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Geheimnisvolle Fremde

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„Die geht drüben am Bahnhof putzen!“ äußerte Frau Kotter abfällig.

Frau Schmidt verzog angewidert das Gesicht, dann ging sie schnell einen Schritt zurück, um ihrer neuen Nachbarin aus dem oberen Stockwerk Platz zu machen.

„Guten Morgen!“ grüßte diese freundlich.

Weder Frau Kotter noch Frau Schmidt erwiderten ihren Gruß, stattdessen tuschelten sie weiter, genau wie jeden Morgen seit diese Frau bei ihnen im Haus eingezogen war.

Durch den Hausmeister hatten sie schon vor dem Einzug der Frau erfahren, dass diese Geld vom Staat bezog. Die Frauen waren sich sicher, dass dieses asoziale Pack nun auch bis in ihre Wohngegend vorgedrungen war und beide waren alles andere als begeistert. Selbstverständlich wollten sie mit dieser Frau nichts zu tun haben. Ihre Vorurteile hinderten sie allerdings daran, das Naheliegendste zu tun, nämlich die Fremde einfach anzusprechen und kennen zu lernen.

Wie jeden Morgen hörte Cassy im Treppenhaus zwei ihrer Nachbarinnen tratschen. Wenn sie nicht zu spät zur Arbeit kommen wollte, hatte sie keine andere Wahl, sie musste mal wieder an ihnen vorbei. Also riss Cassy sich zusammen, setzte ein Lächeln auf und grüßte freundlich. Wie immer ignorierten die beiden ihren Gruß, sie nahmen Abstand, ganz so, als ob Cassy eine ansteckende Krankheit hätte.

Schnell lief sie die Stufen weiter hinab, um dann den Bus zum Hauptbahnhof zu nehmen. Dort hatte sie gerade erst eine Anstellung als Reinigungskraft erhalten und wollte auf keinen Fall schon während ihrer Probezeit zu spät kommen oder in irgendeiner anderen Form negativ auffallen. Es war schwer ohne Schulzeugnisse und sonstige Papiere überhaupt an Arbeit zu gelangen. Cassy besaß all das nicht, da sie sich auf der Flucht befand, hier versteckte und auf keinen Fall auffallen wollte.

David sah sich unsicher am Bahnhof um, dann fiel sein Blick auf die Bahnhofsuhr, er hatte noch genau zwei Minuten Zeit, bis sein Zug abfuhr.

„Entschuldigen Sie, Miss…“, sprach er eine Frau, die an ihm vorbeihuschte, an.

Sie blieb stehen und sah ihn auffordernd an.

„Ich muss dringend nach München und…“

Zu seiner Verwunderung unterbrach sie ihn:

„Bahnsteig 8, dort hinten die dritte Treppe!“

David rannte los.

Er schaffte es gerade noch, den ICE zu betreten, bevor sich die Türen schlossen. Nach einigem Suchen hatte er auch den reservierten Platz entdeckt und holte seinen Laptop aus der Tasche. Anfangs war er von der Idee den Zug zu nehmen nicht begeistert gewesen, allerdings stand sein BMW in der Werkstatt und der Leihwagen sprang heute früh auch nicht an. Als er schon völlig am Verzweifeln war, hatte ihm sein Kindermädchen diesen Vorschlag gemacht und dann auch noch übers Internet einen Fahrschein für ihn gebucht. Mittlerweile fing David an, sich zu entspannen, er konnte sich voll auf seine Geschäfte konzentrieren, sogar einige wichtige Telefonate erledigen und kam nach einigen Stunden entspannt an.

Cassy sah dem Mann hinterher. Es war schon ein seltener Anblick, wie ein Mann in einem maßgeschneiderten Anzug durch den Bahnhof rannte. Angesprochen wurde sie hier öfter und solange es ausschließlich um irgendwelche Auskünfte was den Bahnhof oder Züge betraf ging, war sie gern bereit zu helfen. Die Leute waren meist so sehr in Eile, dass selten jemand auf die Idee kam ‚danke’ zu sagen, aber das störte Cassy nicht, wichtig war nur, dass sie eine bezahlte Stelle hatte. Sie ging sich umziehen und holte dann ihren Putzwagen, um in den Toiletten zu beginnen. Auch wenn es sie nicht störte zu putzen, so waren die Toiletten hier teilweise widerlich. Egal wie oft man putzte, es war unvorstellbar was man sich Tag für Tag ansehen musste. Also wollte sie die Toiletten schnell hinter mich bringen.

Später verließ Cassy den Bahnhof wieder, um sich zu Hause sofort unter die Dusche zu stellen. Danach studierte sie die Zeitungen, die sie sich am Bahnhof mitgenommen hatte. Es waren aktuelle Zeitungen, die die Reisenden auf den Wartebänken liegen ließen und die sie den Vorschriften nach hätte entsorgen sollen.

„Na endlich, Kylie!“ öffnete David genervt seine Haustür.

Er wartete nicht einmal einen Kommentar ab sondern setzte sich sofort in die bereits wartende Taxe.

„Zum Bahnhof, schnell!“ forderte er.

Während sie losfuhren fiel sein Blick auf Kylie, die sein Haus betrat. Täuschte er sich, oder hatte sie ihm nachgesehen? Ihr ganzes Verhalten war so verändert, das fiel ihm schon seit einiger Zeit auf. Oder bildete er sich das bloß ein, weil er so sehr im Stress war? Allerdings war alles einfacher, seit er öfter mit der Bahn fuhr.

„Das macht zwölf achtzig“, unterbrach der Taxifahrer seine Gedanken.

David drückte ihm fünfzehn Euro in die Hand und murmelte:

„Stimmt so!“

Schon rannte er erneut durch den Bahnhof und stand wieder einmal hilflos vor der Anzeigentafel.

„Wo soll’s denn heute hingeh’n?“

David erkannte die Frau wieder, die er schon mehrfach um Hilfe gebeten hatte. Diesmal lächelte sie ihn an.

„Hamburg.“

„Der ist gerade weg“, erklärte sie bedauernd.

„Mist!“ entfuhr es David.

„So wichtig?“

„Allerdings!“

Dieser Termin war mehr als nur wichtig für David, er hatte einen Gerichtstermin.

„Der nächste Zug fährt um halb neun.“

David war es gewohnt schnell umzudisponieren, wichtige Termine zu verschieben, immer cool und selbstsicher zu sein, doch heute konnte er das nicht. Er setzte sich auf die nächste Bank und konnte nichts gegen die einzelne Träne, die über seine Wange lief, tun. Er bemerkte es nicht einmal, so verzweifelt war er.

„Wann müssen Sie denn in Hamburg sein?“

Erschrocken sah David auf, die Frau war ihm tatsächlich gefolgt und sah ihn mitfühlend an.

David schüttelte seinen Kopf. Sicher meinte die Frau es gut, aber im Moment konnte ihm niemand helfen. Er hatte verloren.

„Wer nicht kämpft, der hat automatisch verloren!“ redete sie in seine Gedanken.

Woher konnte diese Frau wissen, was er gerade dachte?

„Das versteh’n Sie nicht!“

David erkannte wie die Frau einen Schritt zurück wich. Ihm tat es im Nachhinein leid, dass er so unfreundlich und laut geworden war. Sie konnte nichts für seine Lage.

„Hören Sie, Herr… wie auch immer Sie heißen! Ich helfe Ihnen nun schon eine ganze Weile immer wieder den richtigen Zug zu finden und nie habe ich dafür ein ‚Dankeschön’ gehört…“

Plötzlich hielt die Frau inne, David hatte zu ihr aufgesehen und ihr tatsächlich zugehört. Warum redete sie nicht weiter?

„Wann müssen Sie in Hamburg sein?“ fragte sie erneut, diesmal sehr vehement.

„Um zehn, aber…“

„Warten Sie!“ forderte sie und verschwand.

David überlegte was er tun sollte. Einem ersten Impuls folgend hatte er sofort gehen wollen, aber was hatte er noch zu verlieren? Er würde nicht zu dem Gerichtstermin erscheinen können und damit das Sorgerecht für seine Kinder verlieren, das war ihm klar. Dabei hatte er solange darum gekämpft. Die Familie seiner verstorbenen Frau war unerbittlich, sie wollten die Kinder und eine beträchtliche Menge an Unterhalt. Es ging David nicht um das Geld, aber er wollte nicht auch noch seine Kinder verlieren. Sie waren alles was er noch hatte, der Tod seiner Frau hatte ihn schwer getroffen. Traurig dachte er an ihre gemeinsame Zeit zurück, drei Jahre war es her, dass sie nach langer Krankheit in seinen Armen eingeschlafen war. David blickte auf, die Frau kam zurück.

„Ankunft in Hamburg Fuhlsbüttel um zehn Uhr fünfzehn. Würde Ihnen das auch reichen?“

„Das ist völlig unmöglich!“

„Mit Geld ist heutzutage alles möglich!“

Diese Antwort klang verächtlich, fand David, aber er wollte jetzt nicht darauf eingehen.

„Wie viel verlangen Sie?“

„Kommen Sie mit!“ forderte sie und lief vor, David folgte ihr.

In ihm keimte die Hoffnung, doch noch wenigstens einigermaßen pünktlich zur Verhandlung zu erscheinen. Egal was diese Frau dafür verlangte, er würde es ihr geben.

Als sie das Servicebüro betraten, ging die Frau einfach an der Schlange vorbei auf eine ältere Dame am Schalter zu.

„Was kostet das Ganze?“

„Zweihundertsechs…“

Erstaunt sah David die beiden Frauen an. Dennoch reichte er der Frau hinter dem Schreibtisch seine Kreditkarte.

Kurz darauf hielt er mehrere Tickets sowie eine Routenbeschreibung in der Hand.

„Ihr Zug fährt in zehn Minuten auf Bahnsteig drei, nach vier Stationen steigen Sie aus. Von dort nehmen Sie ein Taxi zum Sportflughafen…“

Erstaunt sah David die Frau an. Flughafen?

„Beeilen Sie sich!“

Damit hatte sie David aus seinen Gedanken gerissen. Schnell ging er zum besagten Bahnsteig. Er war doch etwas verwundert, als er schließlich in einen Bummelzug einstieg. Aber er wollte nichts unversucht lassen.

Genau wie ihm gesagt wurde, nahm er schließlich ein Taxi, dass ihn zu einem kleinen Flughafen brachte. Ziemlich verlassen stand er dort und sah zu den Segelflugzeugen, als ihn jemand ansprach.

„Hamburg?“

David nickte.

Der Mann machte ihm Zeichen, ihm zu folgen, was David natürlich tat. Ziemlich verwundert stieg er schließlich in einen Hubschrauber ein. Der Pilot half ihm beim Anschnallen und reichte ihm einen Kopfhörer mit Mikrofon.

„Mein Name ist Dexter. Sind Sie schon mal geflogen?“

„Mit einem Hubschrauber noch nicht.“

Die Rotoren waren bereits dabei sich warm zu laufen, während die beiden Männer sich unterhielten.

„Wenn Ihnen schlecht wird oder sonst irgendwas ist, machen Sie sich bemerkbar!“ forderte Dexter.

„Wenn Sie während des Fluges nicken, seh’ ich das nicht!“

David sah seinen Fehler sofort ein.

„Und Sie schaffen das wirklich noch rechtzeitig?“

„Normalerweise schon.“

„Was heißt ‚normalerweise’?“

„Kommt auf die Wetterverhältnisse an. Wieso haben Sie´s so eilig?“

„Haben Sie Kinder?“ fragte David den Mann.

„Ja, einen Sohn, gerade sechs Monate alt.“

David hörte den Stolz in seiner Stimme, also begann er zu erzählen:

„Ich habe einen Gerichtstermin, heute soll über das Sorgerecht meiner Kinder entschieden werden.“

„Dann sind Sie geschieden?“

„Nein, verwitwet.“

„Und Ihre Kinder leben bei Ihnen?“

„Ja, bis jetzt noch, aber die Familie meiner Frau…“, David stockte.

„Wann ist Ihre Frau gestorben?“

„Vor drei Jahren.“

„Und wie kommen Ihre Kinder damit klar?“

„Ich denke, nicht wirklich gut.“

Die beiden unterhielten sich eine ganze Weile, es war ein Gespräch von Vater zu Vater und David fühlte sich nach langer Zeit einmal verstanden. Seine Probleme, die Kinder zu ernähren, gleichzeitig für sie da zu sein, die Mutter zu ersetzen, mit der eigenen Einsamkeit zu leben, all das sprach er sich vom Herzen.

„Wir schaffen es nicht mehr“, stellte David mit einem Blick auf die Uhr fest.

Der Pilot sah ihn an, dem Mann lag viel an seinen Kindern und er wäre bereit alles für sie zu tun. Alles? Wirklich alles?

„Was ist es Ihnen wert, wenn ich Sie rechtzeitig zum Gerichtsgebäude bringe?“

David sah den Mann an.

‚Mit Geld erreicht man alles!’ das hatte vorhin die fremde Frau am Bahnhof gesagt. Es war David egal, im Moment zählten nur seine Kinder.

Er zog seine Brieftasche aus seinem Jackett und fragte:

„Was verlangen Sie?“

„Von Vater zu Vater: Sie übernehmen die Reparaturkosten!“

Verständnislos sah David seinen Piloten an.

„Abgemacht?“

Noch immer irritiert stimmte David dem schließlich zu. Was hatte er auch für eine Wahl? Dann sah er auch schon, wie der Pilot an irgendwelchen Instrumenten rumhantierte, an einem Kabel riss und einen Notruf sendete.

„Was…“

„Nicht jetzt!“

Keine fünf Minuten später landete der Hubschrauber auf einem großen Parkplatz.

„Das Gerichtsgebäude ist drei Straßen weiter“, erklärte der Pilot.

Sprachlos sah David ihn an.

„Nun laufen Sie schon!“

David war bereits aus dem Hubschrauber gestiegen, da drehte er sich um und drückte dem Piloten seine Visitenkarte in die Hand.

„Schicken Sie mir die Rechnung.“

Wortlos nahm der Pilot seine Karte und blickte David dabei in die Augen.

„Danke!“ war alles was David hervorbrachte bevor er los rannte.

„Bei Bozinsky“, meldete sich eine Mädchenstimme, als David in seinem eigenen Haus anrief.

„Kylie, ich kann die Kinder behalten!“ rief er fröhlich und erleichtert ins Telefon.

„Das ist ja wunderbar“, auch wenn Kylie nicht sonderlich enthusiastisch klang, so freute sie sich dennoch sehr für ihren Chef. Sie hatte in letzter Zeit viel von seinen Problemen mitbekommen.

„Ich nehme gleich den nächsten Zug, aber vor Mitternacht werde ich nicht zu Hause sein“, erklärte David.

„Kein Problem, Herr Bozinsky, ich nehm’ Ihr Gästezimmer und fahr’ morgen früh von hier aus los.“

David war etwas irritiert, normalerweise war Kylie immer froh, wenn sie nach Hause konnte und wenn er vor ein Uhr morgens kam, fuhr sie sonst immer nach Hause. Über seine Freude wegen des gewonnenen Sorgerechts verwarf David schnell sämtliche Gedanken an sein Kindermädchen. Im Grunde war es für ihn nicht wichtig, ob sie in seinem Haus übernachtete, denn es war groß genug.

Während David aus dem Zugfenster sah, hing er seinen Gedanken nach. Die Familie seiner Frau hatte keine Chance gehabt. Die Richterin zweifelte daran, dass sie die Kinder wirklich ernähren konnten, sah bei ihrem Vater bessere Möglichkeiten und vor allem gute Zukunftsperspektiven. Das sich die Familie vor dem Tod seiner Frau niemals um die Kinder gekümmert hatte, schien die Richterin gar nicht zu interessieren. Wieder kam David der Satz dieser fremden Frau ins Gedächtnis ‚’Mit Geld bekommt man alles!’. David hatte sich darüber nie Gedanken gemacht, zumindest bis heute. Doch was der Pilot für ihn getan hatte, das hatte nichts mit Geld zu tun gehabt, David hatte eher den Verdacht, dass der Mann Mitgefühl hatte und ihn und seine Lage verstehen konnte. Er wollte lediglich das Geld für die Reparatur des Hubschraubers. Hätte der Pilot den Helikopter nicht mutwillig beschädigt, hätte er niemals auf diesem Platz notlanden können und David somit ermöglicht, bei dieser Verhandlung rechtzeitig aufzutauchen. Aber David glaubte auch nicht an all zu viel Nächstenliebe. Bevor er den Piloten zu sehr in den Himmel hob, sollte er doch erstmal seine Rechnung abwarten.

Aber was war mit dieser Frau am Bahnhof? Sie hatte Recht, immer wieder gab sie ihm irgendwelche Auskünfte und nie hatte er sich bei ihr bedankt. Ohne sie hätte er seine Kinder verloren. Das war nicht die erste Verhandlung, die wegen des Sorgerechts anberaumt wurde, David hatte bereits zwei versäumt. Das erste Mal, weil er zu unordentlich mit seinen Terminen war, beim zweiten Mal hatte seine Tochter auf einmal Fieber bekommen. Ein drittes Mal hätte das Gericht sein Fehlen sicher nicht so einfach entschuldigt.

Leise betrat David sein Haus. Wie immer war alles sehr ordentlich, Kylie war sehr fleißig, er war mehr als zufrieden mit dem Mädchen. Im nächsten Moment stolperte er über den Wäschekorb. Die Wäsche war frisch gewaschen, aber warum hatte Kylie sie nicht aufgehängt? Das passte so gar nicht zu ihr. Sofort machte David sich Sorgen, vielleicht war etwas mit den Kindern? Leise öffnete er eine Kinderzimmertür nach der anderen, bevor er sich beruhigt in sein Schlafzimmer zurückzog. Sie schliefen alle. Vielleicht hatte Kylie die Wäsche einfach nur vergessen, David hatte so gute Laune, dass er darüber nicht weiter nachdachte. Hätte er nur einen Blick ins Wohnzimmer geworfen, wäre er sicher nicht so ruhig eingeschlafen.

Seit der letzten Begegnung mit dem Mann im maßgeschneiderten Anzug waren einige Wochen vergangen. Cassy hatte ihre Probezeit überstanden und arbeitete zurzeit in der Spätschicht. Seitdem sie dem Herrn zum letzten Mal geholfen hatte nach Hamburg zu kommen, hatte sie ihn nicht wieder gesehen. Oft hatte Cassy an ihn denken müssen. Normalerweise hielt sie nicht viel von Menschen in solchen Klamotten, für sie war so ein Anzug lediglich ein Kostüm, das von der Wirklichkeit ablenken sollte, was auch immer die Wirklichkeit war. Nachdem Cassy die Tränen des Mannes gesehen hatte, musste sie allerdings von ihren Vorstellungen abweichen, anscheinend waren auch diese Schlipsträger nur Menschen mit einer weichen Seele, zumindest dieser Eine.

Doch das sie mal wieder kein ‚Dankeschön’ erhielt, ließ sie dann doch wieder an ihren alten Vorstellungen festhalten. Wenn das Ganze wirklich so wichtig für diesen Mann war, hätte er wenigstens den Anstand haben können, einmal vorbei zu kommen. Aber wahrscheinlich war er doch genau so ein überheblicher Geldheini, der mit einer einfachen Putzfrau nichts zu tun haben wollte. Sicher war es unter seiner Würde sich bei jemandem wie ihr zu bedanken…

Cassys negative Grundeinstellung gegenüber den Anzugträgern wuchs immer weiter, denn sie behandelten sie wie den letzten Dreck, machten sie persönlich für die verdreckten Toiletten verantwortlich und verlangten sofortige Reinigung. So etwas wie Dank gab es nicht, dafür waren es die einfachen Leute, die Cassy freundlich darauf hinwiesen, wenn sich mal wieder irgendwo Leute daneben benommen hatten. Sie waren es auch, die sich nett bedankten und ihr ab und an ein kleines Trinkgeld zusteckten.

So merkwürdig es auch klingen mochte, die Frau fand ihre Arbeit interessant. Sie beobachtete so viele Leute, es wurde niemals langweilig und sie begann tatsächlich sich an die teilweise sehr ekligen Toiletten zu gewöhnen. Dennoch wollte sie das hier nicht auf Dauer machen, aber in ihren alten Beruf konnte sie auf keinen Fall zurück. Also würde sie etwas Neues lernen müssen. Eine Umschulung war für Cassy zu teuer, so gut verdiente sie beim Putzen natürlich nicht, also blieb ihr nur die Volkshochschule. Sie begann mit einem Kurs, um das Tastschreiben am PC zu erlernen, außerdem belegte sie einen Buchhaltungskurs und aus einem spontanen Impuls heraus meldete sie sich zusätzlich noch bei ‚Heimwerken für Frauen’ an. Jetzt, wo sie alleine lebte, würde sie das Wissen sicher brauchen können. Ihre Wohnung sah noch sehr kahl aus, denn genau genommen, bekam sie nicht einmal einen Nagel in die Wand.

Bei drei Volkshochschulkursen und ihrer Arbeit hatte sie nicht mehr viel Freizeit, allerdings störte Cassy das nicht, was hätte sie in ihrer Freizeit auch tun sollen? Sie kannte hier noch immer niemanden und ihre Nachbarinnen blieben weiterhin auf Distanz.

Cassys Leben verlief langweilig und eintönig, aber sie beschwerte sich nicht, denn sie hatte es sich selbst ausgesucht. Bei wem hätte sie sich auch beschweren sollen?

Umso mehr legte sie sich ins Zeug, um zu lernen, sie wollte ihr Leben unbedingt in den Griff bekommen. Wichtig war für sie nur, dass sie endlich frei war. Cassy konnte das tun, was sie für richtig hielt. Keine Vorschriften oder Einschränkungen, das war befreiend und wieder neu für sie.

Eines Tages sprach sie ein junges Mädchen aus ihrem Heimwerkerkurs an:

„Entschuldigen Sie, könnten Sie mir zeigen, wie das geht?“

Sie sprach so leise, dass Cassy sie kaum verstand. Als sie der jungen Frau ins Gesicht sah, bemerkte sie auch ihre Unsicherheit.

„Natürlich!“ erwiderte Cassy freundlich und nahm ihr die Bohrmaschine aus der Hand, um dem Mädchen dann zu zeigen, wie man alles richtig einstellte.

„Ich bin übrigens Cassiopeia.“

Mit großen Augen sah die Fremde Cassy an. Das war eine gewohnte Reaktion auf ihren Namen.

„Hej, ich kann auch nichts dafür, dass ich so nen bescheuerten Namen hab’.“

Zum ersten Mal erschien ein leichtes Lächeln auf den Lippen des Mädchens.

„Wie wär’s mit Cassy?“

Cassy nickte nur.

„Ich bin Kylie.“

Sie unterhielten sich ganz gut, doch nach dem Unterricht verschwand die junge Frau sofort. Also machte auch Cassy sich auf den Heimweg. An der Bushaltestelle traf sie Kylie wieder, sie sah unsicher aus.

„Mit welchem Bus musst du fahren?“ fragte Cassy sie.

„Mit dem Neuner, aber der ist gerade weg.“

„Wann kommt denn der Nächste?“

„Erst in fünfundvierzig Minuten. - Und welchen musst du nehmen?“

„Ich geh’ zu Fuß.“

„Wohnst du in der Nähe?“ wollte Kylie wissen.

„In der Bergstraße.“

„Wollen wir zusammen gehen?“

Sie schien denselben Weg zu haben, also stimmte Cassy zu.

„Wie alt bist du eigentlich?“ fragte Kylie sie nach einer Weile.

„Siebenunddreißig. Und du?“

„Zweiundzwanzig.“

„Was machst du beruflich?“

„Ich arbeite als Mädchen für alles bei einem reichen Geschäftsmann.“

„Und was machst du da genau?“

„Ich betreu’ die Kinder und schmeiß den Haushalt, nichts Besonderes.“

„Das hört sich nach ner Menge Arbeit an. Hast du das gelernt?“

„Eigentlich studiere ich noch, das ist bloß nebenbei.“

„Wieso ‚eigentlich’?“

„Ach, ich überleg’, ob ich damit aufhören sollte.“

„Mit deinem Studium?“

Kylie nickte, mied dabei allerdings meinen Blick.

„Wieso denn das?“

„Mein Chef könnte mich rund um die Uhr brauchen und er zahlt wirklich gut.“

Cassy sah das Mädchen an, sie war sich sicher, dass das nicht der vollen Wahrheit entsprach.

„Interessiert dich dein Studienfach nicht mehr?“ bohrte Cassy weiter.

„Was machst du beruflich?“ lenkte Kylie von sich selbst ab.

„Ich geh’ putzen.“

Cassy beobachtete Kylies Reaktion genau. Doch sie fragte ganz selbstverständlich weiter:

„In einem Privathaushalt?“

„Nein, am Bahnhof.“

„Boah, da beneide ich dich nicht drum.“

„Deswegen mach ich auch einige Kurse, damit ich mal was anderes finde.“

„Handwerkskurse?“ fragte Kylie erstaunt.

Nun musste Cassy lachen.

„Nein, alles kaufmännisch.“

„Und dann suchst du dir einen Bürojob?“

„Keine Ahnung, ich will bloß nicht ewig am Bahnhof bleiben.“

„Kann ich versteh’n. Was hast du…“

Auf einmal hielt Kylie inne und blieb wie angewurzelt stehen.

„Was ist los?“

Cassy folgte ihrem Blick in eine Seitenstraße, dort stand eine Gruppe junger Männer.

„Musst du da lang?“ wollte Cassy wissen.

Kylie nickte wieder.

„Wenn du willst, bring’ ich dich!“ bot sie Kylie an.

Erstaunt sah die junge Frau Cassy an.

„Aber das ist doch ein Riesenumweg!“

Statt einer Antwort hakte Cassy sich einfach bei ihr ein und ging mit ihr weiter. Am Ziel angekommen, äußerte Kylie lediglich:

„Danke, Cassy!“

„Gehen wir nächste Woche wieder zusammen?“

„Gerne!“

Seit diesem Tag brachte Cassy Kylie jedes Mal nach ihrem Kurs heim. Sie verstanden sich gut, aber Kylie ging einem persönlichen Treffen aus dem Weg. Umso mehr wunderte es Cassy, als Kylie sie eines Tages fragte:

„Hast du dieses Wochenende eigentlich Dienst?“

„Nein.“

„Aber wahrscheinlich hast du eh schon was vor…“

„Kylie, was möchtest du?“

„Ich wollte dich fragen, ob du mir helfen könntest.“

„Wobei?“

„Ich zieh’ am Wochenende um.“

„Wohin?“

„Ins südliche Viertel.“

„Kannst du dir das denn leisten?“ fragte Cassy erstaunt, denn das südliche Viertel war sehr vornehm und dementsprechend teuer.

„Ja, ich arbeite jetzt noch mehr Stunden für meinen Chef.“

„Und dein Studium?“

Wieder einmal ging Kylie auf diese Frage nicht ein.

„Klar helf’ ich dir!“ versprach Cassy schließlich.

Als Cassy am Samstag früh vor Kylies Tür stand, war sie erstaunt, denn außer ihr gab es keine weiteren Helfer.

„Ist dir das zuviel?“ fragte Kylie erschrocken, als Cassy sie darauf ansprach.

„Nein, nein“, versicherte Cassy ihr sofort, wunderte sich aber dennoch. Warum hatte eine junge Studentin niemanden, der ihr half?

Nachdem sie sämtliche Sachen im Möbelwagen verstaut hatten, setzte Kylie sich auf den Fahrersitz. Ziemlich unsicher fuhr sie los, um kurz darauf auch schon wieder zu halten.

„Da pass ich doch nie durch!“ befürchtete sie verzweifelt.

Cassy sah auf die parkenden Autos.

„Soll ich fahren?“ bot sieh an.

Kurz darauf hielt Cassy den Wagen vor einem schicken Neubau. Gemeinsam mit Kylie gingen sie in den ersten Stock und bestaunte dort ihre neue Zweizimmerwohnung, die wirklich ein Traum war. Dann machten sie sich daran, den Möbelwagen wieder auszuräumen.

„Was machst du da?“

Cassy sah auf, vor dem Lkw war ein kleines Mädchen auf ihrem Fahrrad.

„Ich zieh’ hier ein, Sandra.“

„Echt?“

Cassy sprang aus dem Wagen.

„Ziehst du auch hier ein?“ wandte die Kleine sich gleich an sie.

„Nein, ich helf’ Kylie bloß.“

„Kann ich auch helfen?“ bot das Kind sofort an.

„Weiß dein Vater wo du bist?“

Sandra nickte.

„Sicher, Sandra?“

Daraufhin zog das Mädchen ein Handy aus ihrer Hosentasche.

„Hallo Papa! Darf ich Kylie helfen?“

„Papa will dich sprechen“, verkündete sie und reichte Kylie ihr Handy, dann stellte sie ihr Fahrrad zur Seite und wollte sich einen der schweren Umzugskartons nehmen.

„Magst du das hochbringen?“ fragte Cassy sie und reichte ihr einige Kissen.

Sofort nahm sie sie ihr aus der Hand. Dann gingen sie gemeinsam nach oben.

„Bist du Kylies Freundin?“ wollte Sandra von Cassy wissen.

„Ja, ich denke schon.“

„Das ist komisch!“

„Wieso?“

„Na, weil du doch bestimmt viel älter bist!“

Cassy musste lachen. Wie sagt man doch so schön: Kindermund tut Wahrheit kund!

„Warum lachst du?“

„Sandra, dein Vater meint, du kannst gerne hier bleiben. Er holt dich nachher ab“, ersparte Kylie ihr eine Antwort.

„Oh ja, klasse!“ rief sie, während sie sich die Wohnung bereits genau ansah.

„Darf ich dich jetzt immer besuchen kommen?“ fragte sie Kylie aufgeregt.

Kylie sah Cassy an, dann fragte sie Sandra:

„Wo hast du eigentlich deinen Bruder gelassen?“

„Der Blödmann…“, entgegnete die Kleine und zog eine Flunsch.

Während Kylie versuchte heraus zu bekommen, was Sandra für ein Problem mit ihrem Bruder hatte, ging Cassy wieder nach unten, um den nächsten Karton zu holen. Sie war gerade wieder im Treppenhaus, als sie einen lauten Knall und kurz darauf Sandra hörte. Das Kind weinte bitterlich. Also ließ Cassy den Karton stehen und rannte nach oben.

Sandra saß auf den Stufen und ihr Knie blutete. Kylie begann gerade das Blut mit einem Tuch wegzuwischen, als Cassy etwas anderes auffiel.

Sie kniete sich vor Sandra hin und fragte:

„Tut dir dein Arm weh?“

Nun fiel auch Kylies Blick auf den Arm der Kleinen. Erschrocken sah sie ihre neue Freundin an.

„Nö, wieso?“

„Was hältst du davon, wenn wir zusammen zum Arzt fahren?“ bot Cassy ihr sofort an.

„Ich will nicht!“ verkündete sie in einem Tonfall, der nicht zu einem Kind in dem Alter passte.

„Sandra hasst Ärzte“, flüsterte Kylie Cassy zu.

„Ja, die sind alle doof!“ Sandra hatte Kylies Worte genau verstanden.

„Darf ich mal?“ fragte Cassy und betastete vorsichtig den Arm der Kleinen.

„Autsch!“ rief Sandra auf einmal.

„Ist nicht gebrochen“, erklärte Cassy zu Kylies Erleichterung.

„Sandra, ich mach’ dir einen Vorschlag: wir gehen zu keinem Arzt, dafür mach’ ich dir einen Verband um deinen Arm.“

Damit schien Sandra einverstanden zu sein. Kylie hatte die Kiste mit ihrem Verbandszeug schnell gefunden, so konnte Cassy die Kleine zumindest notdürftig verarzten.

Kurz darauf sprang sie schon wieder munter umher und half beim Einräumen.

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