Читать книгу Die Magie der Vergangenheit - Jay Baldwyn - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеIm darauf folgenden Jahr durfte ich wieder mitreisen. Diesmal ging es nach Peru. Meine Eltern wollten die alte Inkastadt Maccu Picchu besuchen. Der Flug von Frankfurt dauerte über fünfzehn Stunden – wiederum eine harte Herausforderung für mich –, und es gab noch einen zweistündigen Zwischenstopp in Paris. Wir flogen bis Lima und anschließend noch einmal fünfundsiebzig Minuten bis Cusco. Wenn wir gleich von Frankfurt nach Cusco geflogen wären, hätte die Reisezeit bis zu siebenundzwanzig Stunden gedauert, inklusive bis zu drei Zwischenstopps. Kaum zumutbar. Maccu Picchu musste vorerst warten, da es von Cusco dorthin noch einmal drei Stunden mit dem Zug waren. Der Flughafenshuttle brachte uns ins Yawar Inka Hotel in Cusco, einer Mittelklasseunterkunft mit Terrasse und Frühstücksbuffet. Von dort aus konnten wir relativ bequem die Sehenswürdigkeiten erkunden. Ich war todmüde ins Bett gefallen und hatte bis zum nächsten Morgen durchgeschlafen. Beim Frühstück muss ich derart zerknirscht ausgesehen haben, dass meine Mutter mich darauf ansprach.
»Du hast dich die ganze Nacht unruhig hin und hergeworfen. Hattest du schlechte Träume?«
»Das kann man wohl sagen«, druckste ich verlegen herum. »Gleich mehrere. Zuerst träumte mir von einem prächtig geschmückten Inka, der von einer Reise ein heiliges Objekt, das wie ein Vogel aussah und in einem aus Stroh geflochten Kasten transportiert wurde, mitbrachte. Er nannte es Inti oder Bruder. Doch seine Order lautete: Das Behältnis dürfe über mehrere Generationen nicht geöffnet werden. Dann wechselte das Bild, und ein ebenso aufwändig geschmückter Inka befreite endlich den Vogel. Dieser konnte sprechen und fing sogleich an, Ratschläge in Sachen Kriegsführung zu erteilen.«
Mein Vater lachte lauthals. »Was habe ich doch für eine außergewöhnliche Tochter«, sagte er. »Du hast soeben eine Variation der Legenden über die Entstehung des Inkareiches wiedergegeben. Mayta Cápac, so hieß der Inka-Herrscher, soll unzählige Kämpfe erfolgreich ausgeführt haben. Ebenso seine Nachkommen, die zunehmend größere Ländereien und mehr und mehr Stämme einnahmen. Somit bewahrheiteten sich die Prophezeiungen des Vogels, durch geschickte Kriegsführung könne ein großes Reich entstehen.«
»Hast du dich im Vorfeld über die Inkas informiert?«, fragte meine Mutter. »Oder habt ihr das in der Schule durchgenommen?«
»Nein, und wenn, dann nicht im Einzelnen. Der zweite Traum war noch schlimmer. Ein kleines Mädchen wurde innerhalb einer Prozession in die Berge geleitet. Dort begrub man es bei lebendigem Leib. Vorher hatte man ihm eine Flüssigkeit zu trinken gegeben.«
»Das ist die Legende über die Menschenopfer, insbesondere Kinder«, sagte mein Vater. »Die als rein betrachteten Kinder wurden innerhalb von Feierlichkeiten dem Herrscher zugeführt. Dem Glauben der Inkas zufolge wurde das geopferte Kind nach dem Tode ein Gott. Man verabreichte ihm Chicha, ein alkoholhaltiges Maisbier, das die Sinneswahrnehmung herabsetzte, bevor man das Kind lebendig begrub. Die Zeremonien sollen so lange angehalten haben, bis der Geist befreit die Erde verließ.«
»Hör auf! Solche Geschichten möchte ich nicht hören. Schon gar nicht beim Frühstück. Und du, du kannst ruhig zugeben, das irgendwo gelesen und mit in deine Träume genommen zu haben.«
»Nein, ich kann mich nicht erinnern. Seltsam.« Da war es wieder, das Gefühl, ein bisschen plemplem zu sein. Wie konnte ich von Legenden träumen, die ich nicht einmal kannte? Vertrug ich die Höhenluft nicht? Setzte die bei mir Visionen frei? Aber Bodie hatte wesentlich tiefer gelegen als Cusco.
In den nächsten Tagen besuchten wir einige koloniale Kirchen und die berühmte Mauer mit dem zwölfeckigen "Mutterstein von Cusco". Etwas außerhalb lag Sacsayhuamán, eine der bedeutendsten Sehenswürdigkeiten aus der Inkazeit. Dort fand man die größten, jemals von Inkas bewegten Steine. Die drei terrassenförmig übereinandergebauten Mauern bestanden aus riesigen Steinen, die fugenlos aneinander passten. Über die ehemalige Nutzung der Anlage war man sich nicht einig. Die einen hielten sie für eine militärische Befestigung, die anderen für Heiligtümer. Denn es gab Nischenplätze, kreisförmige Arenen und ausgebaute Treppen. Oben auf den Mauern sah man noch die Überreste zweier viereckiger Türme und eines runden Turms, dem Muya Marca. Alle waren durch unterirdische Gänge miteinander verbunden. Die Terrassen waren von Kanälen zur Wasserversorgung und zur Ableitung von Regenwasser durchzogen. Auf einem großen Platz hinter den Wällen feierte man noch immer jährlich am 24. Juni das Sonnenfest – Inti Raymi.
Ich überstand die beiden Tage nur, indem ich literweise Muña oder Muñita-Tee trank, was angeblich gegen die Höhenkrankheit helfen sollte. Nach wie vor schlief ich schlecht und träumte wirres Zeug.
»Heute Nacht habe ich vom Sonnenfest geträumt«, sagte ich morgens beim Frühstück. Ich sah eine feierliche Prozession von Priestern und halbwüchsigen Kindern mit ihren Eltern. Bei den Schlachtopfern von Lamas floss das Blut in Strömen. Anschließend erschlug oder erwürgte man einige der Kinder in einer Art Ritual.«
»Das war nicht das Sonnenfest, wovon du geträumt hast, sondern das Qhapaqhucha-Fest, das die Inka im Abstand von vier Jahren begingen«, sagte mein Vater. »Damals sollen zu den feierlichen Prozessionen von Priestern, Würdenträgern und auserwählten acht- bis zwölfjährigen Kindern mit ihren Eltern Menschen aus allen Landesteilen nach Cusco gezogen sein. Es gab tatsächlich Schlachtopfer von Lamas, die mehre Tage dauerten. Und ein Teil der Kinder wurde rituell erschlagen oder erwürgt. Das war eben eine ganz andere Zeit.«
»So langsam wirst du mir unheimlich, Kind«, sagte meine Mutter. »Wie konntest du davon wissen, wenn du es nicht gelesen oder gehört hast?« Und Kind nannte sie mich nur, wenn Alarm angesagt war.
»Jetzt mach doch Christinchen nicht das Herz zusätzlich schwer, Moni! Das ist hier eben ein geschichtsträchtiger Ort. Es gibt Leute, die behaupten, dass sich die verschiedenen Zeitebenen überlagern und sensible Zeitgenossen können sie gelegentlich anzapfen.«
»Ich glaube, ich möchte nicht länger hierbleiben«, sagte ich kleinlaut.
»Das musst du auch nicht. Übermorgen geht es weiter nach Aguas Calientes, dem Dorf am Fuße des Berges von Machu Picchu. Das liegt etwa eintausendvierhundert Meter tiefer als Cusco. Dort wird es dir besser gehen. Und wenn du erst die gut erhaltene Ruinenstadt siehst …, dann sind alle Strapazen vergessen«, meinte mein Vater.
Und er sollte mehr als Recht behalten. Wir fuhren etwa drei Stunden mit einem Zug der PeruRail den Urubambafluss entlang durch eine malerische Landschaft. In Aguas Calientes nahmen wir Quartier im Hotel Golden Sunrise Machupicchu. Vom Stadtzentrum aus fuhr mehrmals täglich ein Bus die gut acht Kilometer lange Serpentinenstrecke zur Zitadelle Machu Picchu hinauf. Der Abgrund gähnte dabei nur ein paar Handbreit neben den Rädern des Busses. Aber ich kaute eifrig Cocablätter, wie alle hier, die eine ähnliche Wirkung wie der Muñita-Tee haben sollten. Schon bald waren Gaumen und Zunge leicht betäubt.
Vom Aussichtspunkt aus genossen wir dann den atemberaubenden Blick auf die Anlage. Die vielen Terrassen wirkten auf mich beinahe wie Stufen für Riesen. Und ich spürte eine Energie, die ich mir nicht erklären konnte. An der Sonnenuhr – Intihuatana – meinte dann ein Reiseführer, dass es dort tatsächlich eine geheimnisvolle Kraft geben sollte. Gespeist aus dem harten Granitgestein mit Einschlüssen von Quarz, aus dem ganz Machu Picchu erbaut wurde.
Wir wanderten mehrere Stunden durch die Ruinen, bewunderten das Sonnentor und den Sonnentempel. Durch einen Reiseführer erfuhren wir, dass an einem ganz bestimmten Tag im Jahr das Licht der aufgehenden Sonne punktgenau auf eine Linie in der Mitte des Turmes fällt. Die Baukunst der Inka beeindruckte mich insgesamt sehr. Die präzise behauenen Granitsteine waren millimetergenau ineinander gefügt, hielten ohne Mörtel zusammen und machten die Gebäude sogar erdbebensicher.
Warum die Stadt einst aufgegeben worden war, blieb bis heute ungeklärt. Zum Glück blieb Machu Picchu vor der Zerstörungswut der Konquistadoren verschont, weil sie es einfach nicht entdeckt hatten. Erst der amerikanische Abenteuer Hiram Bingham drang 1911 bis in diese Gegend vor. Da hatte der Dschungel schon weitgehend die Stadt zurückerobert.
Wir fuhren noch zweimal mit dem Bus zu dem Heiligtum hinauf. Zu verschiedenen Tageszeiten und bei unterschiedlichem Wetter. Die Faszination, die meine Eltern ergriffen hatte, zeigte auch bei mir ihre Wirkung. Ich war dankbar für die außergewöhnliche Erfahrung.
So sehr mich die geheimnisvolle Stadt in den peruanischen Anden beeindruckt hatte, hätte ich mir in manchen Gebäuden eine ähnliche Erfahrung wie in Bodie gewünscht, nämlich dass man durch das vorhandene Interieur meinte, die Bewohner seien nur kurz weggegangen und kämen jeden Moment wieder. In einem unbedachten Moment musste ich das geäußert haben, und mein Wunsch wurde erhört. Allerdings musste ich noch ein Jahr warten, bis es so weit war.
Dazwischen waren meine Eltern ohne mich nach Indien und Japan gereist. Vorher hatten sie das Tauchen erlernt und erste Erfahrungen gesammelt. Denn in beiden Ländern gab es versunkene Städte zu bewundern, die sich gänzlich unter Wasser befanden. Ich war tüchtig neidisch, als sie mir später die Fotos und Videos zeigten. Allerdings musste ich eingestehen, dass mich die Exkursionen in die Tiefe mehr als geängstigt hätten.
Vor Tamil Nadu hatte ein Tsunami tonnenweise Sand fortgespült. Das hatte zur Entdeckung der mythologischen Stadt Mahabalipuram an der südlichen Ostküste Indiens geführt. Die Stadt war einer Legende nach vor etwa tausend Jahren an nur einem Tag versunken, nachdem sie von einer großen Flut getroffen wurde. Das sollte auf Veranlassung der Götter geschehen sein, weil diese eifersüchtig auf ihre Schönheit waren. Dabei waren sechs Tempel vom Wasser bedeckt worden. Der siebente stand noch immer zum größten Teil nahe der Küste. In zwischen vier und sieben Metern Tiefe gab es ein mehrere Quadratkilometer großes Areal zu erkunden, dessen Bauten zum Teil über einen Kilometer von der Küste entfernt lagen.
Ungefähr zehnmal so alt waren die Strukturen vor Yonaguni an der japanischen Küste, die von einigen Wissenschaftlern als archäologischer Fund des Jahrhunderts bezeichnet wurden. Sie meinten, uralte Bauwerke mit Pfeilern, Treppen, Alleen, Arkaden und sogar eine Stufenpyramide darin zu erkennen. Andere vermuteten in den Gesteinsformationen einen natürlichen Ursprung, was zu heftigen Kontroversen führte, da die Formationen verhältnismäßig exakte Proportionen und Kanten aufwiesen, sodass man von durch Menschen errichteten Bauwerken ausgehen müsse. Meine Eltern und ich schlossen uns ebenfalls der These von einer bislang unbekannten Zivilisation an.
Die Reise nach Vancouver verdankte ich dem Umstand, dass ein ehemaliger Studienkollege meines Vaters inzwischen dort lebte. Von dort aus waren es zwar noch über tausend Kilometer bis zu dem kanadischen Ort Kitsault, doch die nahmen wir gern in Kauf. Versprachen wir uns doch ein ähnlich spektakuläres Erlebnis wie in Bodie, denn es handelte sich nicht um eine dem Verfall preisgegebene Geisterstadt, sondern um einen Ort, der gerade eben erst verlassen worden zu sein schien.
Eine Firma, die in der Region Molybdän abbaute, ein Metall zur Härtung von Stahl, Schmiermittel oder für die Produktion von elektrischen Bauteilen, hatte 1979 die geniale Idee gehabt, für die Minenarbeiter eine Kleinstadt zu errichten. Zeitweilig sollte es dort bis zu zweitausend Einwohner gegeben haben. Als der Preis für das Metall schon zwei Jahre später unerwartet fiel, wurde die Mine geschlossen und die Stadt aufgegeben. Seitdem beschäftigte die Firma einen Wärter, der alles in Ordnung hielt. Mittlerweile konnte man gegen eine entsprechende Gebühr alles besichtigen und sogar in eigens dafür errichteten Appartements dort wohnen.
Der Besucherandrang war an jenem Tag nicht sehr groß, sodass wir alles in Ruhe erkunden konnten. Meine Mutter beschlich schon bald ein beklemmendes Gefühl angesichts der menschenleeren Geschäfte und Wohnungen. Im kleinen Supermarkt gab es zwar ordentlich aufgereihte Einkaufswagen, aber gänzlich leere Regale. Nur die öffentliche Bücherei wies volle Regale auf, als würde jeden Moment jemand ein Buch ausleihen wollen. Der frisch gemähte Rasen vor den Häusern passte zu den jeweils vollständig eingerichteten Wohnungen: Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche waren zum Teil mit Teppichboden ausgelegt. Es gab frisch gemachte Betten und mit Kaffeegeschirr gedeckte Tische vor den Couchgarnituren. Die Fernseher wirkten allerdings etwas antiquiert, waren es doch Modelle der frühen achtziger Jahre. Kisten mit Spielzeug zeugten davon, dass auch Kinder hier gelebt hatten. Im Einkaufszentrum befand sich ein Kino und sogar ein Schwimmbad, dessen Wasser jedoch nicht sehr einladend wirkte.
Als meine Eltern sich mit einem Ehepaar unterhielten, nahm ich die Gelegenheit wahr, mich allein etwas umzusehen. Zuerst steuerte ich das Einkaufzentrum an. Anders als zuvor war das Kino jetzt gut besucht. Auf der Leinwand lief der Kultklassiker Shining von Stanley Kubrick. Den hatte ich zu oft gesehen, deshalb ging ich gleich wieder. Aber Moment mal, in was für eine Veranstaltung war ich da eigentlich geraten? Alle Besucher trugen Kleidung und Frisuren der späten siebziger und frühen achtziger Jahre. War das eine Sondervorstellung für Nostalgiker? Ich hatte gar keine Ankündigung gesehen. Ein Wunder, dass der Projektor überhaupt noch funktionierte. Oder hatte man ihn gegen einen modernen ausgetauscht? So viel Aufwand für ein paar interessierte Besucher?
Dass da etwas nicht stimmen konnte, wurde mir klar, als ich am Supermarkt vorbeikam. Denn jetzt waren die Regale gefüllt – zum Teil mit Produkten, die man schon lange nicht mehr kaufen konnte. Ins Schwimmbad kam ich erst gar nicht hinein, aber ich hörte fröhliches Kinderlachen und Wasser plätschern.
Als ich erneut eine der Wohnungen aufsuchte, zweifelte ich endgültig an meinem Verstand. Dort spielten Kinder auf dem Fußboden bei laufendem Fernseher. Es lief stilecht eine uralte Folge der Fernsehserie „Ein Colt für alle Fälle“, die hier natürlich unter dem Originaltitel „The Fall Guy“ gesendet wurde. In der Küche klapperten Töpfe und Teller, und es zog ein appetitlicher Duft durch die Wohnung. Jetzt bedauerte ich noch mehr, dass man mir in dem Schnellrestaurant nicht den gewünschten Burger verkauft hatte. Besser ausgedrückt: Man hatte mich vollständig ignoriert. Ebenso erging es mir mit den spielenden Kindern. Sie taten, als gäbe es mich gar nicht. Als die Mutter kurz hereinkam und durch mich hindurchsah, ergriff ich endgültig die Flucht.
In der Nachbarwohnung standen die Türen offen, obwohl niemand zu sehen war. Ich war plötzlich so müde, dass ich mich ohne lange zu zögern auf eines der Ehebetten legte, ohne die orange gemusterte Tagesdecke zu entfernen. Und ich schlief umgehend ein.
Als ich erwachte, war es heller Tag. Dabei hatte ich mich doch am späten Nachmittag hingelegt. Sollte ich wirklich die ganze Nacht durchgeschlafen haben? Meine armen Eltern. Die mussten doch schon halb verrückt vor Sorge sein. Ich sprang auf und lief nach unten. Im Haus war es mucksmäuschenstill. Als wären die Bewohner alle ausgegangen.
Draußen sah ich in einiger Entfernung meinen Vater mit einem Wächter sprechen. Als er mich sah, lief er sofort auf mich zu.
»Sag mal, bist du von allen guten Geistern verlassen?«
»Eher im Gegenteil, Vati.«
»Was soll das denn heißen? Deine Mutter ist außer sich. Wir haben die halbe Nacht nach dir gesucht. Sag mir sofort, wo du gesteckt hast.«
»Ich fürchte, das wirst du mir nicht glauben. Ich kann es ja selbst kaum verstehen.«