Читать книгу degenerama - Jek Hyde - Страница 7

Unser Spiegelbild …

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Selbst der Weg zu Pias Wohnung war Spade so vorgekommen, als wandere er im Traum herum. Alles war irgendwie fremd und verschwommen, was wohl an dem Nachhallen des Betäubungsmittels in seinem Kopf lag. Er erinnerte sich noch schwach daran, sich aufgesetzt zu haben, und als er sich gerade in den Eimer erbrach, war ein älterer Chinese ins Zimmer getreten und hatte irgendwas gesagt. Spade war sitzen geblieben und hatte seine schwarzen, glänzenden Schuhe betrachtet, bis sein Kopf klar genug geworden war, um aufzustehen und durch die morgendliche Stadt zu wandern, die inzwischen erwacht war. Er ging an den grauen Häusern und den Schaufensterpuppen vorbei zu den Plattenbauten, die eher wie alte Computer wirkten und hoch in die Luft ragten. Der, in dem Pia wohnte, zeichnete sich durch viele kleine Balkone aus, die unabhängig voneinander aus der Fassade standen, gleich herausgezogenen Schubkästen.

Er presste den Finger gegen die Sprechanlage, noch immer leicht schummrig, und Pias Stimme erklang von der Mitte bis hinunter: „Wer?“

„Spade“, sprach der Schwankende einfach hinein.

„Komm hoch, Ben.“

„Ich bin nicht Ben“, erwiderte Spade und stieg die vielen Stufen zu Pia Hand hinauf, die bereits vor ihrer Tür wartete. In Shorts und einem weiten, dunklen T-Shirt stand sie mit ihren langen Beinen und dem blonden, flauschigen Irokesenschnitt auf dem Kopf da. Das hübsche Gesicht war von im Verheilen begriffenen Narben bedeckt. Sie hatten eine gewisse logische Anordnung, die Pia vor dem Spiegel getroffen hatte. Eine lange Narbe befand sich über ihrem linken Auge schräg zum Kiefer; eine stand parallel dazu und zur Nase; eine war über dem rechten Auge und schnitt die Lippen; eine Narbe verbreiterte ihr Lächeln bis zu den Ohren; eine verlief von dem einen Wangenknochen zum anderen über die Nase; eine Narbe begann unter dem rechten Auge und schnitt das linke längs, wobei sie natürlich aus Sicherheitsgründen die Augenlider in Ruhe gelassen hatte; und zu guter Letzt hatte sie eine siebte kleine Narbe an der linken Wange, recht nah am Kiefer, die die Narbe schnitt, die über die Nase führte, und die, die den Mund vergrößerte. Dieses Gitter, welches ihr hübsches Gesicht überspannte, hatte nichts mehr von den roten Narben, sondern bestand nur noch aus leichten, hellen Erhebungen.

„Was ist denn mit dir passiert?“, fragte sie zu Spade hinab, der gerade die Treppen hinaufstieg.

„Ich habe die Zerstörung meines Gesichts professionalisiert. Bin aus der Amateurschublade raus“, meinte Spade und fuhr mit einem Finge eine von Pias Narben nach. „Du heilst“, meinte er.

„Ich weiß“, lächelte sie. „Ich muss die Cuttings demnächst nachziehen. Was machst du hier? Müsstest du nicht arbeiten?“

„Müsstest du nicht auch arbeiten?“

„Ich hab zuerst gefragt.“ Sie trat zurück und ließ den bandagierten Spade in den länglichen Flur.

„Könnte eh nicht arbeiten. Die Betäubungsmittel haben noch nicht wirklich nachgelassen.“

„Wie meinst du das?“, fragte Pia plötzlich. „Na ja, es dauert, bis der Körper die Vergiftung abgebaut hat, und bis dahin bist du dir nicht sicher, ob du wach bist oder …“

„Das meine ich nicht. Du sagtest ‚professionalisiert‘. Was soll das heißen?“

Spade sah Pia an, wie sie unsicher dastand.

„Warum trägst du diesen Verband um dein Gesicht? Was hast du gemacht?“

„Schön-heits-chi-rur-gie. Bloß andersherum“, sagte Spade, als er seine Stirn gegen ihre legte und mit der Hand durch ihren wuscheligen Iro fuhr. Pia wich zurück. „Was?“

„Anders gesagt: Ich habe mein Gesicht chirurgisch zerstören lassen“, sagte Spade zufrieden.

Pia schien plötzlich Angst zu bekommen. „Was hast du gemacht, Ben?“

„Bleiben wir bei Spade. Ich weiß noch nicht, wie es geworden ist, und ich dachte, dass du es als Erste sehen sollst. Gehen wir ins Bad.“

Spade ging über das Parkett durch die Wohnung mit den cremefarbenen Wänden und den schicken, glatten, kantigen Möbeln in das kleine Badezimmer, das einen großen Spiegel, der vom Fußboden bis zur Decke reichte, eine Toilette neben dem Fenster und daneben eine Badewanne enthielt.

„Wie kommt es eigentlich, dass du in einem beschissenen Neubaublock wohnst, wo dein Vater doch reich ist?“, fragte Spade, als er das Bad betrat.

„Mein Vater ist wohlhabend, nicht ‚reich‘. Was hast du eigentlich machen lassen?“

„Facelifting extrem“, meinte Spade, schaute in sein bandagiertes Gesicht, aus dem das kinnlange, schwarze Haar in Strähnen hinabhing, schaute in seine Pupillen, wobei die rechte unnatürlich weit geweitet war und sich nie wieder zusammenziehen würde.

„Hat dir die Sache mit den Augen nicht gereicht?“, fragte Pia, die die Arme verschränkte und sich gegen die Wand lehnte, ein wenig in Angst, was sie unter dem Verband erwarten würde.

„Nein, aber es war ein Anfang. Ich erfuhr damals, dass David Bowies Auge nur durch eine Schlägerei, die er als Kind gehabt hatte, geweitet war. Es war ein Anfang.“

„Super, weißt du noch, wie oft ich dich schlagen musste?“, meinte Pia. „Am Ende hattest du eine gebrochene Schläfe und ich eine verstauchte Hand, die blau wurde.“

„Und meine verschiedenen Augen“, führte Spade an und suchte mit den Fingern den Anfang der Binden, die sich wie ein schützender Kokon um sein neues Gesicht schlangen.

„Ich will ja nichts sagen, aber bist du sicher, dass das eine gute Idee war? Ich meine, dein Gesicht gleich durch einen Chirurgen zu zerstören?“

Spade stand vor dem Spiegel und sah sich an. Nur seine zwei kleinen runden Augen mit geröteter Haut rundherum und seine Zähne schauten aus dem Verband heraus. „Weißt du, dass ich mir neulich vorgestellt habe, wie du dir dein Gesicht zerschnitten hast? Wie du mit einem Taschenmesser vor dem Spiegel standest und ähnlich einer Frau, die sich schminkt, lange, blutige Narben in dein Gesicht geschnitten hast?“

„Es war ein kleines Gemüsemesser“, berichtigte Pia ihn lächelnd.

Spade schüttelte seine Gliedmaßen aus, wie vor einer großen sportlichen Herausforderung. „Bist du auch so gespannt wie ich?“

Pia ging zu ihm. „Okay, mach schon, bevor ich Angst kriege.“

„Vielleicht kriegst du sie ja danach“, wandte Spade ein und schaute über seine Schulter. Anschließend drehte er sich wieder zum Spiegel, ertastete die kleine silberne Klemme und löste sie. Er begann, Band um Band von seinem Gesicht zu wickeln, wie eine Maschine, die den Kokon einer Seidenraupe aufwickelt, die ihre Metamorphose nie vollenden würde. Dann schaute er den neuen Spade an, mit seinem verzogenen Gesicht. Er sah aus wie ein Haifisch. Seine Haut war glatt, bis auf die vielen kleinen Poren. Sie war so stark gespannt, dass seine Nasenflügel verschwunden waren und seine Nase nur noch eine Kante war, wie eine Maske, die sie und die Augen bedeckte. Die Haut um seine Augen zog sich nach hinten, sodass sie in kleinen Höhlen lagen. Seine Lippen waren fast vollständig verschwunden und zu einem breiten, schmalen Lächeln gezogen. Nur die Unterlippe war noch vorhanden. Er sah wirklich aus wie ein Haifisch.

Pia starrte Spades Spiegelbild an. Langsam verzogen sich ihre Narben und ein Lächeln erfasste ihr Gesicht. Sie schüttelte den Kopf: „Ach du Scheiße, du bist total verrückt“, meinte sie.

Spade strich sein Haar zurück und mit dem Finger über die Nähte vor den Ohren. Rund um die Augen und an seinen Schläfen war die Haut eine Mixtur aus Blau und Violett. Abgesehen von den Blutergüssen war sie weiß. Er wandte sich Pia zu.

Sie lächelte: „Einfach irre“, und wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Einerseits war es verdammt cool und machte Spade mehr als einzigartig, zu seinem eigenen Kunstwerk; andererseits war sie sein normales spitzes Gesicht gewöhnt, das nun regelrecht zu einer menschlichen Messerschneide geworden war. Sprachlos lehnte sie mit dem Rücken an der Wand.

Spade legte sein Gesicht, dessen starken Zug er noch spürte, gegen Pias und legte seine Hand auf ihren Schritt. Pia ging das zu weit und sie wich zur Seite weg. „Ich hoffe, du hast nicht vergessen, dass wir nur Freunde sind und nicht zusammen?“, fragte sie unsicher, versuchte allerdings, sicher zu klingen.

Er hielt den Kopf gesenkt und es war nicht auszumachen, ob er wirklich lächelte oder es nur sein Haifischgesicht war. „Klar, muss das Betäubungsmittel sein. Bin noch nicht richtig in der Realität angekommen“, entschuldigte er sich und Pia wollte es ihm zu gern glauben.

Sie lächelte. „Komm, wir setzen uns auf den Balkon.“

Beide gingen durch die Mischung aus Küche und Wohnzimmer, welche den größten Teil der Wohnung ausmachte. Helle Wände, dunkle, kantige Möbel und modernes Sofa. Dann gingen sie hinaus auf den Balkon.

„Was willst du trinken?“

„Irgendeinen Energydrink. Ich muss zu mir kommen“, meinte Spade, schob die Glastür auf und schon wehte ihm die kühle Morgenluft ins Gesicht und umspielte es mit angenehm kühlen Fingern. Pia trat ebenfalls hinaus und reichte ihm die Dose, die Spade mit einem Zischen öffnete.

„Wer macht so was überhaupt?“, fragte sie. „Mein Vater würde das nie tun.“

„Du kennst doch diesen asiatischen Gemischtwarenladen?“, fragte Spade. „Den mitten in der Stadt?“ Pia nickte. „Klar. Die Asiaten machen das?“

„Nein, Doktor David S. Steinmann macht das. Lass dir doch bei ihm die Narben nachziehen. Da brauchst du kein Gemüsemesser. Der hat ein Skalpell.“

„Wie sieht er aus?“

„Wie ein Bürokrat oder ein Mathelehrer. Ein langer Kerl mit einem Pokerface und einer schmalen Brille.

Sagt nicht viel, aber was er sagt, ist direkt und auf den Punkt gebracht.“

„Zum Beispiel?“

„Ich wachte auf seinem Sofa aus. Er hat nur einen einzigen Behandlungsraum, ganz hinten im Gebäude. Muss mich irgendwie hoch in die Wohnung getragen haben. Er wartete, bis ich wach war, und trank Wein. Ich wollte auch was. Da sagte er, dass ich sterben würde, wenn ich jetzt Alkohol zu mir nehmen würde.“

„Klingt interessant. Und der versaut Gesichter?“

„Ganz genau“, meinte Spade, lehnte sich gegen das Geländer, nahm einen Schluck aus dem sprudelnden, sauer-süßen Energydrink und schaute in die orangefarbene Morgenstimmung und die kühlen, schattigen Gassen hinab.

„Schau dir die glänzenden Autos und die vielen Menschen da unten an.“

„Ich schaue eher in die Ferne, die Stadt, die Skyline. Die ist am Morgen und in der Dämmerung besonders schön.“

„Die da unten wissen überhaupt nichts. Ich meine, das ist ein ganz neuer Schritt, weißt du? Wir werden einfach in diese Welt geboren, ob wir wollen oder nicht. Und nicht nur das. Sie formen uns nach ihrer Vorstellung. Geben uns Talente, die wir nicht wollen, nur damit wir ihre Träume leben können und unsere eigenen dann ihnen gleich auf unsere Kinder projizieren können. Und sie denke nicht nur, dass sie uns was Gutes tun, nein, sie denken, sie tun das Richtige. Mal sehen, wie sie mit meinem neuen Gesicht klarkommen.“ Wie ein Tornado wandte er sich um und Pia wich zurück. „Ich habe mein Gesicht neu geformt! Das ist mehr als die meisten können, Pia.“ Er kam ihr wieder verdammt nahe und strich liebevoll durch ihr Haar.

„Ben, jetzt komm endlich klar!“, rief sie. „Langsam müsste das Scheißbetäubungsmittel doch nachlassen, oder hat dir jemand ins Hirn geschissen?!“

„Spade“, korrigierte dieser, wich leicht zurück und lehnte sich an das Geländer. „Ich will Spade heißen. Es ist mein gutes Recht, mich zu nennen, wie ich will, oder etwa nicht?“

„Meinetwegen, solange du langsam klarkommst.“

Spade umklammerte das Geländer, beugte sich hinüber und schaute in die Tiefe. „Das sind nicht nur die Reste der Narkose: Das ist auch, was ich geschafft habe! Ich bin völlig high, berauscht vom Gefühl des Sieges!“ Er drehte sich um. „Das ist, als hätte man Gott überlistet und er könnte nichts dagegen tun! Scheiße, versuch dich mal hineinzuversetzen! Was hast du gefühlt, als du dir das Gesicht zerschnitten hast? Da war nicht nur Schmerz, der war nur oberflächlich, stimmt’s? Das ist das gleiche Gefühl wie als Kind, wenn du es endlich geschafft hast, zu gewinnen, nachdem du unzählige Runden irgendeines Spiels immer und immer wieder verloren hast. Auch wenn es eins zu zwanzig für dich steht, es ist dieser eine Sieg.“ Er hob den rechten Zeigefinger, um seine Worte zu verdeutlichen. „Dieser eine Sieg ist einfach mehr wert als die zwanzig Niederlagen, ganz einfach weil es dein Sieg ist!“

Pia packte ihn am Kragen und drückte ihre Lippen gegen seine. Als sie sich löste, meinte sie lächelnd: „Du hast auch schon mal besser geküsst.“

Spade versuchte zu lächeln. Sein Mund zuckte aber nur. „Hab Nachsicht, mein Gesicht ist im Eimer.“

„Mein’s doch auch, aber meine Lippen funktionieren noch. Und jetzt mach, dass du rauskommst, ich habe noch zu tun“, befahl sie, immer noch lächelnd.

Er trank die Dose auf ex und stellte sie auf dem Weg nach draußen auf einem der Schränke ab.

„Das ist echt gewöhnungsbedürftig“, meinte Pia, als sie wieder an der Tür waren.

„Klar. Was hat dein Vater zu deinem Gesicht gesagt?“

„Hat es noch nicht gesehen.“ Spielerisch lächelte sie.

„Wir sehen uns?“

„Du bist nicht mehr zu übersehen“, meinte Pia.

„Oder zu ignorieren. Passive Aufdringlichkeit“, entgegnete Spade, während Pia die Tür schloss.

Nun stand er draußen in der Dunkelheit des Treppenhauses und hob eine Hand. Eines von Pias dünnen, blonden Haaren klebte daran.

Drinnen ging Pia zum Balkon und war sich noch immer nicht sicher, ob sie Spades neues Gesicht mochte. Sie lehnte sich auf das Geländer und sah hinunter zu dem hellen Beton der Stadt, sah, wie Spade ging und noch einen Blick zu ihr hinaufwarf. Pia hob lächelnd die Hand und winkte. Wahrscheinlich sah Spade sie nicht mal, denn er winkte nicht zurück, sondern ging weiter. Pia sah ihm nach, während der Wind, wie Spade es getan hatte, mit kühlen Fingern durch ihr Haar griff und an ihren rasierten Schläfen entlangstrich.

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