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Shirley O’ Brian wartete geduldig vor dem Fahrgeschäft „Hell’s Gate“ - Tor zur Hölle. Ihr taten die Füße weh, denn sie war mit ihrer kleinen Familie schon seit Stunden unterwegs. Ihr Söhnchen Jim hatte unbedingt zum Abschluss dieses aufregenden Tages mit seinem Daddy Sean Geisterbahn fahren wollen. Am liebsten auch mit Mom, weil die immer so schön schrie, wenn sie sich erschreckte, aber Shirley hatte dankend verzichtet und Sean wie immer seinem Sprössling den Wunsch nicht abschlagen können.

Sie waren zuvor schon Stunden im Luna Park gewesen, dem großen Vergnügungspark auf Coney Island, der im Karree Neptune Avenue, 8. Straße West, Surf Avenue und 12. Straße West lag. In früheren Jahren waren die meisten Attraktionen sogar um eine künstlich angelegte Lagunenstadt im orientalischen Baustil gruppiert, die vom sechzig Meter hohen Electric Tower überragt wurden.

Der siebenjährige Jim hatte die unzähligen Giebel und Türmchen, die durch Hunderttausende Glühbirnen in verschiedenen Farben beleuchtet wurden, bestaunt. Sie hatten Attraktionen gesehen wie die „Reise zum Mond“ und „War of the Worlds - Krieg der Welten.

Die Surf Avenue war erfüllt von drängelnden Erwachsenen und aufgeregt lärmenden Kindern, die wie Jim nicht genug von den Fahrgeschäften, Schießbuden und Imbissständen bekommen konnten. Die bekannten Vergnügungsparks wiesen nur einen Teil der Fahrgeschäfte auf Coney Island auf, daneben existierten entlang der Surf Avenue und der Bowery Street Achterbahnen, Karussells, Schießbuden, aber auch Tanzlokale, Theater, Hotels, Restaurants und Bierzelte.

Shirley verlor langsam die Geduld. Irgendwann mussten Sean und Jim doch genug von der Geisterbahn haben. Auch wenn sie zwei- oder dreimal gefahren waren, hätten sie schon längst wieder draußen sein müssen. Aber aus den seitlich gelegenen Türen neben dem Kassenhäuschen waren stets nur fremde Kinder und Erwachsene herauskommen. Beherzt ging sie zu der bebrillten Dame hinter dem Glasfenster, die sie an einen der Gehilfen verwies, die den aus- und einsteigenden Fahrgästen behilflich waren.

„Haben sie einen siebenjährigen Jungen in Begleitung seines Vaters gesehen?“ fragte sie den etwas schmuddlig wirkenden Burschen. „Beide haben auffallend rötlich blonde Haare.“

„Davon habe ich heute ungefähr schon zwei Dutzend gesehen, aber in der letzten halben Stunde nicht.“

„Aber das gibt’s doch gar nicht“ Shirley war am Ende ihrer Weisheit. Kopflos lief sie die Surf Avenue entlang, weil sie plötzlich glauben wollte, dass Sean vielleicht von den Menschenmassen in eine Richtung gedrängt worden war, in die er gar nicht gewollt hatte, ohne dass es Shirley aufgefallen war.

Nachdem sie das gesamte Areal um den Luna Park herum erneut abgelaufen war, kamen ihr vor Erschöpfung die Tränen. Kraftlos rutschte sie an einer Laterne herunter, wo sie wie ein Häufchen Elend sitzen blieb.

„Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Ma’am?“ fragte ein auf sie aufmerksam gewordener Cop.

„Ich habe meinen Mann und meinen Sohn im Gedränge verloren“, sagte Shirley weinerlich. „Ich bin jetzt seit über einer Stunde unterwegs, ohne Ergebnis.“

„Wo haben Sie denn die beiden zuletzt gesehen?“ fragte der etwas ältere Mann mit beruhigendem Tonfall seiner Stimme.

„Vor dem Hell’s Gate. Ich habe draußen auf sie gewartet. Aber sie sind zwar hineingegangen, jedoch nicht mehr herausgekommen.“

„Nun, das würde bedeuten, dass sie noch immer drin sind, nicht wahr? Vielleicht hat es einen kleinen Unfall gegeben, und einer der Wagen ist aus den Schienen gesprungen. Haben Sie dort nachgefragt?“

„Ja, natürlich, aber der junge Mann wusste nichts von einem Unfall. Der Betrieb ging ja auch ganz regulär weiter.“

„Dann haben Sie sie beim Herauskommen übersehen. Vielleicht sind sie längst auf dem Nachhauseweg.“

„Aber reden Sie doch keinen Unsinn, mein Mann würde mich nie …, Entschuldigung, Sir. Aber ich bin vor Sorge schon ganz verrückt.“

„Führen Sie eine gute Ehe? Verzeihen Sie die Frage …“

„Ja, wir lieben uns, und unser Sohn ist ein wahrer Sonnenschein, unser Ein und Alles.“

„Ich frage nur deshalb, weil es doch sein könnte, dass ihr Mann die Gelegenheit genutzt hat, um …“

„Das ist völlig ausgeschlossen, vergessen Sie’s. Das würde er nie tun. Und es gibt auch keine andere Frau, um ihre nächste Frage gleich vorwegzunehmen. Wie gesagt, wir führen eine außergewöhnlich glückliche Ehe.“

„Dann würde ich vorschlagen, dass Sie jetzt nach Hause fahren. Vielleicht warten die beiden dort schon. Und falls nicht, kommen sie eventuell später. Notfalls können Sie dann morgen eine Vermisstenanzeige aufgeben. Es müssen ohnehin eine Anzahl von Stunden vergangen sein, bis …“

„Ja, ich weiß. Danke, aber ich gehe vorsichtshalber noch einmal zur Geisterbahn zurück.“

„Dann viel Glück, good bye.“ Der Polizist tippte mit der Hand an seine Mütze und verschwand kurz darauf im Gewühl.

Shirley ging mit letzter Kraft zum Hell’s Gate zurück. Schon von weitem sah sie die etwas Furcht einflößende Puppe, die mechanisch betrieben wurde, und deren Bewegungen deshalb etwas abgehackt und unheimlich wirkten. Sie trug ein Kostüm wie Dracula, hatte blutunterlaufene Augen und lange Reißzähne. Auf ihrem Schoß saß eine ebenfalls mechanisch betriebene Kinderpuppe, aus deren kleinen, roten Mund auch bereits kleine Vampirstiftzähne herausschauten.

Beim Näherkommen glaubte Shirley ihren Augen nicht trauen zu können. Es waren Sean und Jim, die sich mit abgehackten Bewegungen wie Puppen bewegten. Das konnte doch nur ein makabrer Scherz sein. Shirley ging auf die beiden zu und versuchte, Jim kraftvoll von Seans Schoß herunterzuziehen. Das bewirkte, dass die Puppe einen Arm verlor und noch groteskere Bewegungen machte. Als Shirley sich auf Sean warf und dabei ein Bein abbrach, und die Lücke den Blick auf einen Teil der Mechanik freigab, fing sie hysterisch an zu schreien, bevor alles Schwarz um sie herum wurde und sie von den Gehilfen des Fahrgeschäftes ohnmächtig davongetragen wurde.

Der Name Coney Island erschien zum ersten Mal Mitte des 16. Jahrhunderts auf einer Karte. Zu einer Zeit, als New York noch Nieuw Amsterdam hieß. Der Begriff stammte von der niederländischen Kolonie Conyne Eylandt, wurde unter den Briten zu Conney Isle und dann zu Coney Island.

Die kurze Entfernung zu New York machte die Halbinsel Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem Badeort für Reiche, deshalb entstanden immer mehr Hotels mit wohlklingenden Namen wie „Tivoli“ und „Windsor“. Gleichzeitig blühten aber auch Prostitution und Glücksspiel auf.

Der Umstand, dass man für nur fünfzig US-Cent von Manhattan aus mit dem Raddampfer zu der Insel kommen konnte, ermöglichte auch der ärmeren Bevölkerungsschicht den Besuch von Coney Island. Eigens eingerichtete Eisenbahnstrecken beförderten zusätzlich die Menschenmassen. Neben zahlreichen Strandbädern dienten Tanzlokale und Fahrgeschäfte der Unterhaltung der Besucher.

Das Dreamland war der dritte Vergnügungspark in Folge, der neben dem Steeplechase Park und dem Luna Park 1904 auf Coney Island entstand. Es bot vor allem Fahrgeschäfte des Science-Fiction-Genres. Daneben konnte man Shows in einer großen Halle besuchen. Klein-Venedig mit Canale Grande und dem Markusplatz oder das von Zwergen bewohnte Lilliputia.

James March hatte sich von Kindesbeinen an für den Bau und die Entwicklung von Achterbahnen interessiert. So wusste er, dass bis 1888 schon an die fünfzig Achterbahnen in Europa und Amerika gebaut worden waren. In den 1920er Jahren sollten der Thunderbolt – Donnerblitz, der Tornado und der Cyclone hinzukommen. Der Tornado sollte aufgrund eines Feuerschadens erst fünfzig Jahre später, im Jahre 1977, abgerissen werden, der Thunderbolt sogar erst im November 2000.

Aber all das würde nach James Marchs Zeit geschehen. Zur Eröffnung des Dreamland 1904 war er mit knapp vierzehn Jahren freilich noch zu jung gewesen, um dort tätig sein zu können, aber er hatte mit großen Augen die Attraktionen bestaunt.

Im Jahre 1911 war James stolz gewesen, als Volljähriger im Dreamland angestellt zu werden. Der im selben Jahr errichtete Giant Racer - Riesenrenner, der damals größten Achterbahn auf Coney Island, war sein Refugium gewesen. Dort war er jeden Tag mit Spaß und Freude zur Arbeit gegangen. Allerdings nur für eine Saison, denn nach dem Ausbruch eines Feuers, ausgelöst durch Reparaturarbeiten in der Geisterbahn, war das Dreamland bis auf den aus Stahl gebauten Giant Racer vollständig niedergebrannt. Nach der Liquidierung des Unternehmens entstanden auf dem westlichen Teil des Geländes ein Streichelzoo und eine Western-Show.

James hatte sich daraufhin im Luna Park für das „Loop the Loop“, der ersten Achterbahn der Welt mit Looping, beworben, war aber „nur“ bei der Wildwasserbahn „Shoot-the-Chutes - Schussfahrt“ untergekommen. Beide waren aus dem 1902 geschlossenen Sea Lion Park übernommen worden.

Heimlich träumte James aber von etwas ganz anderem. Er hatte im Laufe der Jahre etwas Geld angespart und wollte sich außerhalb der großen Parks in der Surf Avenue oder Bowery Street ansiedeln. Er wollte eine Art Kuriositäten-Kabinett eröffnen. Die Idee war ihm angesichts der Lilliput-Show im Dreamland gekommen. Neben allen möglichen außergewöhnlichen Erscheinungen sollte es auch Schönheitstänze und „lebende Fotografien“ bei ihm geben, die beide denselben Zweck erfüllten, notdürftig bekleidete hübsche junge Frauen anzuschauen. Damit würde er Geld machen können; er brauchte nur noch die entsprechend zugkräftigen „Damen“ zu finden. Um eine eigene Achterbahn betreiben zu können, reichten seine Ersparnisse ohnehin nicht.

Ganz in der Nähe fand James eines schönen Tages auch das Objekt seiner Begierde. Eine junge Frau mit aufregenden Kurven und dem Glitzern der Erfolgssüchtigen in den Augen sonnte sich, ohne dabei ihre Umgebung aus den Augen zu lassen. Ihr war der Mittdreißiger mit den ersten feinen Silberfäden an den Schläfen schon längst aufgefallen, bevor er sich frech neben sie setzte.

„Hi, passen Sie nur auf, dass Sie sich Ihre Alabasterhaut nicht verbrennen, wäre wirklich schade drum.“

„Wer sagt das? Wenn Sie ein billiges Abenteuer suchen, sind Sie an der falschen Adresse.“

„Wer das sagt? Ich, und so wahr ich James March heiße, erkenne ich, dass Sie mit Ihrer Figur groß herauskommen können.“

„Ach, die Masche. Jetzt müssen Sie nur noch sagen, dass Sie vom Film sind und einen neuen Star suchen …“

„Nicht ganz. Aber Sie könnten die Hauptattraktion in meinem Schaugeschäft werden. Die Leute werden Schlange stehen.“

„Das ist ja lieb gemeint, aber angeglotzt werde ich schon genug von den Gästen der Bar, in der ich arbeite. Mein Traum sieht ganz anders aus. Man soll mich ansehen, ja, aber nicht, weil ich hübsch bin, sondern weil ich einen interessanten Charakter verkörpere. Als Bühne kommt für mich nur eine Theaterbühne infrage, keine eines drittklassigen Etablissements.“

„Gefällt mir, dass Sie klare Vorstellungen von Ihrer Zukunft haben. Aber warum zwei Schritte vor dem ersten machen? Als meine Hauptattraktion werden Sie von mehr Menschen gesehen als jemals in Ihre Bar kommen werden. Hat denn die Dame mit den großen Plänen auch einen Namen?“

„Ja, den hat sie, und den sollten Sie sich gut merken. Ich heiße Tallulah Greene. Diesen Namen werden Sie eines Tages in großen Lettern auf dem Broadway lesen können.“

„Das kann ich mir sogar vorstellen, bei dem klangvollen Namen, und dem Aussehen.“

Tallulah sah ihn interessiert von der Seite an. Vielleicht hatte der freche Kerl gar nicht so Unrecht. Vielleicht würde eine Bühne, auf der sie alle möglichen Leute sehen könnten, auch die entsprechend Einflussreichen und Talentsucher, eine Art Sprungbrett für sie sein.

„Und wann kann man sich den Schuppen mal ansehen?“ fragte sie nassforsch.

„Den gibt es noch gar nicht. Ich kann ja nicht das Pferd von hinten aufzäumen und erst Attraktionen suchen, wenn der Laden schon eröffnet ist.“

„Ach so, dann suchen Sie mal schön ihre Attraktionen. In einem halben Jahr können Sie mich dann ja mal anrufen“, lachte Tallulah.

„Vielleicht darf ich das schon früher tun, vielleicht morgen.“

„Sie sind einer von der ganz schnellen Truppe, was?“

„Nun ja, der frühe Vogel fängt den Wurm. Nicht, dass Sie mir noch einer vor der Nase wegschnappt. Außerdem könnten Sie mir behilflich sein. Vielleicht haben Sie noch hübsche Freundinnen oder Verbindung zu etwas ungewöhnlichen Leuten wie Kleinwüchsige, Deformierte, Halbmenschen oder was weiß ich.“

„Sie trauen mir ja eine Menge zu. Nein, Ihre Freaks müssen Sie schon selbst suchen; die eine oder andere Freundin könnte ich unter Umständen liefern.“

„Also, Tallulah, dann machen wir Nägel mit Köpfen. Morgen gehen wir ein geeignetes Objekt suchen, einverstanden?“

„Einverstanden. Hoffentlich bereue ich es nicht eines Tages, aber Sie haben so schöne grüne Augen, denen man kaum widerstehen kann“, grinste Tallulah.

„Umso besser, damit wäre die Basis geschaffen“, antwortete James. Und die Doppeldeutigkeit seiner Aussage war durchaus beabsichtigt.

James fand am nächsten Tag in Begleitung von Tallulah einen etwas heruntergekommenen ehemaligen Show-Room in der Bowery Street, der inzwischen geschlossen, aber von der Anlage durchaus geeignet war, etwas daraus zu machen. So konnte man die vorgelagerte schmale Terrasse zu einer weithin sichtbaren Showbühne umbauen, die freilich nur den Sinn haben sollte, die Besucher ins Innere des Etablissements hineinzulocken. Dort würden sie dann gegen entsprechendes Eintrittsgeld die Show verfolgen können und zu gesalzenen Preisen billig eingekaufte Getränke konsumieren können. Ein weiterer Vorteil des Objektes war das angrenzende Wohnhaus, in dem zuvor die „Damen“ ihre Dienste angeboten hatten. Dort konnte James mit Tallulah wohnen und auch den Mitarbeitern seiner Show Unterkunft bieten.

James hatte geradezu spartanisch gelebt und jeden Cent zurückgelegt, um sich seinen Traum zu erfüllen. Zusammen mit dem alten Schmuck seiner Großmutter sollte das sein Startkapital sein. Für den Rest sorgten Kredite, die aufgrund des Booms der Vergnügungsindustrie auf Coney Island günstig zu haben waren. Er kündigte seinen Job bei der Wildwasserbahn und beaufsichtigte fortan die Umbauarbeiten seines Geschäftes. Daneben empfing er scharenweise „Künstler“, die entweder aufgrund ihres ansprechenden Äußeren, oder ihrer ganz besonderen Anomalien geeignet schienen, sich einem breiten Publikum zu präsentieren. Empfehlungen von ehemaligen Kollegen und entsprechende Agenturen halfen ihm dabei ebenso wie eine geschaltete Anzeige, ein bunt gewürfeltes Programm zusammenzustellen, das langsam in seinem Kopf Gestalt annahm.

Am leichtesten fiel es ihm, Kleinwüchsige und Kolossalmenschen zu finden, die am häufigsten in Schaubuden zu sehen waren. Liliputaner mit ihren sehr hellen, piepsigen Stimmen, kindlichen Körpern und Gesichtszügen, aber normalen Proportionen, wurden häufig als “Prinzessinnen” bzw. “Prinzen” tituliert. So stellte sich auch bei James March ein „Prinz Piccolo“ vor, der als Erwachsener nur siebzig Zentimeter maß. James konnte ihn sich gut als Zeremonienmeister vorstellen.

Ihm zur Seite wollte er eine achtundzwanzig Zoll große bzw. kleine Frau und einen nur neunundzwanzig Zoll großen Mann stellen, der nur fünfundvierzig Pfund schwer war. Die beiden würden durchaus als Kinder des Prinzen durchgehen können.

Was Tallulah etwas abfällig mit „Freaks“ bezeichnete, bedeutete im Englischen ursprünglich „Laune“. Im 19. Jahrhundert änderte sich in den USA die Bedeutung zu „Laune der Natur - freak of nature“. In sogenannten „Freak Shows“ wurden auf den Jahrmärkten Zwerge bzw. Kleinwüchsige oder andere von der Norm abweichende Menschen wie die „Dame ohne Unterleib“, „die Frau mit Bart“, „der stärkste Mann der Welt“ oder „der Zyklopenjunge“ präsentiert.

Der sogenannte Elefantenmensch sorgte zu jener Zeit beim Publikum durch die Deformationen seines Körpers und des Gesichtes für ambivalente Reaktionen. Während sich manche wonnig gruselten, ekelten oder schaudernd abwandten, fühlten andere Mitleid und tiefe Erschütterung.

Auch eine riesenhafte Dame mit immerhin 2,20 Metern Körpergröße zog James in Betracht, denn es war sehr beliebt, diese sogenannten Riesenmenschen mit Kleinwüchsigen gemeinsam auftreten zu lassen, um den enormen Unterschied deutlich zu machen.

Die besondere Wirkung, die “Siamesische Zwillinge” auf das Publikum erzielten, war James nicht genug. Er wollte Zwillingsmissbildungen zeigen, bei denen sich mitunter der nicht voll ausgebildete Zwilling am Körper des anderen befand. Auch Menschen mit zusätzlichen Extremitäten galten in jener Zeit als Attraktion.

Häufig zu sehen waren weiterhin an Fabelwesen erinnernde Menschen, auch “Tiermenschen” genannt, die man als das fehlende Glied zwischen Mensch und Tier ausgab. Am ganzen Körper Behaarte bezeichnete man als “Affen-Wolfs- und Löwenmenschen”, solche mit Knochenmissbildungen hießen „Hummer-, oder Krötenmenschen”, jene mit Pigmentstörungen „Leoparden-Menschen“, andere mit abnormen Hautwülsten „Elefanten- oder Kamelmenschen”.

So einen “Hautmenschen”, der seine Haut wie Gummi vom Hals bis zum Haaransatz ziehen konnte, um damit das Gesicht zu bedecken, engagierte James March.

Damals hatte niemand die geringste Vorahnung, dass im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends noch immer Hautmenschen öffentlich auftreten würden. Freilich nicht auf Jahrmärkten, sondern im deutschen Privatfernsehen, also direkt in der guten Stube, innerhalb einer Show, in der das größte Talent gesucht wurde.

Auch Tätowierungen würden dann in jener unvorstellbar fernen Zeit weltweit kein Thema mehr sein, weil sich immer mehr Stars und Normalbürger Tattoos zulegten. Damals bezeichneten sich am ganzen Körper tätowierte Frauen noch als „lebendiges Bilderbuch“ oder auch als „schönste Gemäldeausstellung der Welt“. Da sie bei ihren Auftritten oft die Grenzen der Schicklichkeit überschritten, was den Budenbetreibern viel Ärger einbrachte, verzichtete March allerdings auf diese Attraktion.

Neben abnorm Aussehenden, wollte March auch solche, die durch abnorme Eigenschaften bzw. Fähigkeiten glänzten. Ein „Allesschlucker“, der sogar lebende Mäuse vertilgte, stellte sich auch bei March vor. Selbst einer der „Kunstfurzer“, der Kerzen ausblasen und einfache Melodien erklingen lassen konnte, kam in die engere Wahl. Allerdings erst, als er auf Tallulahs Bedenken hin versichert hatte, dies auf geruchlose Art tun zu können. (Selbst davon sollte es später in der Fernsehshow immer noch einen geben. Gewisse Kuriositäten scheinen zeitlos zu sein.)

Gegenüber all den Abnormitäten wurden der schönen Tallulah drei ihrer „Freundinnen“, bei denen es sich ausnahmslos um hemmungsarme, aber hübsch anzuschauende Damen aus dem Vergnügungsgewerbe handelte, zur Seite gestellt. Um Tallulahs goldblonde Haare noch besser zur Geltung kommen zu lassen, gab es zwei Brünette und eine Rote.

Tallulah wurde als Höhepunkt der jeweiligen Vorstellung angekündigt. Sie hieß fortan Leilah und präsentierte den „Tanz der sieben Schleier“, bei dem auch der letzte gefallene sie durch ein fleischfarbenes Trikot nicht völlig nackt aussehen ließ, um keinen Ärger mit den Behörden zu bekommen. Als weitere Attraktion glänzte sie als „Dame ohne Unterleib“. Eine durch Spiegel erzeugte Illusion, die vermittelte, dass ihr kostbarer Leib nur bis zur Taille reichte und nie ihre Wirkung verfehlte, weil niemand sich den Trick erklären konnte. Denn anschließend erschien sie schließlich wieder „vollkommen“. Im Gegensatz zu einer Kollegin, die einst im Luna Park aufgetreten war. Spiegel hatte diese nicht nötig gehabt, denn es war klar ersichtlich, dass ihr Körper wirklich an der Taille aufhörte. Sie hatte sich ohne Hilfe allein anziehen und frisieren, eine Nadel einfädeln oder eine Zigarette anzünden gekonnt.

Eine Attraktion ganz anderer Art sollte der Bauchredner Rupert Murdock in James’ Show bieten. Er trat mit seiner Puppe Charlie auf, die sich vor allem darin von einfachen Bauchrednerpuppen, denen nur der Unterkiefer auf- und zuklappte und die allenfalls die Augen verdrehen konnten, unterschied, indem sie mechanisch war und sogar alleine gehen konnte. Ein Umstand, der bald für Aufregung und allgemeine Verwirrung sorgen sollte.

Einen Zauberer oder Magier einzustellen, darauf hatte James March verzichtet. Die wirklich außergewöhnlichen waren zu kostspielig und March meist nicht kurios genug. Vielleicht hatte er aber auch so etwas wie eine Vorahnung, dass ein Vertreter dieser Zunft ihm einmal sehr viel Verdruss und so manchen Ärger einbringen würde.

Rosalind Van Dyke saß in ihrem einfachen Appartement in der Livingston Street und hörte eine ihrer wenigen Schelllackplatten auf dem alten Trichtergrammophon. Sie haderte wieder einmal mit sich und der Welt, weil sie scheinbar alles falsch gemacht hatte. Sie war damals als junge Mutter von ihrem Bräutigam sitzen gelassen worden. Zum Glück hatte sie kurz darauf Jan Van Dyke kennen gelernt, und war ihm nach ihrer Heirat nach Hempstead, New York, gefolgt. Der hatte allerdings nichts Besseres zu tun gehabt, als sie nach fünfzehn Jahren wegen einer Jüngeren sitzen zu lassen. Da er ihr kaum etwas hinterlassen hatte und seitdem unauffindbar war, musste sie daraufhin nach Downtown Brooklyn umsiedeln. Dort war sie nicht davor zurückgeschreckt, im Rotlichtmilieu zu arbeiten, um sich und ihre Tochter durchzubringen, bis sie auch dafür nicht mehr jung und attraktiv genug gewesen war.

Und hier saß sie nun, sich mit Gelegenheitsjobs wie Kellnern und Putzen durchschlagend. Kein Wunder, dass ihre Tochter alsbald das Weite gesucht hatte, um alleine ihr Glück zu machen. Seit einem Jahr hatte Rosalind nichts mehr von ihr gehört. Und sie durchlief jedes Mal eine heiße Welle, wenn sie an ihre Aufsichts- und Fürsorgepflicht dachte.

An diesem Abend klopfte es an der Tür, und ein Nachbar teilte ihr mit, dass sie am Telefon verlangt werde. Rosalind zog sich schnell ihren speckigen Morgenmantel über und fragte sich, wer da etwas von ihr wollte.

„Ach, du bist es, Ethel“, rief sie in die Muschel des Apparats, als sie die Stimme ihrer Freundin erkannte. „Was gibt’s denn so Dringendes, das nicht bis morgen Zeit hat?“

Sie lauschte und wurde zunehmend blasser im Gesicht.

„Das gibt’s doch nicht … Wo sagst du, hast du sie gesehen? Und du bist ganz sicher, dass sie es war?“

„Also hör mal, ich werde doch noch deine Tochter erkennen“, tönte es vom anderen Ende der Leitung. „Obwohl ich zweimal hinsehen musste. Sie war praktisch nackt. Und das in dieser Umgebung. Nein, dass sie soweit sinken würde …“

„Ethel, hör mal, versprich mir, niemandem davon etwas zu erzählen. Wer hat sie denn sonst noch außer dir gesehen?“

„Stewart natürlich, aber der quatscht nicht, das weißt du ja. Und was willst du jetzt tun?“

„Na, was wohl? Hingehen und sie da rausholen. Die kann ihr Blaues Wunder erleben …Also gut, Ethel, danke fürs Bescheid sagen. Ich werde morgen Mr. Smith absagen, hoffentlich hat das keine Konsequenzen, ihm kann ich in letzter Zeit sowieso nichts mehr recht machen … Ja, du hörst dann von mir, bye.“

Rosalind packte noch am selben Abend ihre Handtasche und graulte sich schon vor der längeren Fahrt. Aber was sein musste, musste eben sein.

Inzwischen war das Ensemble von James Marchs Kuriositätenkabinett komplett, und alle hatten ihre Zimmer im Anbau des Showroom bezogen. Während James und Tallulah zusammen mit den anderen Mädchen ganz oben residierte, wohnten Prinz Piccolo, die anderen Liliputaner, der Bauchredner Rupert Murdock, „Jane“ mit ihrem parasitären Zwilling, der Wolfsmensch „Lupo”, „Florinda“ - die Krötenfrau und der “Hautmensch” Basil, eine Etage tiefer. Im Erdgeschoss schließlich hatten sich der Allesschlucker, Archibald, der „Kunstfurzer“, Blow, und die „fette Susie“ angesiedelt.

Vier Tage nach der feierlichen Eröffnung von James’ großspurig genanntem Wonderland kam es zum Eklat. Der „Prinz“ in Frack und Zylinder, mit seinem gelben Gesicht, faltig, greisenhaft und kindlich zugleich, forderte die Schaulustigen mit seiner piepsigen Stimme zum Nähertreten auf, während Tallulah und ihre Kolleginnen sich lasziv in ihrem Hauch von Kostüm auf der schmalen Bühne räkelten, als eine beherzte, etwas übergewichtige Dame einen schrillen Schrei ausstieß.

„Tallulah, komm sofort da runter!“

In dem Moment stürzte sie auch schon auf die (Vor-) Bühne und versuchte, ihre Tochter unter dem Gejohle des dicht gedrängten Publikums, herunterzuzerren.

„Bist du von allen guten Geistern verlassen? Du hast ja gar nichts an.“

„Mama, es ist peinlich, wie du dich hier aufführst, merkst du das nicht?“ war Tallulahs Kommentar.

„Du sollst sofort mitkommen, habe ich gesagt.“

Wegen der Halsstarrigkeit ihrer Tochter scheute Rosalind Van Dyke nicht davor zurück, ihre Handtasche einzusetzen und damit Tallulah zu attackieren, was schallendes Gelächter der Zuschauer zur Folge hatte.

Da der „Prinz“ aufgrund seiner geringen Körpergröße keine Chance hatte, der resoluten Dame Einhalt zu gebieten, sah sich James genötigt, seine abwartende Position aufzugeben.

„Das ist gut, das sollten wir jeden Abend ins Programm einbauen. Sie sind ja ein Naturtalent“, sagte er freundlich.

Die verdatterte Rosalind vergaß für einen Moment, auf ihre Tochter einzuschlagen. James nutzte die Gunst der Minute. „Darf ich Sie in mein Büro bitten, Ma’am? Dort können wir ungestört reden.“

„Aber du kommst mit“, keifte Rosalind.

„Ma’am, das geht doch nicht. Die Leute haben bezahlt und wollen etwas sehen für ihr Geld. Aber ich verspreche Ihnen, Leilah wird sofort nach der Vorstellung zu uns stoßen. Bis dahin trinken wir einen Kaffee mit einem tüchtigen Schuss Kognak.“

„Leilah? Ich höre wohl nicht recht. Nennt sich das Flittchen jetzt etwa Leilah?“

„In unserem Gewerbe ist es üblich, mit Künstlernamen zu arbeiten, Ma’am. Es lohnt nicht, sich darüber aufzuregen.“

Der Charme von James und der in Aussicht gestellte Kognak zeigten erste Wirkung. Es war schon eine Weile her, dass ein Mann sie derart zuvorkommend behandelt hatte. Schließlich hätte er sie ja auch achtkantig von der Bühne werfen können. Aber James war klug genug, den Ernst der Lage zu erkennen. Polizei konnte er sich im Augenblick nicht leisten, damit sein schöner Traum nicht zerplatzte.

Während draußen die Vorstellung unter lauten Beifallsrufen im Gange war, saßen James und Rosalind in dem stickigen kleinen Büro. Und es wurde mehr als ein Kognak getrunken, denn bei dieser Gelegenheit stellte sich heraus, dass Tallulah gerade mal achtzehn Jahre alt war, und somit noch lange nicht volljährig.

„So ein kleines Luder, mich derart zu beschwindeln“, sagte James.

„Haben Sie sich denn nicht ihre Papiere zeigen lassen?“

„Das ist in unserer Branche nicht üblich, Ma’am, da geht alles mit Handschlag. Und Sie müssen zugeben, dass ihre Tochter wesentlich reifer aussieht und für ihr Alter kolossal entwickelt ist.“

„Ja, das ist bei der Art, wie Sie sie präsentieren nicht zu übersehen. Verstehen Sie mich nicht falsch, nicht dass ich prüde bin, im Gegenteil.“ Rosalind senkte für einen Moment beschämt den Blick, beinahe wie ein Teenager. Sie musste sich eingestehen, dass ihr der Kerl ausnehmend gut gefiel. Wenn sie nur ein paar Jahre jünger gewesen wäre …

„Aber sie ist ja fast noch ein Kind, meine Tallulah.“

„Ihren früheren Arbeitgeber, den Barbetreiber, schien das nicht gestört zu haben. Oder wussten Sie nicht, dass …?“

Rosalind räusperte sich.

„Ich muss gestehen, dass ich sie etwas aus den Augen verloren habe. Sie war immer schon ein sehr wildes Kind, und nach meiner Scheidung … Ach was soll’s. Sie ist mir durchgebrannt, das Miststück. Halb verrückt bin ich vor Sorge gewesen. Man hat ja schließlich eine Verantwortung als Mutter. Na ja, und gestern habe ich dann einen Anruf von einer sogenannten Freundin gekriegt. Ich solle doch mal nach Coney Island fahren. Dort würde eine Nackte mit Tallulahs Gesicht auf der Bühne stehen.“

„Na, ganz nackt ist sie ja nicht. Das wäre auch verboten.“

„Ich weiß, ihr Schausteller habt da so eure Tricks, und die Kerle sehen nur, was sie sehen wollen, aber trotzdem …“

„Ja, was machen wir denn nun, Ma’am?“

„Hach, wenn Sie Ma’am sagen, geht es mir jedes Mal durch und durch. Sie können aber auch einen Charme versprühen. So langsam kann ich Tallulah verstehen …“

Seit diesem Moment wusste James, dass er gewonnen hatte. Er konnte die etwas gewöhnliche Frau gut einschätzen, die sich jovial gab, so lange noch einiges auf dem Spiel stand. Aber er wusste auch, dass diese Art von Frauen von einem Moment auf den anderen zur Furie werden konnte. Besonders, wenn sie annehmen musste, hinters Licht geführt zu werden.

James löste das Problem auf seine Weise, indem er Tallulah einen Heiratsantrag und ihrer Mutter ein Angebot machte.

„Was halten Sie davon, Ma’am, wenn wir die Szene vorhin tatsächlich ins Programm einbauen? Das war kein Witz. So ein Live-Act hat Erfolg. Das würde natürlich voraussetzen, dass Sie täglich zur Verfügung stünden. Sind Sie in irgendeiner Weise gebunden?“

Rosalind schüttelte den Kopf.

„Na wunderbar. Sie könnten künftig an der Kasse sitzen und dabei ein Auge auf ihre Tochter haben. Und damit alles seine Ordnung hat, werde ich Tallulah heiraten. Ich könnte mir vorstellen, dass sie will.“

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