Читать книгу Die Magie der Vergangenheit - Jay Baldwyn - Страница 3
Kapitel 1
Оглавление„Aus des Meeres tiefem, tiefem Grunde
Klingen Abendglocken dumpf und matt,
Uns zu geben wunderbare Kunde
Von der schönen alten Wunderstadt.[…]“
(Zitat Ende)
Vineta
Wilhelm Müller
(* 07.10.1794, † 01.10.1827)
Mit meinen Eltern hatte ich es nicht so schlecht getroffen. Ich liebte sie heiß und innig und bewunderte sie aufrichtig. Schön, manchmal fühlte ich mich schon etwas allein gelassen. Immer dann, wenn sie mich nicht mitnahmen auf ihre Reisen. Und sie reisten ständig in der Welt umher. Ihre Erzählungen über das, was sie alles gesehen hatten, sog ich auf wie ein Schwamm. Ich konnte nicht genug davon kriegen. Die Fotos und Videos, die ihre Berichte ergänzten, ließen mich zeitweise glauben, die Welt wäre nur so erfüllt von geheimnisvollen Orten. Man müsste gar nicht lange suchen. Doch das war natürlich ein Trugschluss. Ohne intensive Recherche kam man nicht weit.
Und im Recherchieren war mein Vater meisterhaft. Er überraschte meine Mutter immer wieder mit außergewöhnlichen Orten, die zum Teil Jahrhunderte auf ihre (Wieder-)Entdeckung gewartet hatten. Finanziell waren meine Eltern unabhängig, das erleichterte die Sache enorm. Das Erbe meiner Großeltern väterlicherseits – Inhaber einer gut florierenden und allseits bekannten Firma – sorgte für ein sorgenfreies Leben. Die Firma nach dem viel zu frühen Tod meiner Großeltern übernehmen, hatte Vati nicht gewollt. Dazu liebte er viel zu sehr seine Freiheit. Er war ein rechter Abenteurer und Mutti die ideale Partnerin für ihn, da sie sich ebenso sehr für antike Stätten begeistern konnte wie er.
Es gab jedes Mal heiße Tränen meinerseits, wenn sie ohne mich fuhren und mich bei Oma abgaben. Doch je älter ich wurde, desto eher sah ich ein, dass ich nicht so oft die Schule versäumen durfte. Umso größer war die Wiedersehensfreude. Und meine Eltern gaben sich redliche Mühe, einiges an mir gutzumachen, wenn sie zu Hause waren.
Das erste Mal mitreisen durfte ich, als ich zwölf war. Natürlich in den großen Ferien. Unser Ziel lag in den USA. Eine aufgegebene Stadt im Wilden Westen. Angeblich sogar die besterhaltene Geisterstadt der USA. Dazu mussten wir nach Kalifornien fliegen. Allein schon ein unbeschreibliches Abenteuer. So lange hatte ich noch nie zuvor in einem Flugzeug verbracht.
Da Bodie östlich von San Francisco an der Grenze zu Nevada lag, verbrachten wir zunächst einige Tage in der Stadt mit der weltberühmten Golden Gate Bridge. Als viertgrößte Stadt Kaliforniens galt sie im globalen Vergleich als mittelgroße Weltstadt. Ihren ersten großen Aufschwung hatte sie einst durch den 1848 beginnenden Goldrausch in Kalifornien erlebt. Der Name Golden Gate leitete sich von diesem Ereignis ab.
Mich faszinierten die steilen Straßen, die durch die zweiundvierzig Hügel entstanden waren. Die sogenannten Cable Cars, die inzwischen ausschließlich als Touristenattraktion dienten, erklommen diese scheinbar mühelos. Schon beim Ansehen des Hitchcock-Klassikers „Vertigo“ hatte ich einen Eindruck davon bekommen, aber selbst vor Ort zu sein, war schon etwas anderes. Den tragischen Aspekt – die immer wiederkehrenden Erdbeben – blendete ich vorerst aus. Ich liebte die große Anzahl viktorianischer Häuser, die während der Goldgräberzeit Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut wurden. Vati machte mich allerdings darauf aufmerksam, dass über die Hälfte der Victorians dem Erdbeben und dem darauf folgenden Feuer von 1906 zum Opfer gefallen waren. Trotzdem gab es noch etwa 15.000 davon.
Nachdem wir die berühmte Chinatown, die Japantown und das Viertel Fisherman’s Wharf mit seinen Cafés, Kneipen und Restaurants besucht hatten, nahm Vati einen Mietwagen, und dann ging es endlich los nach Bodie.
Die Stadt war um 1859 als Goldgräbersiedlung entstanden und in den 1930er Jahren aufgegeben worden. Dank der geringen Luftfeuchtigkeit blieben viele Gebäude, Gerätschaften und Autos relativ gut erhalten. Seit 1962 war die Stadt ein sogenannter State Park. Benannt war sie nach William S. Bodey, der 1859 in Mono County in der Sierra Nevada als Erster Gold gefunden hatte. Nach seinem Tod gründete seine Familie an dieser Stelle die Stadt Bodie. Um eine falsche Aussprache als „Body“ (= Leiche) auszuschließen, benutzte man die geänderte Schreibweise.
Bodie hatte zeitweise einen schlechten Ruf genossen und in dieser Zeit als eine der wildesten und gesetzlosesten Städte des Westens gegolten. Denn neben den fünfundsechzig Saloons hatte es auch Bordelle und sogar eine Opiumhöhle gegeben. Morde, Überfälle und Postkutschenraub waren an der Tagesordnung gewesen. Überliefert ist das Zitat eines kleinen Mädchens, das mit seinen Eltern nach Bodie ziehen sollte und in sein Tagebuch schrieb: „Goodbye God, I’m going to Bodie!“ („Auf Wiedersehen Gott, ich ziehe nach Bodie!“).
Nachdem man 1917 die Eisenbahnlinie demontiert und die Schienen verschrottet hatte und ein Großbrand im Jahre 1932 zahlreiche Häuser und das Geschäftsviertel im Stadtzentrum zerstörte, war das Schicksal der Stadt besiegelt. Das Postamt schloss 1942, und in den sechziger Jahren wurde der Goldabbau vollständig aufgegeben.
Ich war sehr überrascht, dass noch über einhundert Gebäude vorhanden waren, die das große Feuer von 1932 verschont hatte, u. a. eine Kirche, die Schule, ein Bankgebäude aus Ziegelsteinen, eine Bar, ein Laden und mehrere Wohnhäuser sowie das große Minengebäude. Es ließ mich schaudern, als ich sah, dass in den Häusern noch viele der Einrichtungsgegenstände vorhanden waren, als würden die ehemaligen Bewohner jeden Moment zurückkehren. Dabei konnte man ihre Grabsteine auf dem kleinen Friedhof vor der Stadt ansehen. Ein paar rostende Autowracks aus den 30er Jahren und die Zapfsäulen einer alten Tankstelle waren auch noch vorhanden. Die Parkverwaltung, die um eine behutsame Erhaltung des Originalzustandes bemüht war, machte uns ganz unnötiger Weise darauf aufmerksam, dass es strengstens verboten sei, Gegenstände als Souvenir aus dem Park mitzunehmen.
In der alten, einzig erhaltenen Bar hatte ich ein ganz besonderes Erlebnis. Das sich als richtungsweisend zeigen sollte. Der Raum, mit Bänken entlang der Wände, vor denen einfache Holztische und Stühle standen, dem uralten, geschnitzten Billardtisch in der Mitte und dem gusseisernen Kanonenofen neben der verwaisten Holztheke, war plötzlich erfüllt von den Klängen eines seltsamen Klaviers. Ich hörte Flaschen und Gläser klirren und das Stimmengewirr von Männern. Es dauerte nicht lange und ich sah auch den Wirt hinter der Theke stehen und der Pianist griff merkwürdig unbeteiligt in die Tasten. Jetzt hörte ich auch Pferde vor dem Fenster wiehern und das Gelächter von losen Frauenzimmern. Waren in der Ferne nicht auch Schüsse zu hören? Als der Qualm von Zigarren und Tabakpfeifen die Sicht erschwerte, rieb ich mir die Augen. Als ich diese wieder öffnete, war der Spuk vorbei. Im Saloon war es totenstill, und draußen hörte man nur den Wind heulen.
»Na, mein Mädchen. Hattest du eine Vision?«, fragte Vati, als wäre es das Normalste der Welt.
»Ich … ich weiß nicht. Mir war auf einmal, als hörte ich Stimmen und die typischen Geräusche eines Saloons«, stotterte ich. »Und dann war da noch ein Klavier, das sich irgendwie mechanisch anhörte, obwohl ein Pianist davor saß.«
»Um jene Zeit gab es schon automatische Klaviere, die aber im Unterschied zum elektrischen Klavier dem Benutzer die Möglichkeit gaben, die Wiedergabe der Musik zu beeinflussen. Kunstspielklaviere wurden pneumatisch betrieben. Die Musik wurde durch gelochte Papierbänder, die sogenannte „Klavierrolle“ oder „Notenrolle“, als Trägermedium übertragen. Diese Notenbänder sind auswechselbar und waren im Musikalienhandel zu kaufen. Der Pianolist war bemüht, auf dem Pianola die Musik einer von Musikeditoren gezeichneten Notenrolle lebendig, dem Spiel eines Pianisten nahekommend, wiederzugeben.«
»Aha«, sagte ich und wunderte mich, was mein Vater alles wusste.
»Mach dir keine Gedanken, Christinchen.« Christinchen nannte er mich für gewöhnlich, wenn er es besonders gut mit mir meinte. »Du bist eben ein besonders sensibles Kind und entwickelst außergewöhnliche Fantasien. Da kann es schon mal vorkommen, dass man in solch einer Umgebung meint, die Vergangenheit sei zu neuem Leben erwacht. Als wäre man dabei gewesen.«
»Ich finde es nicht gut, wenn du dem Kind Flausen in den Kopf setzt«, sagte meine Mutter. »Nicht dass ihre Mitschülerinnen sie noch für überspannt halten.«
»Dazu müsste sie ja erst einmal erzählen, was sie gesehen hat. Aber meine Tochter ist klug genug, ihre wunderbare Begabung für sich zu behalten, nicht wahr?«
Ich nickte eifrig. Dabei verstand ich nicht so recht, was da gerade vor sich ging. Mein Vater lobte mich für etwas, das ich nicht beeinflussen konnte, gab mir aber gleichzeitig den Rat, nicht darüber zu sprechen. Musste man sich denn für diese Art von Begabung schämen? Wurde man verspottet, falls man darüber sprach? In dem Falle wollte ich es wirklich für mich behalten. Es gab genügend Mädchen in meiner Klasse, die neidisch auf mich waren.
»Ich schlage vor, wir gehen langsam zum Wagen zurück«, sagte meine Mutter. »Ich würde gerne etwas trinken. Geschäfte oder Restaurants gibt es hier ja nicht. Und wenn ich an die fünf Kilometer bis zum Highway 395 auf der unasphaltierten Schotterstraße denke, wird mir ganz anders.«
»Das überstehst du schon, Schatz. So gut, wie du hinten gepolstert bist …«
»Willst du damit sagen, dass mein Hintern zu dick ist? Na, vielen Dank.«
»Nein, absolut nicht. Ich liebe jedes Pfund an dir. Aber wenn die Stoßdämpfer der alten Karre gelegentlich mal zu wünschen übrig lassen, ist das kein Beinbruch. Das hält dein süßer Hintern schon aus.«
»Alte Karre, das ist das Stichwort. Nicht dass wir noch unterwegs liegen bleiben. Womöglich noch in der Nacht.«
»Dabei ist der Sternenhimmel in dieser Gegend besonders atemberaubend ...«
»Ach, manchmal habe ich das Gefühl, du nimmst mich nicht ernst«, maulte meine Mutter.
»Doch, Schatz. Nichts liegt mir so am Herzen wie dein Wohl. Und das unserer medial begabten Tochter, natürlich.«
»Das wird sich erst herausstellen. Vielleicht war es nur eine einmalige … Störung. Jedenfalls möchte ich jetzt zurückfahren.«
»Ooch, ich dachte, wir machen noch den ghost walk am späten Abend mit«, beschwerte ich mich. »Der Touristenführer soll immer einige Geistergeschichten parat haben.«
»Die so hanebüchen sind, dass er sie wahrscheinlich erfunden hat.«
»Deine Mutter meint, es sei wohl ein Reklametrick, um den Mythos am Leben zu erhalten. Aber damit du beruhigt bist, kann ich dir einige Kostproben geben. Als ein Ranger einmal das Haus einer gewissen Annie Mendocini betrat, nahm er den Geruch von Knoblauch und den Dampf von kochendem Wasser wahr. Nur lebte und kochte dort seit Jahrzehnten niemand mehr. Im Spence-Gregory-Haus soll Berichten zufolge ein Geist Hand- und Fußabdrücke an der Decke hinterlassen. Und im Haus von James Cain, das als Parkhauptquartier immer noch in gutem Zustand ist, würde keiner der Ranger jemals übernachten, weil es der am meisten frequentierte Ort sein soll, was paranormale Phänomene angeht. Schüler, die sich auf einer Klassenfahrt befanden, haben angeblich Dutzende von Fotos von dem Haus gemacht. Aber auf keinem wäre anschließend etwas zu sehen gewesen.«
»Jetzt reicht’s aber, Christian«, sagte meine Mutter böse. »Du verdrehst dem Kind noch ganz den Kopf.«
»Blödsinn. Christine ist alt genug, sich mit derlei Dingen auseinander zu setzen. Die schönste Geschichte kommt ohnehin noch.«
»Ja, finde ich auch. Bitte erzähl doch weiter«, bat ich.
»Also, Mr. Cain hatte einst ein chinesisches Hausmädchen, auf das seine Frau so eifersüchtig war, dass sie es in einer Winternacht aus dem Haus jagte. Daraufhin soll man nie wieder etwas von dem Mädchen gesehen oder gehört haben. Als das Haus Jahrzehnte später von einem Parkranger bewohnt wurde, bekam dieser Besuch von Freunden mit ihren Kindern. Diese schliefen im ehemaligen Zimmer der Haushälterin. Obwohl keines die Geschichte des Hauses kannte, fragten sie am darauffolgenden Morgen den Ranger, wer die die nette Chinesin sei, die ihnen eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen hat.«
»Puh, ich bekomme eine Gänsehaut. Jetzt weiß ich wenigstens, worüber du dich mit dem unsympathischen Kerl unterhalten hast, während seine Frau wie ein Wasserfall auf mich einredete.«
»Ach, Moni, du weißt doch, dass das dazugehört. An solchen Orten trifft man immer Leute, die meinen, noch einen draufsetzen zu müssen. Ich finde das ganz amüsant und denke mir meinen Teil.«
»Und wenn Christine heute Nacht Albträume hat, ist dir das wohl egal?«
»Mama, ich bin kein Baby mehr. Mit mir kann man wie mit einem Erwachsenen reden. Und solche Geschichten regen mich nicht auf. Da gibt es Filme, die ganz anders nachwirken.«
Ich fand die Geschichten meines Vaters äußerst interessant. Zeigten sie mir doch, dass auch andere Menschen etwas wahrnahmen, was eigentlich nicht mehr da sein sollte. Demnach war ich nicht verrückt, was mich einigermaßen beruhigte.