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Kapitel 1

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Das alte, etwas unheimlich wirkende Herrenhaus, das mehr einer Burg oder einem Schloss glich, lag auf einer kleinen Insel im Ärmelkanal, die nur bei Ebbe über einen Damm zu erreichen war, wenn man nicht ein Boot benutzte. Doch die schroffe Steilküste, an der es keine Anlegestelle gab, verhinderte dies weitgehend.

Auf den Hauptinseln nannte man die Insel allgemein Castle Island. Der wahre Name, falls es jemals einen gegeben hatte, war längst in Vergessenheit geraten. Bei den Bewohnern der nächstgelegenen Gemeinden standen Insel und Herrenhaus in keinem guten Ruf. Es gehe dort nicht geheuer zu, hieß es, und man munkelte, dort seien im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Menschen verschwunden. In den Jahrzehnten, in denen das Haus als Internat genutzt wurde, sogar überwiegend Kinder.

Keiner der Dörfler wäre damals auf den Gedanken gekommen, eines seiner Kinder dort unterzubringen. Schon aus Kostengründen nicht. Denn als sogenannte Eliteschule langte man kräftig zu. Ein Umstand, der wohlhabende Eltern aus den großen Städten der Umgebung nicht davon abhielt, ihre Kinder dort anzumelden. Im Gegenteil, ein geringerer Preis für Unterkunft, Verpflegung und vor allem das Unterrichten hätte sie nur stutzig gemacht.

Im 13. Jahrhundert von einem Adligen für seine Geliebte erbaut, hatte das Gemäuer im Laufe der Jahrhunderte unterschiedliche Nutzung erfahren. Es war immer wieder eine Art Lustschloss gewesen oder von Menschen bewohnt worden, die in völliger Abgeschiedenheit leben wollten, aus welchen Gründen auch immer. Lange Zeit war es sogar als Kloster genutzt worden, wovon die Ruine einer mittelalterlichen Kapelle zeugte. Bis zum heutigen Tag gab es immer wieder Berichte über Sichtungen einer Nonne, die dort herumgeisterte, und eines Seeräubers, der einst auf dem höchsten Punkt der Insel gehängt wurde und seitdem keine Ruhe fand.

In den zwanziger und dreißiger Jahren als beliebtes Luxushotel genutzt, hatte der Bau während der deutschen Besatzung kurzzeitig als Lazarett gedient und die Insel als Militärstützpunkt. In der Nachkriegszeit waren dann Ferienwohnungen entstanden. Anfang der siebziger Jahre hatte man das mittlerweile leerstehende Gebäude in ein Internat umgewandelt, bis sich in den neunziger Jahren ein Investor gefunden hatte, dessen Traum es war, ein Hotel im Stil des Art Deko zu betreiben. Seine Akribie bei dem Heranschaffen von originalem Interieur und ebensolchen Bauelementen zahlte sich aus. Das Excelsior war inzwischen ein Geheimtipp für Liebhaber des schönen Scheins und Ruhesuchende allgemein, die es sich leisten konnten und mögliche paranormale Phänomene als den besonderen Kick empfanden.

Annabel Lockhart gastierte schon zum wiederholten Mal im Excelsior. Sie liebte die gediegene Atmosphäre und das edle Ambiente. Finanziell war sie unabhängig, denn ihr verstorbener Mann Albert hatte ihr ein hübsches Haus und ein kleines Vermögen hinterlassen. Als Hobbyautorin schrieb sie hin und wieder Artikel für regionale Tageszeitungen und Bücher, die sie bei Nischenverlagen unterbrachte. Die Verkaufszahlen waren nicht überwältigend, doch Annabel war zufrieden. Der Gedanke, dass ihre Bücher in den Regalen fremder Menschen standen, erfüllte sie gelegentlich mit Stolz. So ganz hatte sie die Hoffnung, einmal einen Bestseller zu landen, noch nicht aufgegeben. Vielleicht gelang ihr mit einem Roman über die bewegte Geschichte von Castle Island der Durchbruch.

Ihre Freundinnen, mit denen sie Tee trank und Handarbeiten verrichtete, belächelten sie mitunter und sorgten sich um sie, denn jede kannte Annabels Vorliebe für geheimnisvolle Orte und unaufgeklärte Verbrechen. Ihr Spitzname Jane, der von der etwas schrulligen Romanfigur Miss Marple der berühmten Agatha Christie herrührte, ärgerte sie nicht, sondern schmeichelte ihr sogar ein wenig. Schließlich zeichneten Jane Marple ein scharfer Verstand, eine gute Kombinationsgabe und jede Menge Mut aus. Einziger Unterschied zu ihrem Vorbild war, dass Annabel noch keine alte Lady war, sondern in der Blüte ihrer Jahre, wie es so schön hieß, und leider keinen Mr. Stringer an ihrer Seite hatte, der sie oft im letzten Moment aus brenzligen Situationen befreite. Auch arbeitete sie nicht mit der hiesigen Kriminalpolizei zusammen. Sie beschränkte sich darauf, ihre Recherchen und Erlebnisse in ihren Artikeln und Romanen zu verwenden. Im Excelsior war sie ein gern gesehener Gast. Womöglich hoffte man sogar darauf, einmal in einem Buch oder Artikel genannt zu werden und damit kostenlose Werbung zu erhalten.

An diesem milden Februartag des Jahres 2016 hatte sie es so eingerichtet, dass sie am späten Nachmittag vor Ort war, denn sie wollte die Ebbe nutzen, um mit einem Taxi anzureisen. Es bestand zwar auch die Möglichkeit, bei mittlerem Hochwasser von etwa drei Metern den Fährdienst mittels eines hochbeinigen Gefährts zu nutzen, das als besondere Attraktion galt. Vom Aussehen her an einen Omnibus auf Stelzen erinnernd, befanden sich die Räder unter Wasser auf dem Damm, während Passagiere und Fahrer auf einer Plattform vor dem Meer und der starken Strömung geschützt waren. Für den Antrieb sorgte der Motor einer ehemaligen Landwirtschaftsmaschine. Die Vorgänger des musealen Amphibienfahrzeugs, das über dreißig Fahrgästen Platz bot, waren in den 20er und 30er Jahren Kettenfahrzeuge gewesen. Doch Annabel mochte nicht in luftiger Höhe wie auf einem Karussell sitzen, sondern zog den Komfort eines Taxis vor.

Auf der Insel wurde ihre Ankunft bereits bemerkt, und ein Page eilte ihr entgegen, um das Gepäck in Empfang zu nehmen. Annabel nahm sich Zeit, die Stufen der steil ansteigenden Treppe zu erklimmen. Die alte Holzkonstruktion, die man zu Internatszeiten hermetisch verriegelt und mit Stacheldraht versehen hatte, war längst durch eine moderne Version aus Stahl und Stein ersetzt worden.

Oben angekommen, stellte Annabel fest, dass der Weg zum Hotel in dichtem Nebel lag. Die seitlich in lockerem Abstand aufgestellten niedrigen Leuchten erinnerten mit ihrem gelben Licht an die Augen von großen Fabelwesen. Ein Umstand, der leicht unheimlich wirkte, sie aber nicht ängstigte. War sie doch gewiss, kurz darauf von der warmen Atmosphäre des Entrees empfangen zu werden. Auch stellte sie sich vor, wie die angrenzenden Wiesen ab Mai mit üppig blühenden Grasnelken und den Blüten des Frauenschuhs übersät sein würden. Die Luft würde erfüllt von Blumenduft, Vogelgezwitscher und Möwengekreische sein, und vereinzelt würde man Eier in den Nestern der Möwen oder unbeholfen herumtapsende kleine Möwen erblicken können.

Etwas atemlos erreichte Annabel den prächtigen Empfangstresen, wo sie lächelnd von einem Mann mittleren Alters begrüßt wurde.

»Wie schön, Milady, sie wieder bei uns begrüßen zu dürfen«, sagte er formvollendet.

»Danke, ich freue mich, hier zu sein. Nur fürchte ich, der Nebel hat meine Frisur ruiniert. Wahrscheinlich sehe ich wie eine nasse Katze aus.«

»Ich darf Milady versichern, dass alles in bester Ordnung ist. Kommen Sie zum Ausspannen oder steht wieder eine Recherche an, wenn ich fragen darf?«

»Ausspannen kann ich eigentlich zu Hause. Ich habe ja nicht wirklich etwas zu tun. Nein, nein, Sie vermuten richtig. Ich recherchiere für einen neuen Roman. Das Thema möchte ich allerdings noch nicht verraten.«

»Wie schade! Dann freuen wir uns auf das Erscheinen des Buches. Es wird garantiert einen Platz in unserer Bibliothek finden.«

»Äußerst liebenswürdig. Aber vielleicht missfällt Ihnen das Thema?«

»Das liegt außerhalb meiner Vorstellungskraft. Ihr Gepäck ist schon aufs Zimmer gebracht worden. Kann ich sonst noch zu Diensten sein?«

»Im Moment nicht, danke. Später werde ich meinen Tee in Ihrem bezaubernden Salon nehmen, doch zunächst packe ich erst einmal aus, damit meine Sachen nicht völlig zerknittern.«

»Ich wünsche einen angenehmen Aufenthalt.«

»Danke.«

Die im reinsten Art-deco-Stil gestalteten und mit Originalmöbeln aus den 1930er Jahren versehenen Zimmer waren zum Teil nach den berühmten Hotelgästen benannt, die sie früher bewohnt hatten. So gab es zum Beispiel eine Noël-Coward-Suite, ein George-Gershwin-Zimmer, ein Kirk-Douglas-Zimmer und eine Beatles-Suite. Annabel wohnte natürlich im Agatha-Christie-Zimmer, was ihr jedes Mal ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Ihre Freundinnen Edina, Moibeal und Rhona würden sie für hoffnungslos überspannt halten, wenn sie davon erführen, deshalb behielt Annabel dieses Geheimnis wie so manch anderes für sich.

Das elegante Zimmer wurde ganz von den Farben Grau und Rosé dominiert. Zwei der für jene Zeit typischen Clubsessel mit abgerundeten Kanten in Rosé und erdbeerfarbener Borte und ein passendes Sofa luden zum Verweilen ein. Der kleine runde Glastisch mit Chromgestell stand auf einem flauschigen Teppich mit grafischem Muster. Ein Fernsehgerät oder einen Internetanschluss suchte man vergeblich in den Zimmern. Es stand nur ein niedliches Kofferradio neben dem Sofa, das vom Stil her eher in die fünfziger Jahre passte, dachte Annabel, aber wer wollte es schon so genau nehmen? Sie freute sich schon auf das gemütliche, ausladende Bett, das von einem Baldachin aus grauer Seide gekrönt wurde. An den zartgrauen Wänden hingen mehrere Spiegel, zum Teil sogar in einer Dreierformation. Die Flure hingegen schmückten originalgetreue Gemälde, Bleistiftzeichnungen und Fotos, die an die Blütezeit des Hotels in der Vergangenheit erinnerten.

Nachdem Annabel ihre Sachen in den schlichten Schrank aus Kirschholz gehängt hatte, räumte sie im halbhoch schwarz gekachelten Bad mit durchgehend rosa Keramik ihren kleinen Kosmetikkoffer aus und überprüfte bei dieser Gelegenheit ihr dezentes Make-up und ihre Frisur, die gegen alle Erwartung den feuchten Nebel recht gut überstanden hatte. Sich ein letztes Mal im Spiegel betrachtend, stellte sie fest, dass sie durchaus passend gekleidet war und sich unter den Hotelgästen sehen lassen konnte.

Im Tearoom mit Kamin, in dem ein wärmendes Feuer prasselte, sah sie sich kurz um, stellte aber fest, dass sie niemanden kannte. Sie wählte einen Tisch, neben dem eine Art Ohrensessel stand, und bestellte den berühmten cream tea: frisch gebackene scones, ein kleines Gebäck aus Mehl, Eiern und Rosinen mit Schlagsahne oder aromatische Erdbeerkonfitüre als Krönung, und Earl Grey, Ceylon Blend oder Assamtee, der in einer Silberkanne gereicht wurde. Hier servierte man ihr die scones mit vanillegelber Haube und Ceylon Blend in hauchfeinem Bone China Porzellan.

Schon nach der ersten Tasse betrat eine Lady den Raum, die ein wenig auffällig gekleidet und reichlich mit Schmuck behangen war und zielstrebig auf Annabel zusteuerte.

»Wie schön, meine Liebe, Sie hier zu treffen!«, rief sie aus und setzte sich in einen Sessel mit weniger hoher Lehne. »Man könnte glatt meinen, wir hätten uns verabredet. Bei meinem letzten Aufenthalt habe ich Sie schmerzlich vermisst.«

»Wie nett, dass Sie das sagen«, machte Annabel freundlich Konversation. Sie hätte nicht auf Anhieb sagen können, ob sie sich wirklich freute, Mrs. Rose Mitchell wiederzusehen. Die Lady, etwas älter als Annabel, war ziemlich gesprächig und neigte dazu, andere zu vereinnahmen. Mitunter musste man tief in die Trickkiste greifen, um sie wenigstens eine Zeitlang loszuwerden. »Sind Sie auch gerade erst angekommen?«, fragte Annabel und hoffte, die Lady würde verneinen und schon dem Ende ihres Aufenthaltes entgegensehen.

»Nein, bereits vor drei Tagen. Aber da mich zu Hause niemand vermisst, werden wir noch eine längere Zeit gemeinsam haben. Oder wollten Sie nur für das Weekend bleiben?«

»Nein, nein, schon etwas länger. Wie lange genau wird vom Ergebnis meiner Recherchen abhängen.«

»Wie aufregend. Welchem Verbrechen sind Sie denn diesmal auf der Spur?«

»Ach, keinem bestimmten«, wich Annabel aus. »Ich würde nur sehr gerne etwas mehr über die Geschichte dieses Hauses erfahren.«

Ihr Gespräch wurde kurz unterbrochen, als auch Mrs. Mitchell ihr cream tea serviert wurde. Nachdem die gesprächige Dame einen Schluck Tee und einen Keks genossen hatte, nahm sie den Faden wieder auf.

»Bei Ihren Recherchen kann Ihnen bestimmt die Hausdame, Mrs. Graham, behilflich sein. Eine ganz reizende Person, finden Sie nicht? Mitunter ist sie etwas kurz angebunden, doch wer will ihr das verdenken bei der vielen Arbeit?«

»Ich kenne sie offensichtlich nicht so gut wie Sie …« »Ach, das macht nichts. Ich werde ein gutes Wort für Sie einlegen. Was halten Sie davon, wenn wir nach dem Dinner etwas frische Luft schnappen und uns die Beine vertreten?« »Ja, warum nicht? Fürchten Sie sich nicht in der Dunkelheit?«

»Sie meinen, wegen der Gespenster? Nein, ich halte sie nicht für gefährlich. Sicher, dieser alte Haudegen von Seeräuber kann einem schon einen Schrecken einjagen, dafür ist die Nonne besonders sanftmütig.«

»Das klingt, als wären Sie den beiden schon öfter begegnet …«

»Ja, Sie nicht?«

»Ehrlich gesagt, habe ich nur einmal einen Schatten, mehr ein Schemen, gesehen. Ob es wirklich ein Geist war, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht hält das Hotelpersonal auch nur die Legende am Leben, damit der Ort interessant bleibt.«

»Nein, das glaube ich nicht. Ich denke, die Erscheinungen sind echt. Aber Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Es sind nur gequälte Seelen, die keine Ruhe finden.«

Annabel lachte.

»Oh, man kann mir einiges nachsagen, aber bestimmt nicht, dass ich ängstlich bin. Meine Freundinnen halten mich sogar mitunter für etwas leichtsinnig.«

»Na wunderbar, dann also heute Abend gegen halb zehn?«

»Ja, aber vorher werden wir uns doch noch beim Dinner sehen?«

»Eher nicht. Mr. Hunter, ein ganz entzückender älterer Herr hat mich zum Dinner in seine Suite eingeladen. Ganz in Ehren, natürlich.«

»Dann werden Sie vielleicht auch den späteren Abend mit ihm verbringen wollen? Unseren Spaziergang können wir auch ein andermal …«

»Nein, nein, ich weiß, was sich für eine Lady gehört. Er soll nicht glauben, dass ich … nun ja, so eine von diesen … Ach, Sie wissen doch, was ich meine. Außerdem könnte er mich begleiten, wenn er unbedingt will. Oder hätten Sie etwas dagegen?«

»Gewiss nicht. Die Rolle der Anstandsdame ist für mich zwar neu, aber durchaus nicht ohne Reiz.«

Nach dem ausgezeichneten Dinner, das aus geräucherter Entenbrust als Vorspeise, Lammfilet mit Rosmarinjus und ofenwarmem Apple Pie zum Nachtisch bestanden hatte, wartete Annabel vergeblich auf Rose Mitchell. Vielleicht war der Abend doch intimer verlaufen als erwartet, dachte Annabel und ging allein ein Stück durch den Park.

In Höhe der alten Kapelle erschrak sie heftig, als sich eine männliche Gestalt mit leuchtend weißen Schläfen aus dem Schatten des alten Gebäudes löste.

»Oh, Verzeihung, ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte der elegante Herr.

»Das haben Sie aber. Zuerst dachte ich, Sie seien die Nonne, die hier gelegentlich ihr Unwesen treibt.«

»Obwohl ich keine Kutte trage? Nein, ich bin durchaus aus Fleisch und Blut, wenn auch beides schon bessere Tage gesehen hat. Wenn ich mich kurz vorstellen darf: Mein Name ist Robert Hunter. Freunde nennen mich Bob.«

»Angenehm, ich bin Annabel Lockhart«, sagte Annabel, den Hinweis überhörend.

»Doch nicht etwa die berühmte Schriftstellerin?«

»Na, berühmt … nur, weil das Hotel so freundlich ist, meine Bücher in seine Bibliothek aufzunehmen …«

»Ich glaube, das nennt man Fishing for Compliments. Ich habe schon mehrere ausgezeichnete Artikel von Ihnen in der Zeitung gelesen.«

»Ja, hin und wieder leiste ich einen Beitrag, wenn man mich lässt.«

»Nun, ich hoffe, man wird Sie noch öfter lassen. Mir würden Ihre Artikel fehlen.«

»Danke, wie reizend von Ihnen.« Annabel gingen mehrere Gedanken durch den Kopf. Rose Mitchell hatte nicht übertrieben, Mr. Hunter sah nicht nur gut aus, sondern war auch ein vollendeter Gentleman. Etwas aufgeschnitten hingegen hatte sie wohl mit dem Dinner in seiner Suite. Vielleicht hatte sie es sich auch nur im letzten Moment anders überlegt und das Dinner allein in ihrem Zimmer eingenommen. Aber warum war sie dann nicht anschließend wie verabredet herunter gekommen? Seltsam.

»Ich muss Ihnen ein Geständnis machen«, beantwortete Robert Hunter Annabels Fragen. »Ich bin nicht zufällig hier. Als Mrs. Mitchell mich einlud, Ihnen bei Ihrem Spaziergang Gesellschaft zu leisten, konnte ich der Versuchung, Sie persönlich kennenzulernen, nicht widerstehen.«

»Aber wo ist sie dann, die Gute?«

»Sie hat sich nach dem Dinner recht schnell verabschiedet, weil sie Kopfschmerzen plagten. Ich meine, sie hätte geäußert, Ihnen absagen zu wollen.«

»Das hat sie nicht getan, aber ich war auch nur kurz auf dem Zimmer, um meinen Mantel zu holen.«

»Wenn ich ehrlich bin, ist es mir beinahe lieber, Sie allein getroffen zu haben. Nichts gegen Mrs. Mitchell, aber wie heißt es so schön? Drei sind mitunter einer zu viel.«

Da geht aber einer ran, dachte Annabel und fühlte sich umgehend verpflichtet, ihn etwas zu bremsen.

»Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber ich bin nicht hier, um ein Abenteuer zu suchen. Ich lebe schon sehr lange allein und gehöre zu denen, die darunter nicht leiden.«

»Verzeihen Sie, ich habe mich wohl etwas missverständlich ausgedrückt. Ich bin nicht auf Brautschau, auch wenn ich die Gesellschaft kultivierter Ladys genieße. Ich habe Mrs. Mitchell nicht in meine Suite eingeladen, um sie zu verführen. Bei Männern in meinem Alter ist da der Wunsch oft Vater des Gedankens. Ich schätze viel mehr geistreiche Gespräche und eine tief empfundene Freundschaft als eine flüchtige Eroberung.«

Mr. Hunters Gesicht überzogen viele kleine Lachfältchen, aber seine Augen widersprachen seiner Aussage.

Annabel fühlte sich auf seltsame Weise berührt. Sie spürte, wie sie eine heiße Welle durchzog. Bestimmt war sie puterrot im Gesicht, dachte sie beschämt. Dieser ältere Herr konnte einer Lady ihres Alters durchaus gefährlich werden, auch wenn sie solcherlei Gedanken stets erfolgreich verdrängt hatte.

»Wir sollten ein paar Schritte gehen, nachdem wir alle Missverständnisse ausgeräumt haben«, sagte Robert und überspielte damit die etwas peinliche Situation.

Ja, ein kühler Luftzug wird meinem erhitzten Gesicht gut tun, dachte Annabel, sprach es aber nicht aus.

»Rose meinte, Sie recherchieren für einen neuen Roman. Leider wollte sie nicht verraten, worum es geht.«

»Um diese Insel. Genauer gesagt, um dieses Haus mit seiner wechselvollen Geschichte. Mrs. Mitchell meinte, die Hausdame, Mrs. Graham, könnte mir dabei behilflich sein. Meine Recherche im Internet hat nicht viel gebracht. Ich habe jedenfalls nichts Neues erfahren.«

»Vielleicht kann ich etwas dazu beitragen. Mein Großvater gehörte in den zwanziger und dreißiger Jahren zu den Gästen des Hauses, als es noch unter anderer Leitung war.«

»Wie interessant. Hat er von seinen Erlebnissen berichtet?«

»Mir gegenüber natürlich nicht, ich war noch zu jung, aber wenn er zu meinen Eltern davon sprach, habe ich stets lange Ohren gemacht, wie man so treffend sagt. Er hat es damals sehr bedauert, als das Hotel nach dem Krieg zu Ferienwohnungen verkommen ist.«

»Ich schätze, der Umstand, dass es zwischenzeitlich als Lazarett genutzt wurde, hat dazu beigetragen. Von der alten Pracht dürfte nicht mehr viel übrig gewesen sein.«

»Das dachte er wohl auch. Jedenfalls ist er nie hierher zurückgekehrt, um sich eine Enttäuschung zu ersparen. Nachdem es dann lange Zeit als Internat genutzt wurde, hat er gänzlich das Interesse verloren. Den Umbau und die prachtvolle Wiedereröffnung als Hotel hat er leider nicht mehr erlebt. Sie hätten ihn hören sollen, wie er von jenen Jahren geschwärmt hat. Allerdings wurde in den Zeitungen von Dingen berichtet, die den Ruf des Hauses gefährdeten. Von ausschweifenden Partys war die Rede und von Gästen, die unbekleidet auf der Insel picknickten. Nun, es war eben eine ganz andere Zeit.«

»Darüber habe ich auch gelesen. Aber wenn das alles war …«

»Nicht ganz. Es sind auch mehrere Morde geschehen, die man versuchte, weitgehend zu vertuschen. Da gab es zum Beispiel das mysteriöse Verschwinden dreier junger Männer. Womöglich eine Eifersuchtstragödie. Die Leichen wurden jedoch nie gefunden. Anfang der Dreißigerjahre kam ein Starlet unter ungeklärten Umständen ums Leben. Der mutmaßliche Täter entging seiner Bestrafung, indem er sich selbst richtete.«

»Warum gelangte davon nichts in die Presse?«

»Der Hotelbesitzer hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, die Vorfälle geheim zu halten, weil es sonst womöglich das Aus des Hotels bedeutet hätte. Erfolgreich, wie man sieht. Bei dem Starlet war das nicht so einfach, doch das Filmstudio war nicht an einem Skandal interessiert. Es müssen viele Gelder geflossen sein. Genutzt hat es letztendlich nichts. Am Ende trug der Krieg den Sieg davon. Ironie der Sache ist, dass sich das zweite Verbrechen in dem Zimmer ereignete, das später der Krimiautorin Agatha Christie gewidmet wurde.«

Annabel fröstelte plötzlich. Daran war nicht die kühle Nachtluft schuld, sondern der Gedanke, dass sie jetzt in diesem Zimmer wohnte.

»Wir sollten langsam zurückgehen«, sagte Mr, Hunter, dem Annabels Zustand nicht entgangen war. »Ein heißer Tee mit einem Schuss Brandy wird uns beiden guttun.« »Ich würde es vorziehen, ein heißes Bad zu nehmen, wenn Sie mir nicht böse sind.«

»Keineswegs. Ich würde es nie wagen, Ansprüche zu stellen, freue mich aber auf das morgige Frühstück. Vielleicht gestatten Sie mir, es mit Ihnen gemeinsam einzunehmen.«

»Ich fürchte, das könnte Mrs. Mitchell missfallen.«

»Das wäre dann ihr Problem, nicht wahr? Aber ich denke, Sie tun der Armen Unrecht. Sie ist toleranter als Sie glauben.«.

Am nächsten Morgen genoss Annabel eine Mischung aus kontinentalem Frühstück mit Toast, Marmelade und Ei und den bekannten Spezialitäten aus Großbritannien. Denn von einer Karte konnte man das sogenannte cooked breakfast dazubestellen mit kleinen Würstchen, Champignons, Speck und Eiern in allen Variationen.

Als hätte Mr. Hunter in einem verborgenen Winkel gewartet, gesellte er sich schon nach kurzer Zeit mit einer höflichen kleinen Verbeugung zu Annabel. Auch Rose Mitchell ließ nicht lange auf sich warten. Wenn sie irritiert über die traute Zweisamkeit war, ließ sie es sich nicht anmerken.

»Ich sehe, Sie haben sich schon einander bekannt gemacht, wie schön«, flötete sie.

»Guten Morgen, meine Liebe, ich hoffe es geht ihrem Kopf besser«, sagte Robert Hunter.

»Ach doch, das kommt und geht. Ich habe einen Appetit … na, kein Wunder, schließlich habe ich die ganze Nacht nichts gegessen.«

Annabel und Robert lachten befreit auf. Insgeheim hatten wohl beide befürchtet, Rose könnte ihnen eine kleine Szene machen.

Während des Frühstücks fiel Annabel eine Dreiergruppe junger Leute an einem der gegenüberliegenden Tische auf. Die junge Frau trug einen dunklen kurzen Pagenkopf und etwas altmodisch wirkende Kleidung. Aus ihrem knallrot geschminkten Mund kam öfter ein glockenhelles Lachen. Ihre Augen versprühten Sinnlichkeit und Lebensfreude. Sie hatte keine Hemmungen, den beiden Männern abwechselnd ihre Gunst zu schenken, indem sie den einen küsste und dem anderen dabei unter dem Tisch ihren nackten Fuß in das Hosenbein schob. Der etwas ältere von beiden küsste ihr galant die Hand, während der andere sie mit glühenden Blicken bedachte.

Annabel war so fasziniert, dass sie immer wieder hinüberschauen musste, bis Rose Mitchell sie ansprach.

»Kennen Sie die Herrschaften?«, fragte sie ungeniert. »Das Ehepaar müsste in etwa in unserem Alter sein. Vielleicht ist es Ihnen schon einmal hier oder an einem anderen Ort begegnet.«

»Nein, ich kann mich jedenfalls nicht erinnern«, sagte Annabel und sah Rose an. Moment mal, was hatte sie gerade gesagt? In unserem Alter? Annabel glaubte, sich verhört zu haben, doch als sie wieder hinübersah, saß dort tatsächlich ein älteres Ehepaar. Von den jungen Leuten gab es keine Spur. Ihre Verblüffung kaum verbergen könnend, nahm Annabel einen großen Schluck Tee und verschluckte sich prompt.

»Erlauben Sie?«, fragte Mr. Hunter und klopfte ihr leicht auf den Rücken.

»Für einen Moment dachte ich …«, setzte Annabel an, nachdem sie wieder zu Atem gekommen war.

»Das kenne ich, dass einem Gesichter bekannt vorkommen. Ein Wunder, dass es in der Natur überhaupt so viele Unterschiede gibt«, meinte Rose Mitchell, und Robert pflichtete ihr bei. Beide sahen sich vielsagend dabei an. Annabel hatte auf einmal das Gefühl, dass sie ganz genau wussten, was da gespielt wurde. Sie bekam umgehend schlechte Laune, weil sie es auf den Tod nicht ausstehen konnte, wenn man etwas vor ihr verbarg. Wahrscheinlich hatten die beiden die gleiche Vision wie sie gehabt, wollten es aber nicht zugeben oder darüber sprechen.

»Ich habe vorhin schon einmal vorgefühlt«, wechselte Rose demonstrativ das Thema. »Mrs. Graham steht Ihnen nach dem Frühstück für ein Viertelstündchen zur Verfügung. Sie können sie am Empfang rufen lassen.«

»Danke, so schnell habe ich damit gar nicht gerechnet. Ich wollte die Gelegenheit nutzen, wenn ich ihr zufällig begegnen würde.«

»Das bleibt Ihnen natürlich freigestellt, doch ich dachte …«

»Ja, ja, warum nicht. Je eher desto besser. Haben Sie schon Pläne, wie Sie den Tag verbringen werden?«

»Vielleicht mach ich einen kleinen Ausflug nach Guernsey«, sagte Rose. »Falls Sie mich begleiten wollen, hätte ich nichts dagegen einzuwenden, Mr. Hunter.«

»Warum nicht? Ich wollte zwar ein paar Briefe schreiben und mich etwas ausruhen …«

»Das können Sie morgen auch noch. Aber ich will Sie nicht drängen. Oder möchten Sie sich anschließen, meine Liebe? Dann würde ich warten, bis Sie mit Mrs. Graham gesprochen haben …«

»Nein, schließlich bin ich gerade erst angekommen«, sagte Annabel. »Ein andermal, ja?«

»Ganz wie Sie wünschen. Ich werde mir an der Rezeption den Tidenplan aushändigen lassen. Dann wissen wir, wann es überhaupt möglich ist.«

Das weitere Frühstück verlief eher wortkarg, was für Rose bestimmt eine Anstrengung bedeutete. Irgendwie hatten wohl alle das Gefühl, es könne sich ein Unheil ankündigen.

Mrs. Graham, eine falsche Blondine, war eine Hotelangestellte wie aus dem Bilderbuch. Adrett gekleidet und frisiert, freundlich, doch gleichzeitig reserviert. Ihr etwas maskenhaftes Gesicht zeigte kaum Regung, und man bekam in ihrer Nähe den Eindruck, man hielte sie von außerordentlich wichtigen Aufgaben ab.

»Ja, das tut mir leid«, sagte sie mit aufgesetztem Lächeln. »Das war lange vor meiner Zeit. Und so viel ich weiß, existieren keine Unterlagen aus der Blütezeit des Hotels.«

»Verzeihen Sie, wenn ich das sage, aber das erscheint mir doch etwas ungewöhnlich«, ließ Annabel sich nicht beirren. »Hotels dieser Kategorie und Ausstattung werben doch gerne mit der Geschichte des Hauses.«

»Gewiss, deshalb war die Geschäftsleitung auch sehr erfreut, über die alten Fotografien verfügen zu können. Aber vergessen Sie bitte nicht, dass der Krieg vieles vernichtet hat … und die anschließende, unterschiedliche Nutzung des Hauses …«

»Aber einige wenige Aufzeichnungen oder verstaubte Aktenordner mit Werbung, Zeitungsausschnitten, Erfahrungsberichten oder Menükarten wird es doch noch geben …«

»Ich sage doch …, aber ich kann mich gerne bei der Geschäftsleitung für Sie erkundigen …«

»Tun Sie das. Darüber wäre ich sehr dankbar.«

»Da fällt mir ein …, Mr. Gage, unser Hausmeister, weiß vielleicht mehr. Ich hörte ihn vor längerer Zeit von alten Kisten im Keller sprechen, die ihm im Weg seien.«

»Na also, vielleicht ist mir das Glück hold. Wo finde ich den Mann?«

»In seinem Büro im Untergeschoss, wenn er nicht gerade unterwegs ist.«

»Vielen Dank. Einen Versuch ist es wert. Und danke, dass Sie sich für mich Zeit genommen haben.«

»Bitte sehr. Wir sind angewiesen, den Gästen fast jeden Wunsch zu erfüllen, sofern wir dazu in der Lage sind.«

Du mich auch, dachte Annabel, setzte aber ihr reizendstes Lächeln auf. Dann verlor sie keine Zeit und machte sich auf den Weg in den Keller.

Marvin Gage, ein spindeldürrer Endfünfziger mit Stoppelhaaren und etwas ungepflegtem Bart, wurde auch nicht gerne bei seiner Arbeit gestört, doch Annabel schien es, als hätte er gegen eine kleine Pause nichts einzuwenden. Zumindest war sein Lächeln aufrichtiger.

»Ja, da rotten ein paar Kisten vor sich hin«, sagte er mit tiefem Bass. »Ich habe sie in einer verschlossenen Kammer gefunden und bisher nur einen flüchtigen Blick riskiert. Meines Erachtens handelt es sich um alte Dokumente aus dem Internat.«

»Auch gut, um nicht zu sagen, wunderbar. Diese Epoche interessiert mich ganz besonders.«

»Dann sollten Sie sich etwas Einfaches anziehen und keine Angst vor einer Staublunge haben.«

»Bestimmt nicht. Wenn es Ihnen recht ist, komme ich in einer halben Stunde wieder.«

»Bitte, Sie wissen ja, wo Sie mich finden.«

Annabel konnte ihr Glück nicht fassen. Dabei würde sich erst herausstellen, ob sich etwas Brauchbares in den Kisten fände. Aber es war ein Anfang.

In ihrem Zimmer zog sie sich legere, ältere Kleidung an und band sich ein Tuch um. Als sie dabei in den Spiegel schaute, wäre sie vor Schreck fast ohnmächtig geworden. Hinter ihr stand die junge Frau mit dem Pagenkopf, die sie beim Frühstück gesehen hatte. Als Annabel sich umdrehte, um zu fragen, was sie in ihrem Zimmer zu suchen habe, stellte sie fest, allein im Raum zu sein.

Insel im Zwielicht

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