Читать книгу Schwarzmarkt Magie - Jek Hyde - Страница 11
MICROPSIA
ОглавлениеAn diesem Punkt stoppte Alex’ Reise.
Sie schaufelte wie eine Irre auf einem riesigen Feld, auf dem auch Tausende andere schaufelten. Irgendwo in diesem riesigen, erdigen, matschigen Feld, das sich erstreckte, so weit das Auge reichte, war die goldene Schaufel versteckt. Alex schwitzte und fror abwechselnd. Ihre Hände waren vom Dreck verkrustet und sie hatte sich inzwischen so oft über die schweißnasse Stirn gestrichen, dass auch ihr Haar verkrustet war.
Das Feld war so groß, dass zwischen jeder einzelnen Person wenigstens zehn Meter Platz waren. Alle wollten sie haben. Auch Alex, doch ihr ging es inzwischen nur noch darum, die verdammte Schaufel zu finden, um diesen Ort für immer verlassen zu können. Ihr Kopf tat mächtig weh und ihr war übel. Trotzdem musste sie diese scheiß goldene Schaufel finden und weitergraben. Einfach weitergraben. Keiner der anderen durfte sie finden, weil Alex sonst für immer hierbleiben müsste. Sie grub und grub, doch irgendwie gelangte sie einfach nicht tiefer in die Erde und auch die Batzen, die sie mit der Schaufel neben sich warf, häuften sich nicht. Irgendwas war mit ihrer Wahrnehmung nicht in Ordnung.
Plötzlich warf sie ihre Schaufel beiseite, denn da war etwas in der Erde. Sie kniete sich in den Matsch und wischte mit den dreckigen Händen die Erde, die an dem Objekt klebte, ab. Gold kam zum Vorschein, es war die Schaufel und Alex wurde aus diesem widerlichen Traum befreit.
Alex war krank und sie konnte froh sein, dass die Krankheit erst jetzt, da sie Berchtesgaden erreicht hatte, ausgebrochen war. Es wäre die reinste Katastrophe, nun krank und schlotternd auf der Rückbank ihres Fords zu liegen oder in einem Hotel jeden Tag dieser Krankheit bezahlen zu müssen. Stattdessen lag sie im Gästezimmer des großen Fachwerkhauses von Lillis Familie.
Alles im Zimmer war aus wuchtigem, dunklem, rustikalem Holz. Links befand sich die Tür, die einen Spalt offen stand. Weiße Wände. Dunkelbraune Decke über ihr. Neben der Tür das große Fenster mit den langen Vorhängen. Draußen in den Fensterkästen wuchsen bescheuerte Pelargonien, die abbrachen, wenn man sie einmal böse ansah. Während sich rund um dieses Haus die Berge erstreckten, lag sie in die dicke, weiße Decke eingekuschelt und ihr Kopf lag auf den dicken, weißen Kissen. Das Bett war altmodisch und aus dunklem Holz mit ausgeprägten Bettpfosten. Davor standen ihre beiden Cowboystiefel und zeigten zur Tür. Links am Kopfende gab es einen kleinen Nachttisch mit einer Flasche Mineralwasser und Taschentüchern und einen pinkfarbenen Plastikeimer.
Alex fühlte diese schwere, depressive Hitze des Krankseins. Sie zitterte und zog ihren Körper unter der dicken, aufgeplusterten Decke zusammen, fühlte die Nässe, die Hitze und die unlogische, einhergehende Trockenheit. Halb schlafend und halb wach schaute sie die Wände an. Sie fühlte sich nicht in der Lage, irgendetwas anderes zu tun, als diesen Mist einfach auszusitzen, indem sie versuchte zu schlafen, was kaum möglich war. Wenn sie diese kuschelige, warme Decke bis zum Kinn zog, durchfuhr sie ein merkwürdiges, leichtes Lachen aufgrund des Schauers der Behaglichkeit, bis sie kurz darauf eine weitere Welle der dumpfen, fiebrigen Schwere überrollte und Alex sich erneut sterbenselend fühlte.
Sie hatte sich schon kurz nach ihrer Ankunft die Seele aus dem Leib gekotzt und nun konnte sie nicht mal sagen, welcher Tag es war. Ihr treuer Begleiter, der azurblaue Ford Escort EXP, stand draußen vor dem Haus. Sie war froh, dass Lillis Eltern es akzeptierten, dass ihre Tochter mit einer Spielerei der Natur wie Alex Zärtlichkeiten austauschte. Aber vermutlich gefiel es ihnen, dass Alex sich um Lillis „Problem“ sorgte.
Alex wälzte sich schwerfällig in Richtung Fenster. Das Licht, das strahlend wie ein Suchscheinwerfer durchs Fenster fiel, brannte in ihren Augen. Doch sie fühlte sich zu schwer und zu träge, um aufzustehen und den Vorhang zuzuziehen. Ihre Träume und Gedanken fühlten sich wie eine unendlich schwere depressive Version von Dalis „Beständigkeit der Erinnerung“ mit den zerfließenden Uhren und der archaischen, wüsten Landschaft an.
Das wüste Land … Das wüste Land … Das wüste Land, dachte Alex immerzu. Ab und an sah sie eine nackte Lilli, die sich in dieser leeren Landschaft räkelte. Und da war sie mit einem Mal tatsächlich. Lilli schob die Tür einen Spalt auf und schaute zu Alex hinein. „Wie geht’s dir, Alex?“, flüsterte sie.
Alex hob ihre tonnenschwere Hand und streckte einen frierenden Finger zum Fenster aus: „Zu hell … Zu hell …“, krächzte sie und zog die Hand in ihr Schneckenhaus aus aufgebauschter Decke zurück. Lilli verstand sie erfreulicherweise, ging zum Fenster und zog die langen, weißen Vorhänge zu, wodurch alles im Zimmer überraschend gut gedämpft wurde; zumindest genug, um Alex’ momentan übersteigerte Wahrnehmung nicht schmerzhaft zu gestalten.
„Geht’s dir schon ein bisschen besser?“
Alex öffnete die Augen einen Spalt, um Lilli fragend und auf ihrem Piercing kauend anzusehen. „Nicht gut … schwer … wüstes Land …“, gab Alex ausführlich zur Antwort.
Sie fühlte sich, als hätte sie sich in den vielen unzusammenhängenden Gedanken verheddert und hinge nun schwerfällig wie eine tote Kuh in einem riesigen asymmetrischen Spinnennetz. Wie ein tragischer, griechischer Held litt sie, eingemummelt in diese Decke, nur mit einem T-Shirt und einer Boxershorts bekleidet. Sie zitterte, zog sich so eng zusammen, wie es ging, alle Gliedmaßen zum Torso hin. Obwohl sie sich fühlte wie ein toter Esel auf einem Klavier, schaffte es die angenehme Schummrigkeit im Raum, sie zum Einschlafen zu bewegen. Sie träumte von Reisen durch surreale Landschaften und welkte leicht, als sie diese Dalischen Welten durchschritt, mit den Cowboy-stiefeln an den Füßen, die wie die Stiefel eines verwundeten Soldaten neben ihrem Bett standen.
Schließlich fand sie sich in einer merkwürdigen, wuchtigen Landschaft voller Häuser wieder, wo sie mit einem breiten Malerpinsel und einem Eimer voll Tapetenkleister Comichefte, die sie aus ihrer Kindheit kannte, auf die Straße klebte. Als ob das nicht schon schwer genug wäre, passierte etwas, das die Navigation fast völlig unmöglich machte. Sie schrumpfte auf eine abnorme, detailüberflutete, hyperrealistische Größe zusammen und in der nächsten Sekunde schoss sie bohnenstangengleich in die Höhe, sodass die gesamte Stadt und die dumme comicgepflasterte Straße weit unter ihr zurückblieben. Alex jammerte und wälzte sich hin und her, verwirrt bis in die Substanz, nicht in der Lage, sich aus dieser kafkaesken Situation zu befreien.
„Ist alles okay? Alex, was ist los?“, fragte Lilli plötzlich neben ihr.
Alex, desorientiert und halbwegs wach, sagte nur: „Ich gebe auf, ihr habt gewonnen! Ich will nicht mehr!“
„Was ist los?!“
Langsam ebbte der Fiebertraum ab und Alex sah schwitzend zu Lilli auf. Es war nun stockdunkel im Raum, bis auf das Licht, das durch die offene Tür hineinfiel und Lilli beleuchtete. „Lass mich schlafen … Geht wieder … Schlafen … Lilli“, keuchte Alex und schlief wieder ein. Dieses Mal traumlos.
Mal ging es ihr besser, dann wieder schlechter. Alex schwankte hin und her und erreichte doch kein Ziel. Immer wieder sah sie Bilder, in denen irgendetwas fehl am Platz war, oder sie widerstrebte; was sie im gesunden Wachzustand kein bisschen gestört hätte, raubte ihr nun fast den Verstand.
Es ereignete sich eine widerliche Begebenheit, die sie in Todesangst versetzte. Alex lag wie tot im Bett und obwohl dieses mit dem Kopfende an der Wand stand, stand dazwischen eine unheimliche, dunkle, pelzige Kreatur, ähnlich eines archaischen Werwolfs, der an ihrer Seele und ihrer Existenz zog. Doch sie dachte nicht daran, zu sterben. Alex würde nicht sterben. Sie hatte so viel Verrücktes erlebt und war noch lange nicht satt. Stattdessen wollte sie schnell gesund werden, um mit Lilli um die Häuser zu ziehen. Mit diesem simplen, lebensfrohen Gedanken entzog sie ihrer Seele die unwirkliche Kreatur, die daraufhin verschwand und nie zurückkehrte.
Irgendwann erreichte sie die Far Lands. Diese einfache Graslandschaft mit dem wie von gigantischen Holzwürmern zerfressenen Bergmassiv, das sich wandgleich vor ihr auftat. Die unzähligen Furchen und Ritzen führten viele, viele Meter tief schnurgerade hinein und hinten in die Leere hinaus, die genauso blau wie ihr Ford war. Überall hoppelten lebensfrohe braune Karnickel herum und mümmelten Löwenzahn. Alex schritt mit ihren spitzen Stiefeln durch diese von Naturgesetzen befreite Endzone der Realität. Sie wusste, dass ab jetzt alles wieder gut werden würde.
Daraufhin verbesserte sich Alex’ Zustand. Sie schlief lange und traumlos, trank Wasser und aß trockenes Weißbrot, schleppte sich ab und an im Halbschlaf auf die Toilette, pisste ihre Blase leer und kroch ins Bett zurück, auf die gleiche Weise, wie sie es verlassen hatte, mummelte sich ein und schlief behaglich weiter.