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2.

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Rosalind blieb keine Wahl. Besser einen gut bezahlten Job haben und die missratene Tochter unter der Haube wissen, als weiterhin als Geschiedene, sich mit Gelegenheitsjobs und mit ungewisser Zukunft über Wasser halten zu müssen. Moralisch hatte sie ohnehin keine Bedenken. Solange ihre Tochter ihre Brötchen nur auf der Bühne und nicht in schwülen Separées verdiente …und als Ehefrau, machte es Rosalind nichts aus, dass Tallulah halbnackt von gierigen Kerlen beobachtet wurde. Das kannte sie aus ihrer eigenen Vergangenheit, nur hatte es damals keinen Mann mehr wie James an ihrer Seite gegeben, der sie beschützt und ernährt hatte. Und wenn er auch noch so fabelhaft aussah …

Als dann Tallulah zu ihnen ins Büro kam, sah es für einen Moment so aus als würden James’ und Rosalinds Pläne scheitern.

„Du bist wohl verrückt geworden? Ich dich heiraten?“ rief sie und wollte sich halb totlachen. „Als ob ich nichts Besseres wüsste. Du kennst doch meine Pläne für die Zukunft. Glaubst du, ich habe Lust hier in deiner Freak-Show zu versauern?“

„Nein, das kannst du natürlich auch in einer miesen Bar oder in einem Puff. Wo du dir täglich einreden kannst, dass der nächste Freier dein Entdecker ist“, sprach James mit ihr Klartext. „Wenn du mich nicht heiratest, kann ich dich leider nicht länger beschäftigen, da du ja noch minderjährig bist.“

„Das hat dich doch bisher auch nicht gestört. Im Gegenteil, das hat dich nur scharf gemacht.“

„Das ist eine Unterstellung. Ich habe wirklich geglaubt, du bist schon älter, bei deinem Auftreten.“

„Ja, das behauptet ihr alle.“

Tallulah überlegte einen Moment.

„Wenn ich das richtig sehe, habe ich die Wahl, zurück zu meiner asozialen Mutter zu gehen …“

„Höre mal, wenn du unverschämt wirst, haue ich dir eine rein“, rief Rosalind zornig.

„Ja, darin warst du schon immer meisterhaft. Also, entweder mit dir zurück oder mich an einen alternden Casanova binden, der mich künftig wie eine Leibeigene behandelt. Beides nicht sehr rosig. Nur kann ich von meiner Mutter jederzeit wieder abhauen.“

„Meinst du, ich lege dir Fußfesseln an? Ich will nur unsere geschäftliche Basis legalisieren“, warf James ein. „Wir wollen die nächsten Jahre einen Haufen Geld verdienen. Und als meine Ehefrau bekommst du sogar noch einen größeren Batzen davon ab, als wenn du nur meine Angestellte bist.“

„Da ist was dran. Na gut, wenn du mich nicht festhältst …“

„Ganz so einfach ist das nicht, meine Süße. Du wirst deinen Vertrag einhalten, ob mit oder ohne Ehering. Wenn nicht, verklage ich dich, damit das klar ist. Was du nach den drei Jahren tust, steht auf einem anderen Blatt. Da ich kein Frankenstein bin, bleibst du ja vielleicht auch danach noch bei mir. Der Begriff Liebe wird ja wohl auch für dich kein Fremdwort sein. Ein Teil davon klappt doch bisher ganz gut mit uns, oder täusche ich mich?“

Tallulah wurde ungewollt rot. Es war ihr peinlich, dass James so offen davon sprach, dass sie miteinander schliefen.

„Musste das jetzt sein? Was meinst du, was Mutter dazu sagt?“

„Deine Mutter ist raffiniert genug, den Braten schon längst gerochen zu haben. Sie ist nämlich nicht von gestern. Und wenn du nach den drei Jahren die Scheidung willst, werde ich mir überlegen, ob ich sie statt deiner heiraten werde.“

„Also Sie sind mir einer“, gurrte Rosalind.

„Es wird Zeit, dass du James zu mir sagst, Mom.“

„Gerne James, aber wenn ich ehrlich bin, ist es mir lieber, wenn du bei deinem unvergleichlichen Ma’am bleibst.“

„Na wie schön, dass ihr euch wenigstens einig seid“, keifte Tallulah. „Warum heiratest du nicht gleich sie?“

„Halt den Mund und kümmere dich ums Geschäft!“

„Na, das kann ja heiter werden.“ Tallulah murrte zwar, folgte aber.

Im Lunapark bot eine Dame namens Pythia an, mittels Tarotkarten, einer Kristallkugel oder Handlesen in die Zukunft zu schauen. Tallulah war von der Kunst des Weissagens fasziniert, weil auch sie nicht abwarten konnte, was ihr die Zukunft bringen würde. Da sie keine Ahnung von Gestalten des antiken Griechenland hatte, wunderte sie sich zwar etwas über den eigentümlichen Namen Pythia, brachte ihn aber allenfalls mit einer Pythonschlange in Zusammenhang. Dabei lag sie in ihrer irrigen Auffassung nicht einmal völlig daneben, denn die männliche Form der Pythia war der Python gewesen, ein Begriff für den Seher allgemein im antiken Griechenland.

Die schwarzhaarige, geheimnisvolle Schönheit mit der fast durchsichtigen Haut war kaum älter als Tallulah und hieß eigentlich Dina, nur war ihr das zu gewöhnlich. Die einzige Gemeinsamkeit, die Dina mit den Pythien des antiken Delphi hatte, war, dass auch sie aus einfachen Verhältnissen stammte, also eine Frau des Volkes war. Die antike Pythia hatte über einer Erdspalte, aus der ein Gas quoll, sitzen müssen. Während man damals glaubte, der Gott Apollon spräche aus ihr, nahm man in der Moderne an, dass durch die Gase oder Sauerstoffmangel die Trance hervorgerufen wurde. Die Pythia hatte als Medium keine Macht inne, durfte aber als einzige Frau den Apollontempel betreten. Die Oberpriester des Gottes interpretierten ihre Worte und Visionen. Die nicht besonders auserwählten, einfachen Frauen aus der Stadt Delphi hatten jungfräulich zu bleiben. Eine Vorstellung, die Dina undenkbar erschien. Auch brauchte sie kein Gas, um sich in Trance zu versetzen.

Die mögliche Vorgängerin der Pythia war eine Sibylle. So gab es außerhalb des Orakels in Delphi den „Fels der Sibylle“. Nur weissagte diese der Überlieferung nach die Zukunft unaufgefordert, was für Dina ganz und gar nicht galt, denn sie bezahlte man sogar dafür.

Dann war sie schon eher mit Kassandra aus der griechischen Mythologie, die die Trojaner vor dem Trojanischen Pferd und dem Untergang Trojas warnte, zu vergleichen, denn wie Kassandra empfand sich Dina mitunter als eine tragische Figur, die das Unheil voraussah, aber kein Gehör fand.

Ebenso wie die Pythia drückte sich Dina meist undeutlich, verschlüsselt oder wie böse Zungen behaupteten allgemeingültig aus. Bei Tallulah wurde sie ungewohnt konkret.

„Sie werden nicht viel Glück im Leben haben“, sagte Dina und tippte mit spitzen Fingern auf ihre Karten. „Ihre Ehe ist zum Scheitern verurteilt. Es steht schon eine Andere parat, die den Platz an der Seite Ihres Mannes einnehmen will.“

„Wer ist die Schlampe?“, schrie Tallulah. „Sie kann doch nur zu unserer Truppe gehören.“

„Das kann ich nicht sagen. Ich sehe nur eine dunkelhaarige Frau, die schon in der Nähe ist.“

„Ob es ein Unglück ist, wenn der Kerl sich einer Anderen zuwendet, sei dahingestellt. Was sehen Sie sonst noch?“

Dina berührte mit beiden Händen die Kristallkugel, die im selben Moment ihr klares Aussehen verlor und milchig undurchsichtig wurde. Deshalb spiegelte sich nicht mehr der Raum darin, sondern im Innern waberten feine Rauchschwaden oder Nebel. Trotzdem schien die Pythia etwas darin zu erkennen.

„Sie laufen einem Traum hinterher, der Ihnen viel Leid bringen wird. Ihre Karriere wird nur von kurzer Dauer sein, wenn Sie der Sucht nicht widerstehen. Und das Kind sollten Sie besser nicht zur Welt bringen.“

Das war zuviel für Tallulahs Nerven. Sie flippte völlig aus.

„Und das wissen Sie so ganz genau, ja? Woher? Aus Ihren schmierigen Karten oder der lächerlichen Glaskugel, die mir nur mein eigenes Spiegelbild zeigt, oder was? Wie können Sie von einem Kind reden, wenn ich nicht einmal schwanger bin?“

„Sie haben mich um Rat gefragt“, sagte Dina. „Ich bin nicht dazu da, etwas zu beschönigen, sondern Denkanstöße zu geben. Noch haben Sie es in der Hand, die Dinge in die richtigen Bahnen zu lenken. Die Zukunft zeigt mehrere Wege auf. Es liegt an Ihnen, welchen Sie beschreiten.“

„Ach shit, alles Blah, Blah.“ Tallulah warf wütend einige Geldscheine auf den Tisch und verließ den stickigen, abgedunkelten Raum, bevor sie sich genötigt sah, handgreiflich zu werden. In ihrem kindischen Verhalten unterschied sie sich kaum von anderen Leuten, die ihr Horoskop nur dann ernst nahmen, wenn etwas Gutes darin stand.

Puh, dachte „Pythia“, heute scheint nicht mein Tag zu sein. Erst kommt diese arme Frau, der ich sagen muss, dass sie besser die Vergnügungsparks meiden sollte, wenn ihr das Leben von Mann und Kind lieb ist, und jetzt diese Furie. Wenigstens hat die Frau vorhin Fassung bewahrt und ist ruhig geblieben. Ob sie sich an meine Ratschläge hält, ist eine andere Sache.

Dina musste an die unglückselige Frau denken, der sie vor einiger Zeit etwas Ähnliches sagen musste. Auch die hatte die Warnungen scheinbar in den Wind geschlagen, wie die darauf folgenden Ereignisse bewiesen hatten. Dina hatte abgehackte Bewegungen wahrgenommen, und ein mechanisches Klicken, ohne damit wirklich etwas anfangen zu können. Erst später war ihr der Sinn bewusst geworden, als sie erfuhr, dass die verzweifelte Shirley O’ Brian behauptet hatte, in mechanischen Holzfiguren ihre kleine Familie wiedererkannt zu haben. Dina war weit davon entfernt, diese Beobachtung in das Reich der Fantasie zu verbannen. Keine wusste besser als sie, dass es da mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gab.

Elmer Jones kam mit seiner Frau Betty und dem Söhnchen Tom aus dem Steeplechase Park, der seinen Namen einem mechanischen Pferderennen verdankte, bei dem man auf Holzpferden reiten konnte, die auf sechs parallel existierenden Eisenschienen liefen. Eine weitere Attraktion waren ein Riesenrad und die „Reise zum Mond“, ein Raumschiff, das mehr wie ein Boot mit Flügeln aussah, und als Fahrsimulator diente.

Der kleine Tom trug die Eintrittskarte zum Steeplechase Park noch in seiner Hosentasche. Darauf warb eine Figur mit Kultcharakter, das Funny Face. Das Gesicht des grinsenden Mannes war nur hin und wieder leicht verändert worden, da der Prototyp vom Beginn des Jahrhunderts mit seinen zu vielen Zähnen von manchen als etwas unheimlich empfunden wurde.

Der Vergnügungspark hatte bereits eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Im Juli 1907 hatte es aufgrund einer fortgeworfenen Zigarettenkippe einen verheerenden Brand gegeben. Zusätzlich war der Feuermelder falsch bedient und der Alarm dadurch erst später ausgelöst worden. Deshalb waren große Teile des Parks, einschließlich benachbarter Gebäude ein Raub der Flammen geworden.

Nach dem Wiederaufbau ein Jahr später gab es neben dem Riesenrad zusätzlich einen Ballsaal und den Pavilion of Fun. In der wettergeschützten, stählernen Halle gab es viele Karussells und eine „Würstchenmaschine“. Draußen sorgte neben einer Achterbahn, Autoscooter und Autorennen ein Schwimmbad für Aufsehen.

Tom hatte mit Daddy Autoscooter fahren dürfen und ganz allein auf einem Kinderkarussell, denn für die beliebtesten Bahnen Barrel of Love - „Liebestonne“ und Tunnel of Love - „Liebestunnel“, die junge Pärchen zum Schmusen einluden, war er noch zu jung. Zum Abschluss wollte Elmer seinem Sprössling einen Teddy schießen, was sich schwerer als erwartet herausstellte. Betty, die ein dringendes Bedürfnis plagte, ließ ihre eifrig beschäftigten Männer für kurze Zeit allein und suchte einen der öffentlichen Aborte auf.

Als sie zurückkam, gab es keine Spur von Elmer und Tom. Der Schießbudenbesitzer meinte, die beiden zu einem der Stände weiterziehen gesehen zu haben, an denen man durch Geschicklichkeit und Zuhilfenahme eines Stoffballs Zylinder von Holzköpfen herunterwerfen konnte, aber genau konnte er es wegen des Besucherstroms nicht sagen. Um es nicht zu einfach zu machen, bewegten sich dort die bunt bemalten Köpfe mit Männergesichtern mehr oder weniger schnell von unten nach oben und zurück.

Betty war wütend, dass Elmer nicht auf sie gewartet hatte. Der konnte was erleben, wenn sie ihn eingeholt haben würde. Nur, so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte ihrem Mann und ihrem Kind nicht näher kommen. Nicht einmal von weitem waren sie zu sehen.

Langsam begann Betty unruhig zu werden, da sie sich nicht vorstellen konnte, dass Elmer so weit vorausgegangen war. Abgesehen davon, dass er sehr eifersüchtig war und sie nie lange allein ließ, schon gar nicht an solch einem Ort, liebten sie sich aufrichtig und konnten kaum ohne den anderen sein. Auch Tommy wäre doch nie mitgegangen, ohne zu wissen, dass seine Mutter ihnen folgte. Irgendetwas stimmte nicht. Entweder sie lief ihnen ständig im Kreis hinterher, oder die beiden hatten sich buchstäblich in Luft aufgelöst. Ein Gedanke, der sie erschauern ließ.

Als sie einen ähnlichen Weg wie seinerzeit Shirley O’ Brien beschritt, indem sie einen Cop um Rat fragte, musste sie sich die gleichen dummen Fragen gefallen lassen. Ob ihre Ehe glücklich sei, oder sich der holde Gatte nicht vielleicht absichtlich aus dem Staub gemacht hatte? Und ihr wurden auch ähnlich tröstende Worte zuteil. Bestimmt sei ihre Familie schon zu Hause und warte bereits. Aber genau wie Shirley wusste Betty tief in ihrem Innern, dass es nicht so war.

Die letzte Bude, an der man Bälle werfen konnte, erregte schon aus einer gewissen Entfernung Bettys Aufmerksamkeit. Dort standen ungewöhnlich viele Menschen bewegungslos, fast starr davor. Als Betty näher kam, wusste sie warum, denn in diesem Augenblick begannen einige Kinder bereits zu weinen und ihre Mütter hysterisch zu schreien. Einer der auf und ab fahrenden Köpfe, einer von denen, in deren abwechselnd offenen und geschlossenen Mund man hineinzielen sollte, hatte fast menschliche Züge angenommen. Der mechanisch betriebene Unterkiefer, der wie bei einer Kasperlepuppe ruckartig auf und zu klappte, hatte volle, natürliche Lippen und eine feuchte Zunge. Das Schlimmste waren nicht einmal die beiden dünnen Blutfäden, die an den Mundwinkeln herunterliefen, sondern die menschlichen Augen, die sich anstelle der Glasaugen im Kopf befanden. Das galt auch für die Nachbarpuppe, die deutlich kleiner war und die Züge eines Kindes trug. Als Betty erkennen musste, dass beide Elmer und Tom ähnelten, fiel sie in den Chor der schreienden Frauen ein. Nur, dass ihr zusätzlich die Beine versagten und sie kurz darauf rabenschwarze Finsternis umgab.

Die Hochzeit von Tallulah und James war vergleichsweise bescheiden ausgefallen. Außer dem Personal und Rosalind, war niemand eingeladen worden. James war viel zu geschäftstüchtig, sein Geld für derlei Feste zu verschwenden. Tallulah hatte sich gefügt und schien als Ehefrau nicht einmal unglücklich zu sein. Sie wusste sich geliebt und wurde allseits ob ihrer Schönheit und ihrer zugänglichen Art bewundert. So manch einem der Herren im Publikum bescherte sie erotische Fantasien und feuchte Träume. James wachte wie ein Zerberus über seine schöne Frau, und was ihm entging, wurde von Rosalind bemerkt, die voll und ganz auf seiner Seite stand.

Erste Schatten fielen auf die junge Ehe, als eine Showbühne auf der anderen Straßenseite den Magier Mr. Magic präsentierte. Einen mehr als gut aussehenden Mann, der trotz seiner bildhübschen Assistentin keine Gelegenheit ausließ, mit anderen Frauen zu flirten.

Mr. Magic hieß mit bürgerlichem Namen Thadeus Wolinski und war in einem kleinen polnischen Dorf geboren worden. Schon als kleiner Junge hatte er als Einziger in der Familie nicht nur großes Interesse, sondern auch Begabung für Zauberkunststücke gezeigt. Nach jahrelangem Üben hatte er es zu einer gewissen Meisterschaft gebracht und war weit über die Grenzen seines Landes berühmt geworden. Sein Verhältnis zu seiner Assistentin Elsa hatte er recht bald durch eine Heirat legalisiert, damit sie ihm nicht von einem Anderen vor der Nase weggeschnappt wurde und damit auch als Bühnenpartnerin ausfiel.

Beide waren nach spektakulären Auftritten in ganz Europa dem Ruf nach Amerika gefolgt. Dort hatte er seinen Künstlernamen Thawo kurzerhand in Mr. Magic geändert. Nach einem längeren Gastspiel im Steeplechase Park hatte Wolinski beschlossen, sich auf Coney Island dauerhaft anzusiedeln und zu diesem Zweck ein etwas heruntergekommenes Etablissement schräg gegenüber von James March gekauft, dessen einzige und großartige Attraktion er künftig sein wollte. Neben dem Showroom, in dem er seine Vorstellungen gab, konnten die Besucher sich auch an „verzauberten“ Räumen erfreuen, die nicht mehr als etwas größere Kammern waren, aber die unterschiedlichsten Überraschungen zu bieten hatten. So fanden sich Besucher mitunter in einem ganz anderen Bereich des Hauses wieder, nur indem sie durch eine Tür gegangen waren. Wie sie dabei eine Distanz von etlichen Metern überwanden, blieb eines der vielen Geheimnisse von Mr. Magic.

Der unergründliche Pole, der ausgesprochen attraktiv war, wie es oftmals den Angehörigen dieser Nation zueigen ist, eroberte die Herzen der Damen im Sturm. Nicht nur sein ansprechendes Äußeres, sondern auch die geheimnisvolle Aura ließ so manche Zuschauerin vor Wonne und heimlichem Grusel in Ohnmacht sinken.

Sein Zauberkabinett „House of Magic“, in dem auch die unterschiedlichsten Artikel für den Hausgebrauch angepriesen wurden, erfreute sich großer Beliebtheit und sorgte für lange Schlangen vor dem Eingang. Sehr zum Verdruss von James March.

Ein weiterer ärgerlicher Umstand war die Schönheit von Elsa Wolinski, die ohne anzügliche Aufmachung auskam, und allein durch ihren Liebreiz und ihre wahrhaft zauberhafte Ausstrahlung ebenfalls den Männern leuchtende Augen bescherte. Damit schlug sie sogar James’ Schönheitstänzerinnen, und Tallulah musste sie als ernsthafte Konkurrenz begreifen.

Als Tallulah schwanger wurde, ein Anlass, der normalerweise Freude aufkommen ließ, fühlte sie sich viel zu jung für eine Mutterschaft. Die Warnung Pythias hatte sie längst vergessen. Auch Rosalind konnte sich mit dem Gedanken, Oma zu werden, nicht recht anfreunden. Sie kannte ihre Tochter zu gut und hatte absolut keine Lust, sich noch einmal mit schmutzigen Windeln und Babygeplärr zu befassen.

James war hin- und hergerissen. Einesteils konnte er nicht erwarten, einen Stammhalter zu bekommen, denn das es ein Junge werden würde, stand für ihn fest, andernteils sah er mit Sorge der Zeit entgegen, wenn Tallulah aufgrund ihrer Körperfülle nicht mehr auftreten können würde. Wer wollte schon eine halbnackte Schwangere sehen? Und so weit, Tallulah in seine Freakshow einzubauen, wollte er nicht gehen. Das hätte sie auch nie mitgemacht. Ihm würde also seine Hauptattraktion ausfallen. Die anderen Mädchen waren zwar auch knusprig und hatten ihre Verehrer, aber einen solchen Erfolg wie Tallulah konnten sie nicht vorweisen. In dieser Hinsicht hatte James sich nicht geirrt.

Sein Irrtum bestand darin, aus Tallulah eine durchschnittliche Ehefrau und Mutter machen zu wollen, denn dazu war sie nicht geboren. Dementsprechend übel gelaunt war sie in der Zeit ihrer Schwangerschaft. Sie musste sich ständig übergeben und ganze Tage im Bett verbringen, so elend fühlte sie sich. Was noch deutlich zunahm, als sie sich durch ihren dicken Bauch aus dem Geschäft zurückziehen musste.

Rupert Murdock sorgte für ambivalente Stimmung in der Showtruppe. Auf der Bühne hatte er großen Erfolg mit Charlie, der durch ein mechanisches Getriebe funktionierte. Mittels eines Aufziehschlüssels konnte man wie bei einem Uhrwerk eine Spiralfeder aufziehen. Ebenso funktionierten auch andere Spielzeuge zum Aufziehen wie Lokomotiven, Autos und Tiere, bei denen später Elektromotoren Verwendung fanden. Dieser Antrieb eignete sich allerdings nicht für Charlie, der kein Motorengeräusch, sondern eine menschliche Stimme hören lassen sollte.

Bauchredner, Murdock, gelegentlich auch als Ventriloquist bezeichnet, ein Begriff, der aus den lateinischen Wörtern für Bauch und Reden zusammengesetzt ist, manipulierte seine Stimme in einer Art, dass sie von einer anderen Person, in dem Falle der Puppe, oder aus einer anderen Richtung zu kommen schien.

Es galt als eine Kunst, Worte ohne Bewegung des Mundes hervorzubringen, denn die Stimme beim Bauchreden kam keinesfalls aus dem Bauch. Man unterschied vielmehr zwischen „Kieferlauten“ und „Lippenlauten“. Bei Kieferlauten wie a, e, i, o, u, l, s musste lediglich der Kiefer bewegungslos gehalten werden, ohne die Lippen zu bewegen. Die schwierigeren Lippenlaute wie b, p, f, m, w kamen durch Zunge und Gaumen zustande und erforderten sehr viel Übung.

Charlie rief aus mehreren Gründen Irritationen hervor. Niemand hatte jemals beobachtet, wie er mittels eines Schlüssels aufgezogen wurde. Auch sein Herumlaufen im Haus unter der Verursachung von etwas unheimlichen Geräuschen machte vielen Angst. Einer der Zwerge wollte ein Gespräch zwischen Murdock und Charlie mit angehört haben. Ein Umstand, der viele an Murdocks Verstand zweifeln ließ.

„Du darfst mir heute Abend keine Schande machen, versprichst du mir das?“, hatte er Rupert Murdock sagen gehört.

„Ja, Daddy“, war die Antwort in der etwas höheren Tonlage, mit der Charlie „sprach“.

„Viele denken nämlich, dass du der Andere bist, aber wir wollen ihnen doch beweisen, dass es nicht so ist. Deshalb musst du dich heute mehr wie eine Puppe bewegen, und nicht so natürlich wie sonst. Sei etwas abgehackter in deinen Gesten, auch wenn du läufst. Du weißt ja, wie es bei dem Anderen aussieht.“

„Ja, Daddy, mach ich. Du kannst dich auf mich verlassen. Charlie will doch, dass Daddy Erfolg hat und glücklich ist. Aber diesem Master March sollte man mal eine Lehre erteilen. Er ist kein guter Mensch. Und was ich von dem Anderen halten soll, weiß ich auch nicht. Ich glaube, der tut nur so als sei er gut.“

Charlie glich nämlich in fataler Weise „Prinz Piccolo“, sodass beim Publikum der Verdacht aufkam, Murdock wiege statt der Puppe den Zwerg auf seinen Knien. Etwas, was der Prinz freilich nie zugelassen hätte. Er hasste im Gegenteil Murdock und seine Puppe, weil er sich durch das Aussehen und die piepsende Stimme nachgeäfft fühlte. Deshalb boykottierte er auch mitunter den besonderen Knalleffekt, neben der Puppe auf der Bühne zu erscheinen, um den Gerüchten einer Verwechslung entgegenzutreten. Damit schadete er aber weniger Murdock als James March, der ihn anschließend jedes Mal scharf zur Ordnung rief. Rupert Murdock hingegen verscherzte es sich bei James, indem er auffallend oft in der Nähe von Tallulah gesehen wurde. Besonders in der Schwangerschaft, als sorge er sich um das Wohl der Mutter und des Embryos.

Die Wehen zogen sich über etliche Stunden hin, und Tallulah musste unerträgliche Schmerzen ertragen. In diesen Momenten begann sie, das Ungeborene zu hassen, und auch James als eigentlichen Verursacher ihres Zustands. Als der kleine Joe endlich geboren war, zeigte Tallulah von Anfang an kein Interesse an dem Kind. Fortan oblag es Rosalind, sich um den Kleinen zu kümmern; was sie auch tat, ohne ihrerseits die rechte Liebe für den Säugling aufbringen zu können.

Kurz nach der Geburt kam es zu einem erneuten Eklat. James waren Gerüchte zu Ohren gekommen, dass in Wahrheit Rupert der Vater des kleinen Joe sei. Wutentbrannt stellte er Murdock in Anwesenheit von Tallulah zur Rede.

„Was ist dran an dem Gerede? Hast du dich heimlich an meine Frau herangemacht, du Schwein?“

„Und wenn? Du weißt doch ihre Schönheit schon längst nicht mehr zu schätzen.“

Tallulah ging auf Rupert zu und versetzte ihm ehe er sich versah zwei deftige Ohrfeigen.

„Die erste ist dafür, dass du diese Gerüchte in Umlauf gesetzt hast. Und die zweite dafür, dass du mich bei meinem Mann in ein unmögliches Licht gesetzt hast. Am besten, du verschwindest von hier.“

Tallulahs beherzter Auftritt zeigte bei James seine Wirkung.

„Du hast gehört, was meine Frau gesagt hat. Pack deine Sachen, und lass dich hier nie wieder sehen.“

„Also gut, ich gehe. Ich kann überall auf der Welt ein Engagement finden. Wenn ich will sogar hier auf dem Gelände. Dann könnte ich wenigstens ein wachsames Auge auf meinen Sohn haben.“

Tallulah wollte erneut auf ihn einschlagen, aber James kam ihr zuvor. Er streckte mit einem Kinnhaken den Gegner zu Boden. Als Rupert mit blutender Lippe auf dem Fußboden lag, stand James breitbeinig über ihm.

„Du hörst mir jetzt gut zu. Wenn du nicht innerhalb der nächsten Stunde von hier verschwunden bist, und wenn ich hier sage, meine ich ganz Coney Island, schlage ich dich eigenhändig tot. Und deine Puppe versenke ich im Atlantik, damit nichts von dir übrig bleibt. Hast du das kapiert?“

Murdock nickte nur, rappelte sich auf und verließ den Raum. Tallulah spuckte hinter ihm auf den Fußboden. Dabei wurde sie von Charlie beobachtet, der sich wieder einmal verselbständigt hatte.

James war trotz aller Gerüchte und Murdocks zweifelhaftem Geständnis ein Mustervater. Er hing mit abgöttischer Liebe an dem Kleinen; zumindest anfangs. Das sollte sich ändern, als Joe nicht so gedieh, wie zu erwarten gewesen war.

James hatte sich in den Kopf gesetzt, aus ihm das stärkste Kind der Welt zu machen. Der scheinbar normal entwickelte Junge, der nur etwas schmächtig war, musste unter James Anleitung vom zweiten Lebensjahr an Krafttraining machen. Was schnell die erwünschten Erfolge, aber auch immer wieder eigenartige Unfälle zur Folge hatte. Mehrmals musste der Kleine das Training absetzen, weil er sich einen Arm oder ein Bein brach. James war der Meinung, das mit anschließendem noch härterem Training ausgleichen zu können, bis selbst Rosalind Zweifel befielen.

„Ich glaube, du hast dir da etwas in den Kopf gesetzt, dass nicht zu bewerkstelligen ist“, sagte sie zu ihrem Schwiegersohn.

„Das lass nur meine Sorge sein. Ich werde einen richtigen Mann aus ihm machen, und nicht eins von den verweichlichten Muttersöhnchen. Obwohl, die Gefahr besteht ohnehin nicht, da Tallulah ihn wie einen Fremdkörper behandelt. Das spürt der Kleine und leidet darunter.“

„Zum Thema Mutterliebe: Du darfst das Tallulah nicht übel nehmen. Sie ist ja selbst noch ein halbes Kind und einfach überfordert.“

„Und das von dir?“

„Ja, ich bin realistisch genug, das zu erkennen. Du kannst mir glauben, dass ich mir auch etwas Besseres denken könnte, als in meinem Alter noch mal Mutterpflichten zu übernehmen, aber was bleibt mir anderes übrig?“

„Ich finde es großartig, wie du das machst.“

„Spar dir deinen Schmus. Ich weiß, dass du lieber eine andere Kassiererin beschäftigst, als eine Nanny, weil dich das auf Dauer billiger kommt. Und jetzt zu Joe: Hast du mal daran gedacht, dass er womöglich vom Knochenbau nicht geeignet ist, deine hochtrabenden Pläne zu erfüllen?“

„Ach Quatsch. Knochenbau ist die eine Sache, Muskeln, die die Knochen stützen, die andere. Du wirst sehen, in ein paar Jahren kann er uns auf einer Hand tragen.“

„Und wenn nicht? Wirst du ihn dann weniger lieben?“

„Bullshit, du wirst sehen, dass ich Recht behalte.“

Das war ein weiterer Irrtum von James, und Rosalind sollte mit ihren Bedenken Recht behalten. Aber es sollte noch weitaus schlimmer kommen.

Tallulah schien das alles nicht zu interessieren. Nach einer mehr als kurzen Mutterpause hatte sie alsbald wieder zu arbeiten angefangen und sonnte sich wie eh und je in der Gunst des vor allen Dingen männlichen Publikums. Sie trug ihre Haare jetzt weißblond aufgehellt, was James nicht sonderlich gefiel. Er fand es billig, und meinte, keine Lust zu haben, mit einer jungen Frau, die die Haarfarbe einer Greisin hatte, ins Bett zu gehen. Diese Angelegenheit wurde mit der Zeit sowieso immer seltener. Tallulah wollte unbedingt vermeiden, erneut schwanger zu werden, und fand nicht mehr so viel Interesse an James. Dafür mehr an einem jungen Burschen, der drüben auf der Achterbahn arbeitete. Ein schwarzlockiger, feuriger Kerl mit italienischen Wurzeln, der zwar gehörigen Respekt vor James hatte, aber dennoch seine Triebe nicht unter Kontrolle. Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis es zu einer Katastrophe kommen musste.

Die kam dann von ganz anderer Seite. Diesmal verletzte sich Joe bei seinem Krafttraining so schwer an der Wirbelsäule, dass er in eine Klinik gebracht werden musste. Dort wurde dann die niederschmetternde Diagnose gestellt, dass er an Osteogenesis imperfecta litt, die umgangssprachlich als Glasknochenkrankheit bezeichnet wird, weil die Knochen der betroffenen Patienten leicht wie Glas brechen. Unter den vielen Symptomen gab es Kleinwuchs, Deformierungen des Skeletts und der Wirbelsäule, schwache Muskulatur und überdehnbare Gelenke.

Als Joe nach wochenlangem Krankenhausaufenthalt entlassen wurde, musste er anfangs im Rollstuhl gefahren werden und später ein Stahlkorsett tragen, um der Gefahr eines Wirbelbruchs zu entgehen. Jeglicher Lebensmut schien aus dem Kind gewichen zu sein, und es bettelte förmlich um Liebe und Aufmerksamkeit.

Tallulah nutzte jede freie Minute, um heimlich die Zaubershows von Mr. Magic aufzusuchen. Denn auch sie war von dem Mann fasziniert. Notgedrungen nahm sie Joe in seinem Rollstuhl mit, stellte ihn aber wie ein Gepäckstück an der seitlichen Wand neben den Besucherreihen ab. Mit leuchtenden Augen verfolgte sie das Geschehen auf der Bühne und träumte davon, an Wolinskis Seite agieren zu können. Kurzzeitig vergaß sie dabei sogar, dass sie in Hinsicht auf ihre künftige Karriere ganz andere Pläne hatte. Wie wunderbar wäre es doch mit diesem Mann die Welt bereisen zu können, dachte sie. Die Tatsache, dass Thadeus nicht mehr reisen wollte und eine ebenso schöne Frau hatte, war für Tallulah nebensächlich. In ihrer grenzenlosen Selbstüberschätzung war sie der Meinung, dass Konkurrenz das Geschäft belebe und jederzeit ausgeschaltet werden könne.

Mr. Magic zeigte bis dahin nie da Gewesenes. Eine seiner Glanznummern war „Die zersägte Jungfrau“, ein Trick, der noch Jahrzehntelang zum Programm eines Illusionisten gehören sollte. Dabei legte sich die Assistentin in eine Kiste, und wie jeder sehen konnte, schauten an der einen Seite ihr Kopf und an der anderen ihre Füße heraus. Der Zauberer nahm eine große Säge und begann, die Kiste in der Mitte durchzusägen. Zu diesem Zeitpunkt fielen schon die ersten Damen im Publikum in Ohnmacht.

Tallulahs wacher Verstand ließ sie hinter der Aktion einen einfachen Trick vermuten, einen, den freilich Magier, Illusionisten oder Zauberer wie einen Schatz hüteten, denn es gab so etwas wie einen Ehrenkodex innerhalb dieser Zunft. Erst ein Dreivierteljahrhundert später sollte „ein schwarzes Schaf“ unter ihnen über das Fernsehen die meisten der spektakulären Tricks verraten. Eine Maskierung, die das ganze Gesicht und selbst die Hände bedeckte, sollte ihn bei der Vorführung vor dem Zorn seiner Kollegen schützen, denn sein Verrat brachte auch Morddrohungen mit sich.

An jenem Tag wurde wieder einmal eine Show von einer Frau unterbrochen. Dabei handelte es sich nicht um das Programm von James March und seiner Truppe, sondern um das von Mr. Magic auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Thadeus Wolinski hatte gerade sein schauriges Werk vollbracht und die beiden Kistenteile auseinandergeklappt, als Betty Jones die Bühne stürmte und wild auf ihn einschlug.

Sie war nach einem längeren Sanatoriumsaufenthalt ins Leben zurückgekehrt und wagte sich zum ersten Mal erneut auf das Terrain von Coney Island. Bei der Vorführung von Mr. Magic, der unbelebte Gegenstände in lebendige verwandelte, und umgekehrt, war ihr plötzlich klar geworden, wer für das Verschwinden von Ehemann Elmer und Söhnchen Tommy verantwortlich war. Freilich eine Logik, die nur sie nachvollziehen konnte, denn Wolinski war Betty und ihrer Familie bis dahin nie begegnet.

„Was haben Sie mit Elmer und Tommy gemacht?“, schrie sie völlig außer sich.

Thadeus war einen Moment völlig überfordert mit der Situation. Er wusste nicht einmal, was die Frau von ihm wollte. Im irritierten Publikum hörte man erste Unmutsäußerungen. Einige schimpften laut, andere warteten ab, weil sie nicht sicher waren, ob der Zwischenfall zum Programm gehörte, wie bei James’ Wonderland. Die arme Elsa verharrte erschrocken im linken Teil der Kiste, ohne zu wagen, sich aus der Enge zu befreien. Ihre Augen drückten nur Entsetzen und grenzenlose Verwirrung aus. Noch schlimmer erging es ihrer Kollegin Hulda, deren Füße mit einem gleichen Paar Schuhe wie Elsa sie trug aus dem anderen Teil der Kiste herausschauten. Es war ein gewaltiger Unterschied, ob sie nur wenige Minuten oder für längere Zeit mit dem Kopf in der dunklen Kiste steckte, noch dazu in sehr unbequemer Körperhaltung. Deshalb begann sie wild zu strampeln, soweit sie überhaupt dazu in der Lage war. Jetzt fiel ein weiterer nicht unerheblicher Teil des weiblichen Publikums in Ohnmacht.

Wolinski ließ schließlich den Vorhang fallen und befreite hinter einer schützenden Wand beide Frauen aus ihrer Zwangslage. Woraufhin Hulda schnell entwischte, damit der Trick nicht durchschaut wurde. Der Magier konnte das nur deshalb ungestört tun, weil zwei Männer aus dem Publikum die wild um sich schlagende Betty festhielten. Während sich zwei Sanitäter um die ohnmächtigen Zuschauerrinnen kümmerten, hatte man einen Cop informiert, der für das entsprechende Terrain zuständig war. Der Zufall oder die Vorsehung wollten es, dass es sich um denselben Mann handelte, dem Betty damals auf der Suche nach ihrer Familie in die Arme gelaufen war.

„Beruhigen Sie sich bitte, Ma’am“, sprach der Mann auf die rasende Frau ein.

„Er war es“, schrie Betty. „Er hat meinen Mann und meinen Sohn in Holzpuppen verwandelt. Nur hat er vergessen, ihnen ihre wahre Gestalt wiederzugeben.“

„Ihren Äußerungen entnehme ich, dass ihre Familie bisher nicht wieder aufgetaucht ist. Aber Sie können unmöglich den Magier dafür verantwortlich machen.“

„Eben“, mischte sich Wolinski ein, der langsam seine Fassung wiedergewann. „Was sollte ich für einen Grund haben, so etwas Schreckliches zu tun?“

„Was weiß ich, vielleicht brauchten Sie eine neue Sensation“, rief Betty schon etwas unsicherer geworden. „Alle haben sie gesehen, diese grausamen Puppen mit den Gesichtern von meinen lieben Angehörigen, denen man Bälle in die auf und zuklappenden Münder geworfen hat. Die Frauen haben ebenso geschrieen wie ich, weil sich die Augen bewegt haben und Blut aus den Mundwinkeln gelaufen ist.“

„Ich kann Ihnen versichern, dass entsprechende Nachforschungen ergebnislos verlaufen sind, Ma’am. Der Budenbesitzer konnte ganz normale mechanische Puppen vorweisen und will nichts Ungewöhnliches bemerkt haben, außer ein paar schreiende Frauen, die nachher nicht mehr ausfindig zu machen waren. Er meinte, dass es hin und wieder vorkommt, dass das weibliche Publikum vor Schreck aufschreit, wenn eine Puppe allzu lebensecht geraten ist und sich aber mit etwas abgehackten Bewegungen zeigt.“

„Aber das gibt’s doch nicht“, wimmerte Betty. „Jetzt will es wieder keiner gesehen haben.“

Wolinski ging auf die zitternde Frau zu und wollte sie zart umarmen. Betty versteinerte förmlich, bevor sie sich mit einem Ruck befreite und zur Seite sprang. Dabei hielt sie zur Abwehr beide Arme von sich gestreckt.

„So glauben Sie mir doch“, sagte er. „Ich habe mit dem … bedauerlichen Vorfall nichts zu tun. Eine derartige Nummer gehört überhaupt nicht zu meinem Programm, und hat es nie getan. Ich verwandle Tücher in Tauben und Blumensträuße in Kaninchen, aber keine Menschen in Puppen.“

„Ach, und was haben Sie vorhin getan? Eine Schaufensterpuppe in eine lebendige junge Frau verwandelt, oder etwa nicht?“

„Ja, aber nicht umgekehrt. Ein Trick, nichts weiter. Außerdem sind Schaufensterpuppen nicht mechanisch, und bewegen sich nicht, schon gar nicht ihre Münder. Begreifen Sie den Unterschied?“

„Sie sollten jetzt Ihren Irrtum einsehen“, sagte der Cop. „Dieser Mann hat garantiert nichts mit dem Verschwinden Ihrer Familie zutun. Sie sind lediglich einer Sinnestäuschung erlegen. Am besten Sie gehen jetzt wieder nach Hause und ruhen sich aus.“ Dass die psychische Behandlung wohl nicht so ganz erfolgreich verlaufen sein musste, behielt er für sich, um die gequälte Frau nicht zu verletzen.

Betty verließ widerstrebend, wie ein Häufchen Elend den Showroom. Eine aus der Ohnmacht erwachte, ältere Dame, die den erhitzten Dialog hinter dem Vorhang verfolgt hatte, wuchs förmlich über sich hinaus, indem sie Betty schützend in die Arme nahm und ihr Halt gab. Diesmal ließ es Betty geschehen.

Prinz Piccolo kümmerte sich in rührender Weise um Joe, wenn Tallulah etwas anderes, in ihren Augen Wichtigeres, vorhatte, bis auch er Ärger mit seinem Boss bekam und als nächster die Show verlassen musste.

„Sind Sie sicher Sir, dass Sie alles für den Jungen tun?“, wurde James eines Tages von dem Kleinwüchsigen gefragt. „Die Medizin macht heutzutage rasante Fortschritte, sodass ihm unter Umständen ein schlimmes Schicksal erspart werden kann. Ich weiß, was es heißt, anders als die anderen zu sein.“

„Das musst du schon mir überlassen. Kümmere dich um deinen eigenen Kinderkram.“

Die Augen des „Prinzen“ begannen böse zu funkeln, denn wenn ihn jemand mit einem Kind verglich oder gar mit “Du” anredete, konnte er auf der Stelle sehr jähzornig werden, auch wenn es sich dabei um seinen Chef handelte.

„Würden Sie es bitte unterlassen, mich zu duzen, Sir“, sprach er wütend mit seiner hohen Stimme.

„Ihr lebt hier alle von meinem Geld, also müsst ihr euch nach mir richten, und nicht umgekehrt. Soweit kommt es noch, dass ich euch mit „Sie“ anrede. Du hast wohl einen Höhenflug und hältst dich am Ende wirklich für eine Hoheit? Ich habe keine Lust, auf Animositäten Rücksicht zu nehmen“, bellte James.

Der „Prinz“ stampfte heftig mit seinen kleinen Füßen auf den Boden, womit er fatale Ähnlichkeit mit der Märchenfigur Rumpelstilzchen bekam.

„Das werden Sie aber müssen, wenn ich weiter bei Ihnen auftreten soll. Bei allem Respekt, Sir, warum sollen Sie sich nicht an etwas halten, was hier alle respektieren, inklusive ihrer Frau?“

„Ja, ich habe schon gemerkt, wie du sie ansiehst. Du glaubst doch nicht im Ernst, bei ihr landen zu können?“

Der „Prinz“ brachte alle Beherrschung auf, auf den erneuten Affront nicht zu reagieren, aber da er außerordentlich wütend war, vergriff er sich umgehend im Ton.

„Warum eigentlich nicht? Ihre Frau soll nicht sehr wählerisch sein, wenn es um ihre Verehrer geht.“

„Du hinterhältige kleine Missgeburt, du …“

„Das muss ich mir nicht von Ihnen sagen lassen“, schrie Prinz Piccolo. „Ich habe immer geglaubt, Sie hätten ein Herz für unsereinen, aber Sie sind nicht besser als alle anderen. Sie wollen nur mit uns verdienen.“

„Ja, was denn sonst? Wenn du Streicheleinheiten brauchst, bin ich die falsche Adresse.“

„Ich habe gesagt, Sie sollen mich nicht duzen“, schrie der Kleinwüchsige und griff nach dem Ersten, Besten, was er in die kleine Hand kriegen konnte. Es handelte sich um einen Kristallascher, den er zu Boden warf, wo die Glasschale in tausend Stücke zersprang.

„Das ziehe ich vom Lohn ab, Eure Durchlaucht“, sagte James hohntriefend.

„Das können Sie gerne tun. Und zwar vom Restlohn, denn ich bleibe keine Minute länger hier. Mir tut es nur um das Kind leid. Aber seien Sie gewiss, ich werde auch aus der Ferne ein Auge auf das weitere Schicksal von dem Jungen haben.“

Damit schob er wütend mit seinem kleinen Fuß die Scherben zur Seite und verließ hocherhobenen Hauptes das Zimmer. James hätte beinahe laut losgelacht, weil es so komisch aussah, wie der kleine Mann förmlich über sich hinauswuchs.

Ersatzzuwendung und geringe Aufmerksamkeit bekam Joe fortan allenfalls von Rosalind, die von beidem nicht viel zu vergeben hatte. Tallulah fand das kranke Kind nur lästig und schämte sich heimlich, für keinen gesunden Erbfolger gesorgt zu haben. Nur, wenn sie zu Mr. Magic hinüberging, nahm sie ihn notgedrungen mit, sozusagen als Alibi, um bei James keinen Verdacht aufkommen zu lassen.

Mechanical

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