ja, aber er ist viel mehr als das. Er hört mir zu, wenn ich Kummer habe, und gibt mir gute Ratschläge.<<

>>Du meinst, er spricht zu dir?<<

Velia nickte heftig.

>>Das behältst du besser für dich. Solche Sachen hört man hier nicht so gerne.<<

>>Wenn es doch wahr ist. Soll ich lügen?<<

>>Nicht lügen, aber auch nicht alles erzählen. Damit man es nicht gegen dich verwenden kann.<<

>>Verstehe ich nicht. Es schadet doch keinem, wenn Babo sich mit mir unterhält.<<

>>Sicher nicht, doch manche werden das als Bestätigung ansehen, dass du ein bisschen verrückt bist. Ich glaube das nicht, aber vielleicht die Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern.<<

>>Sind die nett? Die beiden Männer, die mich hergebracht haben, sahen nicht sehr freundlich aus.<<

>>Jeder hat eben so seine eigene Art. Die meisten meinen es gut, aber es gibt auch welche, vor denen man sich in Acht nehmen muss. Bosco gehört dazu. Das ist der Blonde, Bullige, der dich aufs Bett gedrückt hat. Seine Hände sind überall. Auch da, wo es dir bestimmt nicht gefällt. Und Aleandro, ein Kleiner, Dunkler mit Bart. Den hast du noch nicht kennengelernt, dem sitzt die Hand ziemlich locker. Der schlägt schnell mal zu, wenn ihm etwas nicht passt. Bei den Schwestern gibt es wahre Engel, aber auch eine, die alle nur den General nennen. So eine blonde Walküre mit Pranken wie ein Mann.<<

>>Und wie sind die Ärzte so? Muss man sich vor denen auch fürchten? Dottore Serra machte eigentlich einen recht sanften Eindruck.<<

>>Der hat die Aufnahme bei dir gemacht? Ja, der ist nett und sanft wie ein Lamm. Dottore Marchetti ist auch ganz in Ordnung, wenn auch nicht so sanft wie Dottore Serra. Aber am Schlimmsten ist Dottore Gallo. Der kennt kein Erbarmen und schert sich nicht darum, wenn es wehtut. Er hat so einen unheimlichen Blick. Man könnte glatt meinen, er sei einmal hier Patient gewesen. Aber das behältst du für dich, hörst du? Ich will keinen Ärger kriegen. Auf jeden Fall bin ich für dich da, wenn du mich mal brauchst. Du erinnerst mich an meine kleine Schwester. Die ist viel zu früh verstorben. Manchmal kann ich sie noch sehen oder riechen. Aber pst …!<<

>>Was denkst du denn von mir? Glaubst du, ich plaudere aus, was du mir erzählst?<<

>>So gut kenne ich dich schließlich noch nicht. Und Vertrauen muss langsam wachsen. Das geht nicht von jetzt auf gleich.<<

>>Ich weiß, ich bin auch schon oft enttäuscht worden. Manche Menschen sind so falsch …<<

Heute

Kiara Martinelli versuchte sich beim Frühstück am nächsten Morgen nichts anmerken zu lassen. Sie fühlte sich wie gerädert, als hätte sie überhaupt keinen Schlaf bekommen, aber da die Kinder nichts sagten, nahm sie an, der nächtliche Besuch der unheimlichen Schattenfrau habe nur ihr gegolten.

>>Wann kommt babbo eigentlich wieder?<<, fragte Perla.

>>Übermorgen, auch wenn du noch so oft fragst.<<

>>Sei doch nicht gleich böse, mammina. Ich habe nur solche Sehnsucht. Warum muss papà so oft weg sein?<<

>>Auch das haben wir dir immer wieder und wieder erklärt. Dein Vater ist ein erfolgreicher Immobilienmakler, der überall in Italien Objekte anbietet. Wenn es Interessenten gibt, muss er sich vor Ort mit ihnen treffen, um ihnen eine Besichtigung der Häuser und Villen oder Wohnungen zu ermöglichen.<<

>>Ja, und ohne diesen Aufwand würde der Rubel nicht rollen<<, bemerkte Aldo altklug. >>Schließlich sollen der kleinen principessa all ihre Wünsche erfüllt werden.<<

>>Das hört sich an, als ob du neidisch bist<<, sagte Perla. >>Wer hat denn babbo gelöchert, unbedingt in diese seltsame Stadt zu ziehen? Nur weil hier angeblich Vampire hausen sollen.<<

>>Die Twilight Saga ist nach einem Roman verfilmt worden, tesoro. Und Romane haben mit der Wirklichkeit selten etwas zu tun.<<

>>Da hörst du‘s. Ich habe jedenfalls nicht erwartet, hier auf echte Vampire zu treffen. Da finde ich die alten verfallenen Gebäude des ehemaligen Ospedale Psichiatrico di Volterra viel gruseliger.<<

>>Um die du einen großen Bogen machen wirst, wenn du mit mir keinen Ärger bekommen willst<<, sagte Kiara.

>>Pah, ich muss da gar nicht persönlich hingehen. Im Internet findet man jede Menge Material, einschließlich virtuellem Rundgang. Und es gibt sogar ein Computerspiel, das dort angesiedelt ist. „The Town of Light“ heißt es.<<

>>Das ist ein Spiel für Erwachsene und nicht für Kinder. Lass dich nicht dabei erwischen, dass du dir das kaufst<<, meinte Kiara böse.

>>Dio mio, ich werde nicht gleich vor Schreck in Ohnmacht fallen. Meine Klassenkameraden haben es schon gespielt und fanden es ziemlich öde.<<

>>Wir haben uns verstanden. Sonst wird dein Vater mit dir ein ernstes Wort reden.<<

>>Sei friedlich, mammina. Das ist wie Geschichtsunterricht. Menschen haben sich im Laufe der Jahrhunderte ganz andere schlimme Dinge untereinander angetan. Während der Kriege und zu Zeiten der Hexenverfolgung zum Beispiel.<<

>>Was ist denn mit dem Spiel? Warum sollen Kinder das nicht sehen?<<, fragte Perla.

>>Es werden da Dinge gezeigt, die Kindern Albträume bereiten können. Früher, als es noch keine Psychopharmaka gab, wurden verhaltensauffällige Menschen schnell für verrückt erklärt und einfach weggesperrt. Man hat Experimente mit ihnen veranstaltet oder sie einfach vor sich hin vegetieren lassen. Das änderte sich erst 1978, als der italienische Staat das „Legge centottanta“ erließ, ein Gesetz zur Schließung der schlimmsten psychiatrischen Anstalten. Zuvor hatten der Psychiater Franco Basaglia und viele seiner Kollegen Jahrelang für ein solches Gesetz gekämpft. Wegen der unerträglichen Missstände in den geschlossenen Anstalten oder psychiatrischen Krankenhäusern, die mehr wie Hochsicherheitstrakte oder Gefängnisse geführt wurden.<<

>>Und was hat man mit den Menschen gemacht, außer sich nicht um sie zu kümmern?<<, hakte Perla nach.

>>Das willst du gar nicht wissen, cara. Später, wenn du älter bist, kannst du das alles nachlesen. Und wenn ich später sage, meine ich später, Aldo. Nicht dass du auf die Idee kommst, deiner Schwester im Internet etwas darüber zu zeigen.<<

>>Packt sie nur weiter in Watte. Je eher sie weiß, wie Menschen wirklich sind, desto besser. Aber keine Sorge, ich werde sie nicht darauf stoßen. Was sie hingegen selbst macht …?<<

>>Nein, Perla, hör nicht darauf, was dein Bruder sagt. Mädchen sind empfindsamer, und deine kleine Seele soll keinen Schaden erleiden.<<

>>Ist gut, mammina. Ich höre auf dich und forsche nicht weiter nach.<<

Am Abend meldete sich Delano aus Rom. Er kannte seine Frau so gut, dass er sofort merkte, dass etwas nicht stimmte.

>>Cara mia, wie geht es dir? Du klingst so traurig. Ist mit den Kindern alles in Ordnung?<<

>>Ja, mit denen schon … Ach, ich habe letzte Nacht furchtbar geschlafen. Mir kam es vor, als sei noch jemand im Haus.<<

>>Alte Häuser weisen bestimmte Merkmale auf. Kein Wunder, wenn man bedenkt, wer dort schon alles gelebt hat und was darin schon alles passiert ist. Da knarrt und knackt es. Man hört es wispern oder pfeifen. Das ist mitunter etwas unheimlich, aber nicht bedrohlich.<<

>>Ich weiß nicht, ob es eine so gute Idee war hierherzuziehen.<<

>>Wir haben das zusammen entschieden, amore. Vergiss das nicht. Ich habe es auf mich genommen, jedes Mal eine Stunde bis zum Flughafen in Pisa zu brauchen. Aber wer kann schon von sich sagen, in einer mittelalterlichen Stadt zu wohnen, die jedes Jahr von Tausenden Touristen besucht wird? Und unser Haus liegt ganz ruhig, im Garten gibt es Olivenbäume und sogar eine eigene Kapelle. Viele beneiden uns um dieses Domizil.<<

>>Ich weiß, aber trotzdem ...<<

>>Was ist denn passiert? Wollte jemand ins Haus eindringen?<<

>>Ja, und es ist ihm, oder besser ihr, auch gelungen. Ich habe eine fremde, ältere Frau in meinem Schlafzimmer gesehen.<<

>>Du hast geträumt, amore.<<

>>Eben nicht … Ach, ich wusste schon, warum ich dir das eigentlich nicht erzählen wollte.<<

>>Übermorgen bin ich ja wieder da, tesoro. Und dann machen wir der Alten gemeinsam den Garaus. Einverstanden?<<

>>Was bleibt mir anderes übrig. Aber lach du nur. Das wird dir bestimmt noch vergehen.<<

>>Jetzt mach mal einen Punkt. Dich hat ein Schatten erschreckt. Wenn das alles ist? So etwas kann immer mal vorkommen. Aber deshalb gleich alles in Frage zu stellen?<<

>>Ich sehe schon, bei dir finde ich kein Verständnis. Wie läuft es in Roma?<<

>>Schwierig. Die Herrschaften sind sehr anspruchsvoll. Bisher hatten sie an jeder Wohnung etwas auszusetzen. Aber morgen spiele ich noch meinen letzten Trumpf aus. Wenn es dann nicht klappt, können sie mich mal. Also, schlaf gut! Vielleicht solltest du eine Tablette nehmen.<<

>>Ja, vielleicht sollte ich ...<<

>>Ciao, amore. Ma ti voglio bene, tesoro.<<

Velia saß weinend auf einer der Steinbänke im Garten, als Gianna sie fand.

>>Du weinst ja schon wieder. Oder immer noch?<<, sagte sie beinahe streng, aber ihr Lächeln zeigte, dass sie es nicht so meinte.

>>Es ist alles so furchtbar. Man hat mich endlos untersucht und mir peinliche Fragen gestellt. Und der Zahnarzt hat mir sehr weh getan. Und dann habe ich dich an zwei Tagen in deinem Zimmer gesucht, aber du warst nicht da. Ich dachte schon, sie haben dich verlegt oder entlassen.<<

>>Glaubst du, ich wäre einfach so gegangen, ohne mich von dir zu verabschieden? Nein, ich habe auch einige Untersuchungen über mich ergehen lassen müssen.<<

>>Und dann hat man mir auch noch Babo weggenommen. Sie sagen, ich sei zu alt, um ein derart intensives Verhältnis zu einem Kuscheltier zu haben. Dabei haben wir immer gemeinsam so schöne Lieder gesungen.<<

>>Ich weiß auch ein paar Kinderlieder. Kennst du das hier? „Aus dem Wald, aus dem Wald ruft der Kuckuck ...<<

>>Ja das ist schön. Aus dem Wald, aus dem Wald ruft der Kuckuck. Cuculino, cuculo. Cuculino, cuculo.<<

Eine Bank weiter saßen zwei Frauen, eine junge und eine ältere.

>>Du, das ist doch die Kleine aus unserem Zimmer. Mit wem spricht sie denn da?<<

>>Ich weiß nicht<<, meinte die Ältere. >>Hach, und jetzt singt sie auch noch. Für Kinderlieder ist sie schon ein paar Jahre zu alt.<<

>>Vor der müssen wir uns in Acht nehmen. Die scheint wirklich eine Schraube locker zu haben.<<

Velia ging es gleich etwas besser nach dem Duett mit Gianna. Das war unübersehbar.

>>Na, siehst du. Jetzt sehen deine Augen gleich nicht mehr so traurig aus. Weißt du, das war hier einmal ein viel schönerer Ort. Man hat die Anstalt schon 1888 als Krankenhausstation für “Verrückte” gegründet. In dem ehemaligen Armenhaus des damaligen San Girolamo Klosters. Im 20. Jahrhundert wurde es dann unter der Leitung von Dr. Luigi Scabia vergrößert und zur Psychiatrischen Anstalt umbenannt Zusätzlich zu dem Krankenhaus wurden Geschäfte, verschiedene Services wie eine Wäscherei und eine Schneiderei eröffnet. Es wurden auch Stoffe hergestellt und sogar Seidenraupen gezüchtet. Es gab ein Ziegelwerk und sogar einen gerichtlichen Bereich. Ziel war es, ein unabhängiges Dorf zu bauen, wo die Patienten sich frei fühlen können. Man wollte eine Parallelwelt aufbauen. Alles, was es draußen gab, wollten sie auch drinnen machen, um die Patienten irgendwann aus dem Krankenhaus entlassen und in die Gesellschaft integrieren zu können. Aber das ist alles lange her. Nachdem Scabia 1934 verstarb, bekam das Krankenhaus immer wieder eine neue Leitung.<<

>>Und wo war dieser gerichtliche Bereich? Weißt du das?<<

>>Ja, im Charcot Pavillon. Genauer gesagt, war es ein "Zweig" des wichtigsten Justizministeriums Ferri. Der Charcot Pavillon wurde 1927 erbaut. Im Keller gab es den Orange Room. Da war was los. Der wurde auch für Veranstaltungen und Tanzpartys von Patienten und Krankenhauspersonal gemeinsam genutzt.. Der sogenannte "Karneval der Madman - Karneval dei pazzi" war berühmt. Organisiert von Dottore Scabia und Anlass zum Jubeln für die Patienten.<<

>>Da wäre ich gern dabei gewesen<<, sagte Velia.

>>Ja, ich auch. Doch das ist lange vorbei. Der Krieg hat alles verändert. Und mit der Überbelegung fingen die schlimmen Zustände an. Ist dir schon mal aufgefallen, dass es nur zwanzig Waschbecken gibt? Die müssen sich zweihundert Patienten teilen. Die Gesamtzahl der Patienten muss inzwischen in die Tausende gehen. Und man munkelt hinter vorgehaltener Hand: „Wer nach Volterra geht, kommt nie wieder.“<<

Velia fing wieder an zu weinen. Die Aussicht, für immer dort bleiben zu müssen, erschütterte sie zutiefst.

>>Oh, entschuldige. Ich bin eine dumme Kuh<<, sagte Gianna. >>Ich wollte dir keine Angst machen.<<

>>Warum bist du eigentlich hier?<<

>>Sie sagen, ich hätte mein neugeborenes Kind getötet. Nur habe ich überhaupt keine Erinnerung daran. Etwas so Schreckliches müsste mir doch im Gedächtnis geblieben sein, nicht wahr?<<

Velia wusste nicht, was sie sagen sollte. >>Und wie lange bist du hier schon eingesperrt?<<, rang sie sich schließlich ab.

>>Das müssen schon einige Jährchen sein. Ich weiß gar nicht mehr, wie lange genau. Dabei bin ich alle Abteilungen durchwandert. Von der geschlossenen, über die mittlere, bis zu der für die leichteren Fälle, in der wir jetzt beide sind. Ich halte das für ein gutes Zeichen. Vielleicht komme ich ja doch mal raus. Auf jeden Fall habe ich gelernt, ihnen zu sagen, was sie hören wollen. Eine Strategie, die ich dir auch empfehle. Was wirklich in dir vorgeht, behalte für dich. Das geht keinen etwas an. Und vor allem kann man es nicht gegen dich verwenden.<<

>>Ich habe mamma geschrieben, dass es mir leid tut, ein böses Mädchen gewesen zu sein. Ob ich wohl jemals Antwort bekomme?<<

>>Darauf hoffe lieber nicht. Wo hast du denn den Brief hingebracht?<<

>>In die Poststelle.<<

>>Dann hättest du ihn auch gleich in den Papierkorb werfen können. Man liest, legt ihn zu den Akten, leitet ihn aber nicht weiter. Kontakte nach draußen sind hier unerwünscht. Aber jetzt Schluss mit den trüben Gedanken! Komm, wir gehen ein bisschen rüber zum Schaukeln!<<

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