Читать книгу Wehe, wenn Santa kommt! - Jay Baldwyn - Страница 4
1. Kapitel
ОглавлениеDie amerikanische Kleinstadt war festlich geschmückt. Die Vorgärten und Häuser waren bestückt mit Lichterketten und funkelnden Figuren. Lebensgroße Engel, Nussknacker und mindestens ein Nikolaus aus Kunststoff. Daneben gab es glitzernde Sterne und grelle Leuchtschriften. Bei Einsetzen der Dämmerung wetteiferten die Hausbesitzer um die prächtigste Dekoration. Die Schneemänner aus Plastik auf dem Dach, Krippen im Garten und verschneiten Eisenbahnen bestanden aus Hunderttausenden kleiner Lichter, neuerdings sogar LED, und die Stromrechnungen stiegen enorm an.
Die exzessive Tradition der Weihnachtsbeleuchtung stammte angeblich aus Deutschland. Denn im Erzgebirge war es Sitte gewesen, geschnitzte Leuchterfiguren oder Kerzen ins Fenster zu stellen, um den Bergleuten im Dunkeln heimzuleuchten. Noch vor der Industrialisierung hatte Massenware aus dem Erzgebirge wie Holzspielzeug und Weihnachtsschmuck den Markt überschwemmt. Selbst der erste Christbaum war bereits 1781 von einer deutschen Baronin in Nordamerika eingeführt worden. Auch Santa Claus, den viele immer noch für eine Erfindung von Coca Cola hielten – tatsächlich hatte Coca-Cola ihn in den 1930ern als Werbefigur benutzt –, stammte zwar dem Namen nach vom holländischen „Sinterklaas“, publiziert aber hatte ihn wiederum ein Deutscher – Thomas Nast ein Cartoonist des 19. Jahrhunderts, im pfälzischen Landau geboren und mit sechs Jahren mit seiner Familie nach New York gekommen. Er zeichnete einen gemütlichen, dicken Mann mit einem Sack voller Geschenke, der am Nordpol mit den Rentieren unterwegs war oder am Kamin die Socken füllte. Weit entfernt von einem Knecht Ruprecht, der mit der Rute die Kinder bestrafte.
Im Hause Avens herrschte am Weihnachtsabend keine besonders festliche Stimmung. Sidney Avens ging der Trubel sichtlich auf die Nerven. Außerdem hatte er Stunden verbracht, um den Fehler in einer der Lichterketten zu finden. Seine Frau Lacy war von dem Chaos in der Küche genervt und die Kinder Pete und Melody quengelten herum, weil der versprochene Besuch von Santa Claus scheinbar ausblieb.
Als es endlich an der Haustür läutete, ging Lacy aufmachen, nachdem sie ihre Küchenschürze abgebunden hatte.
»Sie kommen reichlich spät«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Sorry, Ma’m, ich habe das Haus nicht gleich gefunden«, sagte der Mann, der dem Klischeebild eines Weihnachtsmannes voll und ganz entsprach mit seinem roten, mit Fell abgesetztem Anzug, dem weißen Rauschebart und einem gefüllten Sack auf dem Rücken. Die rosigen Wangen und die Nickelbrille gaben ihm etwas Groß-väterliches, Vertrauenerweckendes. Doch hinter den Gläsern blitzten wache, eiskalte Augen.
»Dann kommen Sie rein. Ich gehe nur kurz in die Küche, den Ofen ausschalten.«
„Santa“ ging in den großzügigen Wohnbereich, wo der Hausherr vor dem Fernseher saß, Pete auf sein Handy starrte und Melody in einem Comic blätterte. Sie war die Einzige, die dem Besucher Aufmerksamkeit schenkte.
»Ho-Ho-Ho, ich komme von weit her und habe euch Geschenke mitgebracht«, ließ Santa seinen Spruch ab. »Wart ihr denn auch schön brav das Jahr über?«
Keine Reaktion.
»Pete, jetzt leg doch mal das Handy weg!«, sagte Lacy zu ihrem achtjährigen Sohn. »Und du, Schatz, mach bitte den Ton des Fernsehers einen Moment aus. Dann wollen wir doch mal sehen, was Santa uns mitgebracht hat.«
»Als ob ihr das nicht genau wüsstet«, maulte Pete. »Ihr habt doch im Kaufhaus den Sack bestückt.«
»Was haben wir denn da für einen vorlauten, kleinen Burschen? Da werde ich wohl gleich die Rute hervorholen müssen.«
»Das wagen Sie nicht …«
»Ganz recht. Meine Kinder werden nicht geschlagen«, brummte Sidney.
»Ich habe den Eindruck, hin und wieder eine kleine Tracht Prügel würde ihnen guttun.«
»Darüber steht Ihnen kein Urteil zu.«
»Ich will endlich wissen, was in dem Sack ist«, quengelte Melody.
»Dann wollen wir doch mal nachsehen.«
Santa griff tief in den Jutesack, und von einem Moment auf den anderen stand ein riesiges Puppenhaus auf dem Teppich. Wie er das gemacht hatte, blieb sein Geheimnis, aber Lacy war tief beeindruckt.
»Das war zwar so nicht abgesprochen«, sagte sie, »aber es ist wirklich hübsch, nicht wahr, Mel?«
»Ich finde es ausgesprochen hässlich«, sagte die Sechsjährige. »Und die uralten Möbel … Gab es keine modernen?«
Als Nächstes erhielt Pete ein hübsch verpacktes Päckchen, das er argwöhnisch beäugte. Als er achtlos das Papier abriss und mehrere Computerspiele zum Vorschein kamen, verzog er angewidert das Gesicht.
»Was soll das denn? Die habe ich doch alle schon. Und wo ist die Cyberbrille, die ich mir gewünscht habe?«
Santas Gesicht überzog ein Lächeln. Er war scheinbar durch nichts aus der Ruhe zu bringen.
»Dann wollen wir doch mal sehen, was wir für Mommy haben.«
Lacy erhielt eine schmale Geschenkbox, die ein glitzerndes Armband enthielt.
»Igitt, das ist ja Modeschmuck der billigsten Sorte. Damit würde ich niemals vor die Tür gehen.«
»Kommen Sie bitte einen Moment nach draußen?«, sagte Sidney und ging demonstrativ vor, um sogleich den Hobbykeller anzusteuern. »Hier liegt wohl eine Verwechslung vor. Kann es sein, dass Sie sich in der Adresse geirrt haben?«, fragte er im Schein einer einfachen Bauleuchte.
»Keineswegs, jeder bekommt das, was er verdient hat. Ihre Frau ist keine echten Juwelen wert. Und Ihre unerzogenen Bälger sollten lernen, was Demut ist. Der Bengel muss in seinem Alter nicht über die neueste Technik verfügen, und andere Mädchen hätten sich angesichts des herrlichen Puppenhauses vor Freude nass gemacht.«
»Sagen Sie mal, wie reden Sie denn mit mir? Verlassen Sie auf der Stelle mein Haus. Ich werde mich bei Ihrer Firma über Sie beschweren.«
»Das bleibt Ihnen freigestellt. Nur fürchte ich, Sie werden nicht mehr dazu kommen.«
Oben wurde Lacy langsam unruhig.
»Ich möchte mal wissen, wo euer Vater so lange bleibt. Was hat er nur mit dem Mann alles zu bereden? … Ach, da sind Sie ja wieder. Und wo ist mein Mann?«
»Ihr Gatte zieht es vor, sich im Hobbykeller zu beschäftigen.«
»Aber das gibt’s doch gar nicht. Am Heiligen Abend. Wenn er nicht in fünf Minuten zurück ist, gehe ich ihn holen.«
»Na, gefällt euch das Haus jetzt schon besser?«, fragte Santa scheinheilig.
Melody schüttelte entschieden den Kopf, und Pete gab seine Art von Kommentar ab:
»Wer spielt schon noch mit einem Puppenhaus? Mit so einem Quatsch konnte man früher mal kleine Mädchen beeindrucken. Heutzutage wollen sie mindestens eine Barbie Traumvilla.«
»Aus Plastik, ja. Für Naturmaterialien hat eure Generation doch keinen Sinn mehr.« Santa räusperte sich. »Sehr schade, dass ihr das Haus nicht mögt. Es wird für längere Zeit euer Zuhause sein.«
»Was soll der Blödsinn denn?«, fragte Lacy. »Machen Sie gefälligst den Kindern keine Angst.«
»Ach, ich denke, die kleinen Satansbraten kann so schnell nichts erschüttern.«
„Santa“ schnipste mit den Fingern, und im nächsten Moment waren Pete und Melody verschwunden. Stattdessen fiepten zwei weiße Ratten im Puppenhaus zum Gotterbarmen.
Lacy war kurz vor einer Ohnmacht. Sie konnte einfach nicht glauben, was sie mit eigenen Augen gesehen hatte. Dann machte sie eine ruckartige Bewegung und rannte wie wild in den Keller hinunter. Sekunden später ertönte ihr markerschütternder Schrei.
Unten, in der Hobbywerkstatt, hing ein unförmiges Gebilde an einem Fleischerhaken an der Wand. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte sie, dass es Sidney war, der vollständig in Lichterketten eingehüllt war. Sodass er wie ein leuchtender Kokon wirkte. Aber das Grausigste war, dass die Kette auch in seinen Mund führte und am After wieder austrat. Dadurch wirkte sein Körper auch von innen wie illuminiert. Seine starren Augen zeugten davon, dass er tot war.
Lacy rannte wie von Sinnen die Treppe hinauf und holte im Schlafzimmer aus einem Wandschrank eine alte Pistole hervor, die sie mit zitternden Fingern mit Patronen befüllte. Dann lief sie zurück in den Livingroom und richtete die Waffe auf den falschen Weihnachtsmann.
»Happy Christmas!«, sagte er grinsend. »Hat Ihnen das zweite Geschenk besser gefallen?«
Lacy drückte ohne zu Zögern ab. Doch der Schuss ging ins Leere. Dort, wo eben noch Santa Claus gestanden hatte, gab es nur noch feinen Nebel, der sich alsbald auflöste. Die entsetzte Frau raufte sich die Haare und rannte aus dem Haus. Statt die Polizei zu rufen, suchte sie ihr Heil bei den Nachbarn.
Detective Amos Snider freute sich auf den Weihnachtabend. Als er nach Hause kam, tönte aus dem Radio in der Küche „Wonderful Dream“ von Melanie Thornton. Ein Hit von 2001, den Coca Cola für seine Werbung verwendet hatte.
»Kannst du das bitte etwas leiser machen?«, sagte Amos, woraufhin seine hübsche Frau, Frances, sofort zum Radio ging. Als sie wiederkam, umringten Amos die halbwüchsigen Zwillinge Jesse und Pamela, weil sie wie stets glaubten, ihr Anliegen sei das wichtigste.
»Nun lasst doch euren Dad erst mal ankommen. Ihr habt ihn ja noch den ganzen Abend«, gebot Frances ihnen lächelnd Einhalt.
»Wenn er heute ausnahmsweise nicht gebraucht wird«, sagte Emily, Frances’ Mutter, die erhitzt aus der Küche kam.
Emily Kruger, die eigentlich Emilie Krüger hieß, kam aus dem Bergischen Land und lebte seit mittlerweile zwanzig Jahren in den Staaten. Inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt, dass man in den USA Umlaute ignorierte, weil man sie nicht aussprechen konnte. So wurde aus Müller Muller und aus Krämer Kramer. Ihr Mann, Archibald Krüger/Kruger, war vor fünf Jahren an einem Herzinfarkt gestorben. Aber Emily beziehungsweise Emilie war alles andere als eine lustige Witwe. Dazu war sie zu glücklich verheiratet gewesen. Jetzt bewahrte sie Archibalds Andenken und kümmerte sich mit Leidenschaft um ihre Tochter und die Enkel. An Weihnachten ließ sie sich nicht nehmen, für die Familie zu kochen. Alle hatten sich damit abgefunden, dass es statt des üblichen Truthahns die weitaus fettere Gans gab. Aber das leckere Schmalz mit Zwiebeln war dann anschließend immer ein willkommener Brotaufstrich.
»In einer halben Stunde können wir essen. Genehmigt euch doch derweil einen Drink«, sagte sie jovial.
In dem Moment läutete Amos’ Handy.
»Oh nein, nicht schon wieder«, sagte Frances mit gespielt verzweifeltem Gesichtsausdruck. »Lässt man dir nicht einmal am Weihnachtsabend deine Ruhe?«
»Verbrechen kennen keine Feiertage. Aber lass mich erst einmal hören, was los ist. Snider …«, meldete sich Amos kurz darauf und lauschte eine Weile. »Verstehe … Ja, ich weiß, wo das ist. Bin gleich da.«
»Na, habe ich’s nicht gesagt?«, tönte Emily. »Aber mach dir keine Sorgen, mein Junge. Wir heben dir eine der Keulen auf, und ein paar köstliche Klöße sowieso. Ob ich allerdings noch etwas Rotkraut vor den Kindern retten kann …«
»Jetzt mach sie nicht schlimmer als sie sind, Mom. Für ihren Vater würden sie das letzte Hemd geben. In diesem Fall den letzten Löffel Rotkraut«, sagte Frances.
»Dann bin ich ja beruhigt«, meinte Amos. »Also, bis später! Ich beeile mich.«
Als Amos nach zwei Stunden wiederkam, sah er fast grün im Gesicht aus. Im Gegensatz dazu stand der Karton, den er Jesse und Pamela überreichte und dessen Inhalt ihnen ein Lächeln ins Gesicht zauberte.
Als Frances hineinsah, verging ihr das Lächeln.
»Das kann jetzt nicht wahr sein«, sagte sie. »Wo hast du die her? Du weißt, dass ich diese Tiere nicht sonderlich schätze.«
»Aber die sind doch so süß«, rief Pamela aufgeregt und streichelte eine der beiden weißen Ratten.
»Hast du noch in einer Zoohandlung Halt gemacht?«, fragte Frances.
»Später«, antwortete Amos und machte dabei ein mürrisches Gesicht. Und Appetit hatte er wenig, was Emily allerdings nicht gelten ließ. Sie füllte ihm den Teller voll und klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter.
»Iss, mein Junge! In deinem Beruf brauchst du alle Nervenkraft.«
»Wem sagst du das, Mom? Und was ist mit unserer?«, fragte Frances.
»Wer einen Mann mit diesem Beruf heiratet, muss mit dem Schlimmsten rechnen. Aber ich muss zugeben, du hättest es schlechter treffen können.«
»Danke, Mom. Schon vor der Bescherung Komplimente? Womit habe ich das verdient?«
»Das nennt man Fishing for Compliments. Jeder in dieser Stadt weiß, dass du ein anständiger Bursche bist und dabei auch noch unverschämt gut aussiehst.«
»Mom, du bist ja heute richtig in Geberlaune«, feixte Frances. »Nicht dass du mir noch meinen Mann ausspannst …«
»Red keinen Unsinn, Kind. Über derartige Torheiten bin ich längst hinaus. Aber jetzt wollen wir ihn in Ruhe essen lassen. Und nachher erfahren wir vielleicht etwas darüber, was ihn von hier weggerufen hat.«
Als Amos aufgegessen hatte, schob er den Teller von sich weg und prustete.
»Das war ausgezeichnet, aber die nächsten zwei Tage brauche ich wohl nichts mehr zu essen. Ja, ihr seid neugierig, was los war … Kinder, geht doch bitte in eure Zimmer und macht euch langsam für die Nacht fertig. Santa Claus kommt eh nur, wenn ihr schlaft.«
»An den glauben wir schon lange nicht mehr, Dad. Aber es ist eine hübsche Tradition«, sagte Jesse. »Komm, Pam! Wenn wir nicht brav sind, bleiben die Socken leer, oder es gibt was mit der Rute.«
»Mindestens … Ich sehe nachher noch mal nach euch. Und vergesst die Zähne nicht. Und lasst die Tiere vorerst im Karton. Nach dem Feiertag kümmere ich mich um einen Käfig.«
»Schon okay, Dad. Unser Zahnpastalächeln geht uns über alles. Und die Tiere wollten wir ohnehin nicht mit ins Bett nehmen«, rief Pamela über die Schulter und ging ihrem Bruder hinterher.
»Also, zu vorhin …«, setzte Amos erneut an. »Ihr kennt doch Sidney Avens und seine Familie … In dem Haus ist heute Abend etwas Entsetzliches passiert. Ihn hat man tot aufgefunden, die beiden Kinder sind spurlos verschwunden und seine Frau redet total wirres Zeug. Angeblich sei ein grausamer Santa Claus in ihr Haus gekommen, habe ihren Mann getötet und die Kinder in Ratten verwandelt. Tatsächlich haben wir zwei zahme weiße Ratten im Wohnzimmer gefunden, die ich mitgenommen habe, da sie nicht allein im Haus bleiben können.«
»Warum, was ist mit Mrs. Avens?«, fragte Frances.
»Die liegt erst mal im Hospital. Wenn sie vernehmungsfähig ist, werde ich sie erneut befragen. Sie hat auch behauptet, der Mann habe ein riesiges Puppenhaus aus dem Sack geholt, was physikalisch gar nicht möglich ist, es sei denn, es handelte sich um ein Klapphaus. Aber sie meinte, es wäre voll alter Möbel gewesen. Im gesamten Haus gab es aber kein Puppenhaus. Eine seltsame Geschichte. Wir gehen davon aus, dass die Kinder ihren toten Vater gesehen haben und in Panik aus dem Haus gelaufen sind. Die Suche nach ihnen läuft schon.«
»Und was ist mit dem Mörder?«, wollte Emily wissen.
»Lacy Avens behauptet, auf ihn geschossen zu haben. Das Projektil fanden wir, aber keine männliche Leiche oder Blutspuren. Mrs. Avens sagt, der Santa habe sich in Rauch aufgelöst.«
»Die Arme Frau, sie halluziniert«, meinte Frances. »Kein Wunder, wenn man am Weihnachtsabend seine gesamte Familie verliert. Sucht ihr trotzdem nach ihm?«
»Dann müssten wir jeden einzelnen Santa Claus befragen. Ein hoffnungsloses Unterfangen, wo so viele in der Stadt herumlaufen.«
»Was ist, wenn die Geschichte stimmt. Wenn es kein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern ein Dämon, ein Kramperl war?«
»Jetzt komm nicht wieder mit der Krampus-Sage, Mama! Damit hast du früher schon die Kinder geängstigt.«
Wenn Frances ihre Mutter auf Deutsch mit Mama ansprach, statt, wie in Amerika üblich, mit Mom, war Alarm angesagt. Das wusste Emily nur allzu gut. Dennoch war sie noch immer mit dem Brauchtum ihrer Heimat verbunden.
Das „Kramperl“ stand im Berchtesgadener Land für den Krampus, wie er im Ostalpenraum, im südlichen Bayern und der Oberpfalz, in Österreich und sogar in Teilen des Fürstentums Liechtenstein, in Ungarn, Slowenien, der Slowakei, in Tschechien, Südtirol, Trentino und Teilen des außeralpinen Norditaliens und Kroatiens genannt wurde. Eine dämonische Schreckgestalt des Adventsbrauchtums mit Hörnern, langem Schwanz und Hufen, die ursprünglich den Nikolaus begleitete. Während der Nikolaus die braven Kinder beschenkte, wurden die unartigen vom Krampus bestraft. Der Name leitete sich von mittelhochdeutsch Krampen ‚Kralle‘ oder bairisch Krampn ‚etwas Lebloses, Vertrocknetes, Verblühtes oder Verdorrtes‘ ab. In der Region Berchtesgadener Land innerhalb des gleichnamigen Landkreises kannte man zweierlei Krampusse: die ganz in Fell gekleideten „Kramperl“ und die wendigeren, mit Strumpfhosen ohne Fell und kleineren Glocken ausgestatteten „Gankerl“ beziehungsweise „Ganggerl“.
»Dann würde ich eher noch glauben, Lacy Avens habe ihren Mann selbst umgebracht. Die Kinder könnten aus Entsetzen darüber geflohen sein«, sagte Amos. »Wenn da nicht ein Umstand wäre, der mich zweifeln lässt. Sidney hing an einem Fleischerhaken an der Wand. Das hätte Lacy allein nicht bewältigen können. Es sei denn, sie hatte Hilfe. Zum Beispiel von einem Liebhaber. Könntest du dich nicht mal unauffällig im Drugstore oder im Supermarkt umhören, Fran? Vielleicht weiß jemand etwas darüber.«
»So, ich soll also deine Arbeit machen? Nein, war ein Joke. Kein Problem. Sollte Mrs. Avens ihrem Mann untreu gewesen sein, zerreißt man sich bestimmt das Maul darüber.«
Die Mordlust des unheimlichen Santa Claus war noch lange nicht gestillt in dieser Nacht. Deshalb steuerte er das nächste, etwas abgelegen liegende Haus an.
»Ho-Ho-Ho«, rief er, als er an die Haustür pochte. »Santa is back in town!«
Edgar Coolidge, ein übergewichtiger Enddreißiger, öffnete nach längerem Zögern. Seine Frau, Mary, verbarg sich schüchtern hinter seiner Leibesfülle.
»Zu so später Stunde haben wir nicht mehr mit Ihnen gerechnet«, sagte Ed, wie ihn alle nannten.
»Santa Claus gehört die Nacht. Das ist doch allgemein bekannt.«
»Ja, aber die Kinder sind bereits im Bett.«
»Umso besser. Ich kann die Geschenke in die Stockings stecken und darunter stellen. Oder soll ich alles wieder mitnehmen?«
»Nein, nein, kommen Sie schon.«
Das von außen vergleichsweise spärlich dekorierte Haus entpuppte sich innen als überladen dekoriert. In das Gold und Glitzern mischten sich zusätzlich die Weihnachtsfarben Rot, Grün und Weiß. Der bis zur Decke reichende Kunststoffweihnachtsbaum strotzte nur so vor bunten Girlanden, fetten, kleinen Engeln und blinkenden Lichterketten, die in den Augen wehtaten. Auf einer zerkratzten, alten Vinylplatte säuselte Bing Crosby etwas von „White Christmas“, die es 1942 noch gegeben hatte. Doch inzwischen war Schnee in der Weihnachtszeit eher eine Seltenheit.
»Oh, wie aufmerksam«, sagte der Mann im Kostüm von Santa Claus, als er auf dem Kamin einen Teller mit Keksen und ein Glas Milch zur Stärkung stehen sah.
»Ja, unsere Töchter wissen, was sich gehört«, sagte die Hausfrau. »Ein paar Möhren für die Rentiere liegen auch bereit.«
»Ach, Rudi habe ich heute freigegeben«, lachte „Santa“, und die Coolidges stimmten ein.
»Dann wollen wir doch mal sehen, was ich so alles in meinem Sack habe …«
Der falsche Weihnachtsmann begann, die Strümpfe am Kamin mit Süßigkeiten zu befüllen. Als die größeren Geschenke zum Vorschein kamen, stapelte er sie darunter oder warf sie scheinbar wahllos Mary und Ed in den Schoß.
»Ihr dürft ruhig schon auspacken. Ich denke, das, was da zum Vorschein kommt, ist eh nichts für die Augen von Priscilla und Charity.«
»Woher kennen Sie die Namen unserer Töchter?«, fragte Ed irritiert.
»Ein guter Santa Claus muss über alles informiert sein, nicht?«
Als Mary ihr erstes Päckchen öffnete, wurde sie abwechselnd blass und rot, denn darin befand sich Reizwäsche der schamlosesten Art. BHs mit „Nippelalarm“ und hauchdünne, durchsichtige Slips, die vorne und hinten geschlitzt waren.
»Na, meint es dein Ed nicht gut mit dir, Mary? Dabei dachte er wohl hauptsächlich an sein eigenes Vergnügen.«
»Ich habe diesen Schweinkram nicht bestellt. Das muss eine Verwechslung sein«, stotterte Ed schwitzend.
»Nein? Du siehst es wohl lieber an anderen, lockeren Frauenzimmern. Aber warum in die Ferne schweifen?«
Als Ed seinen Karton öffnete, fand er eine Sammlung von Hardcore Porno Filmen vor, die man nur unter dem Ladentisch erhalten konnte. Sozusagen als Krönung lagen obenauf ein sogenannter Zungenvibrator und eine Penispumpe. Mary stieß einen spitzen Schrei aus, und Ed schnappte nach Luft.
»Was soll das? Das haben wir nicht bestellt«, japste er.
»Ich kann eben Gedanken lesen. So etwas habt ihr euch doch immer schon gewünscht, um etwas Pep in euer erkaltetes Liebesleben zu bringen. Kommt, probiert es nur gleich aus! Ich sehe auch nicht hin.«
»Das kommt doch gar nicht infrage. Nicht außerhalb unseres Schlafzimmers …«, sagte Mary.
»Wirst du wohl brav sein? Oder muss ich erst böse werden?«
Die rotglühenden Augen des falschen Santa übten eine geradezu hypnotische Wirkung aus. Mary stand tatsächlich auf, entkleidete sich und zog die neue Unterwäsche an. Ed sah ihr fassungslos zu.
»Und du legst jetzt das neue Spielzeug an, damit du endlich mal etwas Vernünftiges in der Hose hast.«
Ed tat tatsächlich, wie ihm geheißen. Er öffnete seine Hose und legte die Penispumpe an.
»Was macht ihr da? Mom, Dad?«, fragte die siebenjährige Charity, die plötzlich mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester an der Hand auf der Treppe stand.
»Priscilla, Charity, geht sofort zurück in eure Zimmer«, schnauzte Ed und bedeckte seinen Unterleib mit seinem Hemd.
Mary war blitzschnell aufs Sofa gehüpft und versuchte, sich mit ihrer Kleidung zu bedecken.
»Tut, was Dad sagt«, krächzte sie mit rauem Hals. »Mommy und Daddy spielen ein neues Spiel. Aber das ist nur für Erwachsene.«
»Wir wollen aber mitspielen. Und Santa Claus soll uns auch unsere Geschenke geben«, krähte Priscilla.
»Na, dann kommt. Hier unten könnt ihr noch was lernen«, brummte Santa.
»Was haben Sie denn noch so alles in Ihrem Sack?«, fragte Mary und zog hastig ihr Kleid an, während Ed im Bad verschwand, um sich endlich von dem Sexspielzeug zu befreien.
Der Mann, der hier als Santa Claus auftrat, zauberte ein überdimensionales Dornröschenschloss hervor und erwartete leuchtende Kinderaugen. Doch die Mädchen reagierten anders als erwartet.
»Sleeping Beauty ist doch ein alter Hut«, sagte Charity. »Wenn schon Märchen, dann hätte ich mir ein tolles Cinderella-Ballkleid gewünscht, mit dem ich in der Schule angeben kann.«
»Sieh an, die Prinzessin selbst willst du sein. Ich könnte dir so ein Kleid herbeizaubern, aber wie im Märchen kann der Zauber plötzlich gebrochen werden, und dann stehst du in Lumpen vor deinen Klassenkameraden.«
»Dann verzichte ich. So einen faulen Zauber will ich nicht. Haben Sie sonst nichts zu bieten?«
»Du hast dir doch das Schloss noch nicht einmal richtig angesehen …«
Mary, die froh war, von der peinlichen Situation abgelenkt zu werden, nahm ihre Tochter Charity an die Hand und besah sich das herrliche Spielzeug ganz genau. Priscilla, die keine Berührungsängste hatte, kletterte derweil auf den Schoß von Santa.
»Du kannst den Bart jetzt ruhig abnehmen«, sagte sie. »Ich weiß, dass du es bist, Onkel Dan.« Damit zog sie kräftig an den langen, weißen Barthaaren.
Santa heulte schmerzerfüllt auf.
»Mach das ja nicht noch mal, du freches Ding. Sonst muss ich dich bestrafen.«
»Hör, was der Onkel sagt!«, rief Mary. »Also, ich finde das Schloss einfach wunderschön. Vielleicht ein bisschen groß, aber sonst …«
»Würdest du gern darin wohnen, Mary?«
»Warum nicht? Wenn das ginge …«
»Und ob das geht. Pass mal auf …!«
Charity spürte, wie die Hand ihrer Mutter schrumpfte. Als das Mädchen zur Seite blickte, stand statt ihrer Mutter eine kleine Puppe neben ihr, die Marys Kleid trug. Santa hob Priscilla von seinem Schoß, stellte sie auf den Boden und setzte die kleine Figur in das Puppenschloss.
»Den Trick habe ich im Television schon besser gesehen«, maulte Charity. »Mom, du kannst jetzt wirklich hinter dem Haus vorkommen. Mom? …«
Das Mädchen lief um das Haus herum, konnte aber ihre Mutter nirgends entdecken. Priscilla sprang aufgeregt hin und her. Dann entdeckten die Mädchen hinter einem der Schlossfenster Marys Gesicht. Die kleine Figur hämmerte mit den Fäusten gegen die Scheiben. Dabei liefen ihr dicke Tränen über die Wangen. Priscilla trat dem Santa wütend mit aller Kraft vors Schienbein, wonach er wütend aufheulte.
»Gib uns sofort unsere Mommy wieder, du oller doofer Weihnachtsmann«, schrie sie. »Du bist ja wirklich nicht Onkel Dan. Der kann nämlich nicht zaubern und würde so etwas Schlimmes nie machen.«
»Genau«, pflichtete ihr Charity bei. »Deshalb pack deine Sachen zusammen und mach, dass du wegkommst.«
»So, ihr wollt mich und meine Geschenke nicht. Na gut.«
Santa machte einen gewaltigen Sprung und landete mit beiden Beinen auf dem Schloss, das nach und nach zusammenbrach. Bevor er es endgültig platt trat, huschte ein verängstigtes grauweißes Meerschweinchen aus den Trümmern, dem niemand Beachtung schenkte.
Die Kinder schlugen und traten auf Santa ein.
»Du hast unsere Mama totgemacht«, schrie Priscilla, und Charity sagte:
»Sie geben uns jetzt sofort unsere Mutter wieder, sonst rufen wir die Polizei.«
Santa starrte die Geschwister nur unbeweglich an, bis seine Augen rot zu glühen anfingen. Als die Mädchen vor Schreck wie gelähmt stehen blieben, holte er zwei leere Säcke hervor und steckte in jeden eines der Kinder. Dann band er die Säcke mit einem Strick oben fest zusammen.
Ed kämpfte im Bad noch immer mit der Penispumpe. Wie er es auch versuchte, er konnte das Gerät nicht abbekommen. Als er draußen seine Töchter schreien und toben hörte, knüllte er ein Badetuch zusammen und drapierte es über seinen Unterleib. Dann riss er die Badezimmertür auf.
Der falsche Weihnachtsmann hatte sich gerade den ersten Sack über die Schulter geworfen, in dem es heftig zappelte.
»Was ist hier los?«, brüllte Ed. »Ist da etwa eines meiner Mädchen drin?«
»Ja, genau wie in dem anderen auch. Verabschiede dich schon mal von ihnen!«
Ed stürzte sich auf Santa. Dabei war ihm egal, dass er gerade einen gewaltigen Ständer hatte. Die Kinder konnten ihn so ja nicht sehen.
»Du lässt sofort meine Kinder aus den Säcken! Und wo ist meine Frau? Was hast du mit ihr gemacht?«
»Die wirst du erst im Jenseits wiedersehen. Dort, wohin ich dich jetzt schicke.«
Santa zog ein Fleischermesser aus seiner Jacke und rammte es Ed in die Brust. Der brach sofort zusammen und blieb auf dem Boden liegen. Der falsche Weihnachtsmann stieg achtlos über ihn hinweg und ergriff die beiden Säcke.
Draußen vor dem Haus überlegte er einen Moment, ob er die Säcke in seinen Wagen laden sollte. Doch was konnte er schon mit zwei unerzogenen Mädchen anfangen? Er stellte einen der Säcke auf dem Rasen ab, holte mit dem anderen Schwung und schlug ihn mit voller Wucht gegen einen dicken Baum. Dann nahm er den anderen und verfuhr mit ihm ebenso. Als er sich davontrollte, zappelte nichts mehr in den Säcken. Keiner der Nachbarn hatte etwas von dem schaurigen Geschehen mitbekommen.