Читать книгу Einfach mal klarkommen - Jennifer Elise Bentz - Страница 3
Kapitel 1
Überforderte Praktikantin eliminiert sich selbst
ОглавлениеEs ist viertel vor acht Uhr morgens, ich rauche Kette und hänge in der Warteschleife für Geistesgestörte. »Bitte halten Sie die Verbindung, der nächste freie Mitarbeiter wird sich um Ihre Belange kümmern.« Es folgt eine leicht psychedelische Musik, von der mir übel wird. Vielleicht liegt es aber auch an der siebten Zigarette in Folge.
»Wer sind Sie und was wollen Sie hier?«, schrie mein neuer Chef, als ich mich am ersten Arbeitstag in seinem Büro vorstellte. Das ist gerade mal drei Wochen her. Ich erklärte, wer ich war und was ich wollte. »Frau Bentz also! Aha! Die neue Praktikantin! Guuut für Sie! Aber wieso stehen Sie hier so untätig rum?« Sein Tonfall steigerte sich zum Ende des Satzes hin zu einer merkwürdigen Mischung aus Wut und Weinerlichkeit. »Mein Gott, starren Sie nicht so, Sie arbeiten nicht nur nichts, Sie halten mich auch noch auf!« Er rüttelte nervös an dem nichtssagenden Brillengestell, das auf seiner spitzen Nase saß, und fuhr sich mehrmals mit den Händen durch die Haare, obwohl er keine mehr hatte. Ich schloss die Tür. Hölzern ging ich den Weg zurück durch den Flur, um im Anschluss eine halbe Stunde verdutzt und regungslos in der Mitte meines kleinen Büros zu stehen. Danach setzte ich mich an den Computer und nahm meinen ursprünglichen Plan wieder auf, als Praktikantin der Spielfilm-Abteilung einer TV-Produktionsfirma überdurchschnittlich gute Arbeit zu leisten. Von den fünf Praktikanten, so hieß es, würden zwei in ein einjähriges Ausbildungsprogramm übernommen – und ich wollte dabei sein. So saß ich noch im Büro, als alle anderen schon längst gegangen waren, und arbeitete an einer Übungskalkulation, eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, die vermutlich eigens für die Praktikanten erstellt worden war. Damit waren meine verklärt-romantischen Vorstellungen, gleich am ersten Arbeitstag durch einen genialen Geistesblitz zur gefeierten Heldin der gesamten Filmcrew zu werden, höhnisch lachend an der Realität zerschellt. Außerdem war ich mir sicher gewesen, dass derartige fingierte Textaufgaben zeitgleich mit dem Uni-Abschluss aus meinem Leben verschwinden würden. Und Platz machten für echte, verantwortungsvolle Arbeit. Etwas deprimiert arbeitete ich weiter, bis eine Putzfrau in blauem Kittel mit beängstigend schlechter Laune um mich herumwischte und dabei energisch auf Polnisch redete. Es klang so, als würde sie sich bei sich selbst über mich beschweren. Anschließend warf sie mich raus, weil sie abschließen wollte.
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»Frau Beeentz«, hörte ich eine ungewöhnlich hohe Männerstimme rufen, als ich am nächsten Morgen übermüdet aus dem Aufzug im sechsten Stock des Firmengebäudes stieg.
»Ja?« Mein Blick fiel auf einen kleinen, dunkelhäutigen Mann mit modischer Frisur und edlem Anzug, der eiligen Schrittes auf mich zuging und bereits seine Hand ausstreckte, als er noch fünf Meter von mir entfernt war.
»Landmeier mein Name, Online-Marketing und Personal, hallo«, stellte er sich vor und schüttelte freudestrahlend meine Hand. »Ich war gestern außer Haus und konnte Sie nicht persönlich begrüßen. Jetzt aber! Wie fühlt man sich denn so in den ersten Tagen am neuen Arbeitsplatz?«
Tja, wie fühlt man sich, wenn man jahrelang studiert hat, um danach als Junior-Producerin oder Redaktionsvolontärin zu arbeiten, und letztendlich wieder nur als Praktikantin endet? Und wenn man außerdem am ersten Tag von einem brüllenden Chef und einer mies gelaunten Putzfrau empfangen wird? Wie fühlt man sich also? Beschissen natürlich.
»Gut«, sagte ich und lächelte Herrn Landmeier an. Er war mir trotz allem sympathisch. Eine Tür weiter stellte er mich der ersten Sekretärin, Frau Segmüller, vor. Eine freundlich aussehende, etwa fünfzigjährige Dame mit auberginefarbenem Kurzhaarschnitt und einer silbernen Brille, die sie aber nicht auf der Nase, sondern an einer Kette um den Hals trug. Sie blickte interessiert auf.
»Das ist Frau Bentz«, sagte Herr Landmeier, »unsere neue Praktikantin. Sie hat gerade in diesem Monat ihr Studium beendet.«
Ich spürte einen pochenden Kopfschmerz, wahrscheinlich vom Schlafmangel der letzten Nacht.
»Na, dann heiße ich Sie herzlich willkommen«, begrüßte mich Frau Segmüller mit einem freundlichen Lächeln und schüttelte meine Hand. »Sie sind also frisch gebacken von der Universität? Und haben alle Prüfungen geschafft?«
Ich nickte.
»Das ist doch mal ein Grund, den Sekt aufzumachen, der schon seit Wochen im Kühlschrank liegt!«, rief Frau Segmüller begeistert aus. Dass sich eine völlig fremde Person so enthusiastisch über meinen Abschluss zeigte, überraschte und berührte mich zugleich, also stimmte ich lächelnd zu. Später sollte ich feststellen, dass beinahe jeden Tag eine Flasche Sekt getrunken werden musste, die schon seit Wochen im Kühlschrank lag, und dafür permanent Gründe hermussten. Nichtsdestotrotz freute ich mich darüber, solch nette Kollegen zu haben. Auch die anderen Praktikanten, Christian, Timo, Michael und Florian waren sehr nett (selbst wenn ich sie notgedrungen als Konkurrenten betrachten musste). Der Chef an sich wurde nicht netter. Dummerweise hatte ich das Büro genau neben seinem erwischt, und wenn er »Denken!« oder »Lesen!« musste, lag er auf seiner Couch, knetete zur Beruhigung seiner Nerven einen kleinen Knetball und wartete angestrengt auf irgendwelche Geräusche. Drangen diese dann aus meinem oder einem anderen Nachbarbüro, etwa in Form eines zusammengeknüllten Papiers oder eines nicht unterdrückbaren Niesens in sein Büro, sprang er von seiner Couch auf, schlug mit der Faust gegen die Wand und schrie so laut, dass sich seine Stimme überschlug. Meistens hielt ich mir die Ohren zu und bekam nur Satz- und Wortfetzen mit, die ich der Etikette wegen hier nicht wiederholen möchte.
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Ich verließ jeden Abend als Letzte das Büro und rauchte noch eine Zigarette mit Mimi, der polnischen Putzfrau, auf der Feuerleiter. Sie sprach gebrochen Deutsch und hatte mir mittlerweile glaubwürdig versichert, dass ihr wütendes Selbstgespräch am ersten Abend nicht von mir, sondern vom miserablen Frauengeschmack ihres ältesten Sohnes gehandelt hatte. Zu Hause angekommen, wickelte ich während des Duschens das tägliche Streitgespräch mit meinem Freund am Telefon ab und machte mich wieder an die Arbeit. Als besonders wichtig hatte es sich erwiesen, jedes Drehbuch, das mein Chef in der engeren Auswahl hatte, besonders gut zu kennen. Beinahe täglich suchte er mich nämlich in meinem Büro auf und wollte meine Meinung zu einem der Stoffe wissen. Das Ganze war vom Ablauf her höchst standardisiert: Er riss die Tür auf, steckte den Kopf rein – um den ganzen Körper in ein fremdes Büro zu bewegen, war einfach zu wenig Zeit – und stellte mir eine Frage, ohne vorher zu erklären, worum es ging. Antwortete ich nicht innerhalb von zwei Sekunden sinnvoll und folgerichtig, rollte er mit den Augen, schlug die Tür scheppernd wieder zu und ließ mich mit einem Rekordstand an Adrenalin im Körper zurück. Anfangs fiel mir erst ein bis zwei Stunden nach seiner Attacke ein, auf welches Drehbuch sich seine Frage bezogen haben könnte. Die Zeitspanne vom Schockmoment bis zur Erkenntnisfindung wurde aber immer kürzer und ich werde nie den Tag vergessen, als ich direkt eine Antwort parat hatte. Es war am Ende der ersten Woche und wieder einmal bellte er schon los, bevor die Tür richtig offen und sein Kopf im Zimmer war: »… das jetzt ein Schwulen-Ding oder eher ’ne Vater-Sohn-Geschichte?«, hörte ich nur noch. Ich wusste, worum es ging, und hatte eine Meinung. Jetzt bloß nicht in Details verlieren, obwohl sie durchaus angebracht wären. Kurz, präzise und ohne Umschweife antworten. Los.
»Also solange das so endet, ist es wohl eher ’ne Vater-Sohn-Geschichte, fängt aber als Film über Homosexualität an. Also nicht stringent genug«, sagte ich, so schnell es mit einem Viertel Frischkäse-Roggenbrötchen im Mund möglich war, ohne undeutlich zu sprechen. Erst runterschlucken hätte zu viel Zeit gekostet. Nach dem typischen »hmpfgrmlgrml« schlug mein Chef ohne ein weiteres Wort die Tür zu und stampfte davon. Meine Antwort hatte ihn offenbar nicht überzeugt. Exakt zehn Sekunden später hörte ich jedoch nebenan im Büro seine schnarrende Stimme schimpfen: »Also, ich habe den ganzen Morgen nachgedacht und solange das so endet, ist es wohl eher ’ne Vater-Sohn-Geschichte, fängt aber als Film über Homosexualität an. Also nicht stringent genug. Ändern Sie das!«
Dann hörte ich, wie ein zu bedauernder Telefonhörer wütend und geräuschvoll in seine Gabel geknallt wurde. Endlich hatte Herr Speeks meine Kompetenzen erkannt. Wäre ich konzentrierter gewesen, hätte ich das viel früher erreichen können. Ich ärgerte mich über die unzähligen Male, bei denen ich nicht schnell genug reagiert hatte. Vielleicht lag es daran, dass ich mich seit einigen Tagen irgendwie müde und gerädert fühlte. Es war das Gefühl einer sich anbahnenden Erkältung. Meine körperliche Verfassung war mir zwar egal, aber es sollte auf keinen Fall so weit kommen, dass mich jemand für schwach oder nicht belastbar halten könnte. Ich hatte nur wenige Wochen Zeit, um mit überragender Arbeit zu überzeugen.
Das hätte ich möglicherweise sogar geschafft, wäre ich nicht durch einen mehr als dämlichen Zufall in eine verzwickte Doppelrolle geraten: Kurz vor Feierabend kamen Frau Segmüller und mein Chef zusammen in mein Büro, schlossen die Tür hinter sich und bauten sich stillschweigend-theatralisch mit ernsten Minen vor meinem Schreibtisch auf.
»Ist irgendwas?«, fragte ich.
»Ja, also, ich, äh …«, stammelte Frau Segmüller, »hatte vor zwei Jahren mal einen Bandscheibenvorfall, das ist alles gut verheilt, mein Arzt sagt sogar, ich wäre …«
»Komm zum Punkt, Erika!«, zeterte mein Chef. »Die Kurzfassung, bitte!«
Die Kurzfassung war, dass Frau Segmüller von nun an jeden Morgen zur Krankengymnastik musste und ich in den nächsten Wochen täglich vier Stunden als Ersatzsekretärin in Herrn Speeks Vorzimmer instrumentalisiert werden sollte. Meine vorsichtige Frage, ob ich mir diese Aufgabe mit den anderen Praktikanten teilen dürfte – das würde für jeden von uns nur einen Morgen in der Woche bedeuten – verursachte das sofortige Hervortreten einer beängstigend dicken Vene am Hals meines Chefs, die stark pulsierend Blut in seinen Kopf pumpte. Er lief rot an. Dann begann er zu schreien. Es sei »rein logisch«, dass er für diesen Dienst »ein Frollein!« brauchte, denn »ein Mann als Sekretärin, das glaubt ja kein Mensch!«
Dass ich mich nun tendenziell in meiner Weiblichkeit diskriminiert fühlte, sagte ich nicht. Stattdessen gab ich ein debiles Stottern befremdlicher Verblüffung von mir, welches mein Chef umgehend zum Anlass nahm, wortlos aus meinem Büro zu verschwinden. Wahrscheinlich war ich unter vier Jungs ohnehin nur die Quotenfrau. Somit war es logisch, dass ich zum Sekretariatsdienst antreten musste, offensichtlich interessierte sich niemand für meine eigentliche Arbeit. Das galt es zu ändern. Meine mittelfristige Strategie war, meine Sekretariatsarbeit zunächst demütig und stillschweigend anzunehmen. Langfristig jedoch wollte ich parallel dazu mit überragender Leistung im Produktionsbereich punkten, um mir meinen Platz im Ausbildungsprogramm zu sichern.
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So saß ich bereits am nächsten Morgen im Vorzimmer und bewunderte die Ironie meines Schicksals: Um einer solchen Tätigkeit zu entgehen, hatte ich mich in den letzten Jahren von der für mich vorgesehenen Bürolaufbahn in der Autowerkstatt meiner Eltern erst zum Abitur und dann zur Universität stetig nach oben gekämpft. Nur um nun wieder als Schreibkraft zu enden, und diesmal sogar ohne Bezahlung. Irgendwie schien es meine unumgängliche Bestimmung zu sein. Um Rechnungen abzuheften und Briefe zu öffnen, wurde ich nun offiziell von all meinen anderen Arbeiten freigestellt. Laut Chef war es aber meine wichtigste Aufgabe, »Anrufe anzunehmen und durchzustellen!« Das könnte auch meine Katze. Zu allem Überfluss erklärte mir Frau Segmüller vor meinem ersten Einsatz ausschweifend, dass Telefonate grundsätzlich nicht durchgestellt würden, denn das störe den kreativen Flow unseres Chefs. Es sollten aber Name und Nummer notiert werden und er würde sich zurückmelden, wenn die Muse gerade ausgewandert war. Jetzt könnte es sogar die Prostata meiner Katze. Aber immerhin hatte meine Situation einen so hohen Grad an Absurdität erreicht, dass keine Steigerung mehr möglich war. Dachte ich.
Bereits fünf Minuten, nachdem Frau Segmüller am Montagmorgen gegangen war, stellte ich fest, dass ich die Anforderungen ihres Jobs maßgeblich unterschätzt hatte. Nach jedem Anruf, zu dem ich Name und Nummer notiert hatte, kam mein Chef hektisch ins Vorzimmer gerast. Man sah ihm dabei an, dass er eigentlich schnell rennen wollte, aber sich noch so weit im Griff hatte, dass es letzten Endes eine Mischung aus Laufen und Gehen war, wobei er sich nicht selten an einer aus Zeitmangel nicht richtig geöffneten Tür irgendwelche Körperteile anstieß. Dann kratzte er die Kurve, stemmte mit durchgedrückten Armen die Fäuste auf meinen Schreibtisch und blickte mich aus zusammengekniffenen Augen eindringlich an. Er wollte sofort sämtliche Informationen: Wer am Telefon gewesen war, was er wollte, was ich gesagt und ob ich die Nummer notiert hatte. Dann rechtfertigte er sich vorwurfsvoll, er habe schließlich keine Zeit, alle Anrufe selbst entgegenzunehmen, und das könne bei seinem geleisteten Arbeitspensum auch niemand von ihm erwarten. Das Ganze hörte sich an wie ein entschuldigendes Selbstgespräch und dabei lief er, so schnell er konnte, gebückt um meinen Tisch und fuhr sich mit den Händen durch die nicht vorhandenen Haare. Eigentlich hätte er in dieser Zeit den Anruf selbst annehmen, die Sache klären und zusätzlich noch eine ganze Zeit lang seinen kleinen Knetball kneten können. Aber ich hütete mich, ihm das zu sagen. Stattdessen gab ich ihm recht und er trottete selbstzufrieden zurück in sein Büro. So lief es, wenn alles gut lief. Leider gab es Ausnahmen. Zum Beispiel, als ich mir ein einziges Mal erlaubt hatte, die Nummer eines Anrufers für meinen Chef nicht zu notieren, da es sich um seine Mutter handelte. Leichtsinnig war ich davon ausgegangen, dass man die Nummer der eigenen Mutter einfach besitzt. Das wurde mir von Herrn Speeks sogar bestätigt, allerdings ging es »ums Prinzip!« und wenn ich die Anweisung hatte, »jede Nummer zu notieren!«, dann sollte ich eben auch »jede Nummer notieren!«
Nach einem halben Jahr in diesem Verein war man wahrscheinlich automatisch für sinnloses Handeln nach vorgegebenen Schritten in der höheren Beamtenlaufbahn qualifiziert. Aber ich sollte lernen, dass es ganz so einfach doch nicht war. Es gab nämlich genau einen Ausnahmefall, in dem man den Namen auf keinen Fall notieren durfte – und zwar bei Prominenten. Diese könnten sich dann nämlich nicht erkannt und damit diskreditiert fühlen. Blöd nur, wenn man die Promis wirklich nicht kennt. Einmal rief ein sehr netter Herr namens Walter Plathe an. Ich notierte Namen und Nummer und erzählte das alles meinem Chef, als er nach 5-4-3-2-1 Sekunden aus seinem Büro gestürmt kam. Das war nicht gut.
»Ein Walter Plathe hat angerufen? Eiiin Walter Plathe? Sie wollen in der Filmbranche arbeiten und kennen Walter Plathe nicht?«
»Nein, tut mir leid, Chef.«
»Haben Sie nie Derrick gesehen? Oder Der Landarzt?«
»Nein, tut mir leid, Chef. Das ist nicht mein Geschmack. Jeder hat so seine Favoriten, oder? Also, hätte Josh Hartnett angerufen, hätte ich gewusst, wer’s ist.«
»Wer zum Teufel ist Josh Hartnett?«
»Sehen Sie?«
Mit einem diesmal lautstarken »hmpfgrmlgrml« verschwand er wieder; durch den Schock hatte er sogar vergessen, gebückt um den Tisch zu laufen. Dafür kam er wenige Minuten später zurück in mein Büro gestürmt, um mir zu sagen, dass er sich über Josh Hartnett informiert hatte.
»… aber der wird für unsere Produktionen zu teuer sein, Frau Bentz. Also seien Sie bitte nicht enttäuscht, wenn er niemals hier anruft!«
»Das dachte ich mir schon, Chef«, sagte ich und erklärte stolz, dass ich mich in der Zwischenzeit auch über Walter Plathe informiert hatte.
»Gut so!«, bellte mein Chef und stürmte wieder davon.
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So war es ausschließlich meinem Sondereinsatz im Vorzimmer zu verdanken, dass ich mich nun auf eine bestimmte – wenn auch eher skurrile – Weise plötzlich besser mit meinem Chef verstand. Damit hatte ich den anderen Praktikanten etwas voraus. Der Nachteil: Trotz der vier Stunden am Tag, die mein Bürodienst verschlang, verlangte Herr Speeks nach wie vor die gleiche Arbeit von mir wie von allen anderen, teilweise sogar mehr. Er wollte permanent Meinungen zu Drehbüchern, fertige Kalkulationen und eingeholte Angebote. Ich erschien morgens als Erste, ging abends als Letzte und arbeitete nachts weiter, um das Soll zu erfüllen. Am Freitagnachmittag fühlte ich mich so müde und kraftlos, dass ich ausnahmsweise pünktlich zum Feierabend das Büro verließ. Auf dem Nachhauseweg plagte mich das schlechte Gewissen so sehr, dass die Müdigkeit in Nervosität umschlug. Sogar ein kurzer Besuch meiner alten Schulfreundin Melissa, die zufällig zum Shoppen in der Stadt war und deren stoische Gemütsruhe in aller Regel jegliche Hektik und Unruhe aus dem kompletten Umfeld zu absorbieren vermochte, wirkte sich nicht positiv auf meinen Gemütszustand aus. Der Versuch, mit Melissa über meine Situation zu sprechen, war Zeitverschwendung; sie blickte mich aus ihren großen Kuhaugen ausdruckslos an und empfahl mir, mich einfach mal locker zu machen. Sie hatte leicht reden.
Melissa hatte sich noch niemals in ihrem Leben in einer schwierigen Situation befunden, da sie grundsätzlich und mit traumwandlerischer Sicherheit den Weg des geringsten Widerstandes aufspürte. Nach einer abgebrochenen Lehre als Schuhverkäuferin hatte sie aus purer Langeweile Jürgen geheiratet, der in unserem Nachbardorf dafür berühmt geworden war, dass er im zarten Alter von 27 Jahren das mäßig erfolgreiche Lampenschirmimperium seines verstorbenen Großonkels übernommen hatte. Jürgen als Mensch ist so spannend wie mein Schleudertrockner, das weiß auch Melissa. Und Jürgen weiß, dass Melissa es weiß. Aber er würde sich ein Bein ausreißen, um sie glücklich zu machen. Das reicht ihr. Manchmal beneide ich sie alle um ihre Einfalt. Aber als ich in dieser Nacht schlaflos an die Decke über meinem Bett starrte, beneidete ich Melissa vor allem um ihre an Apathie grenzende Gleichmut und ärgerte mich über meinen Mangel daran.
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Wacher als je zuvor und gleichzeitig unglaublich müde saß ich in den frühen Morgenstunden in meinem Wohnzimmer, rauchte Kette und dachte nach. Meine Nervosität und die Schlafprobleme verschlimmerten sich nun schon seit mehreren Monaten konstant. Angefangen hatte es mit dem Lernstress für die Abschlussprüfungen an der Uni: Je anstrengender ein Tag oder eine Woche war und je nötiger ich daher die Erholung in der Nacht oder am Wochenende brauchte, desto weniger konnte ich entspannen. Und obwohl ich sicher gewesen war, den ganzen Druck nach der letzten Klausur mit einem Schlag los zu sein, ging die nervöse Grundstimmung nahtlos in die Zeit der Jobsuche über. Erst eine sichere Anstellung, ein fester Vertrag, dachte ich, dann kann ich aufatmen. Zwar hatte ich schon vor dem Abschluss Bewerbungen geschrieben, um einen nahtlosen Übergang in den Job sicherzustellen – allerdings ohne Erfolg. Ich gab dem fehlenden Abschlusszeugnis die Schuld und blieb optimistisch. Nach der letzten Prüfung startete ich den nächsten Versuch; mein Lebenslauf listete nun fein säuberlich alles auf, was gemeinhin verlangt wird: Ich hatte Berufsausbildung und Studium schnell und gut abgeschlossen, die unverzichtbaren Auslandserfahrungen gesammelt und langjährig unbezahlt als Praktikantin oder freie Mitarbeiterin in den Redaktionen der ganzen Nation geschuftet. Die Welt wartete nur auf mich, da war ich mir sicher.
Tat sie aber nicht. Es gab kaum Stellenangebote in meinem Bereich, noch weniger Einladungen zu Vorstellungsgesprächen, und auf Initiativbewerbungen reagierten die meisten Firmen noch nicht einmal mit einer Eingangsbestätigung. Ich fühlte mich wie die Grille, die hungrig in der Kälte sitzt, weil sie den Sommer über gesungen hat, anstatt, wie die fleißige Ameise, Nahrung für den Winter zu sammeln. Paradox daran war: Ich hatte gar nicht gesungen, sondern gesammelt, und zwar für zehn Ameisen, stand aber trotzdem mit leeren Händen da. Jahrelang hatte ich mich abgerackert, mir keine Pause gegönnt. Die Grille, die wenigstens im Sommer ihr Leben genossen hatte, und die Ameise, der es gelungen war, etwas Verwertbares zu sammeln, lachten mich beide hämisch aus. Stattdessen wieder ein Praktikum. Wie viele meiner Exkommilitonen musste ich weiterhin alle möglichen Stationen des Niedrig- und Garnicht-Lohnsektors durchlaufen. Immer noch musste ich mich beweisen, hatte Prüfungen zu bestehen. Und es war kein Ende in Sicht. Selbst das Ausbildungsprogramm, auf das ich hinarbeitete, war befristet. Obwohl ich die ganze Debatte um die Generation dreißig hasste, steckte ich mittendrin.
Wir sorgen für viel Diskussionsstoff. Als Gesellschaftsgruppe, die sich abrackert und trotzdem auf der Stelle tritt, als Generation Praktikum, als wissenschaftliches Prekariat. Vor allem aber als Menschen, die innerlich zerrissen sind zwischen alten Werten und vermeintlicher Freiheit. Während die Vorgängergeneration der Meinung ist, wir sollten doch aufhören zu jammern. Sie hat gut reden. Damals hatte man mit dreißig feste Gehälter, Haus und Familie. Und obwohl ich das viel zu spießig finde, ärgert es mich doch, dass selbst, wenn ich wollte, es einfach nicht machbar wäre. Die Ausbildungswege sind lang, ein Studienabschluss führt nicht mehr zu einem sicheren Job oder zumindest nicht gleich. Die Finanzkrise hat dieser ganzen Entwicklung nur noch das Sahnehäubchen aufgesetzt. Sie ist zwar sang- und klanglos wieder verschwunden, aber die Zukunftsangst, die sie uns mitgebracht hatte, die durften wir behalten. Darüber darf man aber nicht sprechen. Motiviert müssen wir sein, offen für die Welt, wir sollen es großartig finden, bedingungslos flexibel und mobil zu sein und für jedes Praktikum oder Volontariat die Stadt zu wechseln – ohne zu wissen, wie lange wir diesmal bleiben dürfen oder ob es diesmal zu einem befristeten Vertrag führt. Wieder eine andere WG, wieder andere Mitbewohner, wieder ein Nebenjob bei Starbucks, wieder ein Techtelmechtel, das keine Aussichten auf Zukunft hat. Mit 24 ist das aufregend, mit dreißig einfach anstrengend. Und obwohl ich zurzeit in meinem gewohnten Umfeld bin, fühle ich mich prophylaktisch heimatlos. Wer weiß, wann und wie schnell es mich irgendwo anders hin verschlägt. Es gibt nur noch Aufbruch, kein Ankommen. Daran zerbrechen Freundschaften und Beziehungen: Der eine muss nach dem Abschluss für ein Praktikum ins Ausland, der andere wird für sein Lehramtsreferendariat nach Castrop-Rauxel berufen. Fernbeziehung oder Trennung? In dieser Reihenfolge. Solche Überlegungen lassen mich mein Studium bereuen. Für eine Stelle werde ich früher oder später wieder die Stadt wechseln müssen und damit weiterhin Job über Wahlheimat, Freunde und Beziehung stellen. Hätte ich mich für eine Laufbahn als Krankenschwester oder Rechtsanwaltsfachangestellte entschieden, könnte ich nun überall arbeiten. Und mir erlauben, mein Privatleben wichtig zu nehmen. Eine Familie gründen gilt nur für Akademikerfrauen als sozialer Fauxpas gegenüber dem Arbeitgeber. Eine Sekretärin darf das. Und bekommt noch Blumen vom Chef dazu. Auch wenn das Feuilleton geschlossen darüber sinniert, wie sich Gesetze und Ehemänner besser einbringen können, auf die Welt gebracht werden müssen Kinder weiterhin von Frauen, daran kann auch die Politik nichts ändern. Und die Arbeitgeber wissen das. Aber den Männern geht es nicht besser, nur anders. Die Phase fester Jobs und berechenbarer Gehälter verschiebt sich auch für sie nach hinten. Und damit auch die Zeit, in der sie als traditioneller Versorger eine Familie ernähren könnten, wie es der Vater vorgelebt hat. Selbst wenn es heute nicht mehr gefragt ist, dass der Mann alleine für den Unterhalt sorgt, so kratzt die Vorstellung, dass er es auch gar nicht könnte, doch am männlichen Stolz. Aber was sollen wir dagegen tun? Sich wehren, heißt es von »oben«. Aber was will man von einer Generation erwarten, die ausgerechnet durch die Angst vor Sozialversagen in die Opferrolle der leicht Ausbeutbaren getrieben wird? Ich glaube nicht, dass unsere Eltern und Großeltern, die uns Fleiß und soziale Sicherheit als höchstes Gut eingetrichtert haben, das wollten. Aber die Gesellschaft hat uns zu dem gemacht, was wir sind. Da helfen nun auch keine Vorwürfe. Wir sind nicht zu 68ern erzogen worden. Natürlich müssten wir uns wehren. Eine derart streitbare Lebenslage müsste mich eigentlich herausfordern. Meinen Kampfgeist wecken, das Problem siegessicher anzugehen und allem Übel den Todesstoß zu versetzen. Aber im Augenblick schaffte ich es noch nicht einmal, meine Wäsche zu sortieren. Als ich die letzte Zigarette meiner Packung rauchte, hörte ich den Schlüssel in meiner Wohnungstür; wie jeden Samstagmorgen kam mein Freund für das Wochenende zu Besuch. Kurze Zeit später betrat er mit einer Brötchentüte in der Hand das Wohnzimmer. Ich raffte mich von der Couch auf und lief ihm entgegen.
»Morgen«, sagte ich und umarmte ihn. »Danke für die Brötchen.«
»Hi«, sagte er und musterte mich. »Was ist los mit dir?«
Ich sah mit der zerknitterten Bluse vom Vortag, ungekämmten Haaren und zerlaufener Wimperntusche tatsächlich etwas abgewirtschaftet aus.
»Konnte nicht schlafen«, sagte ich. »Bin ziemlich fertig heute.«
»Hm, okay«, erwiderte er, legte die Brötchentüte in der Küche ab und wandte sich zum Gehen. »Also ich hab heute Bock auf Sport und Party, das ist dir dann wohl zu viel. Wir können ja telefonieren.«
Den Impuls, ihm zu sagen, dass mich seine herablassende Gleichgültigkeit zusätzlich fertigmachte, konnte ich erfolgreich unterdrücken. Das hätte unter Garantie zu Streit geführt. Und Streiten war ohnehin Hauptbestandteil unserer mittlerweile vier Jahre alten Beziehung. Dabei kann ich noch nicht einmal sicher sagen, wo das Problem liegt. Wir sind wie der Kommunismus: in der Theorie eine gute Idee, aber in der Praxis ein absolutes Desaster – und keiner weiß genau, warum.
»Hast du noch Kippen?«, fragte ich. Er warf mir eine angebrochene Schachtel zu und war nach einer gequält-liebevollen Verabschiedung verschwunden. Ich fühlte mich krank. Mein Kopf glühte und ich bekam schlecht Luft. Den restlichen Tag verbrachte ich damit, meine Wohnung zu putzen, obwohl sie nicht schmutzig war.
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In der Nacht schlief ich wenige Stunden in Etappen und setzte mich frühmorgens, von schlechtem Gewissen getrieben, an die Arbeit. Ich hatte mir vorgenommen, ein raffiniertes Stempel- und Vorsortierungssystem für neue Drehbucheinsendungen zu entwickeln, um Frau Segmüller und meinem Chef für die Zukunft einiges an Verwaltungsaufwand zu ersparen. Bei der Arbeit wurde ich über die Lautsprecherfunktion meines Telefons unablässig von Stimmen begleitet; entweder war’s die in ruhigem Ton mahnende Stimme meiner Freundin Melissa oder die gackerig- hysterische meiner Freundin Sam. Abwechselnd machten sie mir Vorwürfe, weil ich aus ihrer Sicht die Situation mit meinem Freund falsch gehandhabt hatte. Sam meinte, ich müsse endlich lernen, einen gesunden Egoismus zu entwickeln und ihm sagen, was ich denke. Dabei schlug ihr Hang zum Feminismus durch. Sam hatte ich direkt an meinem ersten Tag an der Universität kennengelernt. Letztendlich waren aus ihrem Studium nur ein sechstel Semester Soziologie und Theaterwissenschaften sowie eine Langzeitaffäre mit meinem Marketingdozenten geworden. Seitdem hält sie sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und wartet auf den großen Durchbruch als Philosophin. Insgeheim wünscht sie sich die Zeiten im alten Athen zurück: Sie könnte ihre Weisheiten auf dem Marktplatz kundtun und die erleuchteten Menschen würden sie mit Geld bewerfen.
»Aber ich habe nach so einer harten Woche einfach keine Kraft mehr zum Streiten«, rechtfertigte ich mich. »Und darauf läuft es jedes Mal hinaus. Dass mir das Ganze noch mehr Kraft raubt.«
»Da sagst du genau das Richtige«, sagte Sam. »Deine Beziehung raubt dir Kraft, anstatt dass sie dir welche gibt. Denk mal drüber nach.«
Melissa hingegen meinte, ich bräuchte mich nicht zu wundern, wenn mein Freund mich demnächst sitzen lassen würde, um mit einer unterbelichteten zwanzigjährigen Koch- und Backfee glücklich zu werden, die ihm seine Hemden bügeln und Kinder gebären würde. Ich hingegen würde in meinem fortgeschrittenen Alter von fast dreißig Jahren keinen Mann mehr finden und leer ausgehen. Deshalb sollte ich künftig mehr auf seine Bedürfnisse achten. Außerdem nutzte sie die Gelegenheit, mich mahnend darüber in Kenntnis zu setzen, dass ich seit Wochen nicht mehr bei ihrem Umweltschutzprojekt »Müllfreier Hubertuswald« geholfen hatte. Im Nachhinein hätte ich eine Telefonkonferenz mit Melissa und Sam schalten und den Hörer zur Seite legen sollen. Während sich die beiden mit ihren konträren Meinungen gegenseitig zerpflückt hätten, hätte ich ordentlich was weggeschafft. Letztendlich gab ich beiden recht, um in Ruhe arbeiten zu können.
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Am Montag erschien ich, wie ich es mir mittlerweile angewöhnt hatte, eine Stunde zu früh im Büro. Es war kein guter Tag. Ich fühlte mich immer noch krank, mein Kopf glühte weiter, ich bekam schlecht Luft und weder mein Chef noch Frau Segmüller kommentierten mein neues Sortierungssystem. Um punkt zwölf Uhr standen, wie jeden Mittag, die vier anderen Praktikanten in meinem Büro, um mich zur Kantine abzuholen. Und wie jeden Mittag kam ich nicht mit. Da ich niemanden vor den Kopf stoßen wollte, erfand ich ständig Diäten, Entgiftungskuren, Lebensmittelunverträglichkeiten und abendliche Grilleinladungen. Insgeheim hatte ich den Eindruck, dass die anderen in ihrer kürzeren Arbeitszeit einfach viel mehr schafften als ich, denn sonst konnten sie sich wohl kaum jeden Tag eine Stunde Mittagspause gönnen und dann auch noch rechtzeitig nach Hause gehen. Meine Gedanken wurden von lautem Klopfen an der Bürotür unterbrochen. Frau Segmüller überbrachte mir die Nachricht, ich solle am nächsten Morgen ein Meeting zur Vorproduktion unseres neuen TV-Thrillers leiten, und fügte mit einem Augenzwinkern hinzu, Herr Speeks habe mich deswegen ausgewählt, weil ich die Fleißigste im Team sei. Die Freude über dieses Lob paarte sich mit dem bitteren Argwohn, dass es sich bei der Aufgabe um einen Test handeln könnte, ob ich trotz meines durch den Sekretariatsdienst erhöhten Arbeitspensums ein gutes Ergebnis abliefern würde. Ja, ich würde. Selbst wenn ich mich der Zusatzbelastung im Augenblick nicht gewachsen fühlte. An diesem Abend saß ich bis 22 Uhr im Büro. Während der anschließenden Feierabendzigarette auf der Feuerleiter war ich so nervös, dass ich nicht ruhig stehen konnte. Zu allem Überfluss fühlte sich Mimi aus unerfindlichen Gründen dazu berufen, mir ununterbrochen zu sagen, wie scheiße ich aussah.
Endlich zu Hause angekommen, setzte ich mich an den Schreibtisch und ärgerte mich darüber, wie gemächlich mein alter Laptop die Präsentation für das Meeting vom USB-Stick öffnete. Mein Herz klopfte schneller als sonst. Alle Unterlagen waren seit dem späten Nachmittag fertig und ursprünglich wollte ich nur einen groben Drehplan an alle Kollegen mailen. Letztendlich saß ich mehrere Stunden fieberhaft daran, Präsentation und Zeitpläne mehrfach umzustellen, neu auszuarbeiten und wieder in den Ursprungszustand zu versetzen. Um Viertel nach fünf zwang ich mich ins Bett. Ich musste sofort einschlafen, sonst würde ich das Meeting niemals durchstehen. Mit jeder Minute, die verging und die mein Digitalwecker höhnisch in roten Zahlen aufblinken ließ, wurde ich verzweifelter. Um halb sechs saß ich laut schluchzend aufrecht im Bett und versuchte, um mich wieder zu beruhigen, mit mir selbst die Übereinkunft zu schließen, nach der Präsentation das Büro rechtzeitig zu verlassen und endlich Schlaf nachzuholen.
Nur noch diesen Tag durchstehen. Um mich etwas abzulenken, checkte ich meine privaten E-Mails. Ein paar Mails mit Polizisten- witzen und dem Titel FWD: von Sam. Und eine Einladung zur ersten Prüfungsrunde für ein Volontariat beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Damit hatte ich nicht mehr gerechnet. Tausend Fragen schossen mir gleichzeitig durch den Kopf. Hatte ich das Praktikum zu unbedacht angenommen? Hätte ich lieber auf Antwort von anderen Firmen warten sollen? Sollte ich zu dieser Prüfungsrunde fahren? Ich könnte es im Büro verheimlichen. Mein Plan war es von vornherein gewesen, vom Praktikum abzuspringen, falls sich etwas Besseres böte. Aber wie sollte ich es im Augenblick auch noch schaffen, mich auf eine Prüfung vorzubereiten? Dann fehlte die Zeit im Büro und ich würde auch noch die Chance auf das Ausbildungsprogramm verlieren. Oder sollte ich alles auf eine Karte setzen, weil hinter dieser Mail vielleicht die Zukunft lauerte, die ich mir wünschte? War dieser Job vielleicht der, auf den ich gewartet hatte? Einerseits suchte ich nach festen Strukturen und Sicherheit, andererseits traute ich mich nicht, selbst einen soliden Standpunkt anzunehmen. Aus Angst, mich falsch zu entscheiden. Jede Entscheidung für ein bestimmtes Lebensmodell ist gleichzeitig eine Entscheidung gegen viele andere. Welcher Weg war jetzt richtig? Womit würde ich am glücklichsten? In welcher der Städte wartete langfristig der beste Job? Die große Liebe? Die schönste Zukunft? Genau deswegen werden wir zynisch »Generation Maybe« genannt, ein Haufen unentschlossener Optimierer, die »vielleicht« sagen und im »Sowohl-als-auch« leben. Das klingt, als wären wir schrecklich verwöhnte Spaßmenschen, die vorsätzlich entscheidungsgehemmt nicht erwachsen werden wollen. Aber so ist es nicht. Bei dieser Vielzahl an Möglichkeiten, hinter denen sich selten etwas Haltbares verbirgt, scheint mir absolute und freie Selbstbestimmung nicht immer ein Segen zu sein. Man springt gedanklich und körperlich im Zickzack, nur um nicht die Chance zu verpassen, irgendwann Ruhe und Sicherheit zu finden – und verpasst sie auf diese Weise erst recht. Es kommt mir so vor, als könne das Hirn durch dieses jahrelang verlangte Hin und Her nicht mehr stillstehen. Bietet sich dann tatsächlich eine Möglichkeit, geradlinig einen Weg zu verfolgen, ändern wir schon von selbst die Richtung – weil wir die Ruhe nicht mehr ertragen, sie erscheint uns verdächtig. Stillstand kann nichts Gutes bedeuten in einer Zeit, in der das Sammeln von Lebenslaufstationen zum Selbstzweck geworden ist. Wir können nicht mehr anhalten – wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal losläuft und vor lauter Unbeholfenheit von selbst immer schneller wird.
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Auf dem Weg zur Arbeit war mir so übel, dass ich zwei Mal am Straßenrand halten musste. Ich ärgerte mich darüber, wie jämmerlich mein Körper auf ein paar Tage ohne Schlaf reagierte. Als ich im Aufzug in den Spiegel sah, wusste ich, was Mimi gemeint hatte. Zwar gehöre ich aufgrund meiner naturroten Haare generell zum eher blassen Menschentyp, aber nun war mein Gesicht bleich, beinahe gräulich, so dass es einfach nur ungesund aussah. Schwarze Schatten unter meinen Augen schimmerten kraftvoll durch ein gut deckendes Make-up und die eingefallenen Wangen ließen mich vermuten, dass ich schon wieder untergewichtig war. Zurzeit aß ich nur schlabberige belegte Brötchen, wenn ich ohnehin zum Zigarettenholen zur Tankstelle musste. Als sich der Aufzug in Bewegung setzte, wurde mir so schwindelig, dass ich kaum das Gleichgewicht halten konnte. Ich stellte mir ernsthaft die Frage, wie ich den Tag bewältigen sollte. Als sich die Aufzugtür im sechsten Stockwerk öffnete, sah ich Timo und Florian mit ihren Kaffeebechern auf dem Flur stehen.
»Hey, Jenny«, sagte Timo gut gelaunt, »guten Morgen!«
»Hi«, sagte ich knapp.
»Wir reden gerade über die Praktikanten-Einstandsparty am Freitag«, fuhr Timo fort. »Bist du dabei? Hast du Lust, etwas mitzuorganisieren?«
Ich erfand eine Familienfeier für den besagten Abend und entschuldigte mich höflich. Als ich auf dem Weg in mein Büro am Besprechungsraum vorbeikam, sah ich Mimi, die einen langen Konferenztisch für unser Vorproduktionsmeeting herrichtete. Ich musste feststellen, dass sie keinerlei Wert auf Symmetrie und Einheitlichkeit legte, als sie bei jedem der fünfzehn Sitzplätze zwei kleine Fläschchen mit Wasser und einen Teller mit Keksen platzierte. Ich ging ihr zur Hand.
»Jenny, das nicht Aufgabe«, sagte Mimi wild gestikulierend, »du viel schon zu tun!«
»Ich will aber«, antwortete ich trotzig und platzierte die Unterlagen, die ich für jeden Teilnehmer vorbereitet hatte, jeweils schräg mit einem Blümchen und einer Klarsichtfolie unter die Keksteller. Beim vorletzten Platz, im vorderen Teil des Besprechungsraumes, fiel mein Blick auf die Überschrift des Zeitplanes und ich entdeckte ein überflüssiges Leerzeichen zwischen Filmtitel und Sendetermin. Das konnte so nicht bleiben. Eilig verließ ich den Besprechungsraum in Richtung meines Büros. Auf dem Flur spürte ich plötzlich ein starkes Ziehen im Herzen. Schnell bog ich ab, schloss meine Bürotür hinter mir und ließ mich auf den Stuhl fallen. Der befremdliche Schmerz ließ zwar sofort nach, aber ich fragte mich ängstlich, ob es im zarten Alter von 29 Jahren schon erlaubt ist, Herzinfarkte zu bekommen. Vor allem, wenn man noch nicht einmal zwei Wochen am Stück gearbeitet hat. Überforderte Praktikantin zeigt guten Willen und eliminiert sich selbst. Dafür kann man sicher schon mal den Darwin-Award kassieren. Das Herzstechen war verschwunden, aber ich fühlte eine seltsame Enge in der Brust und musste mich, um Luft zu bekommen, auf jeden einzelnen Atemzug konzentrieren. Ich schluckte zwei Ibuprofen mit einem dreifachen Espresso und wartete vergeblich auf eine Verbesserung meines Zustandes. Es war nun bereits kurz vor neun und es machte mich rasend, dass die Zeit für die Korrektur der Unterlagen nicht mehr ausreichte. Als ich den Besprechungsraum betrat, saßen Florian und Timo bereits auf den beiden Plätzen am hinteren Teil des Konferenztisches.
»Danke für die Vorab-Unterlagen per Mail«, sagte Timo. »Wie hast du das gemacht mit den Mindmaps? Sieht super aus! Gibt’s dafür irgendein Programm?«
»Äh … Concept Draw«, sagte ich und zwang mich, hinsichtlich einer so dämlichen Frage nicht vorwurfsvoll zu klingen. Während weitere Kollegen aus Marketing und Online-Redaktion eintraten, schaltete ich den Beamer ein, um die Präsentation und den Zeitplan für den Dreh sichtbar zu machen. Zu guter Letzt kamen mein Chef und Frau Segmüller in den Besprechungsraum, während zwei andere Kollegen wegen Handy-An- rufen den Konferenztisch wieder verließen, um laut sprechend und wild gestikulierend im Flur umherzugehen. Ich konnte die Unruhe um mich herum kaum aushalten, da schon die Nervosität in meinem Innern kaum kontrollierbar war. Wieder musste ich mich auf das regelmäßige Einatmen konzentrieren, um Luft zu bekommen.
»Fangen Sie ruhig an, Frau Bentz!«, rief mein Chef laut von der linken Seite des Konferenztisches und schloss die Tür hinter sich. »Sie müssen hier nicht auf alle warten!«
Ich begann.
»… Pre-Production-Meeting vor Ort …«, und »… zwei alternative Drehpläne für unterschiedliche Sendetermine …«, hörte ich mich erklären, nachdem ich kurz alle Beteiligten begrüßt und das Thema vorgestellt hatte. Mein Magen krampfte sich zusammen, mir wurde übel. Die Tür des Konferenzraumes flog auf und meine beiden Praktikantenkollegen Michael und Christian betraten, in ein Gespräch vertieft, den Konferenzraum. Ich sprach lauter, um die beiden zu übertönen und den Vortrag nicht unterbrechen zu müssen. Meine Übelkeit wurde immer stärker und ich versuchte, dem Impuls, mich hinzusetzen, auf keinen Fall nachzugeben.
»… Location-Besichtigungen in etwa zeitgleich mit der ersten Castingrunde …«, hörte ich mich noch sagen, als es kein Halten mehr gab. Ich stürmte aus der offenen Tür, den Flur entlang zur Damentoilette, schloss die Tür hinter mir und fühlte bereits die saure Mischung aus Espresso und Schmerzmittel in meiner Kehle aufsteigen. Nachdem ich mich, seit meiner Abiturfeier vor etlichen Jahren, zum ersten Mal wieder übergeben hatte, wühlte ich hektisch in der Tasche meines Blazers, fand ein Kaugummi und trat eilig zurück auf den Flur. Ich versuchte, tief einzuatmen; es ging nicht.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich mit fester Stimme, als ich den Konferenzraum betrat. Es herrschte betretene Stille und alle Blicke waren auf mich gerichtet, als ich meine Position neben dem Beamer wieder einnahm und mir ein Lächeln abzwang. »Mir war gerade etwas übel – wahrscheinlich was Falsches gegessen – aber das soll uns hier nicht aufhalten, weiter geht’s! Wie gesagt, auf Seite drei finden Sie die für diesen Termin verfügbaren Location-Scouts mit –«
»Frau Bentz«, unterbrach mich Frau Segmüller, »lassen Sie mal. Sie sind ja kreidebleich! Was haben Sie denn da gegessen? Doch nicht etwa dieses Sushi? Mein Sohn …«
»Erika!«, zeterte mein Chef. »Lern doch endlich mal, die Dinge, die in deinem Kopf rumschwirren, nach Wichtigkeit zu sortieren!«
»Günther, schau sie dir doch an«, sagte Frau Segmüller, völlig unbeeindruckt von Herrn Speeks respektlosem Ton, und gestikulierte in meine Richtung.
»Das geht schon alles«, sagte ich laut, »wir sind ja auch bald durch. Kann ich weiter machen?«
»Nein, lassen Sie mal, Frau Bentz«, sagte mein Chef in beängstigend ruhigem Tonfall. »Sie haben das in Ihren Mail-Unterlagen schon so gut vorbereitet, dass es ohnehin selbsterklärend ist. Gehen Sie für heute nach Hause und ruhen sich aus.«
Widerstand war zwecklos, da Herr Speeks bereits wenige Sekunden später aus dem Konferenzraum verschwunden war und die anderen Kollegen freudig ihre Privatgespräche wieder aufnahmen. Ein paar Minuten später saß ich wieder in meinem Büro und fühlte mich elender als zuvor. Die Wut über meine eigene Unzulänglichkeit lieferte sich ein Wechselspiel mit der Angst davor, irgendwann aufzufliegen. Meine Fassade nicht ewig aufrechterhalten zu können. Für den Augenblick wusste ich absolut nicht, was ich tun sollte; nach Hause gehen, wie Herr Speeks es mir angeboten hatte, kam nicht infrage. Ich wählte Sams Nummer und schluchzte laut ins Telefon. Dabei stammelte ich zusammenhanglose Satzfetzen, von denen mir klar war, dass sie niemand in eine sinnhafte Ordnung zu bringen vermocht hätte. Sam verstand allerdings genug, um mir in ihrem strengen, gegen jegliche Art von Protest resistenten Tonfall das Versprechen abzuringen, nicht nur für heute nach Hause zu gehen, sondern gleich für ein paar Tage zu meinen Eltern zu fahren. Sie hätte mich auch gern zu sich nach Hause eingeladen, allerdings, so erzählte sie mir, war sie bereits damit beschäftigt, einen Nachmieter auszuwählen, da sie am selben Abend noch an die Westküste Vorderindiens auszuwandern gedachte. Sie hatte schon eine möblierte Wohnung vor Ort und eine Arbeitsstelle in einem Internetcafé gefunden. Frau Segmüller reagierte sehr verständnisvoll, als ich familiäre Gründe vorschob, für die ich den Rest der Woche verreisen musste.
»Ich habe mir ja gedacht, dass da was mit Ihnen nicht stimmt, Sie sind in den letzten Tagen ein wenig blass um die Nase«, sagte sie und lehnte vehement ab, als ich anbot, von zu Hause zu arbeiten. »Kümmern Sie sich in Ruhe um alles, ich gebe dem Chef Bescheid, der wird das schon verstehen.«
Kurze Zeit später fuhr ich vom Parkplatz. Ich hatte es Sam versprochen, und nur deswegen konnte ich es vor mir selbst rechtfertigen.