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Kapitel 2

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Kiara Martinelli wollte noch etwas einkaufen gehen, bevor Delano von seiner Reise zurückkam. Die letzten zwei Nächte waren ruhig verlaufen. Der Spuk hatte sich zum Glück nicht wiederholt, deshalb war sie etwas entspannter. Doch das sollte nicht von langer Dauer sein.

Ausnahmsweise hatte sie einmal nicht selbst gebacken, sondern wollte ihre Familie mit den Köstlichkeiten aus der Dolceria del Corso, einer Bäckerei und Konditorei, die nur wenige Minuten mit dem Auto entfernt lag. 1984 gegründet, war es das älteste Geschäft der Stadt und genoss einen guten Ruf weit über Volterra hinaus. Kiara wurde wie immer äußerst liebenswürdig bedient, umso ahnungsloser war sie, was anschließend geschah.

Normalerweise kaufte sie ihre Lebensmittel im Conad City, einem etwa weiter entfernten, großen Supermarkt, der die größte Auswahl bot und mit dem Auto schnell zu erreichen war. An diesem Tag wollte sie mal etwas Neues ausprobieren. In der Hoffnung ganz besondere Spezialitäten zu entdecken.

Zuerst steuerte sie das Lebensmittelgeschäft Toscanamente Cacioteca an, das in einer alten Gasse lag und im Internet gute Kritiken bekommen hatte. Doch als sie den Laden betrat, schlug ihr eine Welle von Ablehnung, ja geradezu Feindseligkeit entgegen. Die wenigen vorhandenen Kundinnen beäugten sie misstrauisch und wandten sich dann schnell ab. Das muss ich mir nicht antun, dachte Kiara und ging gleich wieder.

Im nächsten Laden, der die geringste Entfernung zu ihrem Haus hatte, lag er doch am Borgo San Lazzaro, von dem auch „ihre“ Straße, die Viale dei Filosofi, abging, wurde es noch schlimmer. Man sah sie nicht nur argwöhnisch und feindselig an, sondern weigerte sich strikt, sie zu bedienen. Eine Ungeheuerlichkeit, für die Kiara keine Erklärung fand. In ihrem Ärger dachte sie, dass wohl nicht nur die Stadt mittelalterlich war, sondern auch ihre Bewohner.

Um sich ein drittes Debakel zu ersparen, fuhr sie wieder zum Conad City. Und dort sollte sie endlich eine Erklärung für das Drama finden. Wenn ihr diese auch nicht sonderlich behagte. Eine Frau, die sie vom Sehen kannte, sprach sie an.

>>Bongiorno! Signora Martinelli.<<

>>Bongiorno! Sie kennen mich?<<

>>Ja, unsere Töchter gehen doch gemeinsam in die Scuola Primaria "San Lino". Wir haben uns schon öfter gesehen. Ich bin Eluana Fontana. Erinnern Sie sich?<<

>>Ja natürlich, entschuldigen Sie, aber ich bin etwas durcheinander. Mir ist nämlich gerade etwas schier Unglaubliches passiert.<<

>>Hat man Sie angegriffen oder verbal beleidigt?<<

>>Schlimmer. Man hat mich mit Verachtung gestraft und sich schlicht geweigert, mich zu bedienen. Ich wollte mal andere Lebensmittelgeschäfte ausprobieren. Doch das ist mir nun gründlich vergangen. Ich finde keine Erklärung für das Verhalten der Menschen. Mir schlug geradezu Hass entgegen.<<

>>Wundert Sie das wirklich? Mi scusi, wenn ich das sage, aber einfach strukturierte Menschen reagieren auf Dinge, die ihnen fremd oder unheimlich sind, ängstlich und ablehnend.<<

>>Aber was habe ich denn um Himmels willen verbrochen?<<

>>Es ist die Tatsache, dass Sie in das verfluchte Haus gezogen sind. Jemand, der das tut, muss mit dem Teufel im Bunde sein, denkt man. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich gebe nicht meine Meinung wieder, sondern die der anderen.<<

>>Aber ich habe keine Ahnung. Was ist mit dem Haus?<<, fragte Kiara entsetzt.

>>An Ihrer Reaktion sehe ich, dass Sie wirklich ahnungslos sind. Sollte Sie Ihr Gatte darüber im Unklaren gelassen haben?<<

>>Aber ganz bestimmt. Delano würde mir so etwas nicht antun. Da bin ich ganz sicher. Er muss ebenso keine Ahnung haben.<<

>>Um es vereinfacht zu sagen: Man nennt es allgemein nur das Mordhaus, weil darin mehre Morde begangen wurden. Es hat nicht umsonst Jahre, wenn nicht Jahrzehnte leer gestanden. Nachts will man darin unheimliche Geräusche und aus der kleinen Kapelle seltsame Gesänge vernommen haben.<<

>>Das ist schon deshalb unmöglich, weil die Kapelle nur noch als Abstellraum dient. Einen Altar oder Bänke sucht man darin vergeblich. Ich persönlich bedauere das sehr und bin wild entschlossen, meinen Mann dazu zu bewegen, sie wieder in den Urzustand zu versetzen.<<

>>Das sollten Sie sich gründlich überlegen. Nicht dass Sie damit noch etwas heraufbeschwören. Und gehört oder erlebt haben Sie noch nichts?<<

>>Nein, nie<<, log Kiara, um nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen.

>>Seltsam. Man spricht von Kinderweinen oder schattenhaften Gestalten. So etwas wäre Ihnen doch nicht verborgen geblieben.<<

>>Eben. Allerdings muss ich zugeben, dass mein Mann und ich sehr realistisch eingestellt sind. Die Welt des Übernatürlichen ist nicht so unser Fall.<<

>>Verstehe. Uns geht es ähnlich. Allerdings hört man immer wieder von Dingen, die sich dem normalen Verstand entziehen. Dieser Ort ist ja ohnehin belastet durch die damaligen Hexenprozesse und diese unsägliche Irrenanstalt, in der die Menschen wie Vieh gehalten worden sein sollen und entsetzlich gequält.<<

>>Da berühren Sie einen wunden Punkt. Unser Sohn mit seinen vierzehn Jahren ist ganz verrückt nach diesen Geschichten. Wir haben ihm ausdrücklich verboten, das Gelände zu betreten.<<

>>Das dürfte unnötig sein. Ein Teil der Anstalt ist ja vor zwei Jahren wiedereröffnet worden und dementsprechend gut abgesichert.<<

>>Da bin ich aber erleichtert. Jungen in dem Alter sind hoffnungslos abenteuerlich. Mädchen sind da zum Glück anders.<<

>>Ihre Perla ist wirklich ganz entzückend. Und sie hat auch noch nichts gehört oder gesehen in Ihrem Haus? Meiner Elisabeta hat sie jedenfalls noch nichts davon erzählt.<<

>>Uns auch nicht. Ich meine, Kinder behalten gern mal etwas für sich, aber wenn sie sich ängstigen, dürfte das anders sein.<<

>>Das denke ich auch. Also, Signora Martinelli. Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Zukunft, und dass Sie Ihre Entscheidung, das Haus zu kaufen, nicht bereuen.<<

>>Das hoffe ich auch, Signora Fontana.<<

Kiara gab sich alle Mühe, ihren Redebedarf so lange zurückzuhalten, bis die Kinder im Bett waren. Noch dazu war Delano bester Laune, weil er in Rom doch noch einen erfolgreichen Geschäftsabschluss getätigt hatte. Als entspannt ein Glas Wein genossen, brach es schließlich aus Kiara heraus.

>>Hast du wirklich nicht gewusst, in was für ein Haus wir einziehen?<<

>>Wovon sprichst du? Hattest du erneut Besuch von Schattenwesen?<<

>>Zum Glück nicht, aber ich bin heute Spießruten gelaufen. Man hat mich wie eine Verbrecherin behandelt und sich schlicht geweigert, mich beim Kaufmann zu bedienen.<<

>>Und was hat das mit dem Haus zu tun?<<

>>Bist du wirklich so ahnungslos, oder tust du nur so? Das wird hier das Mordhaus genannt. Und wer es hier aushält muss mit dem Teufel im Bunde sein.<<

>>Verschone mich bitte mit irgendwelchem Dorfklatsch.<<

>>Ganz so einfach ist die Sache nicht. Man will auch unheimliche Geräusche, Gesänge aus der Kapelle, Kinderweinen gehört und Schattenwesen gesehen haben. Seltsam, nicht? Auch ich habe im Keller ein Kind weinen gehört, und die Geschichte mit der Schattenfrau kennst du ja.<<

>>Hast du die gesehen, bevor du von der angeblichen Geschichte des Hauses erfahren hast?<<

>>Ja, du Ignorant. Ich sage doch, man hat mich erst heute darüber aufgeklärt. Die Mutter einer Schulkameradin von Perla.<<

>>Weibergewäsch, nichts weiter.<<

>>Und warum hat dann das Haus jahrelang oder gar jahrzehntelang leer gestanden?<<

>>Weiß ich doch nicht. Um es zu modernisieren, muss man es ja betreten haben.<<

>>Und wie hast du überhaupt davon erfahren? Durch ein Inserat, oder was?<<

>>Durch einen Kollegen. Er sprach von einem Schnäppchen und hat recht behalten.<<

>>Das kann man so oder so sehen. Es muss doch einen Grund geben, warum es niemand sonst haben wollte.<<

>>Dio mio, es kommt immer wieder vor, dass Häuser lange leer stehen. Aus welchen Gründen auch immer.<<

>>Aber die Morde hat er dir verschwiegen?<<

>>Kunden gegenüber ist er nur verpflichtet, die Vorkommnisse der letzten fünf Jahre zu nennen. Wenn das Haus aber schon angeblich jahrzehntelang leer stand … Außerdem habe ich es nicht vom Makler oder einem privaten Eigentümer, sondern von der Gemeinde gekauft.<<

>>Aha. Und die ist natürlich daran interessiert, das Objekt loszuwerden. Egal, was darin geschehen ist.<<

>>Jetzt sei doch bitte nicht hysterisch. Bis jetzt ist überhaupt nicht bewiesen, dass hier jemals etwas geschehen ist. Du greifst lediglich auf Klatsch und Tratsch zurück.<<

>>Aber man müsste doch irgendwelche Unterlagen darüber finden, Zeitungsberichte oder was auch immer.<<

>>Und dann? Selbst wenn es hier einen oder mehrere Morde gab, was heißt das schon? Das passiert in anderen Häusern oder auch Wohnungen auch, ohne dass es anschließend dort zwangsläufig spukt. Ich sehe schon, du suchst krampfhaft eine Erklärung für deine Sinneswahrnehmung, die ich lediglich für einen Traum halte, wenn du es genau wissen willst.<<

>>Wie wunderbar, wenn einem der eigene Ehemann nicht glaubt oder für plemplem hält. Weis mich doch gleich in die psychiatrische Anstalt ein. Die soll wieder eröffnet worden sein.<<

>>Ich bin nicht bereit, mich auf diesem Niveau weiter mit dir zu unterhalten. Ich gehe jetzt schlafen, und morgen wirst du dich hoffentlich beruhigt haben. Buona notte!<<

Kiara kamen vor Enttäuschung und Wut die Tränen. Warte nur, bis dir die Frau erscheint, dachte sie. Dann reden wir weiter.

Velia freute sich an jenem Morgen, als sie mit den anderen Patientinnen in den Wasch- und Duschraum geführt wurde. Dass das in Begleitung zweier Pfleger geschah, nahm sie arglos hin, denn sie ahnte noch nicht, dass damit ihr Martyrium den Anfang nehmen sollte.

Nachdem sie ausgiebig geduscht und das warme Wasser auf ihrer Haut genossen hatte, kam der bullige Bosco zu ihr herüber.

>>Wird das heute noch was?<<, fragte er. >>Die anderen sind längst fertig. Nur gnädiges Fräulein kann nicht genug bekommen.<<

>>Ja, ich bin gleich fertig.<<

>>Wahrscheinlich hat sie heute Nacht eingepisst<<, meinte der dunkelhaarige Aleandro.

>>Nein, das habe ich nicht.<<

>>Und warum schrubbst du dann da unten so lange herum?<<

>>Dumme Frage, weil es ihr schöne Gefühle macht. Das weiß sie ganz genau<<, mischte sich Bosco ein. >>Wann hast du denn erfahren, dass das da zwischen deinen Beinen nicht nur zum Pipi machen da ist?<<

>>Das weiß ich schon lange. Mamma hat mir erklärt, da kommen die Babys raus.<<

>>Ja, aber wie die da reinkommen, das weißt du nicht, oder?<<

Velia schüttelte verschämt den Kopf.

>>Das werden wir dir jetzt mal zeigen<<, meinte Aleandro. >>Ich bringe schnell die anderen zurück und komme dann wieder. Aber lass mir noch etwas von ihr übrig, Bosco.<<

Velia wurde stocksteif, als der bullige Mann seine dicken Pranken nach ihr ausstreckte. Nackt, wie sie war, suchte sie ihr Heil in der Flucht, rutschte aber auf den nassen Fliesen aus und schlug lang hin. Im selben Moment war schon Bosco über ihr.

>>Nein, ich will das nicht<<, schrie Velia, aber der Pfleger hielt ihr den Mund zu. Dann kam er mit seinem massigen Kopf ganz nah an ihr Ohr, sodass sie seinen übel riechenden Atem wahrnahm. >>Wenn du schön still hältst, tut es gar nicht weh. Im Gegenteil, es wird dir sogar Spaß machen.<<

Velia war wie von Sinnen und leistete erbitterte Gegenwehr, doch gegen den brutalen Mann hatte sie keine Chance. Alles was sie tun konnte, war zu strampeln und sich hin und her zu wälzen. Das ging eine ganze Weile so und schien Bosco sogar zu gefallen. Da kam Aleandro zurück.

>>Weit scheinst du ja nicht gerade gekommen zu sein bei ihr<<, meinte er.

>>Das kleine Biest wehrt sich mit Händen und Füßen. Aber sie weiß nicht, dass ich das besonders mag. Nichts ist schlimmer, als wenn die Weiber mit breiten Beinen da liegen. Sozusagen mit offener Wunde.<<

>>Dann werden wir die Sache jetzt mal etwas abkürzen, bevor man uns oben vermisst<<, sagte Aleandro. >>Ich halte sie fest, während du dich vergnügst. Aber anschließend tauschen wir, damit das klar ist.<<

>>Der Gedanke, dass ich vorher bei ihr drin war, gefällt dir wohl, du kleine Drecksau?<<

>>Wenn du‘s genau wissen willst, ja. Ich mag es nicht, wenn es zu trocken ist. Außerdem ist es beinahe so, als würde ich dich vögeln.<<

>>Das könnte dir so passen. Ich hätte ja gesagt, du kannst mir derweil die Zunge hinten reinstecken, aber so gelenkig, die Kleine dabei festzuhalten bist du denn doch nicht.<<

Velia ertrug die Schmach fast gleichmütig. Sie zog sich ganz in ihre eigene Welt zurück, als die Männer nacheinander über sie herfielen. Es hatte auch nur im ersten Moment wehgetan. Aber Boscos Versprechen, dass es ihr gefallen würde, war eine Lüge. Wenn das immer so wäre, würde sie sich niemals einem Mann freiwillig hingeben, dachte sie. Sie fand die ganze Angelegenheit ziemlich widerlich und konnte nicht begreifen, dass sich Frauen dazu hergaben. Ganz in schönen Erinnerungen versunken, liefen ihr nur still die Tränen übers Gesicht.

Kiara war noch eine Weile im Wohnraum sitzen geblieben und hatte dann zum Telefon gegriffen, um ihre Schwester anzurufen.

>>Hallo, Süße. Das ist ja eine Überraschung<<, sagte Vincenza, die von allen nur Vina genannt wurde und zwei Jahre jünger als Kiara war. >>Ich dachte, du hättest heute Abend Besseres zu tun, wo doch der Holde aus Roma zurückgekehrt ist.<<

>>Von mir aus hätte er ruhig dableiben können.<<

>>Oh, oh, habt ihr euch gestritten?<<

>>Ach, er versteht mich einfach nicht. Er glaubt, er hätte uns das Paradies auf Erden beschert, dabei ist es die Hölle.<<

>>Was ist denn passiert? Erzähle mal ganz von vorne.<<

Kiara berichtete über die Vorkommnisse im Haus, was sie beim Kaufmann erlebt und im Supermarkt erfahren hatte.

>>Irre, ich wollte schon immer mal in einem Spukhaus leben<<, meinte Vina.

>>Ist das alles, das du dazu zu sagen hast?<<

>>Nein, natürlich nicht. Mi scusi. Ich kann nachvollziehen, wie du dich gefühlt hast, als du gemobbt wurdest. So etwas möchte man nicht wirklich erleben. Und zu der Erscheinung in deinem Schlafzimmer: Bist du sicher, dass es ganz bestimmt kein Traum war?<<

>>Das vermutet Delano auch. Aber ich konnte sie riechen. Sie stank nach Moder und Verwesung.<<

>>Huh, wie gruselig. Denkst du, der Geist hat etwas mit den angeblichen Morden zu tun?<<

>>Was weiß ich. Möglich wäre es doch, dass die Frau deshalb keine Ruhe findet. Und die Kinder könnten ihre sein. Ich muss unbedingt herausfinden, was hier vor langer Zeit passiert ist. Nur wie, weiß ich noch nicht. Die Gemeinde, die das Haus endlich los ist, wird sich hüten, mir darüber Auskunft zu geben.<<

>>Einen Versuch ist es doch wert, oder? Frag doch mal in der Verwaltung nach.<<

>>Delano kriegt einen Koller. Ich höre ihn jetzt schon sagen, ich machte ihn und uns unmöglich.<<

>>Das hat er umsonst. Tatsache ist doch, dass er ständig auf Reisen ist. Und du musst mit den Leuten und ihrem Tratsch auskommen. Du könntest auch in einem Zeitungsarchiv nachforschen. Bei mehreren Morden muss darüber berichtet worden sein.<<

>>Stimmt. Aber ein Archiv gibt es hier bestimmt nicht. Wir haben ja nicht einmal eine richtige Tageszeitung. Wahrscheinlich müsste ich nach Pisa oder noch weiter fahren.<<

>>Was hältst du davon, wenn ich dich begleite?<<

>>Das würdest du tun? Oh, Vina ...<<

>>In drei Tagen fängt ohnehin mein dreiwöchiger Urlaub an. Und außer mit dem Wagen irgendwohin zu fahren, ist mir noch nichts Richtiges eingefallen. Ich habe sogar daran gedacht, zu Euch zu kommen. Aber ich wusste nicht, ob es Delano recht ist.<<

>>Jetzt mach ihn nicht schlimmer als er ist. Er freut sich bestimmt, dich zu sehen. Und die Kinder erst ...<<

>>Ich könnte aber auch mit dem Zug kommen. Das dauert nur eine Stunde länger als mit dem Auto. Also gut drei Stunden. Wir könnten dann deinen Wagen nehmen.<<

>>So machen wir‘s. Ich hole dich dann vom Bahnhof ab. Sag mir rechtzeitig Bescheid, wann du ankommst.<<

>>Nein, ich liebe es, stundenlang auf Vorstadtbahnhöfen zu warten … War ein Witz<<, fügte Vina hinzu, als es am anderen Ende der Leitung still blieb. >>Wann muss denn Delano wieder weg? Nicht dass ich ihn nicht treffen will, aber ...<<

>>Ich weiß schon, wie du es meinst. Er muss ja nicht unbedingt von unseren Aktivitäten etwas mitbekommen. Vorerst jedenfalls nicht. Er fliegt in vier Tagen nach Milano und hat dort länger zu tun, weil er dort mehrere Objekte betreut.<<

>>Na, das passt doch wie Arsch auf Eimer. Mi scusi, ich bin schon wieder undamenhaft.<<

>>Mir macht das nichts. Nur vor den Kindern nimm dich bitte etwas zusammen. Sie wissen zwar, dass sie eine verrückte Tante haben, aber ...<<

>>Ich muss doch sehr bitten. Wer von uns beiden ist denn hier die Verrückte?<<

>>Bisher immer du, doch das scheint sich gerade zu wandeln.<<

>>Jetzt lass mal den Kopf nicht hängen. Wir kriegen das schon in den Griff mit dem Spuk. Und wenn nicht, es gibt mehr als genug sogenannte Geisterjäger. Die werden das Haus schon säubern.<<

>>Dio mio. Delano kriegt die Krise, wenn ich ihm damit komme.<<

>>Das übersteht er schon. Sonst packst du deine Koffer und ziehst zu mir. Ich nehme dich auch mit den Kindern.<<

>>Lieb, dass du das sagst. Aber wenn beide schon wieder die Schule wechseln müssten … Na, so weit ist ja zum Glück noch nicht.<<

Für Velia war die traumatische Erfahrung in den Duschräumen nicht ohne Folgen geblieben. Sie war noch in sich gekehrter und reagierte panisch, wenn ihr jemand zu nahe kam. Klaudia – der „General“ - hatte für solcherlei Mätzchen kein Verständnis.

>>Also, stehst du jetzt freiwillig auf, oder müssen wir dich herausheben?<<

Velia zeigte keine Reaktion. Allein die Tatsache, dass Amadeo Klaudia begleitete, ließ sie in eine Art Schockstarre verfallen. Erst als die Krankenschwester und der Pfleger sie packten, schlug sie wild um sich.

>>So, mein Fräulein, das reicht jetzt. Dann bleibst du eben in deinem ungemachten Bett liegen. Wir haben keine Zeit für deinen Starrsinn. Und damit du das nicht vergisst, wirst du für die nächsten drei Tage festgebunden.<<

Mit geübten Handgriffen banden die Schwester und der Pfleger Velia unter Zuhilfenahme von Lederriemen mit Händen und Füßen an das Bettgestell.

>>Und damit du nicht unter dich machst, kriegst du in der Zeit auch nichts zu essen. Wir wollen doch mal sehen, wer hier der Stärkere ist.<< Klaudias Ton ließ keinen Widerspruch zu. >>Und sollte sich eine von euch wagen, die Signorina loszubinden, geschieht ihr das Gleiche. Ist das klar?<<

Ein unterdrücktes Gemurmel war die Antwort.

>>Aber sie muss doch etwas trinken und dementsprechend auch mal Pipi machen<<, wagte nur eine ältere Frau zu bemerken.

>>Dann kannst du ihr ja die Bettpfanne unterschieben, falls du dich für sie verantwortlich fühlst. Das Gleiche gilt auch für Wasser oder Tee zum Trinken.<<

In der Nacht erhielt Velia Besuch von Gianna, die den Zeigefinger an den Mund legte, als Zeichen, ruhig zu bleiben.

>>Was haben sie denn mit dir gemacht, mein Armes? Komm, ich mache dir erst einmal die Hände los<<, flüsterte Gianna.

>>Ich wollte mich nicht anfassen lassen<<, flüsterte Velia zurück. >>Schon gar nicht von diesem Schwein Aleandro Er und Bosco haben in der Dusche mit mir unzüchtige Dinge gemacht.<<

>>Ich weiß, das ist ihre Spezialität. Das Schlimme ist nur, dass dir niemand glauben wird. Wenn du einem Dottore oder gar dem Anstaltsleiter davon erzählst, wird man dich als Lügnerin hinstellen. Das macht alles nur noch schlimmer. Soll ich dir etwas zu trinken geben?<<

>>Danke, das hat schon Paolina aus dem Bett drüben am Fenster getan. Sie stellt mir auch die Bettpfanne unter, wenn ich mal muss.<<

>>Na, siehst du. Außer mir gibt es noch andere, die sich um dich kümmern.<<

>>Ja, und jetzt bind mich lieber wieder an, damit wir nicht beide noch Ärger kriegen.<<

>>Mir macht das nichts aus, aber ich will dich natürlich nicht in Schwierigkeiten bringen. Ich komme dann morgen wieder nach dir sehen.<<

>>Das brauchst du nicht. Wir sehen uns lieber wieder im Park, wenn das hier vorbei ist.<<

>>Va bene, ganz wie du meinst. Dann sei stark und beim nächsten Mal etwas vorsichtiger.<<

Gianna warf Velia noch eine Kusshand zu und verließ dann das Zimmer.

>>Bis bald!<<, rief ihr Velia leise hinterher.

Philomene und Giulietta, die beiden Frauen, die Velia auf der Bank im Park gesehen hatten, lagen auf der anderen Zimmerseite in nebeneinander stehenden Betten und sahen sich verschlafen an. Giulietta verzog das Gesicht.

>>Unsere principessa führt schon wieder Selbstgespräche<<, sagte sie.

>>Ja, wenn es eine verdient hat, hier zu sein, dann ist sie es<<, meinte Philomene und drehte sich grummelnd auf die andere Seite.

Kiara Martinelli hörte mitten in der Nacht entfernte Gesänge. Es hörte sich an, wie man es von Nonnenchören kannte. Delano schlief tief und fest. Und daran konnte keiner oder irgendetwas so schnell etwas ändern. Kiara lauschte verzückt den lieblichen Tönen und beschloss dann, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie zog ihren Morgenmantel über und schlüpfte in ihre Pantoletten. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass die Kinder schlafend in ihren Betten lagen, ging sie nach unten in die Diele, nahm einen kleinen Schlüssel vom Bord, verließ das Haus und lief auf die kleine Kapelle zu.

Je näher sie dem bescheidenen Gotteshaus kam, desto deutlicher hörte sie die Choräle. Als sie jedoch das Vorhängeschloss öffnete und durch die große alte Tür den Raum betrat, erstarb der Gesang auf der Stelle.

>>Was machst du denn hier, mitten in der Nacht?<<, fragte Delano, der plötzlich neben ihr stand. Als er wach geworden war, hatte er gesehen, dass Kiara nicht neben ihm lag. Und nachdem er eine Weile gewartet und in den Kinderzimmern nachgesehen hatte, war ihm plötzlich ein Verdacht gekommen. Der fehlende Schlüssel am Brett hatte diesen erhärtet.

>>Wie? Ach, ich meinte liebliche Töne gehört zu haben. Engelsgleiche Gesänge.<<

>>So ein Unsinn. Wer würde sich schon nachts in die Rumpelbude stellen und singen?<<

>>Vielleicht jemand, der nicht von dieser Welt ist. Es hörte sich wie ein Chor von Nonnen an.<<

>>Ja natürlich. Jetzt komm bitte wieder ins Bett.<<

>>Warte mal! Kannst du nicht veranlassen, die Kapelle wieder in den Urzustand zu versetzen?<<

>>Weißt du, was das kosten würde? Auch gibt es meines Wissens keine Unterlagen, nach denen man sich richten könnte.<<

>>Es muss ja nicht gleich eine Kopie der Sixtinischen Kapelle werden. Etwas Schlichtes, Stilechtes würde doch reichen.<<

>>Na, Gott sei Dank. Michelangelo Buonarotti steht nämlich nicht mehr zur Verfügung.<<

>>Spotte du nur. Ich meine es ernst.<<

>>Dazu müsste man zuerst einmal das Gerümpel abtransportieren lassen. Wer weiß, was sich im Laufe der Jahrzehnte alles angesammelt hat.<<

>>Das lässt sich leicht feststellen. Drei oder vier alte Kirchenbänke habe ich schon entdeckt. Und ein uraltes Gemälde, das da hinten verstaubt, könnte man über den einfachen Altar hängen. Es ist sicherlich kein Michelangelo, aber eine recht gute Kopie, wenn ich das richtig einschätze.<<

>>Du meinst es wirklich ernst, nicht? Bisher hat sich deine Religiosität doch eher in Grenzen gehalten.<<

>>Ich will dort auch nicht beten. Oder vielleicht doch? Auf jeden Fall ist es eine Schande, das alte Gemäuer so verkommen zu lassen. Glaubst du, es hat mal zum Kloster gehört?<<

>>Du meinst, die spätere Irrenanstalt? Nein, das halte ich für ausgeschlossen. Dazu liegt es nicht nah genug beieinander. Ich denke eher, eine frömmelnde Signora wollte ihre ganz private Kapelle haben. Deshalb wird es hier auch mit Sicherheit keine Nonnen gegeben haben. Ich bin ja schon froh, dass du keine Orgel gehört hast. Dafür ist das Gemäuer nämlich eindeutig zu klein.<<

>>Du bist blöd. Also, erfüllst du mir den Wunsch, oder nicht?<<

>>Bis morgen früh kannst du aber noch abwarten, ja? Entrümpelungsunternehmen machen keine Nachtschichten, soviel ich weiß.<<

Kiara zeigte ihrem Mann einen Vogel und ging dann ins Haus zurück.

Die Firma kam dann zwei Tage später. Kiara überwachte jeden Handgriff, damit nicht etwas verloren ging, das sich lohnte, behalten zu werden. Und sie erlebte eine Überraschung nach der anderen. Zwischen Kisten voll Unrat und hinter brüchigen Zimmertüren und halbverfaulten Dielen kamen zwei wunderschöne, alte Kerzenleuchter, ein weiteres verstaubtes Gemälde und ein nur leicht beschädigtes buntes Kirchenfenster mit Bleiverglasung zum Vorschein. Kiara war überglücklich und sah die restaurierte Kapelle schon bildlich vor sich. Wie sehr sie von der Idee gefangen war, zeigte sich schon in der folgenden Nacht.

Wieder weckte sie der Gesang der Nonnen. Alles war wie in der vorigen Nacht. Nur erstrahlte die Kapelle jetzt in neuem Glanz. Die Wände waren frisch geweißt, die alten Bänke restauriert und das bunte Fenster wiederhergestellt. Der Clou aber waren das Altargemälde, das Christi Himmelfahrt zeigte und durch den neuen Firnis erstrahlte. Sogar der arg in Mitleidenschaft gezogene breite Stuckrahmen sah aus wie neu. Das zweite, kleinere Gemälde mit dem Motiv Madonna mit Kind hing seitlich an der Wand und schmückte diese ungemein. Neben dem nach alten Vorbildern errichteten Altar, auf dem ein tiefrotes Tuch aus Samt lag, standen die hohen Kerzenhalter, in denen dicke weiße Kerzen brannten. Die Idylle war perfekt.

Und diesmal war der Gesang der Nonnen auch nicht verstummt, als Kiara eintrat, sondern erst, als sie sich vorsichtig dem Altar näherte. Wie auf Kommando drehten sich die Ordensschwestern mit ihren schwarzen Hauben um. Aber sie hatten keine blassen Gesichter mit entrückten Mienen, sondern geradezu teuflische Fratzen. Ihre blicklosen, schwarz umränderten Augen waren die von Toten. Und ihre schwarzen Lippen entblößten lange, spitz zulaufende Zähne. Kiara schrie vor Entsetzen laut auf.

Sie schrie immer noch, als Delano sie weckte und zärtlich in die Arme nahm. Doch die Vision war noch so deutlich, dass Kiara sich heftig wehrte und nur langsam beruhigen konnte.

>>Scht, ist ja gut. Du hattest einen Albtraum, tesoro. Scheinbar hast du etwas zu viel historischen Staub eingeatmet. Wollen wir die jetzt fast leere Kapelle wieder verschließen und doch lieber ihrem Schicksal überlassen?<<

>>Nein, auf keinen Fall. Ich habe nur eben Szenen aus einem Horrorfilm erlebt. Alles war so real … Aber wenn erst alles fertig ist und ein Priester den Raum mit Weihwasser besprengt, wird der Spuk sicher aufhören.<<

>>Das will ich hoffen. Noch können wir einen Rückzieher machen.<<

>>Nein, ich bin nur ein wenig überreizt.<<

Velia genoss ihre wiedergewonnene Freiheit, die zwar eigentlich keine war, denn sie war nach wie vor in der Anstalt gefangen, doch gegen die drei Tage in ans Bett gefesseltem Zustand war der Spaziergang im Park mehr als eine Erholung. Wie üblich steuerte sie eine der Steinbänke an, in der Hoffnung, Gianna würde sich bald dazugesellen. Doch stattdessen kam ein junger Bursche zu ihr herüber, der nicht nur blendend aussah und ausgezeichnete Manieren besaß, sondern sie auch ausgesprochen lieb mit seinen himmelblauen Augen ansah. Sodass Velia für einen Moment ihre Vorbehalte gegenüber dem männlichen Geschlecht vergaß.

>>Ciao, ich bin Sylvio<<, sagte er mit melodischer Stimme. >>Darf ich mich zu dir setzen?<<

>>Bitte, es sind zwar noch andere Bänke frei ...<<

>>Unterhalten kann man sich besser zu zweit. Verrätst du mir deinen Namen?<<

>>Ich heiße Velia und bin vierzehn Jahre alt. Ist damit deine Neugierde befriedigt?<<

>>Noch lange nicht<<, lachte er und zeigte dabei blendend weiße Zähne. >>Warum bist du hier?<<

>>Weil meine mamma meint, nicht mehr mit mir fertig zu werden. Dabei sind die Vorwürfe zum größten Teil unbegründet. Schön, ich bin manchmal aufbrausend. Vor allem, wenn man mir Unrecht tut, aber ich habe mich nie in schamloser Weise Männern oder Jungs gegenüber präsentiert.<<

>>Das will ich hoffen. Denn das würde nicht zu einem derart engelhaften Wesen passen.<<

>>Ist das deine Masche, mich mit Komplimenten gefügig zu machen? Letztendlich wollt ihr Männer doch nur das eine.<<

>>Hast du das in einem Kitschroman gelesen? Es gibt auch Männer, die sich nicht wie wilde Tiere benehmen und gleich über eine Frau herfallen.<<

>>Ach ja? Diese unsäglichen, brutalen Pfleger gehören bestimmt nicht dazu.<<

>>Sprichst du aus Erfahrung?<<

>>Genau. Bosco und Aleandro haben mir Gewalt angetan. Es war wie ein Albtraum.<<

>>Das kann ich verstehen. Soll ich ihnen die Fresse polieren?<<

>>Besser nicht. Du würdest bestimmt unterliegen. Demnach bist du ein rauer Bursche, der sich gerne prügelt?<<

>>Nein, ganz und gar nicht. Ich bin eher der musische Typ. Spiele Klavier und liebe alles Schöne. Ich habe nur etwas angegeben, um dir zu imponieren.<<

Velia lächelte. Der Typ gefiel ihr und brachte etwas zum Klingen, das neu für sie war.

>>Wenn du lächelst, bist du noch hübscher.<<

>>Du kannst mit den Komplimenten aufhören. Du hast mich ja schon auf deiner Seite.<<

>>Wenn es doch aber wahr ist. Und einer hübschen Frau kann man nicht genug Komplimente machen.<<

>>Bisher habe ich mich immer für ein Mädchen gehalten. Aber du hältst mich bereits für eine Frau?<<

>>Nun, sagen wir, für eine, die auf dem Weg dahin ist. Hast du noch keinen Freund?<<

>>Nein, das würde mamma nie zulassen. Für die bin ich noch ein Kind. Noch dazu ein ungezogenes.<<

>>Du bist süß mit deiner Ehrlichkeit.<<

Velia errötete leicht und wechselte schnell das Thema. >>Im Charcot Pavillon soll es einmal im Keller den Orange Roomgegeben haben. Da fanden Tanzpartys statt. Das Krankenhauspersonal soll mit den Patienten gefeiert haben, beim sogenannten Karneval der Madman – Karneval dei pazzi. Organisiert hat ihn der damalige Anstaltsleiter Dottore Scabia. Das hat mir eine Patientin erzählt.<<

>>Eine, die schon so alt ist, dass sie damals daran teilgenommen hat?<<

Velia lachte wieder. >>Nein, sie ist zwar älter als ich, aber noch nicht so alt. Ich hätte große Lust, diesen Raum einmal aufzusuchen, trau mich aber nicht.<<

>>Wenn du einen Kavalier brauchst, der dich begleitet, ich bin dabei.<<

>>Wirklich? Wollen wir gleich losgehen?<<

>>Ich würde vorschlagen, dass wir damit bis zum späten Abend warten. Wenn die anderen schon schlafen.<<

>>Ja, du hast recht. Treffen wir uns hier? Sagen wir um elf?<<

>>Du bist wohl eine kleine Nachteule, was? Aber ist okay. Also dann, bis später!<<

Velia winkte ihm nach. Ja, der Bursche gefiel ihr wirklich. Mehr als bisher jeder andere Junge. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie ihn nicht gefragt hatte, warum er hier war. Denn er wirkte kein bisschen „verrückt“.

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