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Der erste Aufschrei

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Der Legende nach wurde das Nebelhorn um 1850 von einem Mann namens Robert Foulis in Kanada erfunden. Er hatte in Schottland ein Ingenieurstudium absolviert und anschließend in Belfast als Anstreicher gearbeitet. Dort lernte er seine erste Frau Elizabeth Leatham kennen, die 1817 kurz nach der Geburt der gemeinsamen Tochter Euphemia starb, woraufhin Foulis beschloss, auf der anderen Seite des Ozeans ein neues Leben zu beginnen. Sein Ziel war Ohio, aber das Schiff geriet in schweres Wetter und musste Nova Scotia anlaufen, wo schottische Freunde Foulis überredeten, mit ihnen auszusteigen.1 Euphemia, die bei ihrer Tante in Edinburgh geblieben war, ließ er nachkommen, und beide siedelten sich in Saint John, New Brunswick, an, wo Foulis ein zweites Mal heiratete. Beruflich befasste er sich mit technischen Aspekten der Bekohlung und der Dampfschifffahrt, war wechselweise als Maler oder Ingenieur angestellt und gründete sowohl eine Kunstschule als auch eine Gießerei. 1928 wurde ihm zu Ehren auf einem Friedhof von Saint John ein Denkmal errichtet.

So weit die gesicherten Fakten aus seinem Leben, doch aus denen wird nicht ersichtlich, dass oder warum er ein Gerät wie das Nebelhorn erfunden haben sollte. Das übernimmt eine andere Geschichte, eine Mischung aus Folklore und Tatsachen unbestimmten Ursprungs. In ihrer verbreitetsten Version bildet sie ein Narrativ, das zu glauben leicht, zu beweisen hingegen unmöglich ist, aber dafür dem Nebelhorn von seinem ersten Aufschrei an eine hohe Emotionalität beilegt. Diese Geschichte geht so: An einem Abend in Saint John ging Foulis bei dichtem Nebel am Strand spazieren. Noch von dort konnte er hören, wie seine Tochter Klavier spielte, und dabei fiel ihm auf, dass die tieferen Töne lauter klangen als die hohen und besser durch den Nebel drangen. In Nebel eingehüllt, ließ er sich vom Klavierspiel seiner Tochter nach Hause leiten. Dieses Erlebnis brachte ihn auf die Idee, eine Maschine zu konstruieren, die tiefe und laute Töne von sich geben konnte, um so von Land aus Schiffe zu warnen, die wegen des Nebels das Licht des Leuchtturms nicht sehen konnten. Und so baute er ein Nebelhorn, das 1859 auf Partridge Island aufgestellt wurde. Foulis unterließ es, seine Erfindung zu patentieren, weshalb er 1866 als armer Mann starb.2

Diese Geschichte findet sich in Büchern und im Internet, sie wird in Fernsehsendungen und Enzyklopädien weitergetragen. Lange Zeit habe ich sie akzeptiert, ohne sie zu hinterfragen. Doch je mehr ich mich mit der Materie beschäftigte, desto größer wurden die Zweifel, desto mehr Fragen stellten sich mir. Tatsächlich ist die Geschichte allenfalls im Kern wahr, der Rest ein ans Herz gehender Mythos über einen industriellen Klang. Es gab tatsächlich einen Erfinder namens Foulis, der ein dampfbetriebenes Horn auf Partridge Island aufstellte, aber wer will sagen, ob es diesen Spaziergang im Nebel wirklich gab oder ob seine Tochter je Klavier gespielt hat? Für diesen Teil der Geschichte gibt es nicht einmal Indizien, und auch die Frage, wie ihn ausgerechnet der Klang eines Klaviers im Nebel auf die Idee gebracht haben könnte, ein dampfbetriebenes Nebelhorn zu konstruieren, muss unbeantwortet bleiben. Wer denkt bei einem Klavier an ein Nebelhorn? Und wie muss ein Mensch gestrickt sein, der sich von den Klavierübungen eines Kindes dazu inspirieren lässt, zur drastischen Verbesserung der Sicherheit auf See eine brüllende Maschine zu erfinden?

Die Suche nach der Quelle dieser Geschichte führte mich in düstere Archive und in prunkvolle Lesesäle in London und in Schottland, zu Onlinedatenbanken und auf genealogische Websites. Ich fand Aufzeichnungen eines Mannes mit identischem Namen, der von Boston nach Kanada umziehen wollte und unterwegs einen Abstecher zu Verwandten machte, die in der Druckindustrie arbeiteten. Er überlegte, für das Leben in der neuen Umgebung wie so viele zu jener Zeit die Schreibweise seines Nachnamens zu ändern, um seine gesellschaftliche Stellung zu verbessern. Ich hatte angenommen, dem Gesuchten mit wenigen Klicks näher zu kommen, doch auch wenn ich recht bald eine Biografie zusammenhatte, fand ich nichts, was mich zum Ursprung der Geschichte hätte führen können. Statt der Herkunft des Nebelhorns durch meine Recherche auf den Grund zu kommen, versank sie immer weiter im Nebel.

Ich grub alternative Versionen aus, von denen einige plausibel, andere an den Haaren herbeigezogen waren. In einer Quelle wurde behauptet, der Ehrgeiz, sein Wissen als Ingenieur in die Weiterentwicklung von Nebelsignalen zu stecken, habe seinen Ursprung in der Lektüre eines Zeitungsberichts über die Kollision der SS Arctis und der SS Vesta. 1854 – Foulis arbeitete zu dieser Zeit im Leuchtturm von Partridge Island – waren die beiden Schiffe vor der Küste Neufundlands bei dichtem Nebel zusammengestoßen und gesunken. Dabei kamen mehr als dreihundert Menschen ums Leben, darunter alle Frauen und Kinder, die sich an Bord befunden hatten. Ein Techniker, der an der Restaurierung eines Nebelhorns mitgewirkt hatte, schwor Stein und Bein, dass Foulis bei Nebel am Strand auf einem Klavier gespielt habe, aber dann stellte sich heraus, dass er etwas durcheinandergebracht hatte und sich lediglich an eine Episode aus der BBC-Serie Coast erinnerte, die der Geschichte von der Erfindung des Nebelhorns nachgegangen war. Um herauszufinden, wie weit der Klang trägt, hatten sie ein Klavier an den Strand geschleppt und darauf gespielt. Einen Auftritt hatte das Nebelhorn auch in der surrealistischen Eingangsszene der Comedy-Show The Smell of Reeves & Mortimer. Dort wird seine Erfindung John Betjemann zugeschrieben und auf das Jahr 1961 datiert. Ein Grund ist nicht erkennbar.

Dass Foulis das Nebelhorn erfunden hat, diese Erklärung ist mir mit allenfalls geringfügigen Abweichungen begegnet, seit ich mich ernsthaft mit dem Thema befasst habe. Erst nach einigen Jahren habe ich mit dem Versuch begonnen, den Ursprung dieser Geschichte ausfindig zu machen. Dort angekommen, hätte ich auch den Ursprung des Nebelhorns gefunden, so meine Überlegung. Doch wie sich zeigte, gibt es ein ganzes Netz an Verbindungen zwischen Foulis, der am Meer spazieren geht, und dem Moment, in dem auf den Klippen am South Shields das Nebelhorn von Souter Point aufgestellt wird.3

In Geschichten gerät ein Leben oft komplizierter, als es in Wirklichkeit war. Die Geschichte von Foulis ist eine elegante, geradlinige Geschichte – ein Mann von der kanadischen Küste verbindet eine Dampfmaschine mit einem großen Horn, und ein neuer Klang ist in der Welt. Gut möglich, dass dies der erste Einsatz einer Dampfmaschine als Nebelsignal war. Tatsächlich ist der Weg, der zu einer Erfindung führt, aber selten so klar auszumachen wie die Wirkung, die sie erzeugt. Hört man sich die Geschichte von Foulis unter diesem Aspekt noch einmal an, dann entdeckt man eine Ballade, die von anrührenden Irrtümern und dichtem Nebel durchdrungen ist.

Nebel stellt die Zeit und die sichtbare Welt still, und im grauen Licht einer konturlosen Umgebung werden wir mit uns selbst und unseren Erinnerungen konfrontiert. So wird es auch Foulis ergangen sein. Als er sich auf den Heimweg machte, ließ er da mit dem Strand auch das Gefühl des Verlustes hinter sich, das mit dem Nebel verbunden ist? Orientierung bot ihm der Klang, der aus seinem neuen Heim stammte, in dem seine neue Familie lebte. In dieser Geschichte übernimmt das Klavier die Rolle des Nebelhorns, denn es weist ihm den Weg in die Sicherheit. Sein Spaziergang im Nebel handelt also bestenfalls zum Teil davon, dass er das Nebelhorn erfindet. Sie berichtet auch von der Trauer, die aus seiner Biografie rührt.

So betrachtet, wandelt sich die Geschichte von einer historischen Wahrheit zu einer volkstümlichen Überlieferung des Industriezeitalters. Als Foulis am Strand von New Brunswick spazieren ging und sich der Nebel senkte, so schnell und dicht, wie es an dieser Küste geschieht, woran dachte er in diesem Augenblick? Warum war er allein? Dachte er, vom Nebel wie in Watte gehüllt, an die Frau, die er verloren hatte? An das neue Leben, das in Form von Klavierakkorden durch den Nebel zu ihm drang? Die Geschichte von der Erfindung des Nebelhorns handelt von mehr als einem Einfall. Foulis’ Spaziergang am Strand berichtet vor allem von der emotionalen Kraft des Nebelhorns, und in dessen Klageton sind diese melancholischen Schwingungen bis heute zu erleben, gleich ob man danebensteht oder eine Aufnahme hört, gleich ob in der Erinnerung oder im Tonstudio.

Mein Interesse gilt seit jeher der Frage nach den Ursprüngen der Musik – wer hat sie warum gemacht? Das Nebelhorn bot mir zum ersten Mal Anlass, statt über eine bestimmte Gruppe oder eine konkrete Komposition über einen spezifischen Klang nachzudenken. Wenn wir im Zusammenhang mit Musik über Ursprünge reden, neigen wir dazu, die Dinge zu vereinfachen und zu verklären. So geschah es auch in diesem Fall. Die überlieferten Fakten gehören zu komplexen Narrativen, von denen manche zu zufälligen Entdeckungen geschrumpft sind. Irrtümer schleichen sich ein, Einzelheiten werden vertauscht, in ihrer Bedeutung vermindert oder verstärkt. Dann kommen wir und verleiben uns diese Schöpfungsmythen ein wie Hostien. Foulis’ Geschichte hat mich dazu angeregt, darüber nachzudenken, wie andere Klänge in die Welt gekommen sind, wie fehlbar die Überlieferung ist und wie unglaubwürdig viele unserer Geschichten sind. Wenn Foulis’ Nebelhorn eine singuläre Erscheinung war – er hat die Erfindung nie patentieren lassen –, stellt sich die Frage, wo der Klang dann seinen Ursprung hatte. Woran macht man historisch fest, dass ein Klang in der Welt ist? An der Technik? Der akustischen Charakteristik? Der Verbreitung des Geräts, das ihn erzeugt? Und wenn Foulis’ Nebelhorn tatsächlich an einer einsamen Küste ertönte, konnte man dann von einem Klang sprechen, wenn niemand da war, der es hören konnte?

Exotica, diese nach lauen Tropennächten klingende Spielart des Jazz, die in den 1950er-Jahren in den USA populär wurde, soll durch die zufällige Begegnung von Martin Denny und seiner Band mit einigen Fröschen entstanden sein. Bei einem Konzert in der Shell Bar in Honolulu sollen sich die Amphibien quakend in ein Konzert Dennys eingebracht haben, und das nicht nur synchron mit der Musik, sondern auch unter Beachtung der Pausen. Wie die Geschichte von Foulis reduziert auch diese die Entstehung eines Klanges auf einen einzelnen, schlaglichtartig hervortretenden Moment, schreibt sie einem gewöhnlichen Ereignis zu, das durch einen außerordentlichen Klang geadelt wird. Die Wahrheit hingegen lautet, dass Denny in seiner Zeit als Soldat der US-Streitkräfte über viele Jahre Instrumente und Klänge aus aller Welt für sein Orchester zusammengetragen hat.

Unter Minimal Music, dieser bedeutenden musikalischen Neuerung, die ihren Anfang in den USA genommen hat, wird oft nur das Werk einer knappen Handvoll Komponisten – Terry Riley, La Monte Young, Steve Reich und Philip Glass – verstanden, obwohl diese Leute in ein Netz von Musikern und Komponisten eingebunden waren, von denen viele – von Julius Eastman bis Joan La Barbara – denselben Überzeugungen und Prinzipien folgten. Dennis Johnson, der mit Riley und Young befreundet war, schuf nur ein Werk, eine minimalistische Komposition für Klavier mit dem Titel November. 1959 geschrieben, wurde sie erst in diesem Jahrtausend einem größeren Publikum bekannt. Interessanterweise nimmt diese Komposition Terry Rileys In C von 1964, die als »Stunde null« der Minimal Music gilt, in vielen Elementen vorweg. Doch damals kannte noch niemand Johnsons Komposition. Wann also entstand dieser spezifische Klang? Mit seinem ersten öffentlichen »Auftritt«? Oder schon mit der ersten Niederschrift, auch wenn die erst Jahrzehnte später zur Kenntnis genommen wurde?

Über Acid House heißt es gelegentlich herablassend, es sei vom Phuture-Mitglied Earl Smith jr. (besser bekannt als der unvergleichliche DJ Spank-Spank) »zufällig« entdeckt worden, als der eines Nachts zusammen mit DJ Pierre an einem neuen Roland-303-Synthesizer herumgespielt habe, um herauszufinden, was man mit dem Gerät alles anstellen konnte. Dabei sei »aus heiterem Himmel« der charakteristische Sound entstanden. Tatsächlich hat Phuture den neuen Klang namens Acid House aus der gründlichen und systematischen Beschäftigung mit der Musikszene Chicagos heraus entwickelt. So wie die Dampfmaschine benutzt wurde, um die Mechanisierung auf eine neue, ungeahnte Stufe zu heben, so wurden Synthesizer dazu verwendet, der Clubmusik neue Dimensionen zu verleihen. Beide Phänomene in einem Atemzug zu nennen mag willkürlich wirken, aber unstrittig ist, dass sich die Entwicklung beider Klänge einem technologischen Fortschritt verdankte, der wiederum weitere Entwicklungen anstieß. Clubmusik und industrielle Revolution sind zwar durch Jahrhunderte voneinander getrennt, gleichzeitig aber durch die forcierte Suche nach technischer Neuerung und Modernität, die ihr eigentlicher Antrieb ist, eng miteinander verbunden. Beide kommen in ihrem Klang überein, der hier wie dort durch Experimentieren entstanden ist. In beiden Fällen bringt eine neue Technologie einen neuen und charakteristischen Klang hervor, der aber nicht durch die Technologie definiert ist, die ihm zugrunde liegt, sondern durch die Art und Weise, wie die Menschen, die ihn hören, ihn einsetzen. Anders gesagt, lässt sich der Klang des Nebelhorns nicht auf seine technische Funktion reduzieren. Kulturelle und soziale Faktoren sowie willkürliche Entscheidungen haben den Klang zu dem gemacht, als das wir ihn heute wahrnehmen.

Musikalische Genres und weltbewegende Erfindungen – egal ob es sich um Nebelhörner oder Acid House handelt – sind so gut wie nie das Werk eines einzelnen Genies. »Helden«-Geschichten, die anderes behaupten, halten einer genaueren Überprüfung nur ausgesprochen selten stand. Und so erweist sich in unserem Fall, dass Foulis nicht der Einzige war, der an einem Signalhorn arbeitete, und das Gerät, das schließlich an unseren Küsten Verbreitung fand, nicht seines war. Parallel zu Foulis entwickelten gegen Ende des 19. Jahrhunderts mehrere Ingenieure vergleichbare Apparaturen. Ein Amerikaner namens Celadon Leeds Daboll ließ sich 1860 mit Druckluft betriebene Hörner patentieren, zunächst in seiner Heimat, drei Jahre später auch in Großbritannien.4

Der Chemieprofessor Frederick Hale Holmes entwickelte 1863 ein Horn mit einem Rohrblatt als Tonerzeuger, und wenige Jahre später wurde das erste Drucklufthorn patentiert. In den 1880er-Jahren folgten ein handbetätigtes diaphonähnliches Nebelhorn, ein von einem Kolben betriebenes Nebelhorn sowie weitere Varianten. Robert Hope-Jones – der Erfinder der Wurlitzer-Orgel – reichte 1896 ein Patent für eine Weiterentwicklung des Diaphons ein, in dem als Anwendungsgebiet neben der Verwendung in der Orgel ausdrücklich auch Schallsignale genannt werden. Ein weiteres, später eingereichtes Patent hat ausschließlich ein Nebelhorn zum Inhalt.

Nichtsdestotrotz wird die Erfindung des Nebelhorns allein Foulis zugeschrieben. So wie die singenden Frösche der Geschichte von der Erfindung des Exotica erst die richtige Würze verleihen, so ist es in Foulis’ Geschichte das Klavier. In beiden Fällen handelt es sich um eine Zutat, die unabhängig von ihrer historischen Wahrheit den Reiz der Geschichte erhöht. Und in beiden Fällen sagt diese Zutat weniger über den Klang als vor allem darüber aus, welche Gefühle mit ihm verbunden sind. Was Foulis’ Geschichte so fesselnd macht – dass er ein Außenseiter war, ein Einzelgänger, der verarmt starb, obwohl er die gewaltige Maschine erfunden hat, der ich verfallen war –, kann nicht einmal ansatzweise erklären, warum Nebelhörner, auch wenn sie auf seine Erfindung zurückgehen mögen, einen derartigen Einfluss auf eine Musikjournalistin haben können, die ein Jahrhundert später fernab jeder Küste geboren wurde.

Das Lied des Nebelhorns

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